Als Kind stellte ich mir vor, alle Zwischenräume, in denen nichts außer Luft zu sein schien, seien bewohnt von Träumen, einem Volk unsichtbarer Gestalten und fantastischen Geschichten. Dort brauchte ich nur meinen Kopf hineinzuhalten und konnte sie darin einfangen.

Dass sich diese Vorstellung bewahrheitet hat, zeige ich in mehr als fünfzig Buchtiteln für Kinder und Jugendliche mit Erzählungen, Kurzgeschichten, Liedern und Gedichten, die ich seit 1984 in namhaften Verlagen veröffentlicht habe, manche mit bescheidenen Auszeichnungen.

Im Herbst 2008 sind mein Mann und mein Arbeitstisch mit mir von Bonn nach Kochendorf nahe Eckernförde/Ostsee umgezogen. Und zu meiner Freude gibt es auch hier im Norden fantastische Zwischenräume!

Inhalt

  1. Viertagereich
  2. Pfauenbuch
  3. Schrecksekunden
  4. Nachtbesucher
  5. Kidnapper
  6. Weckerdiebe
  7. Feuerhöhle
  8. Irrweg
  9. Prinzenzelt
  10. Operation
  11. Wasserratte
  12. Verhör
  13. Wundertat
  14. Stimmungswechsel
  15. Schneehühner
  16. Rollentausch
  17. Hinterhalt
  18. Schlangenaugen
  19. Geisterstunde
  20. Fluchtweg
  21. Volltreffer
  22. Stachelhut
  23. Hexenküche
  24. Popcorn
  25. Herzschmerz
  26. MeMo

Ein kurz geschenkter Augen-Blick
lenkt still und heimlich Mels Geschick

1. Viertagereich

Endlich lässt sich die Schaffnerin noch einmal im Wagen blicken. Mel ist schon ganz kribbelig.

„Entschuldigen Sie“, macht sie sich bemerkbar. „Wie viele Stationen sind es bis Altsassen?“

Die Zugbegleiterin tippt ihre Finger an: „Lorum… Badstadt… Elfersen… Hohewied… Gorstedt - der sechste Halt ist Altsassen.“

Mel bedankt sich. Sie schaut auf ihren kleinen Wecker, den sie in ihrer Umhängetasche mitgenommen hat. Halb sechs. In gut einer Stunde wird sie bei ihrer Tante Bana ankommen.

Sie versucht, etwas von der Landschaft draußen zu erkennen, doch ein plötzliches Schneetreiben macht es unmöglich. Dichte Flocken scheinen im Raketentempo auf den Zug einzustürmen. Mel kann gar nicht hinsehen, sonst wird ihr schwindelig.

Sie ist umgeben von Jugendlichen mit Smartphones, die mit den Daumen scrollen, tippen und in digitale Welten tauchen. Mel besitzt nur ein simples Handy, mit dem sie telefonieren und SMS verschicken kann. Soll sie Bana kurz anrufen und ihr sagen, dass der Nahverkehrszug acht Minuten Verspätung hat? Aber das wird sie auch so merken.

Mel gegenüber sitzt ein Junge, der sich ab und zu mit den Fingern die langen Haare aus der Stirn kämmt. Er vertieft sich als Einziger in ein Buch, was Mel daran erinnert, dass in ihrer Tasche auch eins steckt. Sie beginnt ebenfalls zu lesen, stellt aber nach zwei Seiten fest, dass sie zu aufgeregt ist, um sich zu konzentrieren. Bisher waren ihre Besuche bei Bana voller Überraschungen!

Der lesende Junge schnieft ein paar Mal. Als er kräftig die Nase hochzieht und erfolglos in seine Jackentasche fasst, hält Mel ihm ein Päckchen Papiertaschentücher hin.

„Hier. Nimm am besten gleich zwei.“

Verdutzt grinst er sie an. Seine Augen sind hellblau wie Himmel bei Ferienwetter, was Mel wundert, da die Farbe seiner Haare fast schwarz ist. Total hübsch sieht der aus, denkt sie. Und irgendwie interessant.

„Wie weit fährst du?“, erkundigt sich der Langhaarige.

„Bis Altsassen. Ich besuche dort meine Tante.“

„Da muss ich auch raus. Ich besuche meinen Vater.“

Mel denkt einen Augenblick nach, was das bedeuten könnte. Sind seine Eltern geschieden? Sie wagt nicht zu fragen, denn er senkt den Kopf wieder über sein Buch.

Doch gleich sieht er noch einmal auf und lächelt.

Mel lächelt zurück. Dabei wird ihr Gesicht heiß und pfirsichrot. Sie schließt vor Verlegenheit die Augen, starrt ihn jedoch in Gedanken weiter an. Eine seltsame Unruhe überkommt sie dabei. Und weil sie fürchtet, er könnte es spüren, denkt sie rasch an Bana.

Was wird ihre Tante diesmal mit ihr vorhaben? Auf jeden Fall Kinobesuch, im Palmenpalast essen gehen und Schlittschuh laufen. Meistens denkt sich Bana noch etwas Besonderes aus. Letztes Jahr in den Weihnachtsferien sind sie nach Hamburg gefahren und haben das Musical „König der Löwen“ gesehen.

„Nächster Halt Lorum!“

Nur noch eine Dreiviertelstunde bis Altsassen… Ob Mels Lieblingsrestaurant noch existiert, der Palmenpalast, dessen Eingang zwei behäbige Bronzelöwen bewachen? Als kleines Mädchen hat Mel sie für Riesenhunde gehalten. Einige schöne Läden waren schon im vergangenen Jahr aus dem Stadtbild verschwunden. Nur Frau Hut wird immer da bleiben. So nennen die Bewohner der kleinen Stadt ihren Hausberg, weil er von weitem tatsächlich einem Kopf mit hohem Hut ähnelt. An seinem Fuß gibt es das Eiscasino, in dem man Eis essen, Kaffee trinken und in einer Arena zu Musik Schlittschuh laufen kann.

Plötzlich taucht in Mels Kopf das Bild der alten Villa auf, die auf dem Eckgrundstück unweit von Banas Wohnung steht. Irgendein dunkles Geheimnis birgt das seit Jahren unbewohnte Gemäuer mit den hübschen Erkern und Türmchen, davon ist Mel überzeugt. Vielleicht wurde es inzwischen abgerissen und durch einen hässlichen Neubau ersetzt? Das ist es, was Mel am meisten interessiert.

„Altsassen!“

Kann das sein? Die Zwischenstationen hat Mel gar nicht wahrgenommen, so versunken war sie in Gedanken.

„Tschüs.“ Der Junge mit den blauen Augen klappt sein Buch zu und steht auf, ohne Mel noch einmal anzusehen.

Sie wickelt ihren bunten Strickschal um den Hals, zieht die Pudelmütze über ihre langen Haare und steigt nach ihm aus.

Am Eingang des Bahnhofs erkennt sie ihre Tante, die in ihrem dick wattierten Mantel eine Eskimofrau sein könnte.

„Hallo, Bana!“ Mel fällt ihr stürmisch um den Hals.

„He, lass mich leben.“ Lachend schiebt Bana ihre Mantelkapuze hoch, die ihr über die Brille gerutscht ist. „Wie schön, dass du da bist.“

„Diesmal leider bloß für vier Tage“, bedauert Mel. „Viel unternehmen können wir nicht, oder?“

„In vier Tagen kann man die Welt auf den Kopf stellen“, behauptet Bana. „Der liebe Gott hat sie sogar in nur sieben Tagen komplett erschaffen.“

Auf dem Bahnhofsvorplatz verstaut Mel ihren Rollenkoffer in Banas schwarzem Kleinbus, der an den Türen den Goldaufdruck Berlock Antik trägt. Die Scheibenwischer klacken emsig, während ihre Tante den Wagen durch das Schneegestöber zu ihrer Wohnung in die Kleckstraße steuert. Bana besitzt ein Antiquitätengeschäft in der Stadt, hat sich aber für ihre Nichte ein paar Tage freigenommen.

Zu Hause geht Mel zuerst in die Küche, um ein Glas Apfelschorle zu trinken.

„Herr Affe, du bist ja immer noch da“, begrüßt sie den aus einem Holzbrett gesägten großen Schimpansen in der Ecke, den Bana irgendwann in einem Theaterfundus aufgestöbert hat. Er ist angemalt wie ein Lakai und besitzt zwei Gesichter. Auf einer Seite bleckt er freundlich seine gelben Zähne, die Rückseite zeigt ihn als garstiges Biest.

Nach dem Abendessen weiht Mel ihr Viertagereich ein, Banas Arbeitszimmer, in dem sie auf dem Klappsofa schlafen darf. Ihre Kleider stapelt sie ordentlich auf dem altertümlichen Schreibtisch mit den Löwenfüßen. Auf das Wandbord über der Schlafcouch schiebt sie ihren zierlichen, vergoldeten Wecker, den sie von ihrer Uroma geerbt hat.

Der muss auf jede Reise mit. Unbedingt! Sie liebt ihn. Abends ist sein feines Ticken für sie die sanfteste Einschlafmusik.

Betrachte Altes nicht als Plunder,
denn manches Stück verbirgt ein Wunder

2. Pfauenbuch

„Herr Affe, koch Kaffee“, begrüßt Mel am nächsten Morgen den hölzernen Schimpansen.

„Kannst es ihm ja beibringen“, nuschelt Mels Tante gähnend. Sie schüttet Wasser in die Kaffeemaschine, die sofort gluckert und prustet, als hätte sie sich verschluckt.

Bana läuft noch in Morgenrock und Pantoffeln umher. Ihr graues Haar ähnelt einem ausgefransten Vogelnest. Bei Bana darf man bettwarm frühstücken, die Dusche kann warten, bis alle Schlafgeister aus den Gliedern gehuscht sind. Den Ofen hat sie bereits nach dem Aufstehen gefüttert, sodass ein gemütliches Bullern die Küche erfüllt.

Mel zieht einen Bademantel ihrer Tante über den Pyjama. „Was wollen wir heute unternehmen?“

„Das, wozu du Lust hast.“

Mit Blick zum Fenster, vor dem noch vereinzelte Schneeflocken tanzen, schlägt Mel vor: „Zu Frau Hut fahren, im Eiscasino Eis essen und danach Schlittschuh laufen. So wie voriges Jahr.“

„Damit ich wieder auf den Hintern falle und du was zum Lachen kriegst? Nur, wenn es unbedingt sein muss.“

Mel verpasst ihrer Tante einen Schmatz. „Es muss sein.“

Sie nippt an einem Pott voll heißem Kakao und blinzelt in die flackernden Kerzen der weihnachtlich geschmückten Topftanne auf dem Küchentisch. Je nachdem, wo es gemütlich sein soll, schleppt Bana sie ins Badezimmer, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Arbeitszimmer oder in die Küche.

Hier sitzt Mel am liebsten, weil sie uriger eingerichtet ist als die meisten Küchen. Das Geschirr steht in einer Anrichte aus Uromas Nachlass. Gegenüber hängen ein hoher Spiegel mit Goldrahmen und ein Wandregal voll alter Teekannen. Neben der Tür hat der schwarze Bollerofen seinen Platz, und es gibt Herrn Affe.

Bana setzt sich zu Mel an den Tisch. Genüsslich schlürft sie den ersten Schluck Kaffee, stellt die Tasse aber gleich wieder ab. Im Flur klingelt das Telefon.

„Ach du Schreck, das habe ich befürchtet… ausgerechnet jetzt… na, dann gute Besserung“, versteht Mel, und eine Ahnung beschleicht sie, dass aus dem Schlittschuhlaufen nichts werden könnte.

Richtig getippt. Kaum hat ihre Tante den Hörer aufgelegt, begibt sie sich ins Badezimmer. „Tut mir schrecklich Leid, Schatz, aber meine Kollegen hat es voll erwischt. Die liegen mit Grippe im Bett, heute muss ich selbst einspringen.“

Zwanzig Minuten später steht Bana im Mantel vor Mel, und aus dem Vogelnest auf ihrem Kopf ist ein ordentliches Gesteck mit silbernen Haarspangen geworden.

Nervös klappert sie mit den Autoschlüsseln. „Stell dich auf einen Tag ohne mich ein. Im Tiefkühlfach sind Pizzen, schieb dir mittags einfach eine in den Backofen. Und kauf dir im Biomarkt was Leckeres fürs Abendessen.“ Sie nimmt eine Teekanne vom Regal und fischt zwei Geldscheine heraus. Dann streicht sie Mel eine lange Haarsträhne hinters Ohr. „Sei nicht enttäuscht, wir holen morgen alles nach. Ich finde schon jemanden, der mich vertritt. - Wart mal, ich habe ein nachträgliches Weihnachtsgeschenk für dich.“

Bana zieht im Arbeitszimmer eine Schreibtischschublade auf und entnimmt ihr ein Buch. „Das habe ich im Laden in einer Rosenholz-kommode gefunden. Du schreibst doch so gern. Es ist anscheinend so alt wie das Möbelstück, aber noch gut erhalten.“

Der Einband ist mit rosafarbener, etwas angestaubter Seide überzogen. Ein Muster aus Rad schlagenden blauen Pfauen schmückt die Vorderseite.

„Danke, Bana.“ Mel blättert es auf, und Freude durchrieselt sie wie eine kleine Meereswelle im Sonnenlicht. Nichts als leere Seiten, mindestens hundert! Weiße Blätter üben von jeher große Anziehungskraft auf Mel aus, denn ihre Gedanken wuseln oft wie Flöhe durcheinander und lassen sich am besten mit Papier und Stiften bändigen.

Auf dem Innendeckel steht in altmodischer Handschrift ein Spruch. Mel entziffert laut:

„Das Wort, das dir dein Sinn diktiert,

fügt seltsam, was demnächst passiert.

Doch die Kraft der Gedanken

durchbricht alle Schranken.

Höchst geheimnisvoll. Da muss ich aufpassen, was ich reinschreibe, damit sich nichts seltsam fügt.“

„Na, wenn du meinst“, sagt Bana mit spöttischem Lächeln. „So, und jetzt muss ich los.“

Mel sieht ihrer Tante aus dem Fenster nach. Stell dich auf einen Tag ohne mich ein… Diese unerwartete Wendung des Tagesplans gefällt ihr gar nicht schlecht!

Schon eine halbe Stunde später macht sie sich auf den Weg, um ein Abendessen nach ihrem Geschmack einzukaufen. Ob es im Bioladen Schoko-Croissants und Brombeer-Muffins gibt?

Es hat aufgehört zu schneien. Mel stapft die Kleckstraße entlang und schaut den hellen Dunstwölkchen zu, die ihr Atem in die kalte Luft stößt. Über Nacht ist das Weiß liegen geblieben. Sonne stiehlt sich durch ein Wolkenloch und lässt abertausend kleine Diamanten auf den Schneeflächen glitzern.

Zum Bioladen müsste Mel rechts in die Zweisteinstraße biegen, geht aber kurz entschlossen nach links in ein wenig befahrenes Viertel mit Einfamilienhäusern. Vor dem einzigen Haus, das statt eines Vorgartens einen an den Gehweg grenzenden Anbau besitzt, bleibt sie stehen.

Auf einem weißen Emailleschild ist zu lesen:

Uhren-Kardamom
Verkauf und Reparatur
moderner und antiker Zeitmesser

Der alte Herr Kardamom sitzt über seinen Werktisch gebeugt. Weiße Haarsträhnen fallen ihm in die Stirn, die restlichen trägt er im Nacken zu einem Büschel gebunden. Vor sein rechtes Auge hat er eine Lupe geklemmt. Er ist weit und breit der einzige Uhrmacher, der alte Uhrwerke reparieren kann. Letztes Jahr hat er Mels Wecker mit den vergoldeten Glocken und Zeigern wieder zum Laufen gebracht.

Ohne von ihm bemerkt zu werden, beobachtet sie ihn durch die Scheibe. Mithilfe eines winzigen Schraubenziehers zerlegt er ein kleines Uhrwerk in seine Einzelteile. Als er aufblickt, winkt sie ihm kurz zu und schlendert weiter zur nächsten Kreuzung.

Wie von einem Magneten angezogen, überquert sie die Straße. Der Schnee auf dem Gehweg um das große Grundstück ist noch unberührt. Mels Fußspuren sind die ersten, wenn sie von den Vogelfüßchen absieht, die ein niedliches Muster hinein gedruckt haben. Die Steinbären des Ecktors tragen weiße Mützen und sind Eisbären geworden.

Mel späht durch das Torgitter, und ein aufregendes Kribbeln läuft ihr vom Nacken den Rücken hinab. VILLA SCHRANZ liest sie über der Eingangstür - ausgewaschene, helle Buchstaben auf rotem Backsteingrund. Aus einem Wolkenloch fällt Sonne auf die Fassade. An einigen Stellen leuchtet Kletterefeu frühlingshaft grün. Die metallenen Kugelspitzen auf den Dachtürmen funkeln wie vergoldet.

Was gäbe Mel darum, einen Blick in die Räume der unbewohnten Villa werfen zu dürfen!

Im nächsten Moment wischt der graue Schatten einer Wolkenfront alles Freundliche weg. Sofort wirkt das Anwesen düster. Nun blicken schwarze, unheimliche Fensteraugen auf sie herab, und schaudernd stellt sie sich vor, dass in einem der Turmzimmer eine in Spinnweben verpuppte Mumie vor sich hin trocknet.

Schleichst du dich ein mit leisem Schritt,
nimm Mut und starke Nerven mit

3. Schrecksekunden

Mel beschließt, auf der Zaunseite zurück zu stapfen und dreht eine schwungvolle Pirouette. Doch unter dem Schnee hat sich Eis gebildet, sie rutscht aus und rudert mit den Armen. Gerade noch bekommt sie einen Zaunstab zu packen, dem das jedoch missfällt - mit hässlichem Knirschen splittert er aus der Verankerung.

Erschrocken hält Mel das morsche Holzding in der Hand und verschluckt vor Verblüffung den nächsten Atemzug. Rasch lässt sie es fallen und schaut sich um. Zum Glück ist niemand ist in der Nähe, der es gesehen haben könnte.

Während sie auf die entstandene Zaunlücke starrt, wird ihr vor Erregung wellenartig heiß. Das ist die Gelegenheit!

Beobachtet sie wirklich niemand? Zwei Autos fahren langsam vorüber, dann ist es wieder ruhig auf der Straße. Mel macht sich dünn wie eine Flunder, hebt ein Bein über den niedrigen Mauersockel und verlagert ihr Gewicht, bis ihre Fußspitze den Boden auf der Gartenseite berührt. Mit eingezogenem Bauch quetscht sie sich ganz nach drüben.

Zwischen Zaun und Hecken wurstelt sie sich vorwärts. Um sich nicht in Gestrüpp zu verfangen, hebt sie die Beine wie ein Storch. Gefrorenes Laub und herab gefallene Zweige knacken unter ihren Füßen, bis sie unvermittelt vor einer Buschlücke steht.

Sie schlüpft in den Vorgarten, bleibt stehen und bewundert voll Ehrfurcht das schöne alte Gebäude.

Hinter den Fenstern keine Bewegung.

Mit den Augen misst Mel die Entfernung zum nächsten Erkerfenster im Erdgeschoss. Höchstens zwanzig Schritte…

Ein paar Mal holt sie tief Luft, bis sich ihr erregter Herzschlag beruhigt - los!

Wie ein gehetztes Kaninchen jagt sie quer über die Schneewiese zur Hausmauer. An einem Regenrohr, das neben dem Fenster in einer Wassertonne endet, sucht sie mit beiden Händen Halt und setzt ihre Füße auf einen vorstehenden Sockel. Als sie sicher darauf steht, neigt sie den Oberkörper vorsichtig zur Seite und schiebt ihr Gesicht vor das Fenster. Leider haben die Wettermächte darauf eine dicke Schmutzschicht wachsen lassen.

Um ein Guckloch zu wischen, reckt Mel ihre Handschuhfaust, aber oh oh oh! Sie verliert das Gleichgewicht, und schon kippt sie rückwärts in eine Schneewehe.

Ihr ganzer Körper erstarrt in Panik, denn das heftige Scheppern des Rohrs, das sie ruckartig losgelassen hat, will nicht aufhören und wird die Geister des Hauses aufscheuchen! Mit angehaltenem Atem beobachtet Mel die Eingangstür, aus der jeden Moment eine bissige Dogge jagen könnte, um sie zu zerfleischen.

Bange Minuten vergehen. Als alles friedlich bleibt, rappelt sie sich auf und klopft den Schnee aus ihren Kleidern.

Mit neuem Mut steigt sie die Stufen zur überdachten Eingangstür hinauf.

Neben den Klingelknöpfen befinden sich drei alte Namensschilder, von denen das oberste fast verblichen ist. PLATT… ist undeutlich zu erkennen. Vom mittleren sind nur noch die Buchstaben Z. S.MPF erhalten, vom unteren H. GUTT.

Der metallene Türknauf in Form eines Hundekopfes ist verstaubt und rostig. Mit ganzer Kraft dreht ihn Mel, wobei er schwerfällig knarzt. Ein Ruck, und die Tür lässt sich aufschieben.

Mel lauscht in den Hausflur. Nichts rührt sich. Im Halbdunkel erkennt sie eine Kommode, eine stehen gebliebene Standuhr, eine altertümliche Flurgarderobe mit Spiegel und vier mit Schnitzwerk versehene Zimmertüren. Von der Decke blicken Frauenköpfe aus Stuck herab, denen Spinnenwebhaare gewachsen sind.

Auf Zehenspitzen nähert sich Mel der vordersten Tür. Sie blinzelt durch das Schlüsselloch, sieht aber nur einen Schlüssel von innen stecken. Die Klinke zu drücken, wagt sie nicht.

Eine Holztreppe mit einem Geländer aus gedrechselten Stäben führt ins obere Stockwerk. Vielleicht steht dort eine Zimmertür offen, und Mel kann einen Blick hineinwerfen?

Kaum hörbar knarrt das Holz unter ihren Sohlen, als sie behutsam die Treppe betritt. Sechs, sieben, acht, neun - eine Biegung zehn - Kriiiiejuuuuchhhh!!!!!!

Mit schrillem Kreischen springt ihr etwas Schweres ins Genick, Krallen graben sich in ihren Nacken, lösen sich mit schmerzhaftem Druck, etwas poltert dumpf auf die Holzstufen, ein dunkler Schatten fegt durch den Flur.

Ein paar Sekunden wartet Mel mit stockendem Herzschlag. Dann rast sie die Treppe runter und quer durch den Garten hinter die Zaunbüsche. Hektisch kriecht sie durch den Spalt zurück auf den Bürgersteig.

Kein Auto zu sehen? Schnell auf die andere Straßenseite. Erst vorm Eingang zu Herrn Kardamoms Werkstatt bleibt sie stehen und drückt die Hände gegen ihre Brust, um ihr Hecheln zu beruhigen.

Eine Katzenbestie lebt in der verlassenen Villa! Ein widerliches, schwarzes Ungeheuer! Und wer weiß, wer ihr Besitzer ist…

Vor Aufregung vergisst Mel ganz ihren Einkauf und macht einen Dauerlauf nach Hause. Nach diesem Schreck sehnt sie sich nach der beruhigenden Atmosphäre von Banas Küche.

Sie zündet die halb herunter gebrannten Kerzen der Topftanne auf dem Tisch an. Für alle Fälle stellt sie den vollen Wasserkessel als Feuerlöscher daneben.

Fehlt nur noch ein Becher Vanille-Tee mit Honig und leise CD-Musik.

Am liebsten würde Mel ihrer Tante sofort am Telefon von ihrem ungeheuerlichen Erlebnis erzählen. Schmerzende Krallenkratzer in ihrem Nacken sind der Beweis dafür, dass sie nicht spinnt, was Bana aber garantiert vermuten würde. Also verzichtet Mel auf den Anruf und muss sich zu ihrem Missfallen mit der Gesellschaft des Küchenaffen begnügen.

Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, das leere Pfauenbuch einzuweihen! Darin wird sie sich alles von der Seele schreiben.

Vorher muss aber unbedingt eine Pizza in den Backofen.

Während sie wenig später ohne Messer und Gabel ein mit Tomaten, Mozzarella und Spinat belegtes Dreieck mampft, schreibt sie auf den Innendeckel des Pfauenbuchs unter den altmodischen Spruch:

Dieses Buch gehört Melissa Thor

Lieber Finder, bitte schick es in die Rossgasse 11 in Berenbreitbach.

Oder in die Kleckstrasse 6 zu Barbara-Nathalie Berlock in Altsassen.

Auf der nächsten Seite beginnt sie, eine Geschichte zu schreiben:

Das geheimnisvolle Haus

Mein Name ist Melissa, aber ich werde Mel gerufen. Ich habe lange, hellbraune Haare, trage im rechten Ohrläppchen einen grünen Kleeblatt-Ohrring (den 2. hab ich verbummelt) und am Fußgelenk eine Silberkette. Meine Daumennägel sind grün lackiert, weil Grün = meine Lieblingsfarbe und die Farbe der Hoffnung. So viel zu mir.

Und nun erzähle ich, was in der Villa Schranz passiert ist. Heimlich schlich ich mich hinein. Der Hausflur hat 5 Türen. Ich hörte dahinter Stimmen und versteckte mich unter einem Mantel in der Garderobe. Einzelne Wörter konnte ich nicht verstehen, weil ein Riesenholzwurm extrem laut an der Treppe knabberte. Jedenfalls klang eine Stimme sehr unheimlich. Hinter der nächsten Tür krächzte jemand, als sei er in einen Raben verhext worden. Hinter der 3. schimpfte eine Frau so grässlich wie Draculas Großmutter.

Mel legt eine Schreibpause ein, um sich ein weiteres Stück Pizza abzusäbeln. Sie ruft sich die unvollständigen Namen auf den verblassten Klingelschildern ins Gedächtnis: PLATT… Z.S.MPF und H.GUTT. Wie könnten sie vollständig lauten?

„Hilf mir“, fordert sie Herrn Affe auf.

Sie zieht ihn an den Tisch und dreht seine bissige Seite zu sich, da sie besser zu ihrer gefährlichen Geschichte passt. Nach einigem Nachdenken füllt sie zügig die nächsten Zeilen und liest sie ihm gleichzeitig vor:

An drei Zimmertüren hingen diese Namensschilder:

Herr Plattfisch

Zitronella Sumpfstrumpf

Hässlicher Gutt.

Ich wollte gerade weglaufen, da ging eine Tür auf. Zack, hatte mich der mit der Krächzstimme geschnappt. Seine Beine waren lange, krumme Stelzen. Er hatte schlabberige Tränensäcke unter den Augen und eine Halbglatze, um die borstige Haare abstanden. Es war der Hässliche Gutt persönlich.

Er schüttelte mich. „Du Ratte, was hast du hier verloren?“

Da kam auch Zitronella Sumpfstrumpf heraus. Sie trug einen Stehzopf auf dem Kopf und bunte Kleider mit 1000 Flicken. Erbost starrte sie mich an.

Aus der dritten Tür watschelte auf seinen Schwanzflossen ein Fisch in meiner Größe. Er war von oben bis unten voller Schuppen und hatte spitze, silberne Sandalen und eine rote Weste an.

Sein Fischmaul blubberte: „Du Kröte willst wohl zum König?“

Da grunzte mich auch der Hässliche Gutt an: „Hast du was von einem Geheimgang gehört? Raus mit der Sprache!“

Plötzlich zog er ein blitzendes Messer aus der Hosentasche.

Zitronella Sumpfstrumpf hopste auf und ab und kicherte: „Mach sie fertig!“

Mel wackelt mit dem Zeigefinger, der inzwischen verbogen ist wie ein Fragezeichen. Die Stelle mit dem Messer gefällt ihr nicht. Sie streicht sie durch, schließlich will sie als Heldin ihrer Geschichte nicht ermordet werden.

Immer stärker gerät Mel in den Bann ihrer abenteuerlichen Schilderung, in der Wahres und Ausgedachtes unmerklich ineinanderfließen. Die Katze verwandelt sie in ein Feuer fauchendes Ungeheuer. Aus der Villa macht sie ein geheimnisumwittertes Schloss. Sie selbst wird von den furchterregenden Gestalten ins Reich eines herrschsüchtigen, potthässlichen Königs entfuhrt.

Grübelnd kaut Mel am Stift. Der König braucht einen Namen… Ihr Blick fällt auf die Verpackung der Pizza, die aufgerissen auf dem Tisch liegt. Tiefkühlkost Popan & Söhne

Popan… Bedeutet der Name etwas?

Mel holt ein Wörterbuch. Poolbillard… Pop… Popanz - vermummte Schreckgestalt.

„Popanz, das passt doch zu einem Potthässlichen, oder?“, fragt sie Herrn Affe.

Dabei geht ihr auf, dass sie sich bisher nur fiese Gestalten ausgedacht hat.

Der König sollte einen Sohn bekommen, der die väterliche Hässlichkeit nicht geerbt hat, und da fällt ihr der Junge aus dem Zug ein.

„Wie soll er heißen? Machen wir ein Spiel daraus?“

Mel dreht den Schimpansen auf die freundliche Seite und nimmt sein Grinsen als Zustimmung.

Mit geschlossenen Augen tippt ihr Finger dreimal wahllos ins Telefonverzeichnis.

Cornelius Kellner. Ida Senkepiehl. Melusine Morgan

Sie wälzt die Silben der drei Namen auf der Zunge herum, bis sich wie von selbst aneinanderreiht: Me und Mo. MeMo! Sie findet, das klingt rätselhaft und zugleich schön.