E. T. A. Hoffmann

   

Nussknacker und Mausekönig

 

The Nutcracker and the Mouse King












 







E. T. A. Hoffmann


Ernst Theodor Amadeus Hoffmann wurde am 24. Januar 1776 in Königsberg/Ostpreußen als Sohn des Hofgerichtsadvokaten Christoph Ludwig Hoffmann und dessen Kusine Luise Albertine Doerffer geboren. 1792 nahm Hoffmann an der Albertus-Universität Königsberg das Studium der Rechtswissenschaften auf. Neben seinem Studium begann er schon früh zu schreiben, zu musizieren und zu zeichnen. Zudem gab er Musikunterricht.

 

Ab 1800 war Hoffmann als Jurist tätig, versuchte aber gleichzeitig immer wieder vergeblich, als Musiker Fuß zu fassen. Aus Bewunderung für den Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart änderte er seinen dritten Vornamen 1805 von Wilhelm in Amadeus. Im Jahr 1814 nahm Hoffmann schließlich eine Stellung am Kammergericht in Berlin an. Nachdem ab 1814 die „Fantasiestücke in Callot´s Manier“ herauskamen, wurde Hoffmann allmählich als Schriftsteller bekannt. Es folgten „Die Elixiere des Teufels“ und die „Nachtstücke“, mit denen er an seinen Anfangserfolg allerdings nicht anknöpfen konnte. Dies gelang erst mit „Die Serapionsbrüder“, „Lebensansichten des Katers Murr“ und „Klein Zaches, genannt Zinnober“, erschienen in den Jahren 1819 bis 1822.

 

Die Meinungen seiner Zeitgenossen zu Hoffmann waren recht unterschiedlich, erst nach dem Tod des Schriftstellers wurde seinem Werk breitere Anerkennung zuteil. Aufgrund des beachtlichen Erfolgs seiner Werke in Frankreich machten ihn die Autoren Michel Carré und Jules Paul Barbier zum Protagonisten des 1851 uraufgeführten Schauspiels „Les Contes d’Hoffmann“, das die Basis für Jacques Offenbachs Oper „Hoffmans Erzählungen“ bildete, die heute längst zum Standardrepertoire der Opernhäuser auf der ganzen Welt gehört.

 

Neben einem umfangreichen literarischen Werk hinterließ E. T. A. Hoffmann auch Lieder, Bühnenwerke und Instrumentalmusikstücke, außerdem wurden zahlreiche Erzählungen von ihm selbst illustriert. In seinen späten Jahren litt Hoffmann zunehmend an den Folgen einer Syphiliserkrankung, der er am 25. Juni 1822 in Berlin erlag.



 

„Ach, Nussknackerchen“, sprach sie sehr leise ...


„Ach, Nussknackerchen“, sprach sie sehr leise, „sei nur nicht böse, dass Bruder Fritz Dir so wehe getan hat, er hat es auch nicht so schlimm gemeint, er ist nur ein bisschen hartherzig geworden durch das wilde Soldatenwesen, aber sonst ein recht guter Junge, das kann ich Dir versichern. Nun will ich Dich aber auch recht sorglich so lange pflegen, bis Du wieder ganz gesund und fröhlich geworden; Dir Deine Zähnchen recht fest einsetzen, Dir die Schultern einrenken, das soll Pate Drosselmeier, der sich auf solche Dinge versteht.“

 

Aber nicht ausreden konnte Marie, denn indem sie den Namen Drosselmeier nannte, machte Freund Nussknacker ein ganz verdammt schiefes Maul, und aus seinen Augen fuhr es heraus, wie grünfunkelnde Stacheln. In dem Augenblick aber, dass Marie sich recht entsetzen wollte, war es ja wieder des ehrlichen Nussknackers wehmütig lächelndes Gesicht, welches sie anblickte, und sie wusste nun wohl, dass der von der Zugluft berührte, schnell auflodernde Strahl der Lampe im Zimmer Nussknackers Gesicht so entstellt hatte.

 

„Bin ich nicht ein töricht Mädchen, dass ich so leicht erschrecke, so dass ich sogar glaube, das Holzpüppchen da könne mir Gesichter schneiden! Aber lieb ist mir doch Nussknacker gar zu sehr, weil er so komisch ist, und doch so gutmütig, und darum muss er gepflegt werden, wie sich‘s gehört!“



   

‘Oh, my darling little Nutcracker!' said she, very softly, 'don't you be vexed because brother Fritz has hurt you so: he didn't mean it, you know; he's only a little bit hardened with his soldiering and that, but he's a good, nice boy, I can assure you: and I'll take the greatest care of you, and nurse you, till you're quite, quite better and happy again. And your teeth shall be put in again for you, and your shoulder set right; Godfather Drosselmeier will see to that; he knows how to do things of the kind –  – '

 

Marie could not finish what she was going to say, because at the mention of Godfather Drosselmeier, friend Nutcracker made a most horrible, ugly face. A sort of green sparkle of much sharpness seemed to dart out of his eyes. This was only for an instant, however; and just as Marie was going to be terribly frightened, she found that she was looking at the very same nice, kindly face, with the pathetic smile which she had seen before, and she saw plainly that it was nothing but some draught of air making the lamp flicker that had seemed to produce the change.

 

‘Well!' she said, 'I certainly am a silly girl to be so easily frightened, and think that a wooden doll could make faces at me! But I'm too fond, really, of Nutcracker, because he's so funny, and so kind and nice; and so he must be taken the greatest care of, and properly nursed till he's quite well.'




Was Sie über dieses Buch wissen sollten


„Nussknacker und Mausekönig“, die 1816 in Berlin erschienene Geschichte über die Liebe eines kleinen Mädchens zu einer Spielzeugfigur, gehört zu den weltweit bekanntesten Märchenstoffen. Dass dieses Kunstmärchen weit über den deutschen Sprachraum hinaus bekannt wurde, liegt vor allem an dem Schriftsteller Alexandre Dumas dem Älteren (1802 - 1870), der E. T. A Hoffmanns Geschichte im Jahr 1844 als französische Neubearbeitung publizierte. Diese Version, die sich deutlich vom Original unterscheidet, bildete wiederum die Vorlage für das Ballett „Der Nussknacker“ von Pjotr Iljitsch Tschaikowski, das 1892 in St. Petersburg uraufgeführt wurde. Bis heute gehört dieses Stück zu den weltweit populärsten Aufführungen in der Weihnachtszeit und hat entscheidend zur internationalen Popularität von Hoffmanns Märchenstoff beigetragen. Mittlerweile wurde die Ursprungserzählung auch häufig verfilmt und das Motiv, Spielzeugfiguren zum Leben zu erwecken, bildet längst eine immer wieder erfolgreiche Grundlage für eine Vielzahl von Kinderfilmen.

 

Die Lektüre von Hoffmanns „Nussknacker und Mausekönig“ verspricht weit mehr als nur Spaß an sprechenden Holzpuppen, am actionreichen Spielzeuggetümmel und dem märchenhaften Happyend. Diese Geschichte erlaubt nämlich nicht nur eine kindliche Lesart, bei der die Auseinandersetzung der beiden Titelfiguren im Mittelpunkt steht und womit sich die Erzählung auch als klassische Vorlesegeschichte eignet. Hoffmanns literarische Meisterschaft besteht darin, auch erwachsene Leser anzusprechen und ihnen einen tieferen Blick in die kindliche Seele zu ermöglichen – wenn die kindliche Phantasie beim Spielen zwischen realer und magischer Weltsicht hin- und herwechselt. Eltern können so erahnen, was sich beim selbstversunkenen Spiel mit Puppen, Dinosauriern und Ritterfiguren im Gemüt kleinerer Kinder abspielt.


 

Für Einsichten dieser Art sind bei „Nussknacker und Mausekönig“ – und natürlich auch bei  anderen hoffmannschen Erzählungen – keine psychologischen oder germanistischen Vorkenntnisse erforderlich. Es reicht, sich die Ambivalenz und Rolle vieler Figuren in dieser Geschichte vor Augen zu führen. So wird bereits die Perspektive des Erzählers der Rahmengeschichte nicht eindeutig durchgehalten. Wie blickt er auf die geschilderten Erlebnisse des Mädchens? Anfangs scheint er auf ihrer Seite zu stehen, dann aber stellt er ihre Beschreibungen infrage, vertritt das Realitätsprinzip der Eltern, um schließlich die Geschichte mit dem Bericht über die Kinderhochzeit auf eine Art aufzulösen, die vermuten lässt, das kleine Mädchen sei doch einem krankhaften Wahn verfallen. Noch märchenhafter und träumerischer wird die Erzählung durch das in die eigentliche Geschichte eingebettete Pirlipat-Märchen. Und welche Rolle spielt eigentlich der Pate Drosselmeier? Ist er der liebe Onkel oder doch ein Zauberer?

 

Dass Hoffmann diese Zwei- und Mehrdeutigkeiten am Ende seiner Geschichte nicht auflöst, macht den Reiz der Lektüre aus. Die Erzählung entwirft eine Welt, die sich nicht restlos an den Maßstäben des profanen Alltagserleben messen lässt – dies trifft nicht nur für kleinere Kinder zu, sondern auch für Erwachsene. Diese Sensibilität zu erwecken, macht die ästhetische Qualität dieses Märchens aus – und damit war Hoffmanns Märchen seiner Zeit um Jahrzehnte voraus.


Hier liegt Hoffmanns Märchen in einer zweisprachigen Ausgabe vor, so kann der Leser bei der Lektüre zugleich seine englischen Sprachkenntnisse auffrischen. Die Rechtschreibung wurde den aktuellen Regeln angepasst, altertümliche Begriffe und stilistische Besonderheiten E. T. A. Hoffmanns wurden unverändert übernommen, so dass der ursprüngliche Charakter der Erzählung erhalten bleibt.





Nussknacker und Mausekönig


Der Weihnachtsabend

 

Am vierundzwanzigsten Dezember durften die Kinder des Medizinalrats Stahlbaum den ganzen Tag über durchaus nicht in die Mittelstube hinein, viel weniger in das daranstoßende Prunkzimmer.

 

In einem Winkel des Hinterstübchens zusammengekauert, saßen Fritz und Marie, die tiefe Abenddämmerung war eingebrochen und es wurde ihnen recht schaurig zumute, als man, wie es gewöhnlich an dem Tage geschah, kein Licht hereinbrachte. Fritz entdeckte ganz insgeheim wispernd der jüngeren Schwester (sie war eben erst sieben Jahr alt geworden) wie er schon seit frühmorgens es habe in den verschlossenen Stuben rauschen und rasseln, und leise pochen hören. Auch sei nicht längst ein kleiner dunkler Mann mit einem großen Kasten unter dem Arm über den Flur geschlichen, er wisse aber wohl, dass es niemand anders gewesen als Pate Drosselmeier. Da schlug Marie die kleinen Händchen vor Freude zusammen und rief: „Ach, was wird nur Pate Drosselmeier für uns Schönes gemacht haben.“

 

Der Obergerichtsrat Drosselmeier war gar kein hübscher Mann, nur klein und mager, hatte viele Runzeln im Gesicht, statt des rechten Auges ein großes schwarzes Pflaster und auch gar keine Haare, weshalb er eine sehr schöne weiße Perücke trug, die war aber von Glas und ein künstliches Stück Arbeit. Überhaupt war der Pate selbst auch ein sehr künstlicher Mann, der sich sogar auf Uhren verstand und selbst welche machen konnte. Wenn daher eine von den schönen Uhren in Stahlbaums Hause krank war und nicht singen konnte, dann kam Pate Drosselmeier, nahm die Glasperücke ab, zog sein gelbes Röckchen aus, band eine blaue Schürze um und stach mit spitzigen Instrumenten in die Uhr hinein, so dass es der kleinen Marie ordentlich wehe tat, aber es verursachte der Uhr gar keinen Schaden, sondern sie wurde vielmehr wieder lebendig und fing gleich an recht lustig zu schnurren, zu schlagen und zu singen, worüber denn alles große Freude hatte.

 

Immer trug er, wenn er kam, was Hübsches für die Kinder in der Tasche, bald ein Männlein, das die Augen verdrehte und Komplimente machte, welches komisch anzusehen war, bald eine Dose, aus der ein Vögelchen heraushüpfte, bald was anderes. Aber zu Weihnachten, da hatte er immer ein schönes künstliches Werk verfertigt, das ihm viel Mühe gekostet, weshalb es auch, nachdem es einbeschert worden, sehr sorglich von den Eltern aufbewahrt wurde.

 

„Ach, was wird nur Pate Drosselmeier für uns Schönes gemacht haben“, rief nun Marie; Fritz meinte aber, es könne wohl diesmal nichts anders sein, als eine Festung, in der allerlei sehr hübsche Soldaten auf- und abmarschierten und exerzierten und dann müssten andere Soldaten kommen, die in die Festung hineinwollten, aber nun schössen die Soldaten von innen tapfer heraus mit Kanonen, dass es tüchtig brauste und knallte.

 

„Nein, nein“, unterbrach Marie den Fritz: „Pate Drosselmeier hat mir von einem schönen Garten erzählt, darin ist ein großer See, auf dem schwimmen sehr herrliche Schwäne mit goldnen Halsbändern herum und singen die hübschesten Lieder. Dann kommt ein kleines Mädchen aus dem Garten an den See und lockt die Schwäne heran, und füttert sie mit süßem Marzipan.“

 

„Schwäne fressen keinen Marzipan“, fiel Fritz etwas rau ein, „und einen ganzen Garten kann Pate Drosselmeier auch nicht machen. Eigentlich haben wir wenig von seinen Spielsachen; es wird uns ja alles gleich wieder weggenommen, da ist mir denn doch das viel lieber, was uns Papa und Mama einbescheren, wir behalten es fein und können damit machen, was wir wollen.“

 

Nun rieten die Kinder hin und her, was es wohl diesmal wieder geben könne. Marie meinte, dass Mamsell Trutchen (ihre große Puppe) sich sehr verändere, denn ungeschickter als jemals fiele sie jeden Augenblick auf den Fußboden, welches ohne garstige Zeichen im Gesicht nicht abginge, und dann sei an Reinlichkeit in der Kleidung gar nicht mehr zu denken. Alles tüchtige Ausschelten helfe nichts. Auch habe Mama gelächelt, als sie sich über Gretchens kleinen Sonnenschirm so gefreut. Fritz versicherte dagegen, ein tüchtiger Fuchs fehle seinem Marstall durchaus, so wie seinen Truppen gänzlich an Kavallerie, das sei dem Papa recht gut bekannt.

 

So wussten die Kinder wohl, dass die Eltern ihnen allerlei schöne Gaben eingekauft hatten, die sie nun aufstellten, es war ihnen aber auch gewiss, dass dabei der liebe Heilige Christ mit gar freundlichen, frommen Kindesaugen hineinleuchte und dass wie von segensreicher Hand berührt, jede Weihnachtsgabe herrliche Lust bereite wie keine andere. Daran erinnerte die Kinder, die immerfort von den zu erwartenden Geschenken wisperten, ihre ältere Schwester Luise, hinzufügend, dass es nun aber auch der Heilige Christ sei, der durch die Hand der lieben Eltern den Kindern immer das beschere, was ihnen wahre Freude und Lust bereiten könne, das wisse er viel besser als die Kinder selbst, die müssten daher nicht allerlei wünschen und hoffen, sondern still und fromm erwarten, was ihnen beschert worden. Die kleine Marie wurde ganz nachdenklich, aber Fritz murmelte vor sich hin: „Einen Fuchs und Husaren hätt ich nun einmal gern.“

 

Es war ganz finster geworden. Fritz und Marie fest aneinandergerückt, wagten kein Wort mehr zu reden, es war ihnen als rausche es mit linden Flügeln um sie her und als ließe sich eine ganz ferne, aber sehr herrliche Musik vernehmen. Ein heller Schein streifte an der Wand hin, da wussten die Kinder, dass nun das Christkind auf glänzenden Wolken fortgeflogen – zu andern glücklichen Kindern. In dem Augenblick ging es mit silberhellem Ton: Klingling, klingling, die Türen sprangen auf, und solch ein Glanz strahlte aus dem großen Zimmer hinein, dass die Kinder mit lautem Ausruf: „Ach! – Ach!“ wie erstarrt auf der Schwelle stehenblieben. Aber Papa und Mama traten in die Türe, fassten die Kinder bei der Hand und sprachen: „Kommt doch nur, kommt doch nur, Ihr lieben Kinder und seht, was Euch der Heilige Christ beschert hat.“

     


Die Gaben

 

Ich wende mich an Dich selbst, sehr geneigter Leser oder Zuhörer Fritz – Theodor – Ernst – oder wie Du sonst heißen magst und bitte Dich, dass Du Dir deinen letzten mit schönen bunten Gaben reich geschmückten Weihnachtstisch recht lebhaft vor Augen bringen mögest, dann wirst Du es Dir wohl auch denken können, wie die Kinder mit glänzenden Augen ganz verstummt stehenblieben, wie erst nach einer Weile Marie mit einem tiefen Seufzer rief: „Ach wie schön – ach wie schön“, und Fritz einige Luftsprünge versuchte, die ihm überaus wohl gerieten.

 

Aber die Kinder mussten auch das ganze Jahr über besonders artig und fromm gewesen sein, denn nie war ihnen so viel Schönes, Herrliches einbeschert worden als dieses Mal. Der große Tannenbaum in der Mitte trug viele goldne und silberne Äpfel, und wie Knospen und Blüten keimten Zuckermandeln und bunte Bonbons und was es sonst noch für schönes Naschwerk gibt, aus allen Ästen. Als das Schönste an dem Wunderbaum musste aber wohl gerühmt werden, dass in seinen dunklen Zweigen hundert kleine Lichter wie Sternlein funkelten und er selbst in sich hinein- und herausleuchtend die Kinder freundlich einlud seine Blüten und Früchte zu pflücken.


 

Um den Baum umher glänzte alles sehr bunt und herrlich – was es da alles für schöne Sachen gab – ja, wer das zu beschreiben vermöchte! Marie erblickte die zierlichsten Puppen, allerlei saubere kleine Gerätschaften und, was vor allem schön anzusehen war, ein seidenes Kleidchen mit bunten Bändern zierlich geschmückt, hing an einem Gestell so der kleinen Marie vor Augen, dass sie es von allen Seiten betrachten konnte und das tat sie denn auch, indem sie einmal über das andere ausrief: „Ach das schöne, ach das liebe – liebe Kleidchen: und das werde ich – ganz gewiss – das werde ich wirklich anziehen dürfen!“

 

Fritz hatte indessen schon drei- oder viermal um den Tisch herumgaloppierend und -trabend den neuen Fuchs versucht, den er in der Tat am Tische angezäumt gefunden. Wieder absteigend, meinte er, es sei eine wilde Bestie, das täte aber nichts, er wolle ihn schon kriegen, und musterte die neue Schwadron Husaren, die sehr prächtig in Rot und Gold gekleidet waren, lauter silberne Waffen trugen und auf solchen weißglänzenden Pferden ritten, dass man beinahe hätte glauben sollen, auch diese seien von purem Silber.

 

Eben wollten die Kinder, etwas ruhiger geworden, über die Bilderbücher her, die aufgeschlagen waren, dass man allerlei sehr schöne Blumen und bunte Menschen, ja auch allerliebste spielende Kinder, so natürlich gemalt als lebten und sprächen sie wirklich, gleich anschauen konnte. – Ja eben wollten die Kinder über diese wunderbaren Bücher her, als nochmals geklingelt wurde. Sie wussten, dass nun der Pate Drosselmeier einbescheren würde, und liefen nach dem an der Wand stehenden Tisch. Schnell wurde der Schirm, hinter dem er so lange versteckt gewesen, weggenommen. Was erblickten da die Kinder? – Auf einem grünen mit bunten Blumen geschmückten Rasenplatz stand ein sehr herrliches Schloss mit vielen Spiegelfenstern und goldnen Türmen. Ein Glockenspiel ließ sich hören, Türen und Fenster gingen auf, und man sah, wie sehr kleine, aber zierliche Herren und Damen mit Federhüten und langen Schleppkleidern in den Sälen herumspazierten. In dem Mittelsaal, der ganz in Feuer zu stehen schien – so viel Lichterchen brannten an silbernen Kronleuchtern – tanzten Kinder in kurzen Wämschen und Röckchen nach dem Glockenspiel. Ein Herr in einem smaragdenen Mantel sah oft durch ein Fenster, winkte heraus und verschwand wieder, so wie auch Pate Drosselmeier selbst, aber kaum viel höher als Papas Daumen zuweilen unten an der Tür des Schlosses stand und wieder hineinging.

 

Fritz hatte mit auf den Tisch gestemmten Armen das schöne Schloss und die tanzenden und spazierenden Figürchen angesehen, dann sprach er: „Pate Drosselmeier! Lass mich mal hineingehen in Dein Schloss!“ – Der Obergerichtsrat bedeutete ihn, dass das nun ganz und gar nicht anginge. Er hatte auch recht, denn es war töricht von Fritz, dass er in ein Schloss gehen wollte, welches überhaupt mitsamt seinen goldnen Türmen nicht so hoch war, als er selbst. Fritz sah das auch ein. Nach einer Weile, als immerfort auf dieselbe Weise die Herrn und Damen hin und her spazierten, die Kinder tanzten, der smaragdne Mann zu demselben Fenster heraussah, Pate Drosselmeier vor die Türe trat, da rief Fritz ungeduldig: „Pate Drosselmeier, nun komm mal zu der andern Tür da drüben heraus.“

 

„Das geht nicht, liebes Fritzchen“, erwiderte der Obergerichtsrat.

 

„Nun, so lass mal“, sprach Fritz weiter, „lass mal den grünen Mann, der so oft herausguckt, mit den andern herumspazieren.“

 

„Das geht auch nicht“, erwiderte der Obergerichtsrat aufs Neue.

 

„So sollen die Kinder herunterkommen“, rief Fritz, „ich will sie näher besehen.“

 

„Ei, das geht alles nicht“, sprach der Obergerichtsrat verdrießlich, „wie die Mechanik nun einmal gemacht ist, muss sie bleiben.“

 

„So-o?“, fragte Fritz mit gedehntem Ton, „das geht alles nicht? Hör mal Pate Drosselmeier, wenn Deine kleinen geputzten Dinger in dem Schlosse nichts mehr können als immer dasselbe, da taugen sie nicht viel, und ich frage nicht sonderlich nach ihnen. – Nein, da lob ich mir meine Husaren, die müssen manövrieren vorwärts, rückwärts, wie ich's haben will und sind in kein Haus gesperrt.“

 

Und damit sprang er fort an den Weihnachtstisch und ließ seine Eskadron auf den silbernen Pferden hin- und hertrottieren und schwenken und einbauen und feuern nach Herzenslust. Auch Marie hatte sich sachte fortgeschlichen, denn auch sie wurde des Herumgehens und Tanzens der Püppchen im Schlosse bald überdrüssig, und mochte es, da sie sehr artig und gut war, nur nicht so merken lassen, wie Bruder Fritz.

 

Der Obergerichtsrat Drosselmeier sprach ziemlich verdrießlich zu den Eltern: „Für unverständige Kinder ist solch künstliches Werk nicht, ich will nur mein Schloss wieder einpacken“; doch die Mutter trat hinzu, und ließ sich den inneren Bau und das wunderbare, sehr künstliche Räderwerk zeigen, wodurch die kleinen Püppchen in Bewegung gesetzt wurden. Der Rat nahm alles auseinander, und setzte es wieder zusammen. Dabei war er wieder ganz heiter geworden, und schenkte den Kindern noch einige schöne braune Männer und Frauen mit goldnen Gesichtern, Händen und Beinen. Sie waren sämtlich aus Thorn, und rochen so süß und angenehm wie Pfefferkuchen, worüber Fritz und Marie sich sehr erfreuten. Schwester Luise hatte, wie es die Mutter gewollt, das schöne Kleid angezogen, welches ihr einbeschert worden, und sah wunderhübsch aus, aber Marie meinte, als sie auch ihr Kleid anziehen sollte, sie möchte es lieber noch ein bisschen so ansehen. Man erlaubte ihr das gern.

   


Der Schützling

 

Eigentlich mochte Marie sich deshalb gar nicht von dem Weihnachtstisch trennen, weil sie eben etwas noch nicht Bemerktes entdeckt hatte. Durch das Ausrücken von Fritzens Husaren, die dicht an dem Baum in Parade gehalten, war nämlich ein sehr vortrefflicher kleiner Mann sichtbar geworden, der still und bescheiden dastand, als erwarte er ruhig, wenn die Reihe an ihn kommen werde. Gegen seinen Wuchs wäre freilich vieles einzuwenden gewesen, denn abgesehen davon, dass der etwas lange, starke Oberleib nicht recht zu den kleinen dünnen Beinchen passen wollte, so schien auch der Kopf bei weitem zu groß. Vieles machte die propere Kleidung gut, welche auf einen Mann von Geschmack und Bildung schließen ließ. Er trug nämlich ein sehr schönes violettglänzendes Husarenjäckchen mit vielen weißen Schnüren und Knöpfchen, ebensolche Beinkleider, und die schönsten Stiefelchen, die jemals an die Füße eines Studenten, ja wohl gar eines Offiziers gekommen sind. Sie saßen an den zierlichen Beinchen so knapp angegossen, als wären sie darauf gemalt. Komisch war es zwar, dass er zu dieser Kleidung sich hinten einen schmalen unbeholfenen Mantel, der recht aussah wie von Holz, angehängt, und ein Bergmannsmützchen aufgesetzt hatte, indessen dachte Marie daran, dass Pate Drosselmeier ja auch einen sehr schlechten Matin umhänge, und eine fatale Mütze aufsetze, dabei aber doch ein gar lieber Pate sei.

 

Auch stellte Marie die Betrachtung an, dass Pate Drosselmeier, trüge er sich auch übrigens so zierlich wie der Kleine, doch nicht einmal so hübsch als er aussehen werde. Indem Marie den netten Mann, den sie auf den ersten Blick liebgewonnen, immer mehr und mehr ansah, da wurde sie erst recht inne, welche Gutmütigkeit auf seinem Gesichte lag. Aus den hellgrünen, etwas zu großen hervorstehenden Augen sprach nichts als Freundschaft und Wohlwollen. Es stand dem Manne gut, dass sich um sein Kinn ein wohlfrisierter Bart von weißer Baumwolle legte, denn umso mehr konnte man das süße Lächeln des hochroten Mundes bemerken.

 

„Ach!“, rief Marie endlich aus. „Ach lieber Vater, wem gehört denn der allerliebste kleine Mann dort am Baum?“

 

„Der“, antwortete der Vater, „der, liebes Kind, soll für Euch alle tüchtig arbeiten, er soll Euch fein die harten Nüsse aufbeißen, und er gehört Luise ebenso gut, als Dir und dem Fritz.“

 

Damit nahm ihn der Vater behutsam vom Tische, und indem er den hölzernen Mantel in die Höhe hob, sperrte das Männlein den Mund weit, weit auf, und zeigte zwei Reihen sehr weißer spitzer Zähnchen. Marie schob auf des Vaters Geheiß eine Nuss hinein, und – knack – hatte sie der Mann zerbissen, dass die Schalen abfielen, und Marie den süßen Kern in die Hand bekam. Nun musste wohl jeder und auch Marie wissen, dass der zierliche kleine Mann aus dem Geschlecht der Nussknacker abstammte, und die Profession seiner Vorfahren trieb. Sie jauchzte auf vor Freude, da sprach der Vater: „Da Dir, liebe Marie, Freund Nussknacker so sehr gefällt, so sollst Du ihn auch besonders hüten und schützen, unerachtet, wie ich gesagt, Luise und Fritz ihn mit ebenso vielem Recht brauchen können als Du!“

 

Marie nahm ihn sogleich in den Arm, und ließ ihn Nüsse aufknacken, doch suchte sie die kleinsten aus, damit das Männlein nicht so weit den Mund aufsperren durfte, welches ihm doch im Grunde nicht gut stand. Luise gesellte sich zu ihr, und auch für sie musste Freund Nussknacker seine Dienste verrichten, welches er gern zu tun schien, da er immerfort sehr freundlich lächelte. Fritz war unterdessen vom vielen Exerzieren und Reiten müde geworden, und da er so lustig Nüsse knacken hörte, sprang er hin zu den Schwestern, und lachte recht von Herzen über den kleinen, drolligen Mann, der nun, da Fritz auch Nüsse essen wollte, von Hand zu Hand ging, und gar nicht aufhören konnte mit Auf- und Zuschnappen.

 

Fritz schob immer die größten und härtesten Nüsse hinein, aber mit einem Male ging es – krack – krack – und drei Zähnchen fielen aus des Nussknackers Munde, und sein ganzes Unterkinn war lose und wacklig.

 

„Ach mein armer lieber Nussknacker!“, schrie Marie laut, und nahm ihn dem Fritz aus den Händen.

 

„Das ist ein einfältiger dummer Bursche“, sprach Fritz. „Will Nussknacker sein, und hat kein ordentliches Gebiss – mag wohl auch sein Handwerk gar nicht verstehn. – Gib ihn nur her, Marie! Er soll mir Nüsse zerbeißen, verliert er auch noch die übrigen Zähne, ja das ganze Kinn obendrein, was ist an dem Taugenichts gelegen.“

 

„Nein, nein“, rief Marie weinend, „Du bekommst ihn nicht, meinen lieben Nussknacker, sieh nur her, wie er mich so wehmütig anschaut, und mir sein wundes Mündchen zeigt! – Aber Du bist ein hartherziger Mensch – Du schlägst Deine Pferde, und lässt wohl gar einen Soldaten totschießen.“

 

„Das muss so sein, das verstehst Du nicht“, rief Fritz; „aber der Nussknacker gehört ebenso gut mir, als Dir, gib ihn nur her.“

 

Marie fing an heftig zu weinen, und wickelte den kranken Nussknacker schnell in ihr kleines Taschentuch ein. Die Eltern kamen mit dem Paten Drosselmeier herbei. Dieser nahm zu Mariens Leidwesen Fritzens Partie.

 

Der Vater sagte aber: „Ich habe den Nussknacker ausdrücklich unter Mariens Schutz gestellt, und da, wie ich sehe, er dessen eben jetzt bedarf, so hat sie volle Macht über ihn, ohne dass jemand dreinzureden hat. Übrigens wundert es mich sehr von Fritzen, dass er von einem im Dienst Erkrankten noch fernere Dienste verlangt. Als guter Militär sollte er doch wohl wissen, dass man Verwundete niemals in Reihe und Glied stellt?“

 

Fritz war sehr beschämt, und schlich, ohne sich weiter um Nüsse und Nussknacker zu bekümmern, fort an die andere Seite des Tisches, wo seine Husaren, nachdem sie gehörige Vorposten ausgestellt hatten, ins Nachtquartier gezogen waren.