cover

Copyright © 2014 Wolfgang Schmidt

Dieser private Erstdruck basiert

auf dem authorisierten Manuskript

in seiner letzten Fassung vom 10. Juli 2014

Der Autor starb am 23. Juli 2014

Lektorat & Kontakt:

Wolfdieter Wedekind

Osterberg 2 A

38518 Gifhorn

wolfwedekind@t-online.

Tel.: 05371/938 14 99

Books on Demand GmbH Norderstedt

ISBN: 9783739258775

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ich weiß aus vielen Begegnungen, dass fast alle Kriegskinder ihre Traumata haben. Für uns gab es noch keine geschulten Therapeuten. Unter Betroffenen fand man am ehesten Verständnis und erleichterte sich gesprächsweise das Leben.

Viele Männer, die damals Kinder waren, taten sich später schwer, eine Ehe einzugehen und litten im Alltag an Beziehungsproblemen. Sie blieben im Grunde immer allein. Wer sollte ihre Erlebnisse, die sie seelisch schwer belastet, kaum verkraftet und innerlich längst noch nicht aufgearbeitet hatten, verstehen?

Unser Kinderleben ist uns vom Schicksal auferlegt worden. Die Gelegenheit, uns mitteilen zu können, geht zu Ende, weil die Zeit für uns abläuft.

Bedauerlich finde ich, dass die Jugend heute so wenig bis überhaupt nichts von diesen unseren Erfahrungen wissen möchte. Dabei ist es so wichtig zu lernen, wie man Gut und Böse erkennen und eine klare persönliche Haltung entwickeln kann.

Es ist erschreckend, zu erleben, wie heute politische Grüppchen, sogenannte neue Parteien und ewig Gestrige genau wie in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf Mitgliederfang unterwegs sind – ohne Verstand und ohne die Lehren aus der Vergangenheit gezogen zu haben.

Wir glaubten, solche Gefahren nach den leidvollen Erfahrungen des 2. Weltkrieges überwunden zu haben, und doch kommen sie immer wieder wie Unkraut nach oben.

Wolfgang Schmidt im Juni 2014

Foto: W. Wedekind

Mutter Eva Schmidt mit ihren Kindern (von links) Sieglinde, Edeltraut, Wolfgang und Eberhard im Juli 1941.

Foto: Atelier Pflugfelder (Halle/Saale)

Stricken für den Sieg

Auch wenn es dem einen oder anderen Leser als ungewöhnlich frühreif für dieses Alter erscheinen mag: Meine ersten bewussten Begegnungen mit dem damaligen politischen System hatte ich 1942/43 mit noch nicht einmal acht Jahren. Ich war ein sehr aufgewecktes Kind, ging gern zur Schule, hatte sehr früh Lesen und Schreiben gelernt und verschlang als angehender Bücherwurm bald jede mir erreichbare und interessant erscheinende Lektüre.

Manches davon überwältigte mich geradezu, anderes beeinflusste mich, bot mir wichtige Anregungen, verhalf mir zu Einsichten und lieferte zusammen mit prägenden Alltagserlebnissen während der Kriegsjahre die ersten Bausteine für mein Weltbild.

Dazu zählte ein Buch über Napoleons dummdreisten Versuch, 1812 mit seinen Soldaten Russland zu erobern. Bekanntlich scheiterte er am harten russischen Winter, an der Weite des Landes und ständigen Nachschubschwierigkeiten. Die Russen wichen einer Entscheidungsschlacht aus. Nach dem Brand Moskaus endete der Rückzug der „Großen Armee“ in einer Katastrophe: von anfangs 475.000 Mann dieses bis dahin größten Heeres der Geschichte schleppten sich am Ende noch ganze 1.000 halb verhungert und von russischen Truppen verfolgt über die preußische Grenze. Kaiser Napoleon hatte sich längst nach Paris abgesetzt.

Aus diesem historischen Supergau hatte Hitler offenbar nichts gelernt. Stalin und seine Militärs hielten sich an die bewährte Strategie, zunächst keinen einzigen Soldaten gegen die Invasionstruppen einzusetzen, sondern sich in gesicherten Linien zurückzuhalten nach dem Motto: Das überlassen wir Väterchen Frost, der erledigt das viel gründlicher als wir es könnten. Zwar schafften es Hitlers Truppen 1941 bis kurz vor Moskau, doch wurden sie dann, unter anderem Anfang 1943 in und vor Stalingrad*, wie Napoleons Soldaten am Ende restlos „geschafft“. Als man Hitler von der Ostfront meldete, dass seine Soldaten frieren würden, ließ er sich in höchster Not dazu herab, im Radio deutsche Frauen und Mädchen aufzufordern, als Beitrag zum Kriegs-Winterhilfswerk nicht nur wie alle anderen Kleidung und Schuhe zu spenden, sondern auch fleißig Handschuhe und Strümpfe für seine Soldaten zu stricken – aus Wolle. Was bringt Wolle bei diesen Kältegraden und bei dieser Feuchtigkeit, das fragte ich mich schon damals. Die nicht für einen Winterfeldzug ausgerüsteten Soldaten froren sich im Schützengraben den Hintern ab, konnten sich nicht mehr erholen und nirgendwo aufwärmen. So sind sie reihenweise ausgefallen, krank geworden, gestorben. Deutlich wurde, dass Hitler die extremen Bedingungen völlig unterschätzt und gleichzeitig die Kampfkraft seiner Truppen überschätzt hatte. Der Strick-Appell des Führers tat mir weh, weil ich wusste, dass diese Aktion sinnlos war.

Dem Kälteproblem hätte man im Vorfeld schon ganz anders begegnen müssen. Es waren ja nicht nur die Soldaten, die in Eiseskälte verreckten, es waren auch die Motoren. Viele Fahrzeuge versanken schon auf dem Weg zu ihren Einheiten und Stellungen hoffnungslos im Morast. Im Schlamm eingefrorene Panzerketten machten Panzer bewegungsunfähig. Auch die Betankung der Fahrzeuge wurde zum Problem: welcher Tankwagen konnte dorthin gelangen, wo sich selbst Panzer festgefahren hatten, die überdies dem Feind nun ein leichtes Ziel boten? Die dem Hilfswerk von deutschen Wintersportassen gespendeten Skier dürften da kaum für mehr Bewegungsfreiheit gesorgt haben . . .

Die einzige Ohrfeige

Meinem Vater, fast zwei Meter groß, immer in Uniform und überzeugter Nazi, berichtete ich am Abendbrottisch, was der Hitler vorhin im Radio für einen „bestrickenden“ Blödsinn erzählt hätte.

Da hob er schon die Hand, um mir eine zu klatschen. Wie ich es wagen könne, den Führer als „Blödsinn redend“ darzustellen. Ich habe dann nochmal nachgelegt und ihm gesagt, der Hitler ist doch ein Idiot. Da hat's meinem Vater gereicht, und ich bekam von ihm die erste und einzige Ohrfeige meines Lebens. Die nahm ich gerne hin, weil ich erkannt hatte, wie uneinsichtig und dumm auch mein Vater war. Mir schien unfassbar, dass jemand so naheliegende Schlussfolgerungen nicht zog.

Der Winter 1943/44 und die beiden folgenden waren gleichbleibend hart. Auch in unserer Wohnung in der Artilleriestraße, heute Damaschkestraße, am Rand meiner Heimatstadt Halle/Saale war es bitterkalt, die Fensterscheiben dick vereist. Unter der Kälte litt die ganze Stadtbevölkerung. Es war ja kaum irgendwo ein qualmender Schornstein zu sehen. Die Leute liefen in Wintermänteln durch die Wohnung. Anders war das Leben nicht zum Aushalten. Die Kinder wurden dick eingemummelt, damit sie nicht erfroren. Ich hatte einen jüngeren Bruder und zwei noch jüngere Schwestern, die mit mir bibberten.

Für die Frauen war es doppelt schwierig, weil ohne Herdflamme kein warmes Essen zubereitet werden konnte. Meistens gab es kein Gas zum Heizen und Kochen; die Wasserleitungen waren zugefroren. Brennmaterial wie Holz oder Kohlen, die wir dringend gebraucht hätten, gab es bald ebenfalls nicht mehr. Wir durften im Keller gar keine Kohlen mehr lagern, weil, so die Begründung, nach Bombentreffern die verstärkte Ausbreitung von Feuer und damit eine zusätzliche Gefährdung von Anwohnern und Volksgut zu befürchten wäre. Mit der Zeit ergab es sich, daß der Gasherd mal für ein oder zwei Stunden brannte, wenn die Stadtverwaltung Gas bereitstellte. Dann kochten die Frauen natürlich schnell ein Süppchen, Kaffee oder Tee, um etwas Warmes in den Magen zu bekommen. Oft ging mittendrin der Herd wieder aus, und wir hofften auf Zuteilung am nächsten Tag. So musste man also versuchen, die Zeit zu überstehen.

Ich entschloss mich, selbst tätig zu werden. Wir lebten ja in einem Braunkohlegebiet, und ich hatte gehört, daß die Abraummaschinen auch arbeiten würden . . .

Kohlenklau ohne Brennwert

Wir besaßen einen kleinen, rot gestrichenen Handwagen, der mit bis zu zwei Zentner Kohlen beladen werden konnte. Ich zog also los in Richtung Tagebau. Ich kam problemlos an den Böschungsrand. Es gab oben nur eine leichte Absperrung, unter der ich hindurchgehen konnte. Ich guckte hinunter und sah in großer Tiefe –ganz klein aus der Entfernung - die riesigen Bagger.

Wo Braunkohle steht und wie die aussieht, wusste ich nicht. Ich krabbelte ganz vorsichtig ein Stückchen die Böschung hinunter. Es war alles ziemlich glatt abgeschürft, etwa 45 Grad steil. Ich hätte sehr schnell in die Tiefe abrutschen können. Mir gelang es aber, noch weiter nach unten zu kommen, wo ich braune Erde vorfand. Das wird die Braunkohle sein, dachte ich und versuchte, sie mit einem Hammer loszuklopfen, um sie dann eimerweise nach oben zu bringen. Es war äußerst schwierig, den hart wie Beton gefrorenen Böschungsboden aufzubrechen und überhaupt etwas nach oben zu schaffen. Ich wiederholte diese Klettertour einige Male. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich eine halbe Wagenladung zusammengesammelt hatte.

Ich rollte meine Beute nach Hause und steckte den Ofen an in der Erwartung, später ein bisschen Wärme genießen zu können.

Allerdings hatte ich in den Tagen und Wochen zuvor sämtliches erreichbares brennbares Holz schon zerhackt, kleingemacht und alles im Kachelofen verbrannt, was bei eiskalten Wänden keine wohnliche Wärme erzeugte, sondern die Raumtemperatur um höchstens zwei, drei Grad ansteigen ließ. Unsere Keller waren durch Zaunlatten abgetrennt, von denen ich einige schon nach oben geschafft hatte. Ich haute noch mehr von diesen Abtrennungen heraus und zerkleinerte sie, um damit die Braunkohle anzuzünden. Das Lattenmaterial brannte im Ofen schnell an. Als ich dann aber die vermeintliche Braunkohle darüber warf, begann das Feuer zu erlöschen. Mir war nicht klar, warum meine Braunkohle nicht brennen wollte. Ich machte mich kundig: Was ich mühsam abgeräumt hatte, war braunes Erdreich oder „Jungkohle“ ohne Brennwert. Das Zeug konnte ich getrost in die Tonne treten.

Fliegeralarm und Bombenkunde

Als nächstes großes Problem kamen ab 1944 die ständigen Fliegeralarme auf die Familien zu. Wir lernten kennen, wie sich das anhört und was das bringt, wenn die Bomber nachts über die Stadt fliegen. Wir hörten die Einschläge.