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Ernst Fritz-Schubert

Schulfach Glück

Wie ein neues Fach die Schule verändert

2. Auflage 2008


© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2008

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de



Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig



ISBN (E-Book) 978-3-451-33323-1

ISBN (Buch) 978-3-451-29849-3

Geleitwort

Wer die deutsche Schulwirklichkeit kennt, denkt zuerst, dass es sich beim Buch „Schulfach Glück“ von Ernst Fritz-Schubert um eine kurzweilig und mitreißend geschriebene Fiktion aus einer fernen Zukunft handelt. Hören wir nicht täglich, dass es nur um „schneller, höher, weiter“ geht? Zählt letztlich nicht nur das wirtschaftliche Wachstum? Wirkt hier das „Gerede“ vom Glück nicht einfach nur störend? Doch halt! Hat nicht schon Aristoteles gesagt, dass das letzte Ziel des menschlichen Handelns Glück ist? Hat nicht Bundespräsident Horst Köhler seine „Berliner Rede“ 2007 unter das Leitthema „Das Streben der Menschen nach Glück verändert die Welt“ gestellt? Ist das ständige Streben nach immer „Mehr“ an materiellen Gütern vielleicht nur eine epochale Sackgasse? Worum es vielmehr geht, sind Sinn und Menschlichkeit als Quellen für ein glückliches Leben. Fritz-Schuberts Buch – eine Pflichtlektüre für jeden Pädagogen und Schulpolitiker – liefert hier einzigartige Einblicke in ein Schulfach „Glück“, das er mit Erlaubnis des Kultusministeriums Baden Württemberg in der Willy-Hellpach-Schule in Heidelberg einführte. Einzelne bewegen die Welt. Und das Fach Glück wird schon bald Eingang finden in den deutschen Schulalltag. Man wird sich dann wohl eher die Frage stellen, wieso es so lange gedauert hat.



Prof. Dr. Karlheinz Ruckriegel

Fakultät Betriebswirtschaft

Georg-Simon-Ohm Hochschule Nürnberg

Einleitung

Glück und Schule. Passt das zusammen? Wer Glück und Schule verbinden möchte, geht das Risiko ein, ausgelacht und verspottet zu werden, großmütige Zeitgenossen belassen es vielleicht auch nur bei einem Stirnrunzeln.

Viele Menschen haben an ihre Schulzeit fast nur ungute Erinnerungen. Schulangst hat wohl jeder schon einmal erfahren. Irgendwie muss ich da durchkommen durch dieses Zwangssystem, denken die meisten Schüler. Das gilt übrigens auch für eine stattliche Anzahl von Lehrern. Durchwursteln, überleben, Schule. Aber Glück?

So wundert es nicht, dass zwar in ihrer Bedeutung als wichtigen Lebensraum die Schule gleich hinter der Familie steht, aber auf der Beliebtheitsskala gerade noch vor dem Besuch beim Zahnarzt rangiert.

Eltern fürchten ein eventuelles Versagen ihrer Kinder in der Schule und hoffen nur, dass ihre Sprösslinge unbeschadet durch das System kommen. Kaum einer mag die Schule, aber alle wissen auch, ohne sie geht es nicht.

Die Lehrer fühlen sich durch eine Flut von Vorschriften und ständig wechselnden Bildungsstandards unter Druck, von den Politikern allein gelassen und von der Öffentlichkeit als Ferienmeister, Faulpelze und Besserwisser abgestempelt.

Alles keine guten Voraussetzungen, Glück und Schule irgendwie in Verbindung zu bringen.

Die dringend notwendige Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern – wenn sie denn überhaupt stattfindet – verläuft oft eher verhalten und misstrauisch als kooperativ. Läuft die Schule, ist der Kontakt nicht unbedingt notwendig, es ergibt sich eine Art friedliche Koexistenz. Wehe aber, die Schüler „funktionieren“ nicht, dann hagelt es Vorwürfe. Von der einen Seite werden die angeblich unfähigen oder ungerechten Lehrer, die die Leistungen der Pennäler verkennen und nicht fördern, angegangen. Pauker statt Pädagogen schallt es über den Schulhof.

Die Reaktion lässt nicht lange auf sich warten. Nein, es sind die Eltern, die unfähig und überfordert sind und die die notwendigen Voraussetzung nicht geschaffen haben, bei ihnen liegt die Ursache, poltern die Lehrer zurück. Die Schule sei schließlich kein Reparaturbetrieb für die unterlassene Erziehung durch die Familie.

Wo bleiben da die Hauptbetroffenen, die Schüler? Glück? Oder wenigstens ein paar Glücksmomente?



Die gibt es schon. Aber die Glücksmomente in deutschen Schulen beschränken sich bei vielen Schülern nur auf wenige Tage. Auf den ersten Schultag, da gibt es die Zuckertüte und tolle Geschenke. Auf den letzten Schultag, denn dann ist endlich alles vorbei. Glücksmomente erleben die Kinder vor allem dann, wenn der Unterricht ausfällt. Diese Tatsache wird hierzulande allzu gern verharmlost, übrigens nicht nur von den Schülern, sogar von manchen Politikern. „Und trotzdem ist doch aus uns etwas geworden“, kanzelte einst der frühere baden-württembergische Kultusminister Mayer-Vorfelder und Ehrenpräsident des Deutschen Fußballbundes das Thema ab.

Seit Generationen wird über das Bildungssystem diskutiert. Geändert hat sich trotz zahlreicher Pisa-Studien der OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development-Report) nicht viel. Andere, vor allem nordeuropäische Länder, haben Deutschland, das Land der Dichter und Denker, nach diesen Untersuchungen längst in die zweite Bildungsliga verdrängt, und das wurmt.



Als erste Reaktion auf die miserablen Ergebnisse der seit dem Jahr 2000 durchgeführten Untersuchungen forderten einige Politiker sogar, aus der Studie einfach auszusteigen. Bildungskritiker verlangen wieder mehr Disziplin und Strenge. Es gibt sogar Stimmen, die nach einer Renaissance der wilden 68er, nach antiautoritärer Pädagogik rufen. Verwegene möchten die Legende Summerhill mit der pädagogischen Lehrfibel ihres Begründers Alexander S. Neill aus der Versenkung holen.



Wir sind aber längst im 21. Jahrhundert angekommen. Gescheiterte Modelle des 20. Jahrhunderts sollten nicht wiederholt werden, und es wird höchste Zeit, in Anlehnung an Hartmut von Hentig, Schule neu zu denken. Das Fach Glück, für das ein Lehrplan und ein Unterrichtskonzept mit vielen externen Dozenten und Lehrern entwickelt wurde, soll dazu einen Impuls geben. Glück macht Schule und Schule macht Glück. Dass das möglich ist, soll dieses Buch zeigen.

Teil I
Schulische Wirklichkeit

1. Die Schultüte: Ein Placebo mit Zuckerguss

Alle Kinder freuen sich auf den ersten Schultag. Sie sind aufgeregt. Was auf sie zukommt, kennen sie zwar nicht, aber es ist unheimlich spannend. Der Schulranzen ist das Symbol für die Kleinen, das ihnen zeigt, jetzt gehören sie endlich zu den Großen, weil sie ja lesen, schreiben und rechnen lernen. Er bringt so viel Aufregung, so viel Motivation mit und ist für jeden ABC-Schützen mit heftigen Glücksgefühlen verbunden. Der erste Schritt in die Schule.

Alleine in eine andere Welt zu starten und selbständig zu werden, ist ein wunderbares Gefühl. Die Schultüte mit dem bunten Krepppapier und den vielen Geschenken zeigt den Kleinen, heute an ihrem ersten Schultag sind sie der Star. Fürwahr ein großartiges Erlebnis. Ein Ereignis, das ihnen in der Zeit davor süße Träume beschert, das sie vorher fürchterlich stolz macht. Vorher.



Ich kann mich noch gut an jenen Apriltag 1954 erinnern – damals wurde noch zu Ostern eingeschult – an dem meine Mutter mich im Alter von fünf Jahren, ein Jahr zu früh, in der Domschule in Fulda anmeldete. Mit dieser wahnwitzigen Aktion wollte sie vermeiden, dass ich mit Dieter, dem Sohn ungeliebter Mieter, die uns als Flüchtlinge vom Wohnungsamt zugewiesen worden waren, in eine Klasse komme. Dabei fand ich den Dieter gar nicht so schlimm.

Auf jeden Fall habe ich mich sehr auf diesen Tag gefreut. Die glitzernde, bunte Schultüte faszinierte mich, zog mich magisch an mit all ihren Leckereien, die ich damals nicht jeden Tag genießen konnte. Ich war unglaublich neugierig, wie es wohl drinnen in der Schule aussieht. Immer wieder habe ich mir ausgemalt, wo ich im Klassenzimmer sitzen will, erste Reihe, letzte Reihe, mittendrin, nur entscheiden konnte ich mich nicht. Wieso auch? Wer sitzt dann neben mir? Eine Schule, ein Klassenzimmer, wer kann sich schon als Piefke mit fünf Jahren ausmalen, was da auf einen zukommt.



Was für ein Mensch wird mein Lehrer sein? Immer wieder beschäftigte ich mich damit. Streng etwa, wie viele in dieser Zeit? Wer geht noch alles in die Klasse? Was sind das für Kinder? Wie werden die zu mir sein?



Jetzt endlich gehörte ich zu den Schulkindern. Der Schulweg war lang und dauerte eine halbe Fußwegstunde. Als wir dort ankamen, fiel mir als erstes der Geruch auf. Ein Duft von Bohnerwachs, Schiefer und Holz zog durch die Flure. Das Klassenzimmer war groß und die Bänke waren aus Holz, fest montiert mit einem kleinen eingelassenen Tintenfässchen in der Mitte. Für mich war dies alles neu und völlig ungewohnt. Als ich meinen Platz in der ersten Reihe eingenommen hatte, wir waren nach der Größe sortiert, mussten die Eltern den Raum verlassen. Manche Kinder weinten und wollten raus, durften aber nicht.



Mein Lehrer, der Herr Farnung, schien nett zu sein. Bis er fragte, wer denn mal nach vorne kommen möchte, um mit ihm gemeinsam zu rechnen. Neben mir saß Michel, ein Schüler, der wegen einer unerkannten Infektionskrankheit ein Auge verloren hatte und zu Hause wohl schon sehr viel geübt hatte. Der ging dann nach vorne. Mit Hilfe einiger wunderschöner bunter Holzkugeln zeigte er uns allen, dass das Rechnen kinderleicht ist. Für ihn jedenfalls.



Als Fünfjähriger hatte ich bis dahin so manche Kugel beim Murmelspiel erobert, aber richtig gerechnet hatte ich bis dahin noch nicht. Dafür konnte ich Bäume besteigen, unserem Hund den Knochen entreißen und mit der Tante Plätzchen backen. Ich war nämlich bis dahin so naiv zu glauben, dass man Rechnen erst in der Schule lernen sollte.



Mit dieser so wichtigen Lebenserfahrung durfte ich anschließend mit meiner Mutter wieder nach Hause. Die Erfahrungen des ersten Tages waren zusammengefasst einfach riesig. Man lernt für die Schule am besten vorher oder bringt das Wissen aus dem Elternhaus mit, sonst steht man meistens dumm da und die Hausaufgaben dauern lange. Viele Fähigkeiten, die sonst ganz wichtig sind wie etwa das Klettern, werden in der Schule ziemlich unwichtig. Irgendwie muss ich diese Erkenntnisse dann jahrelang verdrängt und vergessen haben. Schon in meinem ersten Zeugnis standen so schöne Sätze wie: „Ernst hat sich in letzter Zeit erheblich gebessert. Bei weiteren Anstrengungen wird er sicher bald zu guten Leistungen kommen.“ So bald war es nicht und wirklich ermutigend klangen diese Ausführungen auch nicht. War ich denn vorher krank und jetzt endlich auf dem Wege der Besserung? Klar war das anstrengend und wie gerne wäre ich dafür richtig gelobt worden. Warum stand da eigentlich nicht auch, dass ich als jüngster Schüler gut mit den anderen auskam und meinen Platz unter ihnen gefunden hatte. Dass mir Lernen offensichtlich Freude macht und ich genau deshalb auch sicher bald zu guten Leistungen kommen würde. Nein, da stand einfach nur „weitere Anstrengungen“ und die sind bekanntlich vor allem mit Plackerei, Leiden und Entbehrungen verbunden. Wofür eigentlich?



Für Kinder sind das eher schreckliche Perspektiven. „Wir lernen nicht für die Schule, sondern für das Leben.“ Und das soll etwa nur mit Anstrengungen funktionieren? Das Leben? Herrliche Aussichten. So entpuppte sich der erste Schultag auch bei mir nachträglich als Placebo mit Zuckerguss.



An dieser Erkenntnis knabbern immer noch viele Kinder. Der erste Schultag verläuft zwar heute ganz anders, aber die Zuckertüte, in die jetzt zum Teil auch werthaltige Geschenke gepackt werden, existiert immer noch. Der Tag ist zum Familienfest geworden und die Einführung in den harten Schulalltag geht sanfter von statten. Für die Kleinen gibt es auch in den ersten beiden Jahren nur verbale, meist großzügige Beurteilungen. Die Grundschule bemüht sich, zumindest in den ersten beiden Schuljahren, Schüler und nicht Fächer zu unterrichten. Aber spätestens ab der dritten Klasse wird die Geschichte schon stressiger. Jetzt beginnt nämlich die Vorstufe des Selektionsprozesses, Noten und Klassenarbeiten zeigen tatsächliche oder vermeintliche Leistungsunterschiede auf. Eltern werden dann schnell sehr aktiv, denn die Festlegung der Schullaufbahn ist eine existenzielle Lebensentscheidung. Die Kinder müssen in den nächsten beiden Jahren (in einigen Bundesländern auch erst nach weiteren vier Jahren) sortiert werden. Die Lehrer geraten dann oft unter starken Druck, denn am Ende dieser Phase gibt es entweder „Spreu oder Weizen“. Auf der Grundlage vermeintlicher Leistungsstandards, also Erwartungshorizonte, müssen die Grundschulen und ihre leidgeprüften Lehrer entscheiden, was ein Haupt-, ein Realschüler oder ein Gymnasiast ist.



An die schlummernden Potenziale dieser Kinder, aber noch viel schlimmer an ihre seelischen Zustände, denken nur wenige. Meine Kollegin, Grundschulrektorin und direkte Nachbarin, erzählte mir erst kürzlich, dass Eltern bei ihr vorstellig würden und die Gymnasialempfehlung für ihr Kind einforderten – und man höre und staune – mit der Begründung: „Wir sind finanziell in der Lage unser Kind von heute bis zur letzten Klasse und zum Abitur mit Nachhilfeunterricht zu versorgen und so durch Bildungszukauf die Schullaufbahn erfolgreich abzusichern.“ Das geschieht alles im zarten Kindesalter von etwa zehn Jahren, in dem der Reifungsprozess und die Entwicklung grundlegender Gehirnfunktionen erst noch erfolgen. Erst nach Abschluss dieser Prozesse und nicht einmal dann lassen sich qualitative Leistungsmerkmale ableiten. Die Aufgabe der Grundschule liegt aus der Sicht der pädagogischen Forschung einzig darin, die Kinder schulfähig zu machen. Dazu bleibt uns trotz steigender Lebenserwartung einfach zu wenig Zeit. Ungeduldige Eltern, Lehrer und besonders die Politiker drängen auf immer schnellere „Durchlauferhitzer“, die Schule genannt werden.

2. Durst nach Wissen

„Wissen ist Macht“ formulierte schon Francis Bacon im 16. Jahrhundert. Das ist vielleicht auch der Grund, warum in den wilden 60ern des letzten Jahrhunderts neben vielem anderen eine ungeheuere Bildungsemanzipation in Gang kam. Eltern aller Schichten entwickelten den Ehrgeiz, dass es die Kinder einmal besser haben sollten als sie selbst. Bildung war der Schlüssel zum erfolgreichen Aufstieg. Schließlich sollte sich ja auch die ganze Plackerei der Nachkriegszeit mit den strengen Vorschriften der Haben- und Mussgesellschaft gelohnt haben. „Mehr Wissen gleich weniger Arbeit und mehr Geld“, lautete die Devise. Dies passte auch ganz wunderbar in die Programmatik einer sozialdemokratischen Regierung von Willy Brandt und Helmut Schmidt. Gleichzeitig entwickelte sich aber auch ein ausgeprägtes Sein-Gefühl. Vielleicht auch aus der Erfahrung der Älteren resultierend, die nur den Krieg und dann jede Menge Arbeit kannten. Also besser machen, leben und leben lassen. Aus Müssen wurde Wollen und aus Haben wurde Sein. Schnell wuchs die „Nullbock-Generation“ heran. Aus „Wissen ist Macht“ wurde „nichts wissen macht auch nichts“ und aus „Bildung für alle“ wurde „Abschlüsse für alle und Bildung für keinen.“ Sehr zum Leidwesen der Universitäten und der Ausbildungsbetriebe. Nun riss auch bei den bis dahin tolerantesten Eltern der Geduldsfaden. Waren denn alle Anstrengungen, den Kindern etwas beizubringen, umsonst gewesen, sollte man denn diese Nesthocker bis ans Ende ihrer Tage durchfüttern? Die Deutsche Einheit machte sehr schnell „Schluss mit Lustig“. Steigende Arbeitslosenzahlen markierten die Trendwende. Lebenslanges Lernen, so lautete die Devise der Arbeitsämter und Weiterbildungsinstitute. Schlüsselqualifikation quasi als Türöffner für Beschäftigungssicherung.



Eine Reihe von Begriffen hielt Einzug in die Schulen, die doch früher eher im Bereich des wirtschaftlichen Fachjargons angesiedelt waren: Kundenorientierung, Globale Wettbewerbsfähigkeit, Effizienzsteigerungen beruflicher und allgemeiner Bildungsgänge, Bildungsmanagement usw. Die Zeiten montessorischer Unschuld waren endgültig vorüber. Wir waren erfasst vom weltweiten Wettbewerb. Die Deutschen entlarvt als zu träge und zu faul. Alle anderen entlassen ihre Kinder früher in die Arbeitswelt. Das System muss geändert werden, wohlgemerkt das System und nicht die Inhalte. Der Pisaschock verstärkte dieses Gefühl zu den Dummen und Faulen dieser Welt zu gehören noch kräftig. Und was können Deutsche am besten? „Sich anstrengen“ und „kämpfen“. Genau so wie es 40 Jahre zuvor in meinem ersten Zeugnis stand. Seit dieser Zeit boomen Nachhilfezirkel, die Erfolg versprechen sowie eine Vielzahl von Privatschulen, die uns ähnlich wie in den Vereinigten Staaten ein Zweiklassen-Schulsystem verpassen. Die, die zahlen können und dafür Erfolgsgarantie für den gewünschten Abschluss bekommen und diejenigen, die hoffen, dass trotzdem noch alles irgendwie gut ausgeht. Unser Effektivitätsstreben, nur keine Zeit verschwenden, kennt keine Grenzen mehr.



Ein Beispiel dafür ist die Frühförderung von Kleinkindern, wohlgemerkt Wissensförderung. Nach amerikanischem Vorbild gibt es in Deutschland bereits Filialen der so genannten „Fastrackids“. Entgegen meiner ursprünglichen Annahme, dass es sich um schnell laufende Kinder handele, bedeutet der etwas schwierig zu übersetzende Begriff wohl „Kinder auf der Wissensüberholspur“. Im Curriculum finden sich Naturwissenschaften, Mathematik, Biologie Geologie und Sprachen. Die Kurse dauern zwei Jahre und kosten knapp 3000 Euro. Über den Sinn solcher Anstrengungen kann man wirklich streiten. Immerhin sind die Kurse in 34 Ländern vertreten und die Entwickler der „fastrackids“ sprechen schon von den „tomorrow’s leaders“. Sogar zwei Monate alte Babys werden von ihren Müttern bereits in die Sprachschulen getragen, um ihnen fremdsprachliche Vokabeln vorzusingen.



Wissenschaftliche Untersuchungen belegen allerdings, dass Kinder im Vorschulalter, denen man durch bestimmte Bildungsmaßnahmen Wissensinhalte vermittelte, zwar einen kurzzeitigen Vorsprung gegenüber einer Vergleichsgruppe ohne diese Zusatzmaßnahmen erlangten, aber langfristig keine signifikanten Vorteile erkennbar waren. Im Gegenteil, diese Kinder wiesen im Verhaltensbereich, so z. B. im Einfühlungsvermögen und ihrer Sozialkompetenz, Mängel auf. Für mich sind diese Elitekinder, die darauf getrimmt sind, immer spitze zu sein, eine Horrorvision – das halten doch auf Dauer weder die Kinder, noch hält es die Gesellschaft aus.



Mit etwas Geduld könnten wir darauf hoffen, dass Kinder ihre genetisch vorprogrammierte Neugier rechtzeitig spielerisch ausleben und mit Unterstützung ihnen zugewandter Menschen Dinge ausprobieren, Eigeninitiative entwickeln und stabile Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen.



Offensichtlich ist Geduld in der technisierten und beschleunigten Gesellschaft eher ein unmoderner und antiquierter Begriff. Da klingt doch „Turbogymnasium“ schon wesentlich zeitgemäßer. Gemeint ist damit die bildungspolitische Errungenschaft des 21. Jahrhunderts, Schüler in 12 Jahren statt wie bisher in 13 Jahren zum Abitur zu führen. Nach Meinung vieler Eltern und Lehrer entsteht dadurch nicht nur in der Schule, sondern auch in den Elternhäusern gewaltiger Stress. Ärzte fürchten um die Gesundheit der betroffenen Schüler. Sicher ist, dass die wöchentliche Unterrichtszeit erhöht wurde, damit das Pensum bis zum Abitur in weniger Jahren absolviert werden kann. Mehr Power und ein erhöhtes Lerntempo heißt zugleich weniger Muße und Achtsamkeit gegenüber Dingen und Menschen.



Wer dieses Tempo noch einmal erhöhen will, dem bieten private Bildungseinrichtungen vielfältige akademische Rennbahnen an. Mittlerweile werden für leistungs- und zahlungswillige Teenager Studiengänge angeboten, die Abitur und Vordiplom einer Universität im Doppelpack ermöglichen sollen. Ob das letztlich dazu beiträgt, erfolgreicher das gesamte Studium zu absolvieren, sei dahingestellt. Vor allem stellt sich die Frage, wie die Schülerstudenten mit dieser Belastung umgehen können und ob allein die Lust an der Leistung schon glücklich macht. Sicher ist, dass die so entstehenden erfolgreichen Biographien die Betreffenden als Leistungsträger auszeichnen. Im globalisierten Wettbewerb zählt vor allem schneller, besser, weiter und dafür scheint jedes Mittel recht. Wie viel Menschlichkeit dabei auf der Strecke bleiben kann, zeigt uns die rasante Zunahme von Stresserkrankungen im beruflichen Kontext. Im Spitzensport gilt in vielen Bereichen das Motto: „Der Erfolg heiligt jedes Mittel.“ Gesundheitliche und ethische Bedenken werden dann eher nebensächlich.



Robert J. Sternberg, der nach einer Umfrage der „American Psychological Association“ zu den hundert besten Psychologen des 20. Jahrhundert gehört und zur Zeit in Heidelberg Honorarprofessor ist, bringt es auf den Punkt: Auf die Frage einer Journalistin der örtlichen Presse, was eine intelligente Person auszeichnet, antwortet er: „Viel mehr als gute Noten in der Schule oder an der Uni. Für mich setzt sich Intelligenz aus vier Bestandteilen zusammen: aus Kreativität, um neue Ideen zu entwickeln, aus analytischer Intelligenz, um diese Ideen richtig einzuschätzen, es braucht praktische Intelligenz, um sie zu verwirklichen, und letztlich auch Weisheit, um sicherzustellen, dass diese Ideen der Gemeinschaft dienen“.

3. Sehnsucht nach Bildung

Im Musterländle Baden Württemberg hat der deutsche „Pädagogikpapst“ Hartmut von Hentig im Auftrag des Bildungsrates die anspruchsvollen Hausaufgaben für die Bildungsplaner festgelegt.



„Jeden Bildungsplan wird man zukünftig daran messen, ob die ihm zugrunde liegenden Vorstellung und die von ihm veranlassten Maßnahmen geeignet sind, in der gegenwärtigen Welt

Dies alles sollte in Formen geschehen, die auch den Lehrerinnen und Lehrern, Erziehern und Erzieherinnen bekömmlich sind.“



Dass man Hartmut von Hentig mit dieser Aufgabe betraute, war allein schon eine mutige Entscheidung. Als Erfinder der Bielefelder Laborschule und durch sein Buch „Die Schule neu denken“ hat sich der jetzt 83-Jährige nicht nur Freunde gemacht. Wenn man seine Worte, insbesondere die anzustrebende Lebenszuversicht, Selbstsicherheit, Selbstverantwortung und soziale Verantwortung ernst nimmt und unsere Schulwirklichkeit betrachtet, packt einen das kalte Grausen. Die Statistiken bringen uns Tag für Tag erschütternde Situationsbeschreibungen über die emotionale Befindlichkeit unserer Schulkinder.

4. Ängste fressen Kinderseelen

Normalerweise verfügt jeder Mensch über eine angeborene, mehr oder weniger große Bereitschaft Angst zu empfinden. Sie äußert sich entweder als Furcht vor einer unmittelbaren realen Bedrohung (gerichtete Angst) oder als unspezifisches Angstgefühl. Sie ist eine normale körperliche Reaktion, um Gefahren von sich abzuwenden. Sie bereitet die körperliche Abwehr oder die Flucht vor. Größtmögliche Aufmerksamkeit und die Mobilisierung unserer Energiereserven sollen das Überleben sichern. Das vegetative Nervensystem schüttet über die Nebennierenrinde Cortisol und Adrenalin aus. Der ängstliche Gesichtsausdruck als Begleiterscheinung weist auf die Schutzbedürftigkeit der Person in solchen Situationen hin. Der Kloß im Hals, Schweißausbrüche, Atemnot, Herzrasen und das Abschalten bestimmter Hirnfunktionen sind untrügliche Kennzeichen eines sehr hohen Erregungsniveaus, der massiven Angst. Diese Reaktionen klingen normalerweise nach Ende der bedrohlichen Situation wieder ab.



Durch die genetischen Anlagen, das Temperament, aber insbesondere durch die Kindheitserfahrungen wird sowohl der Angstpegel als auch die Dauer der Zustände bestimmt. Eltern, Erzieher und Lehrer müssen demnach den Kindern Vertrauen in sich selbst und in die Welt mitgeben, sie in Momenten der Angst beruhigen und ihnen Gelassenheit vermitteln. Mit zunehmendem Alter und den Erfahrungen wächst die Fähigkeit der realistischen Einschätzung von Gefahrensituationen und der bewusste oder besser der selbstbewusste Umgang mit ihrem Selbst. Das Ticken einer alten Pendeluhr kann ein Kind in helle Aufregung versetzen, während wir Erwachsenen es gar nicht mehr wahrnehmen. Der Vater oder die Mutter wird das Kind in solchen Situationen auf den Arm nehmen und erst behutsam sein Ohr und dann das Ohr des Kindes an das Objekt heranführen. Dann werden vielleicht beide zusammen lachen, um die unbegründete Angst aufzulösen. Werden solche Erfahrungen nicht oder zu wenig gemacht oder kommt es zu traumatischen Ereignissen, wie zum Beispiel erlebte Katastrophen, so entstehen die unbestimmten, zum Teil unerklärlichen Angstgefühle. Zusätzlich entwickeln sich verstärkte Abhängigkeiten zu bestimmten Personen, etwa eine Nichtablösung von der Mutter oder dem Vater. Kleine, kaum wahrnehmbare Reize reichen in diesen Fällen aus, um massive Ängste bis Angstneurosen auszulösen.



Schulangst ist in diesem Sinne die Angst vor Bedrohungen in Bezug auf die Schule. Eigentlich ein Paradoxon, denn gerade sie sollte doch das Selbstbewusstsein und die Zuversicht erhöhen, damit das Leben und die damit verbundenen Ängste gemeistert werden können.



Eine für das Land Nordrhein-Westfalen durchgeführte Studie zeigte 2004 das krasse Gegenteil. Es wurden in fast 100 Schulen über 2400 Kinder im Alter von 9-14 Jahren in den Klassen vier bis sieben nach ihren Einstellungen, subjektiven Empfindungen, Wünschen und Meinungen zu unterschiedlichen Themenfeldern befragt. Die von der Landesbausparkasse durchgeführte Stichprobenerhebung hat die Schulängste und deren Einfluss auf das Wohlbefinden der Kinder bestätigt. Das so genannte „LBS-Kinderbarometer NRW“ vom Februar 2004 zeigt das ganze Elend der Kinder.