Jemand steht vor Ihnen und sagt: «Ich stecke in einer Lebenskrise.» Was antworten Sie?
Bestimmt verfallen Sie nicht auf Ratschläge wie «Nun stell dich bloß nicht so an!» oder «Jetzt reiß dich mal zusammen!». Vor zwei, drei Generationen hätte Ihr Gegenüber durchaus noch mit solchen Antworten rechnen müssen. Es ist nicht lange her, dass man Lebenskrisen vor allem zur Charakterfrage erklärt hat. Heute erkundigt man sich eher, was los ist, und wünscht seinem Gesprächspartner, er möge da gut durchkommen. Hat man den Eindruck, es handelt sich um eine schwere Lebenskrise, rät man auch: «Du musst dir helfen lassen.» Oder antwortet: «Du musst deine Krise als Chance begreifen.» Damit signalisiert man zugleich die Hoffnung, dass der Betroffene schon dabei ist, die Krise zu verarbeiten, und offene Ohren für eine einigermaßen rationale Einschätzung seiner Situation hat.
Ich weiß gar nicht mehr, wann genau die Arbeit an diesem Buch begonnen hat, aber ich erinnere mich an einen Augenblick, in dem ich mich selbst noch etwas anderes sagen hörte: «Willkommen im Club!» Es war mir einfach herausgerutscht. Etwas erschrocken sah ich M., die mir gerade von ihrer Krise erzählt hatte, ins Gesicht und forschte nach, ob sie mir die Antwort übel nahm. Sie hätte sie ja auch als flapsig missverstehen können. Aber das tat M. nicht: Sie lachte kurz auf, dann war sie schon wieder mit sich selbst beschäftigt. Wie man sich in einer Lebenskrise eben verhält (M. hatte eine Trennung hinter sich, ich komme darauf zurück).
Von «Nun stell dich bloß nicht so an!» zu «Willkommen im Club!»: Das ist eigentlich schon in Kurzfassung, worum es im Folgenden geht. Während des Wortwechsels mit M. wurde mir klar, dass Lebenskrisen normal geworden sind – und dass darin sowohl ein Fortschritt als auch eine Herausforderung liegt. Lebenskrisen machen einen nicht mehr zum Außenseiter, zum Neurotiker oder zur Hysterikerin, wie es zu Zeiten meiner Großeltern noch der Fall war. Das ist gut. Eine verlassene Frau von Mitte dreißig hätte sich vor wenigen Generationen vor allem sehr geschämt. Gleichzeitig aber gilt es heute auszuhalten, dass Krisen – und darunter eben manchmal auch schwere Lebenskrisen – zum Leben dazugehören. Dass man irgendwann endgültig von ihnen befreit werden könnte (durch technischen Fortschritt, eine Rückkehr zur Natur, untrügliche Liebe, eine gesellschaftliche oder auch sexuelle Revolution), glaubt man doch nicht mehr. Und mir ging auf, dass der Eindruck, Lebenskrisen seien unausweichlich, mehr zum allgemeinen Krisengefühl beiträgt, als man so denkt.
Dass dieses Krisengefühl derzeit Konjunktur hat, muss man niemandem erzählen. Und so hätte ich M. natürlich auch viel grundsätzlicher antworten können. Ich hätte mit ihr über die allgemeine Krise der Beziehungen reden können, über Beschleunigung, Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, den Zwang zur Selbstoptimierung; Angebote, Krisen im Zusammenhang solcher Themen zu verhandeln, finden sich in den Medien zuhauf. Aber das erschien mir in diesem Augenblick unangemessen.
Es gibt eine lange und altehrwürdige Tradition, Lebenskrisen als Ausdruck eines falschen Lebens zu begreifen: Abfall von Gott, Abwendung von der Natur, Hybris, Entfremdung. Viele aktuelle Krisenerklärungen entlehnen dieser Tradition zumindest die Eindeutigkeit des Urteils: Krisen sind ein Zeichen dafür, dass gegenwärtig etwas prinzipiell falsch läuft. Das hat sein Gutes: Man kann so immer wieder auf die Problempunkte des Lebens zu sprechen kommen. Die Ambivalenzen, die mit der Normalität von Lebenskrisen einhergehen, fangen diese Erklärungen aber nicht ein. Und vor allem: Ich konnte M. doch nicht mit dem falschen Leben kommen! Ihre Krise ergab sich ja gerade aus dem Versuch, ein (für sie) richtiges Leben zu finden, wenn sie dabei auch auf einen Menschen (ihren nun ehemaligen Freund) stieß, der sich entschlossen hatte, das (wiederum für ihn) richtige Leben anderswo zu suchen.
Die Krise von M. war, wenn man sie denn schon verallgemeinern will, auf jeden Fall Ausdruck für etwas anderes: Sie zeigte schlicht an, dass das Leben kompliziert ist. Weil man mit seinen Wünschen, Ideen und Vorhaben nun einmal auf die Wünsche, Ideen und Vorhaben anderer Menschen trifft. Und weil man, sofern man kein gewissermaßen vorgefertigtes Leben führen will – was heute niemand mehr anstrebt –, auf der Suche nach dem eigenen, richtigen Leben auch das Trial-and-Error-Verfahren anwenden muss. Lebenskrisen sind nicht mehr nur Unfällen oder gesellschaftlichen Zwängen geschuldet. Vielmehr stellen sie Situationen dar, in denen wir die ganze Schwere des Daseins spüren. Sie sind die Kehrseite unserer Ambitionen. Ein Leben ohne Lebenskrisen, das wäre ein seltsames, ein fades, irgendwo kein menschliches Leben.
Besteht die eigentliche Herausforderung also darin, zu verarbeiten und auch auszuhalten, dass Lebenskrisen zumindest nicht ausschließlich das Ergebnis eines falschen Lebens sind (was immer das sein soll), sondern gerade die Folge eines richtigen Lebens oder zumindest der Suche danach? Diese Frage ging mir vom kurzen Wortwechsel mit M. ausgehend nach. Und mir fiel ein Satz ein, den ich einmal beim Autor und Filmemacher Alexander Kluge aufgeschnappt habe: Das Leben geht dem Denken voraus. Ich kann mir gut vorstellen, dass er in Bezug auf den Umgang mit Lebenskrisen zutrifft.
Gerade über Lebenskrisen hat unsere Gesellschaft in der Praxis viel gelernt. Die illusionären Projekte, die darauf abzielten, sie durch eine Rundumplanung des Lebens ganz abzuschaffen, wurden aufgegeben. Dafür hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte ein komplexer gesellschaftlicher Bereich herausgebildet, der es jedermann erlaubt, seine Lebenskrisen zu bearbeiten und auch ein Stück weit auszuleben: vom Therapeuten bis zur Selbsthilfegruppe, vom einfühlsamen Arthouse-Movie bis hin zum Yogakurs. Wenn alles gut läuft, kann man sich durch Lebenskrisen sogar weiterentwickeln.
Mehr oder weniger unbewusst gehen wir aber doch immer wieder davon aus, dass nur ein Leben ohne Krisen ein richtiges Leben wäre. Was tun?
Im typischen Verlauf von Lebenskrisen ist es irgendwann üblich, eine ganz bestimmte Bewegung zu vollziehen: einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen, was da eigentlich passiert ist. Diese Bewegung ist Teil des Verarbeitungsprozesses. Sie ist notwendig, um sich das Bild des eigenen Lebens neu zusammensetzen zu können. In diesem Buch möchte ich genau diese Bewegung auch mit Blick auf das Thema Lebenskrisen im Allgemeinen vollziehen: einen Schritt zurücktreten, um herauszufinden, was eigentlich passiert ist – mit dem Ziel, eine tragfähige Haltung dazu einzunehmen. Eine Selbstverständigung nicht während oder nach einer Lebenskrise also, sondern eine Selbstverständigung über Lebenskrisen. Unter anderem um nachzuvollziehen, wo das Leben dem Denken vorausgegangen sein könnte.
Ich beginne mit dem Fall meines Großvaters, mit dem es eine besondere Bewandtnis hat, und verfolge die Spur der Lebenskrisen über die Nachkriegszeit, Achtundsechzig, die siebziger Jahre bis in die Kitas der Gegenwart hinein. Dabei geht es mir keineswegs darum, Lebenskrisen zu verteidigen – warum sollte man so etwas auch tun? Sie bleiben der Stachel im Fleisch unserer Ich- und Lebensentwürfe. Vorgenommen habe ich mir vielmehr, darauf zu achten, dass Lebenskrisen selbstverständlicher Teil eines Lebens sein können, das sich sehr wohl in vielen Aspekten verteidigen lässt. Ich glaube, nur so ist es möglich, einen, wenn man so will, fairen Blick auf sie zu entwickeln.
Ich möchte nicht allzu viel vorwegnehmen. Nur zwei Dinge vielleicht, die mir erst aufgingen, als ich dieses Buch geschrieben habe. Der erste Punkt ist, dass eine rein gegenwartsbezogene und problemorientierte Perspektive eine interessante Entwicklung verdeckt: Gerade mit Lebenskrisen war in den vergangenen Jahrzehnten ein Prozess der Selbstaneignung des Lebens verbunden. Sich sein eigenes Leben als eine Krisengeschichte zu erzählen – das war einst das Privileg von Helden und Künstlern, von angeblich besonderen Menschen also, während für die sogenannten einfachen Leute ein zwar abgesichertes, aber auch selbstgenügsames Leben vorgesehen war. Dass sich inzwischen jeder eine Lebenskrise zugesteht, hat also auch eine emanzipative Seite. Es zeigt, dass man sich selbst wichtig nimmt und dass die Ansprüche an das eigene Leben gestiegen sind.
Der zweite Punkt ist folgender: Zwar kann man keine Hoffnung mehr auf ein Leben ohne Krisen hegen, aber doch immerhin darauf, interessantere und komplexere Lebenskrisen durchzumachen als diejenigen, mit denen sich vorangegangene Generationen herumgeschlagen haben. Das klingt an dieser Stelle vielleicht noch zynisch – im Fortgang des Buchs hoffentlich nicht mehr. Zumal das nicht bedeutet, dass die gegenwärtigen Lebenskrisen leichter zu verarbeiten wären. Eher im Gegenteil.
So. Man trifft ja im Bekanntenkreis immer wieder mal auf jemanden, der sich gerade in einer Lebenskrise befindet. «Willkommen im Club!» war M. gegenüber die schnelle Antwort. In diesem Buch möchte ich eigentlich gar keine prinzipiell andere, aber doch eine gründlichere Antwort geben.
Stille umgab ihn.
Dass mein Großvater überhaupt einmal eine Lebenskrise erfahren hätte, konnte ich mir, als er noch lebte, nie vorstellen, und ich kann es bis heute nicht. Ja, manchmal kommt es mir jetzt geradezu so vor, als sei der Mensch, der auf der ganzen Welt am allerwenigsten von Lebenskrisen gewusst hat, ausgerechnet er gewesen, mein Großvater, Karl Knipphals, 1889 geboren (mein Vater war schon recht alt, als ich auf die Welt kam), ein großgewachsener Mann, der Klavierbauer gelernt hat und bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein einen Schnurrbart trug, der zumindest entfernt an den markanten Bart Kaiser Wilhelms II. erinnerte.
Dabei hätte gerade mein Großvater allen Grund gehabt, Lebenskrisen zu kennen. Wenn jemand in krisenhaften Zeiten gelebt hat, dann er.
Zwei Weltkriege fallen in seine Lebenszeit, er hat sie beide als Soldat mitgemacht. Schon im Ersten Weltkrieg hat er alle Zähne verloren. Vier politische Systeme hat er erlebt: Kaiserreich, Weimarer Republik, Nazi-Diktatur, Bundesrepublik. Drei davon endeten bekanntlich im Desaster, eines dieser drei sogar im vollkommenen gesellschaftlichen und ideologischen Zusammenbruch. Ob er sich im vierten, der modernen westlichen Demokratie der Nachkriegszeit, je wirklich zu Hause gefühlt hat, bezweifele ich stark. In die Lebenszeit meines Großvaters fallen auch schlimme Hungerwinter und natürlich die verheerende Inflation des Jahres 1923. Mehrere Wirtschaftskrisen kommen hinzu, vielleicht sogar eine ausgewachsene Revolution: der Matrosenaufstand am Ende des Ersten Weltkriegs. Er lebte in Kiel, wo sich der große kaiserliche Flottenstützpunkt befand. Vielleicht war er zum Zeitpunkt der Aufstände aber auch noch gar nicht von der Front zurück, das weiß ich nicht. Er hat nie darüber geredet. Er hat sowieso nie viel über sich oder die Vergangenheit geredet.
Mit ernsthaften Problemen hatte er zeitlebens zu kämpfen, mit jeder Menge sogar. In den zwanziger Jahren musste er sich immer wieder aufs Neue Arbeit suchen, das soll sehr schwer gewesen sein. Einmal war er über längere Zeit arbeitslos, bis er, als Pendler nach Hamburg fahrend, bei der Firma Steinway & Sons einen Job fand. Im Zweiten Weltkrieg war er eine Zeitlang im fernen Griechenland stationiert, während zwei seiner Söhne an anderen Fronten kämpften, sein dritter Sohn im Arbeitsdienst war und seine Frau allein in einer kleinen Zweizimmerwohnung inmitten eines halb ausgebombten Kieler Hauses lebte, aus dem alle anderen Mietparteien längst ausgezogen waren; keine Ahnung, wie man so etwas emotional aushält. Bestimmt hatte mein Großvater auch seine dunklen Stunden, ganz bestimmt sogar, als seine Frau, meine Großmutter, die ich nie kennengelernt habe (sie soll die Kluge und Ehrgeizige in der Familie gewesen sein, die alles daransetzte, dass mein Vater und meine beiden Onkel das Abitur machen konnten), an Krebs starb.
Trotz all dieser unglücklichen Umstände, all der Sorgen und Probleme, der politischen Katastrophen und gesellschaftlichen Zusammenbrüche konnte ich als Jugendlicher meinen Großvater noch nicht einmal ansatzweise mit der Vorstellung einer Lebenskrise zusammenbringen. Eine persönliche Krise in dem Sinn, wie wir sie heute verstehen – der Lebenssinn implodiert, und alle Lebensumstände sind in Frage gestellt, man grübelt, wie man sein Leben ändern könnte, und das krisenhafte Gefühl wird in Phasen allmählich überwunden –, ist auch in den Familienerinnerungen nicht aufbewahrt.
Er war mir überhaupt immer ein großes Rätsel, mein so erkennbar aus einer ganz anderen Zeit in die liberale Gesellschaft der Bundesrepublik hineingewehter Großvater. Er hat bei uns gelebt, im Souterrain des Hauses, das meine Eltern gebaut haben. Dort bewohnte er zwei Zimmer, die vollgestellt waren mit seinen Möbeln. Große Standuhr, schwere Anrichte, schwerer Kleiderschrank. Die beiden Zimmer eine Festung gegen die Veränderungen der Zeit – in der wir Enkel ferngesehen haben, wenn oben im Wohnzimmer Besuch war. Disco mit Ilja Richter. Raumschiff Enterprise. Time Tunnel. Das passte alles so gar nicht zu dieser Einrichtung. Mein Großvater hat nie mitgeguckt. Oft saß er einfach in seinem zweiten Zimmer neben seinem tagsüber stets penibel mit einer Tagesdecke überzogenen Bett im Sessel und schaute aus dem Fenster auf unseren Garten. Dabei hat er billige Zigarren geraucht. Nur geraucht und vor sich hin geschaut (seine leeren Zigarrenkisten waren für uns Enkel begehrte Objekte, wir bewahrten Spielkarten, Plastikfiguren und anderen Krimskrams darin auf; manchmal rochen unsere Spielsachen nach Tabak).
Frühe Kindheitserinnerungen: die Strandburgen, die er in Westerland, wo wir zum Urlaub und an Wochenenden oft hinfuhren, gebaut, mit Muschelbildern verziert und regelmäßig aus einer Gießkanne mit Sprühaufsatz begossen hat, damit der feuchte Sand die Muscheln halten konnte. Sein altmodischer Hut und sein dicker Mantel, die er auch noch getragen hat, als längst Miniröcke und Hippiefrisuren Mode waren. Seine Lottomaschine, eine mit Elektromotor betriebene Nachbildung der durchsichtigen Fernsehlottomaschine in Klein, von der er sich seine Lottozahlen vorgeben ließ. Seine Reitgerte, die im Schrank hing und mir Angst machte. Und eben die Stille, die ihn umgab.
Hatte er wirklich nie eine Lebenskrise durchgemacht? Hundertprozentig sicher kann ich mir da natürlich nicht sein. Das Familiengedächtnis hat sonst alle möglichen Krisen, die Familienmitglieder getroffen haben, getreu registriert und weitergegeben: Lang andauernde Krankheiten, seltsames Verhalten, Alkoholismus, ein Selbstmord, auch gewichtige psychische Probleme – all das wurde bei Familienfeiern zwar nicht unbedingt beim Namen genannt, aber in Andeutungen und Frotzeleien bei Tisch berührt. Bei solchen Anlässen thronte mein Großvater unangefochten und stoisch am Kopf der Tafel. Falls er doch einmal in einer Lebenskrise gesteckt haben sollte, blieb sie offenbar für sein weiteres Leben ohne Bedeutung. Er trank nicht. Den Kriegen war er anscheinend, anders als seine Söhne, ohne Dämonen entkommen. Bei vielen anderen Verwandten konnte ich als Kind und Jugendlicher Risse, Narben und Abwehrhaltungen spüren und erkennen, die die Zeitläufte in ihrer Psyche hinterlassen hatten; bei ihm nicht. Er saß nur da in seinem Sessel, rauchte Zigarre, sah auf den Garten und war vermutlich froh, wenigstens im Alter seine Ruhe vor den Wirrnissen der Welt zu haben.
Doch warum hatte mein Großvater offenbar nie mit einer Lebenskrise zu kämpfen? Diese Frage habe ich mir erst lange nach seinem Tod gestellt. Ich glaube, sie lag schon einige Zeit bereit. Wenn jemand durch so viele äußere Krisen hindurchgegangen war wie er, ohne selbst eine Lebenskrise zu haben, dann musste entweder mit ihm etwas nicht stimmen – oder mit mir, der ich auch ohne dramatische Umstände spätestens mit der Pubertät in eine Lebenskrise geraten war. Solche Dinge hätte ich niemals mit ihm erörtern können. Wie es überhaupt zu meinen frühen Erfahrungen gehörte, dass es nie die wirklich interessanten Fragen waren, die man im Familienkreis erörtern konnte. Es dauerte lange, bis ich das anders sah.
Also, warum hatte mein Großvater keine Krisen?
Er war ganz gewiss keine Frohnatur, niemand, der den Schrecken des Lebens mit dem Schutzschild des Humors trotzen konnte. Einer meiner Großonkel war so. Hundert abgedroschene Sprüche im Arsenal und immer einen auf den Lippen, um (so habe ich schon als Jugendlicher gedacht) jegliche ernsthafte Beschäftigung mit sich selbst von vornherein wegzuwitzeln. Mein Großvater war aber auch niemand, der heroisch die Zähne zusammenbiss. Derbe Sprüche wie «Da mussten wir den Hintern zusammenkneifen …» fielen zwar bei Familienfeiern, wenn es um die Vergangenheit ging, aber sie wurden immer halb lachend ausgesprochen und von der Runde auch gleich wieder abgetan. Und sie kamen nie aus dem Mund meines Großvaters. Vielmehr, so glaube ich heute, lebte er bis zu seinem Tod in einer Welt, in der Lebenskrisen für ihn gar nicht existierten. Sie lagen schlicht außerhalb seiner Vorstellung. Sich überhaupt mit sich selbst zu beschäftigen, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen – oder aber er hätte es als vermessen empfunden.
Insofern überschreiten die Erfahrungen mit meinem Großvater unseren Familienhorizont bei weitem. Was mir in seiner Gestalt entgegenwehte, das war noch die Härte, die Enge und die emotionale Kälte einer vergangenen Zeit. Das reicht über die Weltkriege, mit deren Gefühlserbschaften aus zurechtgebogenen Familiengeschichten und unbewusst weitergegebenen Traumata wir uns heute viele emotionale Probleme erklären, sogar noch hinaus. Wir sind es gewohnt, uns die Zeit vor und um 1900 aus der Perspektive des gehobenen Bürgertums oder der adeligen Welt der Herrschaften und Sommerfrischen vorzustellen. Hierfür existieren ja auch beeindruckende literarische Zeugnisse: Walter Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, natürlich die Buddenbrooks, die Romane Theodor Fontanes oder Eduard von Keyserlings. In den dort dargestellten Kreisen von Kaufmannssöhnen, Landadeligen und Bildungsbürgern gibt es durchaus Raum für Selbstbeschäftigung und schützenswerte Innenwelten, obwohl auch diese der sozialen Kontrolle unterliegen. Mein Großvater aber stammte aus Verhältnissen, die in unseren inneren Historienfilmen über das 19. Jahrhundert höchstens als mehr oder minder malerische Kulisse vorzukommen pflegen.
Die Eltern meines Großvaters waren Tagelöhner. Er hatte zwölf Geschwister. Es gibt in unserem Familienschatz ein Foto, auf dem sie alle zu sehen sind, zurechtgemacht wie für August Sander und ordentlich in Reih und Glied aufgestellt wie ein Stoßtrupp. Gelebt hat die Familie in einem kleinen Haus, das wohl eher einer Hütte glich, vor den Toren der Stadt und gleich neben einem Wald, wie der düsteren Welt deutscher Märchen entsprungen. In der Nähe des Hauses, das dann viel später meine Eltern gebaut haben, gibt es ein Freiluftmuseum, das einen guten Eindruck von den damaligen Lebensverhältnissen auf dem Land vermittelt. Mächtige alte Bauernhöfe sind dort zu sehen, Fischerhütten, eine Apotheke, eine Dorfschule. Schlichte Katen wie die der Familie meines Großvaters werden zu unscheinbar, vielleicht auch einfach nicht stabil genug gewesen sein, um sie abzutragen und dort wieder aufzustellen. Aber auch so kann man sich vor Augen führen, wie arm viele Menschen noch vor drei, vier Generationen in diesem Land waren. Wenn man den idyllisierenden Blick, der sich bei Häusern und Möbeln dieser Zeit schnell einstellt, einmal wegschaltet, steht man fassungslos vor der Enge, in der sich die Menschen zusammendrängten. Für individuelle Lebenskrisen war da kein Platz. Und es gab natürlich auch ökonomische Zwänge. Persönliche Krisen konnte man sich in solchen Verhältnissen ganz einfach nicht leisten, da musste jeder funktionieren.
Aber nicht nur die Herkunft und Kindheit meines Großvaters, auch die Lebenswelt, in der er sich als erwachsener Mann bewegt hat, ließen solche Krisen nicht zu. Die Schulen der einfachen Leute waren wie kleine Kasernen; die Fabriken und Werften, wenn er keine bessere Arbeit fand, waren wie große Kasernen. Prägend die zunächst noch kaiserliche, später dann nationalsozialistische Soldatenwelt mit ihren Männlichkeitsbildern. Ein Indianer kennt keinen Schmerz – diesen blöden Spruch bekam ich noch ernsthaft als Jugendlicher zu hören. Und zu den Ritualen meines Großvaters gehörte bis in die siebziger Jahre hinein die morgendliche Wäsche mit kaltem Wasser. Abhärtungsrituale. Wenn man sich mit kaltem Wasser wäscht, bekommt man Haare auf der Brust, hat er mir mehr als einmal erklärt, um mich auch zu solchen Waschungen zu ermuntern.
Er war zweifellos gefangen in seiner Sozialisation. Was eine Lebenskrise mit sich bringt, ist das Herausfallen aus dem geordneten Lauf des Lebens, eine unsichere Position, der Verlust von Halt, ein Auseinanderfallen von Ich und Welt, ein Balanceakt, das Hinterfragen aller Selbstverständlichkeiten. All das war für ihn offenbar nicht vorgesehen. Und er hätte es selbst wohl auch niemals zugelassen. Zeitlebens hielt er an einem strengen protestantischen Glauben fest, der eine Form der Schicksalsergebenheit angenommen hatte; das Leben eine Prüfung, die gemeistert werden muss. Bis zu seinem Tod hing in den beiden Zimmern, die er im Haus meiner Eltern bewohnte, über dem Sofa, auf dem wir saßen und Raumschiff Enterprise guckten, eine große Stickarbeit; seine Frau, meine Großmutter, hatte sie angefertigt und auf einen recht pompösen Bilderrahmen ziehen lassen. Dort stand geschrieben: «Ein Haus von Liebe warm durchglüht / Wo wandellose Treue blüht / Wo Frohsinn sich zum Glück gesellt / Das ist das Schönste auf der Welt.» Ausdruck eines Aufstiegsstrebens zum Kleinbürgerlichen hin; den bescheidenen Wohlstand eines wenn auch kleinen eigenen Hausstands konnten er und seine Frau sich erarbeiten. Und Ausdruck einer biedermeierlichen Idyllik, die durch eine Lebenskrise bedroht gewesen wäre.
Letztlich ist mein Großvater wohl dazu erzogen und vielleicht auch geradezu dressiert worden, Lebenskrisen mit Haltungs- und Charakterfragen zu verknüpfen. Krisen galten als weiblich; Frauen konnten Gefühle und Nerven zeigen, als Mann hatte man Haltung zu bewahren. Bis ins ganz hohe Alter war mein Großvater immer korrekt gekleidet, mit Anzughose, Unterhemd, zugeknöpftem Oberhemd und Weste. Bei Spaziergängen trug er, was ich als Kind nie verstanden habe, stets einen Mantel, auch im Hochsommer. Lebenskrisen waren zudem Ausdruck einer unerwünschten politischen Haltung: Sie mussten zwangsläufig dazu führen, dass die gesellschaftliche und religiöse Ordnung hinterfragt wurde. Das stand meinem Großvater nicht zu.
Diese Haltung gegenüber Lebenskrisen war für mich vielleicht sogar das Fremdeste an der Gestalt meines Großvaters, neben dem vielen, was fremd an ihm war. Dass ich ihn niemals mit Lebenskrisen in Verbindung bringen konnte, hat mir meinen Großvater seltsam und altertümlich erscheinen lassen, vielleicht mehr noch als seine barsche Ablehnung von Popmusik, Comics und Kaugummis, mit der er nie hinterm Berg gehalten hat (Lutscher, Bonbons und Eis durften wir Enkel allerdings am Westerländer Strandübergang kaufen und beim Kiosk auf seinen Namen anschreiben lassen; er hat dann abends, mit der Gießkanne von seiner Strandburg kommend, alles bezahlt). Wie hätte man mit jemandem, der nach außen hin so unberührt durch die Schrecken des 20. Jahrhunderts hindurchgegangen ist, ernsthaft über das reden können, was er in seinem Leben erfahren haben muss? Zeichen, dass das, was er gesehen und erlebt hatte, in ihm arbeitete, wären die Grundvoraussetzung gewesen. Ohne solche Krisensignale aber blieb die Vergangenheit unheimlich und irreal. Die schrecklichen Bilder, die man in den Medien und in der Schule über die Vergangenheit sah, und dieser so unberührte Großvater, das passte für mich schon als Jugendlicher unmöglich zusammen.
Eine Krise hätte ihm natürlich auch selbst einen Anlass bieten können, über sein Leben nachzudenken. Eine Lebenskrise war vielleicht also etwas, das immer fehlte. Aber wie viel wäre es auch verlangt gewesen! Mein Großvater hätte sich nicht nur mit seiner Herkunft und Sozialisation, sondern auch mit der Kriegsmaschinerie, deren Teil er gewesen war, und mit den Menschheitsverbrechen, die sie verantwortete, auseinandersetzen müssen. Er, der nie etwas hinterfragt hat, hätte sein ganzes Leben hinterfragen müssen. Man weiß ja, dass das viele Menschen seiner Generation und auch der Generation seiner Kinder (meines Vaters) nicht hinbekommen haben.
Bis heute stoße ich in Büchern auf Stellen, bei denen ich unwillkürlich an meinen Großvater denken muss. Interessanterweise weiß ich oft nicht sofort, warum er mir in den Sinn kommt.
Er stand mir zum Beispiel klar vor Augen, als ich, etwas verspätet, zum ersten Mal Irrungen, Wirrungen von Theodor Fontane gelesen habe. Dieser kleine, längst halb vergessene Roman, mit dem man heute allenfalls noch Schulkinder nervt, steckt, wie ich dabei feststellte, voller historischer Erfahrungen. Fontane erzählt darin von der unstandesgemäßen Liebe zwischen dem preußischen Baron Botho von Rienäcker und der aus einfachen Verhältnissen stammenden Magdalene Nimptsch, genannt Lene. Dieser Romeo-und-Julia-Aspekt der Handlung – sie soll bei Zeitgenossen für viel Entrüstung gesorgt haben, was heute nur noch schwer nachvollziehbar ist – hat mit meinem Großvater eigentlich gar nichts zu tun. Immerhin, er ist als Mitglied einer Einheit der leichten Kavallerie in den Ersten Weltkrieg gezogen, wobei allerdings sein Pferd, ein Schimmel, laut Familienüberlieferung gleich im ersten Winter erfroren ist. Zumindest ein Untergebener oder auch ein Bursche von Botho von Rienäcker hätte er also sein können. Aber es geht mir um etwas anderes.
Vor allem die Art und Weise, wie Fontane im vierzehnten Kapitel die Vermeidung einer Lebenskrise beschreibt, hat mich an meinen Großvater denken lassen. Es ist sein Pferd, von dem sich der Baron vor einer drohenden Lebenskrise bewahren, damit aber zugleich von seinem Lebensglück abbringen lässt. Der Ausgangspunkt ist klar: Botho und Lene lieben sich. Dann erhält Botho einen Brief von seiner Mutter, die ihm mehr als nur nahelegt, seine Cousine Käthe von Sellenthin zu heiraten, die mit ihrer Mitgift die Familie retten soll. Denn, wie der Erzähler anmerkt, «es stand nicht gut mit dem Rienäckerschen Vermögen, und Verlegenheiten waren da». Von den beiden Familien ist die Hochzeit mit Käthe schon lange vorbereitet worden.
Die Wahl zwischen Pflicht oder Neigung also. Botho reitet aus, um sich darüber klarzuwerden, wie er sich entscheiden soll. Eine klassische Szene. Das Leben in der eigenen Hand! Die großen klassischen Theatermonologe, in denen der Held über seine Existenz sinniert, schwingen mit. Eine in gewisser Weise sehr moderne Szene: Nur der Einzelne selbst kann entscheiden, was für ihn sinnvoll und richtig ist. Hin und her gehen denn auch Bothos Überlegungen. Dann aber kommt unverhofft die besagte Stelle: «Hier bog das Pferd, das er schon seit einer Viertelstunde kaum noch am Zügel hatte, wie von selbst in einen Seitenweg ein, der zunächst auf ein Stück Ackerland und gleich dahinter auf einen von Unterholz und ein paar Eichen eingefassten Grasplatz führte.»
Auf diesem Platz findet Botho einen Grabstein, auf dem der Name Ludwig von Hinckeldey steht. Offenbar ein mächtiger und bekannter Mann, der zwanzig Jahre zuvor nach einem sinnlosen Duell in den Tod gegangen ist – «einer Adelsvorstellung, einer Standesmarotte zuliebe», wie Botho in einem inneren Monolog anmerkt. In diesem Moment ist es entschieden: Botho wird Lene Lebewohl sagen und Käthe heiraten. Er kann als Einzelner doch nicht frei entscheiden. Denn: «Was predigt dies Denkmal mir? Jedenfalls das eine, dass das Herkommen unser Tun bestimmt. Wer ihm gehorcht, kann zugrunde gehn, aber er geht besser zugrunde als der, der ihm widerspricht.»
Nun dachte ich also erst einmal, mein Großvater wäre mir an dieser Stelle wegen des Pferds und des preußischen Settings eingefallen. Aber es war wohl doch eher die Wendung «wie von selbst», mit der Fontane das Pferd in den Seitenweg abbiegen lässt. Dass der Baron überhaupt darüber nachdenken muss, wie er sich verhalten soll, das ist die erste Botschaft dieser Szene; auch sie wird im Jahr 1888, als das Buch erschien (ein Jahr vor der Geburt meines Großvaters), anstößig gewesen sein. Preußische Offiziere hatten von vornherein zu wissen, was zu tun ist. Für einen Moment blitzt in diesem Ausritt die Möglichkeit des ganz großen Dramas auf, das vielleicht mit einer Lebenskrise und erfolgreicher Selbstverwirklichung, aber zugleich mit einem gesellschaftlichen Skandal verbunden wäre. Die zweite Botschaft dieser Szene – und ihre tiefe, traurige Ironie – besteht darin, dass der Erzähler diese Möglichkeit sehr leicht als Schwärmerei abtun kann. Eine kurze Erinnerung an das Prinzip der Herkunft reicht aus, auch das Pferd stimmt zu (oder das Über-Ich, das zu Fontanes Zeiten noch gar nicht erforscht war; das Pferd wird schon auf unterschwellige Signale seines Reiters reagiert haben) – und der Wunschtraum platzt wie ein Luftballon. Die Chance, tatsächlich glücklich zu werden, war im Grunde nie wirklich greifbar.
Dass man mit dem sozialen Hintergrund meines Großvaters, eines einfachen Mannes mit kleinbürgerlichen Ambitionen inmitten gesellschaftlicher und politischer Stahlgewitter, immer wie von selbst in vorgezeichneten Lebensbahnen landet, solange man die ganz große Lebenskrise nicht riskieren will – das ist mir an dieser Szene klargeworden. Man findet schon ein Pferd, oder irgendetwas anderes, einen Umstand, was auch immer, das einen auf den rechten Weg zurückbringt.
Manchmal, wenn ich mir das Leben meines Großvaters gewissermaßen mit zusammengekniffenen Augen anschaue, kann ich vermittelt durch diese Szene aber auch die psychische Arbeit erahnen, die hinter der Vermeidung persönlicher Krisen gestanden haben muss (und deren Spuren bei dem alten Mann, den ich dann kennengelernt habe, bereits getilgt und von den großen, schrecklichen Geschichten des 20. Jahrhunderts überschrieben worden waren). Die Chance, eine große, romantische Liebe auszuleben, wird es für ihn nicht gegeben haben – so etwas existiert wohl doch nur in Romanen –, aber dafür andere Versuchungen. So wird in den Familienerinnerungen ausdrücklich vermerkt, dass er einer derjenigen Männer war, die ihre Lohntüte stets gewissenhaft zu Hause abgeliefert haben, und zwar vollständig. Selbstverständlich war das offenbar nicht. Die Kneipen fanden sich gleich in der Nähe der Lohnbüros. Die Gelegenheit, ein zugleich krisenhafteres wie exzessiveres Leben zu beginnen, bot sich hier an. Ob mein Großvater beim Vorübergehen nicht zumindest gelegentlich daran gedacht hat, einmal den geraden Weg nach Hause zu verlassen und das geordnete Familienleben zu vergessen?
In einem Kostümfilm oder einer historischen Fernsehserie könnte man beide Geschichten vielleicht ganz gut im Sinn der üblichen Wechseldramaturgie zwischen Herrschaft und Dienerschaft parallel schneiden: Botho von Rienäcker, wie er an seinem Glück vorbeireitet, und mein Großvater, wie er die Ablenkungsangebote für kleine Leute ausschlägt. Eine Lebenskrise, die ihn in die Kneipen getrieben hätte, wäre für meinen Großvater zwar nicht gleich mit einem gesellschaftlichen Skandal verbunden gewesen wie bei dem Baron, aber doch auch mit der begründeten Angst vor dem sozialen Abstieg. So wie Botho in seine Standesverpflichtungen war mein Großvater in seine Familienverpflichtungen eingebunden. Mit einer ausgewachsenen Lebenskrise hätte er seine Rolle als Ernährer nicht mehr ausfüllen können. Als Alternative hätte es für ihn nur den Ausbruch gegeben: Suff, Halunkereien vielleicht – nicht aber die Chance auf Besinnung, darauf, sich und die an sich selbst gestellten Anforderungen in ein neues Verhältnis zu setzen, wie man das heute in einer Krise tut. Letztlich wurde er für seine Haltung ja auch belohnt. Der Weg von der Hütte am Waldrand bis in die städtische Zweizimmerwohnung samt Kleinfamilie war natürlich ein gesellschaftlicher Aufstieg.
Die Eheszenen, die Theodor Fontane in den auf diesen Ausritt folgenden Kapiteln schildert, ähneln in ihrer leisen Perfidie bereits sehr modernen Schilderungen stumm vor sich hin kriselnder Paare – etwa bei Schriftstellern wie Richard Yates oder Alice Munro –, die um ihr Unglück selbst gar nicht recht wissen oder es nicht wahrhaben wollen. Dabei ist die Zweckehe zwischen Botho und Käthe gar nicht mal besonders schlimm. Die beiden streiten sich nicht groß, und es gibt durchaus eine gemeinsame Ebene, auf der sie sich finden. Es ist nur so, dass Fontane diese Käthe als ein klein wenig zu laut und ein klein wenig zu oberflächlich beschreibt. Allein schon, wie sie mit «Ach, das ist zu komisch …» auf einen simplen Witz von Botho reagiert. Lene, seiner großen Liebe, wäre das nicht passiert.
Wie die Ehe meines Großvaters verlief, weiß ich nicht. Am Familientisch hieß es immerhin, sie sei «gut» gewesen.
hinterher
Auch bei einem ganz anderen Buch musste ich überraschend an meinen Großvater denken: bei Katherine Boos Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben, einer großen Reportage über einen Slum in Mumbai. Die amerikanische Autorin hat Annawadi, so heißt dieser Slum, der zwischen großen Businesshotels nahe dem Flughafen der indischen Metropole in einer matschigen Senke liegt und aus einigen hundert windschiefen Hütten besteht, über Jahre besucht und sich dort als teilnehmende Beobachterin eingelebt. Der Schmutz, die Enge, die korrupte Polizei. Und eine himmelschreiende alltägliche Armut, angesichts derer man selbst einen Job als Latrinenputzer noch als Erfolgsgeschichte werten kann. Katherine Boo schreibt das alles genau auf. Und so erhält man als Leser einen Eindruck davon, wie das soziale Leben unter solchen Bedingungen funktionieren kann – gerade eben nicht als Chaos, sondern eher in einer Art sozialer Übergeregeltheit. Jeder Schritt jedes einzelnen Bewohners von Annawadi wird von den anderen Bewohnern genau registriert, kommentiert und bewertet. Für alles gibt es Regeln. Die soziale Hackordnung ist immens.
Abdul ist Müllsammler, noch Teenager, neunundvierzig Kilogramm leicht, 1,55 Meter klein und der beste Mülltrenner des Slums. Da sein Vater früh erkrankte, ist es seine Aufgabe, die Familie zu ernähren. Er musste von der Schule gehen und lernen, zwischen verwertbarem und billigem Plastik zu unterscheiden und wertvolle Metalle auf Anhieb zu erkennen. Oft schläft er auf Stapeln von Müll, die er in seinem kleinen Lager sorgfältig aufgeschichtet hat. Glück besteht für ihn schlicht darin, dass einfach gar nichts geschieht: «Seiner Ansicht nach hingen in Annawadi Glück und Wohlstand nicht nur davon ab, was man machte und wie gut man das machte, sondern auch davon, dass man Unfällen und Katastrophen aus dem Weg ging. Ein anständiges Leben, das war der Zug, unter den man nicht gekommen war, der Slumlord, den man nicht verärgert, die Malaria, die man sich nicht eingefangen hatte. Gut, er wäre schon gern aufgeweckter, aber andererseits war er sicher, eine für seine Lebensumstände fast ebenso wertvolle Eigenschaft zu besitzen. Er war chaukanna, wachsam. ‹Meine Augen sehen in alle Richtungen gleichzeitig›, so drückte er es auch aus.»
In Sigmund Freuds klassischer Studie Das Unbehagen in der Kultur, bis heute einer der bedeutendsten Texte zum Thema Lebenskrisen, gibt es einen Gedanken, der diese Überlebenstechnik, Lebenskrisen durch ein Sich-klein-Machen auf Kosten von Glückserwartungen aus dem Weg zu gehen, gut festhält. Freud nennt drei Quellen, von denen her Leiden oder eben, übertragen auf unseren Fall, Lebenskrisen drohen: Die erste ist der körperliche Verfall, die zweite eine «übermächtige, unerbittliche» Außenwelt, die dritte sind Beziehungen zu anderen Menschen, wobei Freud darunter nicht nur Liebesbeziehungen, sondern im weiteren Sinn zwischenmenschliche Beziehungen sowie ihre gesellschaftlichen und politischen Institutionalisierungen versteht. In einem jener Sätze, bei denen einem wahre Erkenntnisschauer über den Rücken laufen können, merkt Freud zu Beziehungen an: «Das Leiden, das aus dieser Quelle stammt, empfinden wir vielleicht schmerzlicher als jedes andere; wir sind geneigt, es als eine gewissermaßen überflüssige Zutat anzusehen, obwohl es nicht weniger schicksalsmäßig unabwendbar sein dürfte als das Leiden anderer Herkunft.»
müssen
Dann lieber Lebenskrisen.