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Über dieses Buch:

Er ist der Sohn eines großen Herrschers – und sein Machthunger kennt keine Grenzen. Im Jahre 531 überfällt der Frankenkönig Chlothar das Reich der Thüringer. Nach einer Vernichtungsschlacht bringt er einen besonderen Schatz in seine Gewalt: Radegunde, Tochter des Thüringerkönigs. Obwohl sie zwanzig Jahre jünger ist und Chlothar bereits drei Gemahlinnen hat, will er das Mädchen heiraten. Doch Radegunde ist nicht nur schön, sondern auch klug – und nicht bereit, sich kampflos in ihr Schicksal zu fügen …

Die fesselnde Familiensaga über eine der mächtigsten Familien der Spätantike, die mit Blut und Schwert Geschichte schrieb: die Merowinger.

Über den Autor:

Robert Gordian (1938–2017), geboren in Oebisfelde, studierte Journalistik und Geschichte und arbeitete als Fernsehredakteur, Theaterdramaturg, Hörspiel- und TV-Autor, vorwiegend mit historischen Themen. Seit den neunziger Jahren verfasste er historische Romane und Erzählungen.

Robert Gordian veröffentlichte bei dotbooks bereits die Romane ABGRÜNDE DER MACHT, MEIN JAHR IN GERMANIEN, NOCH EINMAL NACH OLYMPIA, XANTHIPPE – DIE FRAU DES SOKRATES, DIE EHRLOSE HERZOGIN und DIE GERMANIN sowie drei historische Romanserien:

ODO UND LUPUS, KOMMISSARE KARLS DES GROSSEN

Erster Roman: »Demetrias Rache«

Zweiter Roman: »Saxnot stirbt nie«

Dritter Roman: »Pater Diabolus«

Vierter Roman: »Die Witwe«

Fünfter Roman: »Pilger und Mörder«

Sechster Roman: »Tödliche Brautnacht«

Siebter Roman: »Giftpilze«

Achter Roman: »Familienfehde«

DIE MEROWINGER

Erster Roman: »Letzte Säule des Imperiums«

Zweiter Roman: »Schwerter der Barbaren«

Dritter Roman: »Familiengruft«

Vierter Roman: »Zorn der Götter«

Fünfter Roman: »Chlodwigs Vermächtnis«

Sechster Roman: »Tödliches Erbe«

Siebter Roman: »Dritte Flucht«

Achter Roman: »Mörderpaar«

Neunter Roman: »Zwei Todfeindinnen«

Zehnter Roman: »Die Liebenden von Rouen«

Elfter Roman: »Der Heimatlose«

Zwölfter Roman: »Rebellion der Nonnen«

Dreizehnter Roman: »Die Treulosen«

ROSAMUNDE, KÖNIGIN DER LANGOBARDEN

Erster Roman: »Der Waffensohn«

Zweiter Roman: »Der Pokal des Alboin«

Dritter Roman: »Die Verschwörung«

Vierter Roman: »Die Tragödie von Ravenna«

Ebenfalls erschien bei dotbooks die beiden Kurzgeschichtenbände EINE MORDNACHT IM TEMPEL und DAS MÄDCHEN MIT DEM SCHLANGENOHRRING sowie die Reihe WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN mit kontrafaktischen Erzählungen über berühmte historische Persönlichkeiten:

WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN: Caesar, Chlodwig, Otto I., Elisabeth I., Lincoln, Hitler

WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN: Napoleon, Paulus, Themistokles, Dschingis Khan, Bolívar, Chruschtschow

WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN: Karl der Große, Arminius, Gregor VII., Mark Aurel, Peter I., Friedrich II.

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Überarbeitete eBook-Neuausgabe März 2014

Die komplett überarbeiteten und erweiterten Neuausgaben der Merowinger-Romane von Robert Gordian, die bei dotbooks erscheinen, beruhen auf einer Tetralogie, die zwischen 1998 und 2006 in verschiedenen Verlagen veröffentlicht wurde. Teile des vorliegenden siebten Romans der Serie erschienen erstmals 2006 in »Die Heilige und der Teufel«, veröffentlicht im Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin.

Copyright © der Originalausgabe 2006 Aufbau Taschenbuch Verlag GmbH, Berlin

Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95520-554-6

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Robert Gordian

DIE MEROWINGER

Dritte Flucht

Siebter Roman

dotbooks.

Was bisher geschah

»Dolch oder Schere?« Das ist die Frage, die die fränkischen Könige Chlothar und Childebert ihrer Mutter Chlotilde stellen, der Witwe des Reichsgründers Chlodwig. Sie betrifft ihre Enkelkinder, die beiden minderjährigen Söhne ihres im Jahre 524 im Krieg gegen Burgund gefallenen ältesten Sohnes Chlodomer.

Chlotilde wünscht, dass die beiden Jungen einmal als Könige gemeinsam das fränkische Teilreich von Orléans regieren. Bis sie herangewachsen sind, sollen die Brüder ihres Vaters über ihr Erbe wachen. Doch Chlothar und Childebert haben anderes beschlossen: Sie wollen das Reich von Orléans unter sich aufteilen. Den Neffen bliebe die Schere – für die langen Haare, das Herrschaftszeichen der Merowinger; geschoren würden sie später nur Geistliche werden, doch keine Thronansprüche stellen können.

Die alte Königin, die von dem Plan ihrer Söhne nichts ahnt, besteht hartnäckig darauf, dass den Kindern ihr Erbe erhalten bleibt. Eher sollen sie sterben als nicht herrschen! Unbewusst spricht sie ihnen damit das Todesurteil. Statt der Schere liefert sie sie dem Dolch aus. Chlothar, sich auf ihre Autorität berufend, ermordet die beiden Knaben, zehn und sieben Jahre alt. Childebert schreckt zwar im letzten Augenblick vor der äußersten Konsequenz zurück, doch ist er zu schwach, um sich gegen seinen bösartigen, skrupellosen, immer gewaltbereiten jüngeren Bruder durchzusetzen.

Sieben Jahre nach dem Kindermord, dieser schrecklichsten Untat in der an Blutorgien und Gewaltexzessen reichen Familiengeschichte der Merowinger, hat sich Chlothar mit seinem Halbbruder Theuderich, dem König des östlichen der vier Frankenreiche, verbündet, um die Thüringer zu überfallen. In der Hoffnung auf mehr Kriegsbeute und Gefangene für den Sklavenmarkt weicht er aber dem Kampf auf der Walstatt aus und versucht, seinen Verbündeten zu betrügen. Knapp entgeht er einem Anschlag Theuderichs, der den Unhold auf »traditionelle« Art loswerden will.

Der Konflikt zwischen den Merowingerbrüdern entzündet sich am Schicksal zweier noch sehr junger Gefangener: Radegunde und Irmfried sind Kinder des Königs der Thüringer Hermenefred, adoptiert nach dem Tode seines Bruders. Chlothar hat es vor allem auf das fast zwanzig Jahre jüngere Mädchen abgesehen, das er zur Ehe begehrt, obwohl er schon drei Gemahlinnen hat. Radegunde, die ihn verabscheut und fürchtet, unternimmt einen Fluchtversuch, der aber scheitert. Theuderichs Sohn Theudebert, der Einzige, zu dem sie Vertrauen fasst, kann sie nicht retten. Sie muss Chlothar über den Rhein in sein Reich folgen. Hier wird sie der Gutsbesitzerin Berthe übergeben, die die Weisung erhält, die fremde Königstochter aufzuziehen und auf die Ehe mit dem König vorzubereiten. Die warmherzige Frau erfüllt den Auftrag, indem sie versucht, Radegunde die Angst vor der Zukunft zu nehmen, und ihr hilft, die Religion als Kraftquell zu nutzen. Sie kann aber nicht verhindern, dass nach fünf Jahren ein Vertrauter des Königs erscheint, um die junge Thüringerin zu holen – zur Hochzeit nach Soissons.

Wieder packt Radegunde die Angst, und auch diesmal wagt sie die Flucht. Heimlich verlässt sie das Gut und entkommt zunächst den Häschern, die ihr nachgeschickt werden. Sie hofft, den Weg nach Reims zu Theudebert zu finden, der jetzt, nach dem Tode seines Vaters, König des Ostreiches ist. Von einem fanatischen Eremiten beinahe getötet, von Spielleuten ausgeraubt und verraten, misslingt Radegunde auch diese zweite Flucht.

Nun bleibt ihr nichts anderes übrig, als eine der Königinnen des Frankenreichs zu werden.

Dramatis personae

Chlothar, König der Franken (Soissons)

Radegunde, Thüringerin, seine vierte Gemahlin

Ingunde, erste Gemahlin Chlothars

Charibert, ältester Sohn Chlothars und Ingundes

Gunthram, zweiter Sohn Chlothars und Ingundes

Aregunde, zweite Gemahlin Chlothars

Chunsina, dritte Gemahlin Chlothars

Chram, Chlothars und Chunsinas Sohn

Baudin, Palastgraf, Ratgeber Chlothars

Dacco, Kommandant der Leibwache Chlothars

Theudebert, König der Franken (Metz/Reims)

Childebert, König der Franken (Paris)

Chlotilde, Witwe Chlodwigs, des Reichsgründers

Berthe, Gutsherrin

Arne, Sohn der Berthe, Freund Radegundes

Irmfried, Thüringer, Bruder der Radegunde

Thuri, Thüringer, Irmfrieds und Radegundes Freund

Médard, Bischof von Noyon

Germanus, Bischof von Paris

Injuriosus, Bischof von Tours

Agnes, Äbtissin des Heilig-Kreuz-Klosters

Waldo, Priester

Mallulf, Hundertschaftsführer

Pontius, Senator in Soissons

Sigalsis, Bäuerin

Framberta, eine Unfreie

Kapitel 1

»König Theudebert ist am Tor!«

Ein Hundertschaftsführer der Torwache stieß diesen Ruf aus, als er in den Speisesaal der villa urbana des Senators Pontius eintrat. 

Einige führende Männer der städtischen Verwaltung von Soissons hatten sich zusammengefunden, um zu schlemmen und dabei die Angelegenheiten der Stadt zu besprechen. Man befand sich in angeregter Unterhaltung und belachte gerade eine witzige Bemerkung des Ehrengastes. Der Senator war stolz darauf, dass Baudin, der mächtige Palastgraf und Vertraute des Königs, gleich nach der Rückkehr von seiner Reise die Einladung angenommen hatte.

Der Ruf des Offiziers der Torwache ließ zwanzig in unterwürfiger Erheiterung breit gezogene Münder erstarren. In diesem Augenblick hätte man hören können, wie eine Schnecke über den Boden kroch.

Schließlich fragte der Hausherr betroffen: »Wie? König Theudebert von Metz?«

»Er ist am Tor und begehrt Einlass!«

»Ein Überfall!« Einer der Gäste stieß diesen Schrei aus. Plötzlich fanden alle die Sprache wieder.

»Ein Überfall?«

»Habt ihr gehört? Ein Überfall!«

»Theudebert von Metz ist am Tor!«

»Gott im Himmel! Schon wieder Krieg?«

»Wir sind verloren! Dieses Mal wird er Ernst machen!«

»Er soll zwanzigtausend unter Waffen haben! Die meisten Barbaren von jenseits des Rheins!«

»Jetzt werden uns die Germanen endgültig auslöschen!«

»Terror cimbricus! Furor teutonicus!«, kreischte ein zahnloser Alter, der auch so aussah, als sei er schon damals, vor sechshundert Jahren, dabei gewesen.

»Ruhe, meine Herren, Ruhe! Bewahren wir doch die Fassung! Ruhe!«

Baudin erhob sich von dem Speisesofa, auf das man ihn nach alter römischer Sitte plaziert hatte. Schweiß perlte auf seiner Stirn, seine Stimme klang nach dem schon reichlich genossenen Wein nicht ganz fest.

»Was sagst du, Mallulf? König Theudebert? Er begehrt Einlass?«

»So ist es, Herr!«

»Sind die Tore geschlossen? Die Türme besetzt? Sind die Mauern sicher bewacht?«

»Das ja«, sagte der Hundertschaftsführer. »Aber das ist wohl nicht nötig.«

Wieder erhob sich Jammergeschrei.

»Nicht nötig? Heißt das: Es nützt nichts mehr?«

»Sind etwa die Ersten schon über die Mauer?«

»Jaja, sie sind in der Stadt!«

»Mein Haus! Es steht vielleicht schon in Flammen!«

»O Himmel! Mein Silber! Mein Geld!«

»Meine Kinder!«

»Wozu sitzen wir hier noch herum? Retten wir, was zu retten ist!«

Die Gäste des Pontius sprangen auf und eilten zur Tür. Tische wurden umgestoßen, Becher und Schüsseln fielen scheppernd zu Boden.

Der Mann von der Torwache wollte etwas erklären, wurde aber von den in Panik geratenen alten Herren beiseitegerempelt. Es gab ein kurzes Gedränge mit Beschimpfungen und sogar Schlägen. Gleich darauf waren alle verschwunden. Mit dem Überbringer der Nachricht blieben nur der Hausherr und Baudin zurück.

»Was wirst du jetzt tun, Comes?«, rief der Senator. »Hat es noch Sinn, die Stadt zu verteidigen?«

»Ich weiß nicht … Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll«, stammelte Baudin und raufte seinen weißen Bart, in dem noch die Reste des Mahles hingen. »Ich bin kein Feldherr, von militärischen Dingen verstehe ich nichts. O Gott, dass Theudebert gerade jetzt kommen muss! In einem Augenblick, da ich allein die Verantwortung trage!«

Dabei war er so froh gewesen, dass König Chlothar bei seiner Ankunft von Aties nicht anwesend war. Überraschend hatte der König sich auf den Weg gemacht, um Frau Chlotilde, seiner betagten Mutter, entgegenzureiten, die von Tours über Orléans und Paris zur Hochzeit kam. So war etwas Zeit gewonnen, in der man die Braut, die Baudin in einem reichlich verwilderten Zustand hergebracht hatte, verarzten und für die Begegnung mit dem König herrichten konnte.

Der alte Palastgraf hatte sich schon auf Wutausbrüche und Handgreiflichkeiten seines Herrn gefasst gemacht, sogar auf Entzug der höchsten Gunst und noch Schlimmeres. Dass all dies aufgrund von Chlothars Abwesenheit an ihm vorübergegangen war, hatte ihn ungemein erleichtert, ja mit einer geradezu überschwenglichen Freude erfüllt, die seinem gesetzten Wesen sonst fremd war. In dieser Stimmung hatte er, ebenfalls gegen seine Gewohnheit, viel gegessen und noch mehr getrunken, und selten war er so lustig gewesen.

Und nun stand Theudebert vor der Stadt!

Chlothar reiste mit großem Gefolge, Soissons war fast völlig von ihren Verteidigern entblößt. Seine mehrhundertköpfige Leibwache und die am besten ausgerüsteten Männer der städtischen Garnison waren mit ihm unterwegs. Zweifellos hatte er Angst, weil er durch das Gebiet seines Bruders Childebert reisen musste, der ihm zwei Jahre zuvor noch den Garaus machen wollte. Baudin hatte sich gefragt, warum der sonst so übervorsichtige (bei sich selber sagte er deutlicher: jämmerlich feige) König Chlothar ein solches Risiko auf sich nahm. Tat er das wirklich nur aus Ehrerbietung gegenüber seiner Mutter? Oder steckte noch etwas anderes dahinter?

Baudin hatte einen Verdacht, aber das war auf einmal ohne Bedeutung. Denn vor dem Tor stand Theudebert, und wenn der die Hauptstadt einnahm … was wurde dann aus König Chlothar? Und was wurde aus seinem Palastgrafen? 

»Ja, so ist es, nun hängt alles von dir ab!«, antwortete der fette Senator auf Baudins letzte verzweifelte Feststellung. Und mit zitternder Unterlippe fuhr er fort: »Ich bitte dich nur um eines, Comes … ich flehe dich an: Mache uns nicht alle unglücklich! Hat Widerstand Sinn? Würde er nicht den Feind nur unnötig reizen? Vernunft ist jetzt besser als Heldentum!«

»Gewiss, du hast recht … ich werde … ich muss versuchen, mit König Theudebert zu verhandeln … Wie steht es, Mallulf? Ist er bereits ganz nahe? Hat er die Stadt schon eingeschlossen? Wie viel Mann hat er bei sich?«

»Wie viel Mann er bei sich hat?«

Der Hundertschaftsführer, der noch immer in der Nähe der Tür stand, hatte vergebens versucht, sich in das Gespräch der Honoratioren einzumischen. Er schob den Helm in den Nacken, kratzte sich an der Stirn und sagte: »Fünfzehn … vielleicht achtzehn … höchstens zwanzig.«

»Zwanzig?«, rief Baudin. »Nur zwanzig Mann?«

»Ich sagte: höchstens.«

»Und mit denen steht er am Tor?«

»Jawohl.«

»Und das Heer?«

»Welches Heer?«

»Mit dem er uns angreift, du Tölpel!«

»Davon ist nichts zu sehen.«

»Nichts zu sehen? Ich denke, die Ersten sind schon über die Mauer!«

»Wer behauptet das?«

»Gott im Himmel! Wer soll das behauptet haben? Bist du hier nicht hereingestürmt und hast geschrien: ›König Theudebert ist am Tor!‹?«

»Das habe ich gemeldet. Und so stimmt es auch. Aber ich wollte ja noch mehr melden.«

»Was denn? Was denn? Rede! Sprich! So melde es doch!«

»König Theudebert sagt, er kommt zur Hochzeit.«

»Wie? Was? Zur Hochzeit?«

»Er sagt, man hat vergessen, ihn einzuladen. Deshalb ist er von allein gekommen, ohne Einladung. Sollen wir ihn nun da draußen stehenlassen oder das Tor öffnen?«

Baudin und der Senator starrten sich an. Einen Augenblick lang waren sie sprachlos.

»Aber dann ist ja alles ein Irrtum! Er kommt zu Besuch! Er ist friedfertig!«, stieß der Dicke schließlich erleichtert hervor. »Er will mit uns Hochzeit feiern!«

»Hochzeit feiern?«, fragte Baudin verwirrt. »Aber er ist doch nicht eingeladen.«

»Was befiehlst du nun?«, fragte der Hundertschaftsführer ungeduldig.

»Du meinst …?«

»Das Tor. Wir haben es vorsichtshalber geschlossen, als die Reiter herankamen.«

Der Palastgraf hatte zwar erst einmal aufgeatmet, doch nun ergab sich eine neue Verlegenheit. Diese Verantwortung war nicht weniger drückend. Durfte er in Abwesenheit seines Königs den Herrscher des Nachbarreichs, den gehassten Sohn des gehassten »Bastards« und Halbbruders König Chlothars, in die Stadt lassen, auch wenn er mit nur zwanzig Gefolgsleuten und in angeblich friedlicher Absicht kam?

Baudin versuchte, sich zu sammeln und seinem vom Wein umnebelten Geist eine Entscheidung abzuringen. Der Senator redete auf ihn ein. Man dürfe einen so mächtigen Mann nicht vor dem Tor stehenlassen. Man dürfe ihn nicht vor den Kopf stoßen. Man müsse die Folgen bedenken.

Doch der alte Höfling hörte kaum zu. Er knetete seine feuchten Hände, und schließlich straffte er sich und sagte: »Ihr habt richtig gehandelt, Männer! Das Tor bleibt geschlossen! Aber ich werde mit ihm reden.«

Kurz darauf stieg er, vorsichtig Sprosse für Sprosse nehmend, die Leiter zum Wachturm neben dem Südtor hinauf.

Mallulf war schon vorausgeritten. Er erwartete ihn dort oben mit den Männern der Torwache. Vor ihren Blicken lag die weite Ebene, die der Fluss Aisne, metallisch schimmernd, wie eine riesige Sichel durchschnitt. Gleich neben der Brücke nach der Straße in Richtung der alten Frankengebiete hatte Theudebert ein kleines Zeltlager errichten lassen. Offenbar hatten die Knechte sich sehr damit beeilt. Der König und seine Männer waren aber noch in der Nähe des Tors. Sie tummelten sich bei einem Reiterspiel. Baudin erkannte Theudebert gleich an seinen hellblonden Merowingerlocken, die durch ein breites, rotes Stirnband gebändigt waren.

Ein Gefolgsmann des Königs bemerkte den weißbärtigen Palastgrafen, als er in Begleitung des Pontius und anderer würdig aussehender Männer auf dem Wachturm erschien. Er machte Theudebert auf sie aufmerksam.

Der König blickte herauf, lachte und hob den Arm zum Gruß. Dann legte er einen kurzen Galopp hin und hielt unmittelbar unter dem Wachturm.

»Der hat Mut«, sagte Mallulf anerkennend. »Mit einem Lanzenwurf könnte man ihn erledigen.«

Der Palastgraf beugte sich über die Brüstung.

»Seid gegrüßt!«, rief Theudebert herauf. »Heil dir, Baudin, alter Griesgram! Ich war in meiner Stadt Reims zum Gerichtstag, und da hörte ich, dass ihr hier Hochzeit feiert. Und dachte mir, dabei darfst du nicht fehlen. Um mit meinem geliebten Onkel Chlothar ein Fest zu feiern, sind vierzig Meilen ja nicht zu viel. Ich höre, dass er abwesend ist?«

»Unser König ist nicht in seiner Stadt«, rief Baudin zurück. »Er zieht seiner ehrwürdigen Mutter entgegen, der Königin Chlotilde.«

»Nun, ich kann warten! Ich habe Zeit. Es wird bald Winter, da gibt es nicht mehr so viel zu tun. Wann soll die Hochzeit denn sein?«

»Sobald der König zurück ist.«

»Ist es wahr, dass er die schöne kleine Gefangene heiratet? Die Thüringerin?«

»Er heiratet eine Königstochter, die schon lange in seinem Reich lebt.«

»So kann man es auch sagen. Ist sie hier?«

»Darüber muss ich dir keine Auskunft geben. Am Hochzeitstag wird sie wohl hier sein.«

»Freut mich, sie wiederzusehen. Die ist jetzt bestimmt ein Prachtstück von Weib. Und nun macht endlich das Tor auf!«

»Das ist nicht möglich. Das darf ich nicht!«

»Was? Du willst den Brudersohn deines Königs vor dem Tor stehenlassen?«

»Er hat befohlen, in seiner Abwesenheit niemanden einzulassen. Es sei denn, er ist zu Gast geladen!«

»Na, ich bin doch ein Gast. Ihr habt die Einladung nur vergessen. Macht auf!«

»Tut mir leid, König. Ich bin nicht befugt.«

»Du bist ein alter Duckmäuser, Baudin. Hast du Angst, ich nehme mit meinen paar Leuten die Stadt ein? Na, möglich wäre es, aber das will ich doch gar nicht. Ich will auch nicht bei euch übernachten. Will nur den Königinnen meinen ehrerbietigsten Gruß erweisen. Sind es nicht drei? Ich vermute, sie sind zu Hause geblieben.«

»Sie können dich jetzt nicht empfangen.«

»Warum nicht? Hat Chlothar sie in der Spinnkammer eingesperrt?«

»Glaube nicht, König, dass du mit solchen Reden unseren Sinn änderst. Ich rate dir heimzukehren.«

»Nein, Baudin, das werde ich nicht. Und was immer du mir rätst … ich werde das Gegenteil tun!«

Theudeberts Gefolgsleute, die inzwischen langsam herbeigeritten waren, belachten den Scherz.

Baudin wandte sich ärgerlich ab. Aber er wollte auf keinen Fall den Zorn des Theudebert auf sich laden. Es fehlte gerade noch, dass er die Schuld an neuen Verwicklungen trug!

So trat er zurück an die Brüstung und rief hinunter: »Ich bitte dich, König, versteh meine Lage! Ich möchte wohl, aber ich darf dich nicht einlassen! Laste es mir nicht persönlich an!«

»Keine Sorge! Ein alter Hofhund muss wachen und auch ein bisschen bellen und knurren. Wer sollte ihm das verübeln? Hör mir jetzt zu! Wenn die Damen mich nicht empfangen können – ich empfange sie mit Vergnügen! Ich gebe morgen an dieser Stelle ein Festmahl, hier unter der Mauer. Vorher Waffenspiele mit schönen Preisen. Bis zur Hochzeit müssen wir uns die Zeit vertreiben. Wer von euch teilnehmen will, ist willkommen. Ihr seid alle geladen – besonders aber die hohen Frauen. Und vergesst mir die Braut nicht! Ich bin sehr gespannt auf sie. Richte es aus! Und nun … auf morgen!«

Der König hob grüßend die Hand, wendete sein Pferd und sprengte davon. Der kleine Trupp überquerte die Brücke der Aisne und verschwand in der Abenddämmerung.

»Der richtet sich hier ein wie zu Hause«, seufzte Baudin. »Aber kann man etwas dagegen tun? Wenn der König nur schon zurück wäre! Die Königinnen dürfen nicht an diesen Lustbarkeiten teilnehmen. Ich werde gleich zu ihnen gehen und sie warnen!«

Kapitel 2

Baudin war aber noch unterwegs zum Palast, als die Nachricht von der Einladung des Theudebert die Königinnen bereits erreicht hatte.

Auf das erste Gerücht von seiner Ankunft hin hatten sie gleich eine ihrer Kammerjungfern ans Tor geschickt. Die war die Leiter zum Wehrgang hinaufgeklettert und hatte alles mitgehört, was zwischen Theudebert und Baudin verhandelt wurde. Während der alte Palastgraf, inzwischen schon fast wieder nüchtern, unterwegs jeden Augenblick aufgehalten, um Auskunft ersucht und in Gespräche verwickelt wurde, eilte das Mädchen unverzüglich zu den Königinnen.

Sie fand die Schwestern Ingunde und Aregunde im Ankleidegemach, wo mehrere Kleidertruhen standen und ein großer, ovaler Silberspiegel an der Wand hing. Aregunde probierte mit Hilfe einer Dienerin das Kleid an, das sie zur Hochzeit des Königs mit der »Neuen« tragen wollte. Es war von roter Seide und unter dem Gürtel mit zwei handtellergroßen goldenen Fibeln zugesteckt, an denen eine Kugel aus Bergkristall hing. Aregunde drehte sich hin und her, ließ die Falten schwingen, schüttelte ihre schwarzen Haare und lachte sich zufrieden im Spiegel an.

Als das Mädchen hereinstürzte und, die Worte hervorsprudelnd, von der Einladung des Königs Theudebert zum Fest auf der Wiese berichtete, warf sie entzückt die Arme hoch und schrie: »Oh, herrlich! Dann kann ich es ja gleich morgen tragen!«

Das war Ingunde zu viel. Die beleibte erste Königin saß in einem reich mit Borten und Bändern geschmückten Kleid, den Schlüsselbund der Hausherrin am Gürtel, mitten im Raum auf einem Hocker und sah ihrer jüngeren Schwester zu. Ein Pfeil steckte mit der Spitze nach vorn in ihrem dicken, blonden Haarkranz. Schweigend und säuerlich lächelnd hatte sie der Anprobe zugesehen. Nun aber sagte sie in scharfem Ton: »Du hast doch nicht etwa die Absicht, dorthin zu gehen!«

»Und warum nicht?«

»Unser Herr wird das nicht billigen.«

»Ist etwas daran anstößig, dass ein Verwandter uns zu seinem Fest lädt? Wir haben schon so viel von ihm gehört, da möchte man ihn doch auch gern mal kennenlernen. Und darf man die Einladung eines Königs zurückweisen?«

»Weiß man, was er vorhat?«

»Was fürchtest du denn?«

»Vielleicht will er uns entführen.«

»Entführen?«

»Dich vielleicht nicht. Aber mich … die Erste.«

Aregunde lachte schrill auf. Auch die junge Dienerin prustete los und hielt schnell die Hand vor den Mund. Die Königin Ingunde reckte das Doppelkinn, warf ihr einen strafenden Blick zu und schickte sie und die Überbringerin der Nachricht mit einer Handbewegung hinaus.

»Was ist denn daran so erheiternd?«

»Was dich betrifft, Schwester«, sagte Aregunde, »so kannst du beruhigt sein. Männer entführen gewöhnlich nur Frauen, die sie im Notfall auch tragen können. Ich meine, falls sie verfolgt werden.«

»Giftschlange!«

»Was mich betrifft, ist die Gefahr schon größer. König Theudebert hat sicher gehört, was die Sänger über mich verbreiten.«

»Ach, verbreiten die schon wieder etwas Neues über dich?«

»Ja, da gibt es ein neues Lied von Baderich. Darin heißt es, ich sei die Schönste in Chlothars Reich. Aregunde, singt er, ähnelt der Nossa, Frijas wunderholder Tochter.«

»Mich haben sie immer mit Frija selbst verglichen. ›Die stolzen Türme ihrer Liebesfestung …‹ und so weiter. Aber was soll der Vergleich mit heidnischen Göttinnen? Als ob man jemals eine gesehen hätte. Und wenn diese Nossa wirklich so ›wunderhold‹ ist, dann ist sie bestimmt nicht so ein dürrer, struppiger Besen wie du. Wie konnte Chlothar nur an so einer Gefallen finden.«

»Er vergnügt sich sehr gern mit seinem ›Besen‹. Viel öfter als mit seiner alten, fetten Wurst, die schon ein bisschen verdorben riecht.«

»Ich habe ihm vier Söhne geboren und werde ihm noch vier Söhne gebären!«

»Na, ob er dich noch vier Mal zu sich ins Bett holt?«

»Ja, drisch nur dein Maulstroh. Bald wirst du ganz kleinlaut werden. Schon in ein paar Tagen. Dann wird er dich nämlich auch nicht mehr holen. Und der Sänger Baderich wird sein Lied ein bisschen ändern. Nicht Aregunde wird er singen, sondern Radegunde! ›Radegunde ähnelt der wunderholden Nossa … tirili!‹«

»Tirili, tirili!«, äffte Aregunde nach. »Ach, dieses kleine, verschüchterte Vögelchen! Die ist ja noch gar nicht richtig flügge. Mit der wird Chlothar wenig Spaß haben. Was der braucht, kriegt er nur von mir!«

Aregunde drehte sich wieder vor dem Spiegel und hob dabei ein wenig den Rock, um ihre ledernen Strumpfbänder mit den Goldbeschlägen zu bewundern. Dabei steckte sie ihre Zunge durch eine Zahnlücke und leckte sich die Lippen.

Da trat die dritte Königin, Chunsina, mit raschem Schritt ein.

»Wisst ihr es schon? König Theudebert hat uns eingeladen! Er gibt ein Fest und …«

»Natürlich wussten wir das«, sagte Ingunde. »Wir wussten es eher als du!«

»Wir gehen auch hin!«, rief Aregunde.

»Wir gehen nicht hin!«, widersprach Ingunde.

»Wenn du nicht mitwillst, gehe ich eben allein!«

»Und ich komme mit!«, sagte Chunsina.

»Und ich verbiete es!«, herrschte Ingunde sie an.

»Das kannst du nicht.«

»Ich bin die Erste! Und wenn ich der Einladung nicht folge, dürft ihr es auch nicht!«

»Das werden wir ja sehen!«, sagte Aregunde schnippisch und hielt sich ein Halsband mit Perlen aus Bernstein und Glas an. »Was meinst du, Chunsina? Kann ich das zu dem Kleid tragen? Oder passt es nicht zu den Fibeln?«

»Doch, doch, es passt«, erwiderte Chunsina rasch, um sich gleich wieder Ingunde zuzuwenden. »Ich gehe hin – auch wenn du dagegen bist. Auch wenn du mich dann bei Chlothar schlechtmachst. Ich will mich ja nicht vergnügen. Bei König Theudebert soll mein Ältester sein, Theudowald. Vielleicht hat er ihn sogar mitgebracht. Ich habe ihn seit elf Jahren nicht gesehen!«

»Dein Sohn soll bei Theudebert sein?«, fragte Ingunde skeptisch. »Du suchst doch nur einen Vorwand. Woher willst du denn das wissen?«

»Von Chlothar selbst. Er hat es mir erst vor wenigen Tagen gesagt, als ich ihn wieder mal fragte. Da sagte er mir, bei dem Frieden im Wald von Arelaunum, vor zwei Jahren, habe er Geiseln stellen müssen … junge Männer aus seiner Verwandtschaft.«

»Und da hat er natürlich nicht seine eigenen Söhne hergegeben«, meinte Aregunde und probierte ein Halsband mit Goldblattkreuzen.

»Nein«, fuhr Chunsina fort, »natürlich nicht. Er sagte, er habe Chlodomers Söhne und ein paar andere hingeschickt. Meinen Ältesten gab er dem Theudebert, meinen Zweiten, Gunthari, dem Childebert. So sagte er.«

»Merkwürdig«, fand Ingunde, »dass er dir das nicht schon früher erzählt hat. Wie alt sind sie denn jetzt?«

»Theudowald ist einundzwanzig, Gunthari achtzehn. Chlothar erzählte mir ja jedes Mal etwas anderes, wenn ich ihn fragte. Sie konnten ja längst nicht mehr bei seiner Mutter sein, dazu waren sie schon zu groß. Nur der Jüngste, Chlodowald, soll noch bei ihr in Tours sein, weil er Priester wird. Die beiden Älteren … einmal sagte er, sie seien in Poitiers, dann wieder in Rouen … einmal beim Grafen Waddo, ein andermal in der Gefolgschaft eines gewissen Brachio …«

»Es hat schon seinen Sinn, dass er so redet«, sagte Ingunde. »Er will eben nicht, dass du ihnen nachspionierst. In ihrem Alter brauchen sie die Mutter nicht mehr. Ein Mann, den die Mutter noch umsorgt, ist ein Weichling. Chlothar will auch, dass du dich mehr um den Sohn kümmerst, den du von ihm hast, Chram. Und wenn du mich fragst … der hat es nötig. Der ist erst acht und spielt den künftigen König. Dabei wird er mal gar nichts abkriegen, wenn es an die Teilung des Reichs geht. Erst kommen meine vier Söhne und dann noch der Kleine von Aregunde. Ich rate dir, unseren Herrn nicht zu verärgern, indem du zu Theudebert rennst und ihm deine Geschichten erzählst. Das könnte er dir sehr übelnehmen!«

Die Königin Ingunde erhob sich, seufzte und schob ihre massige Gestalt zur Tür.

»Und merkt es euch beide – es bleibt dabei: Theudeberts Einladung geht uns nichts an!«

Die Königin Aregunde lachte nur abschätzig, hob den Rock und zeigte ihrer Schwester die nackte Kehrseite.

»Da willst du von unserm Herrn verbleut werden, wie?«, sagte Ingunde. »Ich freue mich schon auf den Anblick, wenn er den Gürtel abschnallt!«

Sie rauschte hinaus.

»Du widerliches Judasweib!«, rief Aregunde ihr nach. »Judasweib! Judasweib! Wie ich dich hasse!«

Die Königin Chunsina ließ sich nun auf dem einzigen Hocker nieder, dessen Polster noch warm war. Sie war knapp vierzig Jahre alt, sechs Jahre älter als Ingunde, zehn Jahre älter als Aregunde. Sie war eine große, schlanke Person und hielt sich sehr gerade, was sie schon einige Mühe kostete. Ihre Bewegungen waren gemessen und vornehm. Ihr schmales Gesicht mit den großen, traurigen Augen, das einmal schön gewesen sein musste, war von Kummerfalten gezeichnet und hatte die Farben welker Blätter. Das rötliche, ergrauende Haar war glatt nach hinten gekämmt und zum Teil von einem Schleier bedeckt. Sie trug ein langes, braunes Seidenkleid mit nur wenig Stickerei an den Ärmeln.

»Mach dir nichts draus«, sagte Aregunde, die jetzt eine Kette mit goldenen Münzen und Amethystanhängern probierte. »Auch wenn sie sich noch so sehr aufspielt und ›unserem Herrn‹ alles zuträgt … wir gehen trotzdem zu Theudeberts Fest. Ich hab von den Prügeln schon eine Hornhaut am Hintern. Mir macht das nichts. Er wird ja auch immer schnell müde.«

»Geschlagen hat er mich nie«, sagte Chunsina. »Aber das andere … die Beschimpfungen, die Verdächtigungen … Hoffentlich muss ich nicht sterben, ohne meine Söhne noch einmal wiedergesehen zu haben.«

»Na, zum Sterben ist es ja noch zu früh. Und vielleicht siehst du sie diesmal tatsächlich alle wieder – beim großen Familientreffen der Merowinger.«

»Das hoffe ich. Wie habe ich mich gefreut, als ich hörte, dass König Childebert kommt. Gunthari könnte in seinem Gefolge sein.«

»Und vielleicht bringt die Alte aus Tours auch den künftigen Bischof mit.«

»Oh, das wäre wunderbar! Dann würde Chram endlich seine drei Brüder kennenlernen. Acht Jahre alt ist er, und keinen hat er je zu Gesicht bekommen.«

»Offen gesagt, mir graut schon vor unserer Schwiegermutter«, sagte Aregunde seufzend und steckte sich noch einen Armreif an. »Ich hab sie ja nur einmal gesehen, als wir mal Childebert in Paris besuchten. Die alte Krähe! Sie musterte mich von oben bis unten, und dann spitzte sie den Schnabel und krächzte: ›Hast du das Sakrament der Taufe empfangen? Betest du auch mindestens dreimal am Tage? Hörst du regelmäßig die heilige Messe?‹ Ich antwortete natürlich immer: ›Ja, ja …‹ Aber sie sagte zu Chlothar: ›Ich glaube, im Herzen ist sie noch eine Heidin. Du solltest sie mal zu mir nach Tours schicken. Ich lasse sie dann am Grab des heiligen Martin fasten und beten. Drei Tage und Nächte lang. Das wird ihr helfen.‹ Na, zum Glück blieb mir die fromme Tortur erspart. Zwischen Chlothar und Childebert knirschte es plötzlich, und so konnte ich nicht dorthin. Und später wurde es vergessen. Hoffentlich erinnert sie sich jetzt nicht daran. Aber ich glaube, diesmal stürzt sie sich auf die Neue.«

»Das arme Mädchen tut mir so leid«, sagte Chunsina. »Man sieht ihr an, dass sie unglücklich ist. Ihr geht es genauso wie mir damals … Sie hat nicht mal Verwandte, die sie schützen können.«

»Nur einen Bruder bei der Jungmannschaft. Der wurde vor fünf Jahren mit ihr gefangen. Aber er soll nicht viel taugen. Und was könnte er auch für sie tun?«

»Wo ist sie jetzt eigentlich?«

»Im Haus von Baudin. Unter der Obhut seiner Frau. Ingunde ist schrecklich beleidigt, weil Chlothar angeblich wollte, dass sie