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Zum Buch

Egal ob Männer oder Frauen, Selma Mahlknechts Helden sind sogenannte Anti-Helden, Outlaws der Gesellschaft. Da ist einmal der verhinderte Schauspieler, der als Radiomoderator arbeitet und, von Skrupeln geplagt, seinen Job hinschmeißt. Da ist der Handelsvertreter, der eigentlich nichts mehr vom Leben erwartet, nur in seiner Arbeit aufblüht und eines Tages doch wieder so etwas wie Zuversicht schöpft. Oder die ältere Frau, die mit dem Zug fährt und ihr Leben überdenkt. Und dann ist da noch dieses junge Mädchen mit der Lebensweisheit einer Greisin.

Allen gemeinsam ist die Konzentration auf das eigene Ich und die Suche nach einem klitzekleinen Stück Glück. Mahlknechts Erzählungen zeichnen allesamt Vexierbilder zerrissener Seelen, die sich dem Leser in ihren Monologen öffnen..

„Du hast schöne Augen. Schneck. Wende sie nicht ab.
Sieh mich an, sieh mich an, und schäme dich nicht.
Dein Blick hat aufgehört mir weh zu tun, noch ehe
du ihn auf mich gerichtet hast. Sieh mich an.“

Selma Mahlknecht

rosa
leben

prosa

Inhalt

rosa leben

Bodemanns Tag

Die Verstimmung

Monolog im Frauenabteil

Die Autorin

Impressum

rosa leben

Komm näher. Hab keine Angst vor mir. Komm. Komm.

Da liegt ein Schatten über deinen Augen, komm ans Licht. Dein Mund, weißt du, hängt freudlos und grau wie welkes, modriges Laub, so traurig siehst du aus, wie ein verregneter Baum, dessen Stamm aufgedunsen und weich ist wie ein unbehauster Schneck.

Komm näher, einsamer Schneck. Ich werde dich nicht verletzen. Ich nicht.

Das erste Mal ist jedesmal so. Ich kriege sie immer, und die Tanten haben mittlerweile einen Blick für die, die sie zu mir schicken. Die Verkrampften, die Unsicheren, die Muttersöhnchen. Alle zu mir. Und dann bleiben sie an mir hängen, und sie kommen nicht mehr los von mir. Nie mehr.

Du hast schöne Augen, Schneck. Wende sie nicht ab. Sieh mich ruhig an. Sieh dir alles an, und laß dir Zeit. Sieh mich an, sieh mich an, und schäme dich nicht. Dein Blick hat aufgehört mir weh zu tun, noch ehe du ihn auf mich gerichtet hast. Sieh mich an.

Zuerst ist nur diese vage Vorstellung vom Da-Sein. Warm kalt hell dunkel vorher nachher hier woanders verschwimmen austauschbar zu einem Zustand der Unmittelbarkeit, in dem Raum und Zeit weder Richtung noch Bedeutung haben. Alles was danach kommt, zählt nicht. All die Jahre, die wir damit verbringen, säuberlich unser Leben in Gestern und Morgen zu sortieren, sind unwesentlich, die Jahrzehnte, die wir uns noch auf diese Weise durch die Welt schleppen, haben keinen Stellenwert. Das einzige, was wirklich Leben ist, ist dieser unscharfe Zustand zwischen Träumen und Wachen, und alles, was wir jemals später tun, jede Anstrengung, die wir unternehmen, ist darauf ausgerichtet, zu diesem Zustand zurückzukehren. Erst im Tod finden wir die Erfüllung. Der Rest ist verschwendete Zeit.

Ich weiß, wovon ich spreche. Denn ich bin dieser Zustand.

Keine Angst, Schneck. Hier drinnen kann dir nichts geschehen. Du bist in Sicherheit. Denn jetzt bist du bei mir.

Keiner wird dir weh tun. Du bist bei mir.

Ich kenne ihre Blicke. Ich habe jede ihrer Gesten gesehen, ihr unbeholfenes, kleinlautes, schuldbewußtes Zögern, ihre fragende Miene, ihre erbärmliche Haltung, die nichts ist als eine Bitte, alles habe ich gesehen, und ich sehe es jedesmal aufs neue, und jedesmal bricht entsetzliche Müdigkeit in mich ein, eine Müdigkeit, die meine letzte Art zu trauern geworden ist. Doch jedesmal bezwinge ich mich. Und jedesmal wieder gelingt mir das Wort, wenn auch von Mal zu Mal bitterer, erkämpfter: Komm.

Meine Bude ist ein Loch. Mit Liebe zum Detail zwar, aber immerhin ein Loch, gut, um aus dem Regen zum Kühlschrank zu triefen, ihn aufzureißen und blöde hineinzustarren, während kalte Rinnsale den Nacken hinunterlecken wie Schweiß. Die Fenster sind abgeklebt mit Porzellanpuppenköpfchen, die ich aus grinsenden Frauenblättchen geschnitten habe, wenn die Stunden beim Arzt nicht vergehen wollten. Mittlerweile habe ich aufgehört, mich untersuchen zu lassen. Meine Fenster sind auch so voll genug. Und es wäre ja nicht, daß die Tanten wirklich Wert darauf legen würden. Und so bleibe ich, wenn mir fiebrig ist, stumpf vor dem Kühlschrank sitzen und schaue hinein wie in die letzten Wahrheiten. Manchmal, wenn ich tatsächlich einkaufen war, finde ich darin einen Eimer Pudding, Schokolade natürlich, zum Sattwerden und weil mir sonst auch nichts einfällt. Dann nehme ich einen der Einweglöffel, die ich in einem Schuhkarton sammle, und spachtle mir den Pudding auf die Zunge, bis mich sein Geruch in die Besinnungslosigkeit treibt.

Meine Bude ist ein Loch. Gut, um todmüde des Nachmittags hineinzutaumeln und die muffelige Kleidung auf dem Teppich zu verstreuen und auf das Sofa, Tisch und Bett gleichermaßen, zu fallen. Es schläft sich immerhin, es schläft sich, und der Schlaf ist bleiern und schwarz und ohne Träume, und es ist dieses Schlafes wegen, daß ich meine Bude achte. Es schläft sich, und Schlaf ist eine Wohltat, wenn man es versteht, ohne Träume dazuliegen, leblos und steinern wie ein Brunnen. Entsetzlich ist nur das Aufwachen nach solchem Schlaf und der Blick in die Puppengesichter, die von den Fenstern herabstarren, und das Entsetzen reißt mich hoch, und das Entsetzen treibt mich ins Büro.

Meine Bude ist ein Loch. Das Büro aber ist ein Gemach, ein federleichtes, daunenweiches Stück Traumschloß, ohne Prunk, aber gemütvoll. Ich weiß, was ich den Kindern schuldig bin. Das Sofa, gleichermaßen Bett und Beichtstuhl, erstreckt sich tief in den Raum hinein, einladend und warm wie ein geduldiger Busen. Darum herum drapieren sich dezent und unaufdringlich Vorhänge und Lampen, Schemel und Kästchen, doch wer von denen, die an meine Brust fliehen, bemerkt das schon. Die Tanten waren nicht sehr hingerissen von meiner Einrichtung, aber es besteht eine Art stilles Einverständnis zwischen uns. Meine Arbeit ist nicht die ihre, auch wenn sie auf dasselbe hinausläuft.

Zuerst ist nur diese vage Vorstellung vom Da-Sein. Erst allmählich kommt das Bewußtsein, und mit ihm das Grauen. Hinaustreten aus sich selbst, Hände Füße Bauch als eigene oder fremde erkennen und unterscheiden zwischen den Worten von drinnen oder draußen. Überhaupt sind die Worte das Unheil, man braucht zu lange, bis man sie begreift, und so bleiben es Formeln, Sprüche, ein Leben lang. Und dann kommt Meins. Von allen Worten das erschreckendste, es teilt die Welt in Meins und Nicht-Meins, in Hab-ich-schon und Will-ich-haben, und nur so führt der Weg zum Ich, denn Ich bin, was mir gehört, und was nicht Meins ist, ist Nicht-Ich und Feind. Und daß Nicht-Ich und Ich nie mehr, nie mehr dasselbe sein können, und daß Meins nicht Deins ist, nicht sein darf und wehe, du faßt Meins an, dann mach ich Deins kaputt, das vergiftet uns die Seele, und wir beginnen, an Gut und Böse zu glauben.

Meine Mutter hat immer gewarnt. Sie war eine Frau, die am Ende immer recht behielt. Zuviel grübeln, meinte sie, ist was für die, die das können, nichts für solche wie uns. Für uns gehört sich das Handfeste, das, wo man zulangen kann und die Finger tief reingraben, aber Bücher lesen und nur in den Buchstaben nach Trüffeln wühlen, das ist nichts. Nicht etwa, daß ich groß gelesen hätte. Nur ab und zu in den Blättern, wozu lagen sie auch herum, da konnte ich mich schon recht festsaugen, da brachte sie meine gierigen Blicke gar nicht mehr zum Wegschauen, und ich wollte sein wie die Mädchen mit den bunten Plastikclips in den Haaren, die mit ihren rosigen Waden über holprige Gehsteige spazieren gingen und Eis lutschten. Flausen, sagte meine Mutter, du bist nichts mit Rosa, und das sollte so bleiben, und das hängt heute noch an mir, daß mit mir nichts ist mit Rosa.

Gedanken an Mutter machen mich kindisch, und ich habe Jahre darauf verwendet, sie zu verdrängen. Dabei bin ich ihr Ebenbild, vor allem, wenn mich der Griesgram packt und sich mir die Brauen über die Augen stülpen. An solchen Tagen hänge ich alle Spiegel ab, sogar im Büro. Die Kinder sind dann schon fast eine Erleichterung, vor allem die neuen, die zum ersten Mal hereinschüchtern mit ihrem hilfesuchenden Schauen, und ich breite die Arme nach ihnen aus und ich weiß: Sie alle hatten eine Mutter wie ich.

Es tut gut, andere weinen zu lassen. Sie liegen so klein und zerknüllt in ihren unfrohen Körpern, und ihre Tränen, die so hemmungslos und warm auf meine Haut perlen, werden zu meinen, die ich nicht mehr vergieße. Ich wiege sie, streichle, küsse sie, und langsam, ganz langsam nur, kriechen sie wieder aus sich heraus und finden zurück in das gedämpfte Licht meiner Höhle, und in die Verlegenheit ihrer letzten Tränen mengt sich Vertrauen. Ich genieße diese Sekunden, ehe sie wieder zu sich kommen, ich genieße den Moment des Stillstands, da ich nicht mehr tröste, sie nicht mehr trauern, und ich schließe ihn ein für den Morgen, den ich nicht mehr sehen werde.

Ich hatte eine Schachtel. Mutter ahnte nichts davon, sie hätte mich geprügelt, aber ich hatte eine Schachtel, grün und abgewetzt und bis zum Rand voll mit Plastikclips, alle rosa. Und wenn ich allein war und Mutter mit meinem Griesgram in den Augen den Flur schrubbte, probierte ich sie alle und fuhr mir stolz durchs Haar. Ich stellte mir vor, ich hätte noch Nagellack, und diese miesen platten Dinger mit dem schwarzen Rand seien rosa Edelsteinchen, die mir an den Fingern funkelten. Dann schwenkte ich den Kopf vor dem Spiegel, hin und her und hin und her, und folgte meinen Augen, die blitzten. Prinzessin, dachte ich.

Ich wollte immer nur rosa, nie etwas anderes. Es war sanft und klein, nicht brüllend und patzig wie das Rot, das Mutter mir andichtete. „Mädchen wie du“, sagte sie, „brauchen so etwas. Sonst bist du so …“ Sie sprach nie aus, was dieses „so“ war, aber ich wußte es, denn ich wußte, wer die „Mädchen wie ich“ waren. Aber das brachte mich nicht davon ab: rosa sollte es sein, sonst nichts.

Meine Bude ist ein Loch. Aber die Fliesen im Bad glänzen in einem milden Rosa, das mich mit der Welt versöhnt. Und die Fliesen waren es zuerst, die mich in meine Bude trieben. Mag draußen die Stadt in Schutt fallen, hier drinnen ummanteln mich rosige Fliesen, zwinkernd und freundlich wie das große Schmunzeln meines schlafenden Buddhas.

Mutter wollte nichts mit Religionen, nur manchmal zum Aufseufzen oder zum Beschuldigen war ihr wer recht, und als ich den kleinen Buddha anschleppte, war es ihr auch einerlei. Dabei verstand ich nichts vom Nirwana, ein Wort von vielen, aber das kleine Figürchen wollte ich durchaus in meinem Regal. Wie eine Puppe fand ich, wie ein sattgetrunkener Säugling schlief der kugelige Mann vor sich hin, und seine Glatze schimmerte sanft, wenn sich die Abendsonne ein wenig zu mir ins Zimmer legte.

„Mädchen wie du“, Mutter benutzte es häufig, „Mädchen wie du, die brauchen das nicht.“ Oder: „Mädchen wie du, die passen da nicht hin.“ Oder: „Mädchen wie du, denen wird nichts geschenkt im Leben.“ Mutter wußte alles über Mädchen wie mich. Nur über mich wußte sie nichts, weil ich anders sein wollte, vor allem anders als die wie ich.

Zuerst ist nur diese vage Vorstellung vom Da-Sein. Erst allmählich kommt das Bewußtsein, und mit ihm das Grauen. Wenn man aus der Welt rauswächst und in sich rein, rein in dieses Fleisch, sich einsperren läßt in die Beschränktheit eines Körpers, dann kommt das Grauen, und es läßt einen nicht mehr los. Ich war 15, als ich den Buddha zu den Clips warf, die Schachtel packte und mich rausschlich. Als die Tür hinter mir klickte, wußte ich, daß das, was vor mir lag, mich nicht erschrecken würde.

Dreieinhalb Wochen reichte das Geld, das ich aus Mutters Versteck genommen hatte, und in meinen verkoksten Augen schwamm die Welt gedämpft und lau dahin. Ich schlief, wenn ich schlief, im Sitzen oder unförmig hingesunken auf dem Pflaster, in Bahnhofstoiletten, in zugigen Durchgängen, und nichts berührte mich. Dann war das Geld weg, und mir wurde kalt, verdammt kalt, der Frost saß mir in den Zehen, den Fingerspitzen, den Haaren, ich hatte nicht gewußt, daß Haare frieren können, und ich begann, mich an Typen zu hängen.

Nach Hause, das fiel mir gar nicht ein, was erwartete mich dort, obwohl eine Tante mal gesagt hat, mein Gott, 15, ein halbes Kind noch. Ich aber weiß, daß ich kein Kind war, mit 15 nicht und vielleicht schon vorher nicht, wenn ich sehe, was sie für ein Kind halten, verdammt, so ein Kind war ich nie, war nie Papis Schmetterling mit Lackschühchen und Haarreifen. Ich war immer dieselbe, mit demselben Zorn und derselben Verachtung, aber ich bin müder geworden, müder, doch die Zeit ist noch nicht da.

Nach Hause, das fiel mir gar nicht ein, ich hing an irgendwelchen Typen, die nahmen mich schon mal mit und zogen mir die Hosen runter, ich erschreckte nicht, nachher dröhnte ich mich zu und blieb auf der Matratze liegen, bis sie nochmal kamen oder mich rauswarfen. Einer hat mich lang gehalten, von dem wußte ich sogar den Namen, mit dem hab ich gelacht, wenn wir drauf waren, dann hab ich ihm Clips ins Haar gemacht und gesagt, daß ich ihn liebe. Dann hat er meine Schachtel durchs Zimmer geschleudert und rumgebrüllt, und ich las heulend die Clips vom Boden auf und ging, meine Schuhe schmiß er mir aus dem Fenster nach.

Dann war es schon wieder April oder Mai oder was, und eine von der Fürsorge hatte uns eingefangen. Da saßen wir dann in einem Raum mit Parkettboden und mußten erzählen, was unsere Träume waren. Ein paar grinsten nur, eine war mit den Nerven runter und heulte herum, ich fragte, ob ich mal kurz auf die Toilette dürfte. Dann stand ich vor der Muschel, hielt die Schachtel und starrte auf den kleinen Wassergrund und starrte und starrte, und ein bißchen hab ich mich drin gespiegelt, mit einem winzigen Kopf ohne Gesicht. Dann kam die Fürsorgetusse und klopfte, ob ich okay sei. Ich antwortete nicht und starrte auf den kleinen Kopf im Wasser, der sich nicht bewegte. Sie klopfte nochmal. Ich nahm den Deckel von der Schachtel, es blitzte rosa raus, und dann schüttete ich alle Clips in den Abfluß. Ich drückte die Spülung und schaute, wie das Wasser hochstieg und dann kreisend runtergurgelte, aber der Buddha hatte sich quergelegt, und als das Wasser weg war, steckte er noch fest. Da nahm ich ihn raus, wischte ihn am Pullover ab und ging fort, die Tusse stand noch da und wollte nett sein, ich ließ sie stehen und ging einfach. Und die ganze Zeit, wie ich runtergestarrt hatte und wie ich dann ging, die ganze Zeit dachte ich nur, daß mit mir vielleicht doch nichts war mit Rosa.

Mit der Fürsorge war dann nichts, obwohl ich noch eine Weile dort rumgemacht hatte, aber als es dann warm wurde, klaute ich einen Schlafsack und ließ mich nicht mehr blicken. Ich hängte mich wieder an Typen, wir saßen auf Wellblechdächern und verbrannten uns den Hintern. Einer brachte mich dann in die Clique, wir liehen uns Klamotten und färbten uns gegenseitig die Haare, war ein ordentlicher Sommer. Als es dann wieder kalt wurde, stiegen wir von den Dächern und suchten windstille Löcher. Irgendwie haben wir uns dann aus den Augen verloren, ich stieg bei einem Kerl ab, der noch bei den Eltern wohnte, ein paar Tage versteckte er mich in seinem Zimmer und ließ mich in eine Vase pinkeln, dann erzählte er mir, daß er abhauen würde nach Holland, er zeigte mir Bilder von Amsterdam, ich fragte nach den Tulpen, da warf er das Buch mit den Bildern aufs Bett und sah mich nicht an. In der Nacht hat er mich noch einmal durchgefickt, dann sagte er, ich müsse jetzt gehen, ich stand im Dunkeln auf, ohne Licht zu machen, und war weg. Seine Brieftasche und das Buch nahm ich mit.