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Antisemitismus und Gesellschaft

Zur Diskussion um Auschwitz,

Kulturindustrie und Gewalt

 

 

Herausgegeben von

Michael Werz

 

 

Verlag Neue Kritik

Michael Werz, geboren 1964 in Neuss, promoviert am Fachbereich Philosophie der Universität Frankfurt. Veröffentlichung: Bosnien und Europa. Zur Ethnisierung der Gesellschaft (Hg. 1994 mit Nenad Stefanov), Mitarbeiter der Zeitschrift Perspektiven und des »Internationalen Institus für Theorie der Gesellschaft« in Frankfurt am Main.
Die Texte von Zygmunt Bauman, Shmuel N. Eisenstadt und Michael Lerner wurden von Michael Werz aus dem Englischen übertragen.

 

 

© Verlag Neue Kritik Frankfurt am Main 1995

Die Printausgabe erschien 1995 im Verlag Neue Kritik

© für die E-Book-Ausgaben Verlag Neue Kritik 2014

E-Book Erstellung: Madeleine Schmorré

ISBN 978-3-8015-0560-8 (epub)

ISBN 978-3-8015-0561-5 (mobi)

ISBN 978-3-8015-0562-2 (pdf)

www.neuekritik.de

Inhaltsverzeichnis

 

Einleitung

 

Detlev Claussen

Die Banalisierung des Bösen

Über Auschwitz, Alltagsreligion und Gesellschaftstheorie

 

Moishe Postone

Nationalsozialismus und Antisemitismus

Ein theoretischer Versuch

 

Zygmunt Bauman

Große Gärten, kleine Gärten

Allosemitismus: Vormodern, Modern, Postmodern

 

Shmuel Noah Eisenstadt

Antinomien der Moderne und Antisemitismus

Zur Vorgeschichte der Barbarei

 

Helmut Reinicke

Gegengewalt

Merkwürdige Überlebensformen jüdischer Gauner

 

Ulrich Sonnemann

Geschichtsverdrängung als Selbstbetrug

Anmerkungen zu Selbstverrat und Selbsttreue

 

Tim Darmstädter

Die Verwandlung der Barbarei in Kultur

Zur Rekonstruktion der nationalsozialistischen Verbrechen im

historischen Gedächtnis

 

Mosche Zuckermann

Geschichte, Angst und Ideologie

Aspekte der israelischen politischen Kultur

 

Michael Lerner

Amerikanische Linke und Antisemitismus

Über fortschrittliche Politik in Zeiten gesellschaftlicher Sinnkrise

 

Zu den Autoren

Einleitung

 

 

»Nicht das Gute, sondern das Schlechte

ist Gegenstand der Theorie«

Max Horkheimer 1944

 

 

Im vorliegenden Band wird eine Debatte zum Thema des Antisemitismus just zu einem Zeitpunkt dokumentiert, da sich die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz Birkenau zum fünfzigsten Mal jährt; das halbe Jahrhundert zeitgeschichtlichen Abstandes ist Anlass für vielerlei Äußerungen zum Thema, denen unterschiedlichen Motive und Interessen zu eigen sind. Es mehren sich allerdings Verarbeitungsformen der Erfahrung des Nationalsozialismus und der Vernichtung der europäischen Juden, die zunehmend zum Memento Mori erstarren. Genau jene Kulturalisierung und ihre ideologische Funktion sind Gegenstand der Kritik einiger Beiträge dieses Buches. Hier gilt Theodor W. Adornos Feststellung, dass »Auschwitz das Misslingen der Kultur unwiderleglich bewiesen« habe, die ihre Aktualität keineswegs verlor. Die ernste, politisch wie theoretisch leitende Konsequenz, die für den Philosophen daraus notwendig folgte, dass die Menschen »ihr Denken und Handeln so einrichten, dass … nichts Ähnliches geschehe«, setzte sich inzwischen als Phrase bis in die tagespolitischen Diskussionen und ›Festreden‹ zum Jahrestag der Befreiung durch, ohne dass hieraus Fragen über den Zustand der Gesellschaft entstünden. Denn die Rede vom »Holocaust«, der »entsetzlichen Verbrechen der Nazizeit« und der »Stunde Null nach 1945« verdeckt, was zu bearbeiten vorgegeben wird: Sie verleugnet vor allem jene gesellschaftlichen Bedingungen, die die nationalsozialistische Vernichtungspraxis erst ermöglichten, ihre Eckpunkte sind im Untertitel des Buches benannt. Auschwitz steht als Metapher für das in Worte nicht fassbare Geschehen, dem die Indienststellung der Vernunft für das nationalsozialistische Machtkalkül vorausging; die kulturindustrielle Produktion von Besinnungslosigkeit und Ablenkung; und schließlich jene Gewalt, die nach wie vor in die Gesellschaften eingeschrieben ist und immer weniger durch demokratische Verkehrsformen vorgeblich entschärft wird.

Diese Themen finden nur selten die ihnen gebührende Beachtung. Im Gegenteil erfüllt gegenwärtig die in Politik und Kultur betriebene historische Verdunkelung der industriellen Massentötung, des »gestanzten Todes, der Wiederholung des immer gleichen«, wie Dan Diner sie nennt, wichtige Funktionen für die Neuinterpretation europäischer Nationalgeschichte, einschließlich der schleichenden, gelegentlich gar offenen Rehabilitation der Prinzipien ethnischer Homogenität. Leo Löwenthal hielt bereits 1946 fest: Der »Westen schloss gleichsam die Augen vor den Manifestationen des faschistischen Terrors, bis sie ihm schließlich durch die in Auschwitz, Buchenwald, Belsen und Dachau enthüllten Greueltaten aufgezwungen wurden. Die westliche Welt entzieht sich auch heute noch den Tatsachen jenes Terrors, der dem Kriegsende folgte. Der in den von Terror beherrschten Ländern waltenden und der Selbsterhaltung dienenden Erstarrung steht in der sogenannten freien Welt eine psychische Massenverdrängung gegenüber – eine unbewusste Flucht vor der Wahrheit«. Mehr noch: Das zynische Schweigen zum Krieg in Bosnien und die oft bedingungslose Redseligkeit über den »Holocaust« entsprechen einander auch heute in verschiedener Hinsicht; dieser Zustand impliziert keineswegs, wie häufig missverstanden, eine qualitative Gleichheit der bezeichneten Geschehen, sondern verdeutlicht vielmehr die jeweilige Kälte und Indifferenz im Angesicht barbarischer Gewalt. Der strukturelle Zusammenhang – nicht des Geschehens selbst sondern seiner Verarbeitungs- und Verdrängungsformen – erschließt sich naturgemäß nur indirekt über die Analyse der gesellschaftlichen Voraussetzungen jener Gleichgültigkeit.

Diese Mechanismen beziehen ihre Wirklichkeitsmächtigkeit aus einem allgemeiner werdenden Unbewusstseinszustand, der nicht allein westeuropäische Gesellschaften betrifft, sondern auf universale Entwicklungen, d.h. vor allem die internationale Angleichung kapitalistischer Verhältnisse verweist. Methodisch steht die Gesellschaftstheorie an diesem Punkt vor dem Problem der Vermittlung objektiver und subjektiver Faktoren, um die Analyse voranzutreiben. Denn »gerade um der Objektivität ökonomischer Kategorien willen«, forderte Alfred Schmidt bereits zu Beginn der 70er Jahre, »wird es künftig darauf ankommen, eine – materialistisch begründete – Theorie der Subjektivität zu entwickeln«. Darum ist allein mit der Beschreibung vorherrschender ideologischer Konstellationen das Verhältnis von Subjektivem und Objektivem nicht ausreichend zu rekonstruieren. Diese Prämisse gilt aus unterschiedlichen Gründen sowohl für ost- als auch für westeuropäische Gesellschaftstheorie, denn während »man im Ostblock aus dem Ideologiebegriff ein Instrument gemacht hat, das samt dem unbotmäßigen Gedanken den trifft, der ihn zu denken wagt« – so notierten die Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung gegen Ende der 50er Jahre –, »hat er sich diesseits im Verschleiß des wissenschaftlichen Marktes aufgeweicht, seinen kritischen Inhalt und damit die Beziehung auf Wahrheit eingebüßt«. Die offenkundigen Analogien unterbundener Reflexion in Ost und West und die periodisch sich freisetzende Gewalt im gesellschaftlichen Zerfallsprozess dort wie hier erzwingen das Festhalten an den Möglichkeiten der Kritik einer Gesellschaft als Ganzer. Das Problem, das die Frankfurter Sozialphilosophen in den 50er Jahren formulierten, macht die Angelegenheit allerdings nicht einfacher. Wenn falsche Projektionen immer allgemeiner und damit zur Grundlage kollektiven Handelns werden, versagt die aufklärende Kraft des besseren Arguments; der Rekurs auf die Vorgeschichte der Gewalt und ihre untergründigen Existenzformen ist hier angeraten. Denn gesellschaftliche Beziehungen vermitteln sich nicht zufällig gewaltförmig, sondern eröffnen hierüber den Blick auf zugrundeliegende Herrschafts- und Ausbeutungsmechanismen und die innewohnenden Gefahren: Projektionen der eigenen Entfremdungserfahrung auf andere, konstruierte oder wirklich existierende Gruppen, deuten in der Zuschreibung der Verantwortung für sinnlich erfahrbares Unrecht, Ohnmacht und Sinnverlust den praktischen Teil einer auf verzerrter Wahrnehmung beruhenden Rebellion gegen den unbefriedigenden Status Quo an. Gefangen in diesem System von Fehlwahrnehmung und Sublimation verspricht nur die Vernichtung der stigmatisierten Gruppe wirkliche Erlösung. Die Bedingungen verzerrter Wahrnehmung des gesellschaftlichen Machtgefüges verallgemeinern sich im Konstitutionsprozess bürgerlicher Nationalstaaten und können zum vorherrschenden ideologischen Motiv werden, das nur im Rückgriff auf die Entstehung der es befördernden Verhältnisse entschlüsselt werden kann.

So vollziehen die beiden historisch vorgehenden Beiträge dieses Bandes den Schritt zurück in die Vorgeschichte kapitalistischer Gesellschaften, um den Übergang traditioneller Judenfeindschaft in modernen Antisemitismus zu rekonstruieren. Dieser Zugang ist deshalb produktiv, weil die Modernisierung traditioneller Vorurteilsstrukturen in autoritäre Ideologie die avancierteren Herrschaftsformen insgesamt ausdrückt. Hierin liegt das Moment des Allgemeinen, wenn im genannten Zusammenhang vom gesellschaftlichen Phänomen des »Antisemitismus« die Rede ist. Die Projektion des Leidens an real existierenden gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismen auf »die Juden« ist hier auch Beispiel, das an die Allgegenwärtigkeit solcher Dispositionen gemahnt. Denn wird dieses Wahnsystem zur vernünftigen Norm, wie es in der Dialektik der Aufklärung heißt, dann sind schon bald Barbarei und ihre kühle Hinnahme die Normalität – wie heute in Bosnien.

Der vorliegende Diskussionsband versammelt daher unterschiedliche Annäherungen an das Thema, will zunächst eine breite Darstellung der Diskussion eröffnen, um schließlich dem Lesenden das Urteil über die Erklärungskraft der ein oder anderen theoretischen Position zu überlassen. Die Herkunft der Autoren ist ebenso verschieden wie das wissenschaftliche Umfeld, in dem sie arbeiten; Polen, die USA, Israel, England und Deutschland. Gemeinsam ist den Beiträgen jedoch die Annahme, dass die Möglichkeit des ungehemmten Ausbrechens von Gewalt inmitten einer säkularen Gesellschaft vor dem Hintergrund ihrer Herrschaftsfunktionen reflektiert werden muss. Die Massenvernichtung wird nicht als moralisches Versagen von Individuen interpretiert, sondern dient den Autoren als Bezugspunkt einer Theorie, die Aussagen über die Gesellschaft insgesamt zu treffen vermag.

Die theoretischen Texte sind zu Anfang des Buches versammelt; sie knüpfen an die oben angedeuteten Fragestellungen an. Detlev Claussen bezeichnet in diesem Zusammenhang das, was den Menschen in einer modernen Gesellschaft als individuell gesicherter Kulturbesitz erscheint, als »Alltagsreligion«, die in der Lage ist, gesellschaftliche Sinnfragen schlüssig zu beantworten, und zugleich ein Nebenprodukt missglückter Säkularisierungsprozesse darstellt. Sicherheit gewährt die Alltagsreligion allerdings nur dann, wenn sie »den narzisstischen Haushalt der Individuen regulieren hilft«. Materielle Grundlage sind hierfür im sinnentleerten Alltag die sich unter den Bedingungen der Massengesellschaft neu konstituierenden und allgegenwärtigen »Realitäten von Autorität und Gewalt«, welche sich auch über die ökonomischen Formen rückvermitteln und Widerspenstiges im kulturellen Mainstream einebnen. Moishe Postone stellt daran anschließend die Frage, was die qualitative Besonderheit des modernen Antisemitismus ausmacht, und unternimmt eine historische Bestimmung der Entwicklung kapitalistischer Warenform, deren Widersprüche im Netz antisemitischer Weltanschauung die Juden, als »das Konkrete, den notwendigen Träger des Abstrakten«, wahrnimmt. Weil moderner Antisemitismus für Postone als »besonders gefährliche Form des Fetischs« interpretierbar ist, entsprechen die Vernichtungslager einer »grotesken, arischen ›antikapitalistischen‹ Negation«, welche zur Zerstörung jeglicher Soziabilität führt.

Zygmunt Bauman greift Metaphern der Periode des Mittelalters auf, um zu verdeutlichen, was die fortwährende Eliminierung des gesellschaftlich Ambivalenten, des Widerspenstigen bedeutet: Juden symbolisieren die Unmöglichkeit von Ordnung, weil sie im Rahmen der Modernisierung europäischer Gesellschaften »nicht in die Struktur der geordneten Welt« hineinpassten. Sie werden stilisiert zum »Nicht-Passenden«, das eindeutige Ordnungsmuster in Frage stellt, die unumgänglich sind, um im Alltag der Menschen das Obskure transparent und das Verwirrende eindeutig zu machen: »Etwas gegen die Juden zu unternehmen«, fügt Bauman an, »war ein Versuch … die Ungewissheit, Undurchsichtigkeit und Unkontrollierbarkeit der Welt zu bekämpfen«. In historisch weiterreichendem Rückgriff untersucht Shmuel Noah Eisenstadt die Geschichte des Messianismus und Vorurteilsglaubens im religiös geprägten Mittelalter auf entstehende antisemitische Traditionen hin, denn noch in dieser Periode »waren die Juden nicht nur eine ausgestoßene Minderheit, die oftmals die Funktion von Mittelsmännern erfüllte«, sondern durchaus Teil einer vorbürgerlichen Gemeinschaft mit religiösen Traditionen, die auf gemeinsamen ethischen Grundlagen beruhte. Erst als die Symbole kollektiver Identität im Rahmen der großen Revolutionen neu bestimmt wurden, änderte sich das Verhältnis; die Kategorien nationaler Ausschließlichkeit und die Institutionalisierungsformen der neuen Herrschaft verdrängten nur wenig später die emanzipatorischen Momente. Jene untergründigen »Gegengewalten«, die sich in selbstbewussten Überlebensformen dieser Epoche beweisen, rekonstruiert Helmut Reinicke mit Blick auf jüdische Gaunerbanden. Die »Geheimgeschichte des jüdischen Alltags« entsteht unter der Ausbeutungspraxis feudaler wie bürgerlicher Eliten, sie entspricht der »puren Notdurft des Überlebens« und ist doch mehr als nur Alltag der Armut, zumal sie eine »materielle Kultur einer Gegengesellschaft« herzustellen vermag. Solche Erfahrungen subversiven, räuberischen Alltags sind notwendiges Pendant der Beschreibung, wie sich bürgerliche Herrschaft durchsetzte und in ihrem Gefolge die traditionelle Judenfeindschaft sich in modernen Antisemitismus transformierte – sie entfalten, wie die historischen Gewaltformen vom Prozess der Zivilisation zugedeckt aber nie überwunden wurden. Der Untergang jüdischer Räuberbanden wies folgenden innergesellschaftlichen Zerstörungen des Selbstbewusstseins den Weg, »die Entwürdigung des Bewusstseins«, schreibt Reinicke, »war Vorbedingung der Vernichtung«.

Der anschließende zweite Teil des Bandes handelt von politischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre, die mit dem Thema in enger Verbindung stehen. Der Beitrag von Ulrich Sonnemann von 1985 wurde aufgenommen, weil er – wenig verbreitet – die Kritik an den Auseinandersetzungen um die Aufführung des Theaterstückes »Der Müll, die Stadt und der Tod« von Rainer Werner Fassbinder zuspitzt: Die sich in der Tabuisierung – die das Stück erfährt, das im Frankfurter Schauspiel nicht aufgeführt werden durfte – ausdrückende »Neuauflage eines immer wieder gescheiterten Defensivverhaltens« in Deutschland, produziert einen Zustand der Verdrängung, »von dem nach aller Geschichtserfahrung nur feststeht, dass er nicht halten kann«. Dem ungeklärten Verhältnis zur geschichtlichen Tat, das Sonnemann beschreibt, und seinen kulturellen Ausdrucksformen geht der anschließende Beitrag nach. Tim Darmstädter rekonstruiert die bereits von Detlev Claussen angedeutete strukturelle Veränderung der vorherrschenden (kultur-) politischen Diskurse, in denen die Beziehung von Angreifenden und Angegriffenen zunehmend verschleiert, Verantwortlichkeiten aufgelöst und Verhältnisse produziert werden, in denen »die Kälte der gesellschaftlichen Monade« (Adorno) neuerlich zur Grundlage allgemeiner Indifferenz zu werden droht. Die Monstrosität der nationalsozialistischen Massenvernichtung ist zugleich ein Angriff auf tradierte Wahrnehmungsformen: »Die Tat nahm eine Qualität und Ausmaße an, dass kaum jemand, der davon unterrichtet wurde, es glauben mochte. Der Ermordung der Juden sollte ihre Tilgung aus dem Gedächtnis folgen. Die Tat blieb unvollendet. Proklamiert wurde sodann die Stunde Null.« Darmstädter untersucht vor allem die filmischen Darstellungen der nationalsozialistischen Verbrechen während der vergangenen Jahrzehnte, die kulturindustriellen Schemata unterliegen, womit die »Personalisierung zur vorherrschenden Verarbeitungsform von Stoffen geworden« ist. Solche Einbindung des Erinnerungsvermögens in dominante kulturelle Muster belegt unter anderem die Tatsache, dass die Reaktionen der Zuschauer dort am stärksten sind, »wo die Rezeptionshaltung des Publikums durch das Produkt bestätigt wurde«.

Doch gelten diese Mechanismen nicht nur für filmische Darstellungen, sondern können auch in öffentlichen Diskursen vorhandene Dispositionen so stark mobilisieren, dass dort politische Sinnstiftung und Staatsideologie zuweilen zusammenfallen. Mosche Zuckermann richtet das Augenmerk auf die Instrumentalisierung des »Holocaust« in der israelischen Gesellschaft und kritisiert die Reduktion der Vernichtung der europäischen Juden auf das bloße Memento des Leidens. Die realen Ängste der Einzelnen werden in kollektive psychische Orientierungsmuster übersetzt, denen eine »Verdinglichung der historischen Selbstgewissheit« zugrundeliegt. Weil eine öffentliche Verarbeitung »nicht im Interesse des sich gerade erst konsolidierenden Staates liegen konnte, wurde der Holocaust zunächst ausgeklammert«. Diese Konfiguration historischer Wahrnehmung im Staatsinteresse wirkt in der israelischen Gesellschaft nach. Zuckermann belegt dies an den massenmedial aufbereiteten Reaktionen während des zweiten Golfkrieges. Michael Lerner knüpft an die Diskussionen der US-amerikanischen Linken an und kommentiert die Konfrontation von partikularen Interessen der »Identitätspolitik« und politischem Universalismus vor dem Hintergrund fortexistierender oder sich beispielsweise im Rahmen des »Afrozentrismus« unter anderen Vorzeichen konstituierender antisemitischer Vorurteile. Er fordert neue fortschrittliche politische Entwürfe in einer »säkularen Welt, die blind gegenüber den Bedürfnissen vieler Menschen ist«. So versteht sich diese Textsammlung als Beitrag zur Diskussion um den Stellenwert, den die Erfahrung der Massenvernichtung für gesellschaftstheoretische wie politisch-praktische Absichten haben muss, und die daraus erwachsenden Verantwortlichkeiten.

Dank gilt John Abromeit und Helga C. Flores Trejo für unterstützende Kritik im Fortgang der Arbeit an diesem Buch. Schließlich bedarf die Redaktion der Zeitschrift Perspektiven in Frankfurt der besonderen Erwähnung. Ohne den politischen und organisatorischen Kontext dieses Projektes wäre das vorliegende Buch nicht entstanden, es ist zugleich kollektives Produkt einer gemeinsamen gesellschaftstheoretischen und politischen Auseinandersetzung mit dem Thema während der vergangenen Jahre.

 

Michael Werz

Peter Maroldt

Frankfurt am Main im April 1995

 

Detlev Claussen

Die Banalisierung des Bösen

Über Auschwitz, Alltagsreligion und Gesellschaftstheorie

 

 

»Ich bin in der Tat heute der Meinung,
dass das Böse immer nur extrem ist, aber niemals radikal,
es hat keine Tiefe, auch keine Dämonie.«

Hannah Arendt an Gershom Scholem

20. Juli 1963

 

»…jedoch, könnte ich gesagt haben, gebt jetzt gut acht,

denn das wirklich Irrationale und tatsächlich Unerklärbare

ist nicht das Böse, im Gegenteil: es ist das Gute.«

Imre Kertész

Kaddisch für ein nichtgeborenes Kind

 

 

Auschwitz verschwindet, obwohl oder vielleicht gerade weil vom Holocaust überall und ständig die Rede ist. Unter dem Kennwort »Rettet Auschwitz!« sind fünfzig Jahre nach der Befreiung des Lagers Konten auf deutschen Banken eingerichtet worden – nicht um für eine neonazistische Bewegung zu sammeln, sondern um das größte Konzentrations- und Vernichtungslager als eine Art Kulturbesitz zu erhalten. Die massenmediale Kultur hat Auschwitz assimiliert. Das zu begreifende Unbegreifliche ist in eine triviale Banalität verwandelt worden, aus der die Menschheit Lehren ziehen soll, deren Unverbindlichkeit sich kaum verheimlichen lässt. Die publikumswirksamen Produkte der Massenkultur erzeugen post crimen einen Sinn, der durch Auschwitz gerade dementiert worden ist. Die unterschiedlichen Gefühle von Schuld, die durch die massenmediale Konfrontation mit dem Verbrechen ausgelöst werden, werden am Bewusstsein vorbei in Sentimentalität verwandelt – eine Form des Kitsches, die der Unterhaltungsindustrie eigen ist. Der New Yorker Witz hat die adäquate Formulierung für dieses Phänomen gefunden: »There is no business like Shoah-business«.

Der Welterfolg des Films »Schindlers Liste« von Steven Spielberg im Jahre 1994 hat noch einmal auf undurchsichtige Weise den Zusammenhang von Antisemitismus und Massenkultur thematisiert, der schon in den vierziger Jahren Sujet der kritischen Gesellschaftstheorie gewesen ist. Massenkultur produziert ein begriffsloses Durcheinander, in dem alles allem ähnlich ist. Jeder kann für einen Moment jede Rolle spielen. Was auf den oberflächlichen Betrachter wie ein Chaos wirkt, besitzt aber Struktur, Ordnung und Sinn. Die gesellschaftliche Regel, das praktische Grundgesetz der nachbürgerlichen Gesellschaft, wird mit der technischen Entfaltung der Kulturindustrie in jedes Wohnzimmer getragen: Wenn Du in Denken und Handeln akzeptierst, was alle denken und tun, dann kannst Du bei allem relativ gefahrlos mitmachen. Auf den Konformismus wird die soziale Prämie gemeinsamen Genusses gesetzt. Der überwältigende Erfolg kulturindustrieller Bearbeitung lässt sich feiern, wenn es gelingt, Auschwitz – Synonym größtmöglicher Gewalt, die Menschen anderen Menschen antun können – kommensurabel zu machen. Kulturindustrie verwandelt Gewalt in folgenlosen konformistischen Genuss. Auf ihre Weise erzeugt sie das Bedürfnis nach immer mehr – Gewalt und Genuss.

Der Kritiker steht nicht außerhalb des kulturindustriellen Zusammenhanges. Nicht nur lebt er zumeist von diesen Produktionen, er nimmt auch zu einem großen Teil Wirklichkeit durch sie wahr. Aber schon diese notwendige Reflexion hat es schwer, Gehör zu finden. Das lässt sich am Schicksal von Adornos Behauptung, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, ablesen: Die überwältigende Mehrheit des Kulturpublikums wie seiner bevorzugten Produzenten hat sich nie die Mühe gemacht, den Zusammenhang einmal nachzuschlagen, in dem es zu dieser Behauptung gekommen ist. Adorno hat 1949 in dem Essay »Kulturkritik und Gesellschaft« Motive aus den Minima Moralia und der Dialektik der Aufklärung, die mit der Wahrnehmung des systematischen Massenmordes in Europa verknüpft sind, auf eben diese Pointe gebracht, die allerdings nur als halbierte zur Kenntnis genommen worden ist. »Noch das äußerste Bewusstsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.«1

Auschwitz stellt nicht nur Kunst infrage, sondern jede Erkenntnis. Kunst aber galt 1949, als dies formuliert, und 1951, als der Satz publiziert wurde, als entscheidende Ressource von Unschuld. Die bürgerliche Kultur hatte in Deutschland jedoch mit dem Nationalsozialismus ihre Unschuld verloren. Sie musste neutralisiert und enthistorisiert werden, um eine Kultfunktion ausfüllen zu können. Ein völlig desorientiertes Bildungsbürgertum versuchte in Goethe zum Beispiel wieder den gesicherten Grund von Identifikation mit etwas Großem und Mächtigen zu finden, das nicht durch die gesellschaftlichen Prozesse des 20. Jahrhunderts desavouiert war. Ein Nestor deutscher Nationalgeschichtsschreibung wie der Historiker Friedrich Meinecke, der das Unheil von 1933 bis 1945 auf die Formel Die deutsche Katastrophe brachte, schlug 1946 ernsthaft die Gründung von »Goethegemeinden« vor, die sich sonntäglich treffen sollten. Das mag die bizarre politische Spitze einer kulturellen Alltagspraxis gewesen sein, die Kunst nach Auschwitz die Funktion einer Ersatzreligion zuwies. Vom konventionellen religiösen Ritual erwartet man Entlastung, die Erlösung vom Schuldzusammenhang. Adorno zog als Bote einer schlechten Nachricht Hass auf sich, als er die neutralisierte Kultur nicht als das unangetastet gebliebene Höhere feierte, sondern sie selbst als integralen Bestandteil des universalen Verblendungszusammenhangs kritisierte.

Völlig unverstanden und unbeachtet blieb Adornos Selbstreflexion auf die Rolle des erkennenden Kritikers, die er noch in seinem letzten Buch Negative Dialektik 1967 erneuert hat: »Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.«2 Die Bemerkung »samt der dringlichen Kritik daran« hat so gut wie kaum einer bemerkt. Wie kein zweiter hat Adorno nach 1945 die Notwendigkeit einer Gesellschaftstheorie postuliert, die Auschwitz als die gesellschaftliche Katastrophe erkennt, die der Menschheit einen neuen kategorischen Imperativ aufzwingt – nämlich »Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe«.3 Auschwitz lässt sich ohne Gesellschaftstheorie nicht erkennen. Gesellschaftstheoretische Erkenntnis verspricht weder Erlösung noch Versöhnung, sondern sie erzwingt Selbstreflexion. Der Erkennende muss noch im Erkenntnisprozess sich die »Kälte des bürgerlichen Subjekts« aneignen, ohne die Auschwitz nicht möglich gewesen wäre – aber eben die Erkenntnis von Auschwitz auch nicht. Nicht nur in Deutschland verstand die Öffentlichkeit Adornos paradoxes Diktum nicht, weil sie von Kunst keine Wahrheit erwartet und sie dem Denken misstraut. Theorie gilt ihr als weltfern oder potentiell totalitär, Kunst dagegen als ungefährlich und schön.

Das Paradox, das Adorno am Gedichteschreiben nach Auschwitz formulierte, gilt für Denken nach Auschwitz überhaupt. Ohne Erinnerung an die unterschiedlichen Arten von Schuld, vor der weder Entronnensein noch Nachgeborensein schützt, lässt sich Gesellschaft nicht mehr erkennen. Für das theoretische Denken stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Reproduktion in einer Schärfe, die Kunst nach Auschwitz schier unmöglich macht. Wie die künstlerische Produktion des ästhetischen Scheins bedarf, braucht das theoretische Denken notwendigerweise die Distanz, den vermittelnden und vermittelten Begriff, der für die massenhafte Vernichtung von Menschen nach industriellen Mustern nicht gefunden werden kann, ohne Züge der Rationalisierung4 anzunehmen. Die Wortwahl Auschwitz, die eine einzigartige gesellschaftsgeschichtliche Konstellation ebenso wie den Zusammenhang mit der Gesellschaft vor und nach Auschwitz bezeichnet, erkennt schon das Dilemma an, vor dem Denken nach Auschwitz steht. Der Sachverhalt selbst, den es zu erkennen gilt, macht das Postulat unabweisbar, weder zu banalisieren noch zu dämonisieren. Das traditionelle Ideal aber der Adäquation des Denkens an die Sache wird durch die Monstrosität des Sachverhalts selber unmöglich gemacht.

Die unvermittelte Wahrnehmung des Universums der Konzentrations- und Vernichtungslager lässt den Wahrnehmenden verstummen. Spontan möchte der Mensch sich abwenden, weil eine Scham in ihm angesprochen wird, mit der sich ein überwältigendes Gefühl von Ohnmacht verbindet. Die Wahrnehmung löst einen Vorgang der Abwehr aus, der sich mit dem Begriff der Verwerfung fassen lässt – eine Art der »Abwehr, die darin besteht, dass das Ich die unerträgliche Vorstellung mitsamt ihrem Affekt verwirft und sich so benimmt, als ob die Vorstellung nie an das Ich herangetreten wäre«.5 Das Wort Auschwitz erinnert – an die Realität wie die mit ihr verbundene Gefühlswelt. Wer von Auschwitz reden wollte, ohne die mit diesem Wort verbundenen Affekte zu mobilisieren, muss sich bewusst Techniken bedienen, die aus der Psychoanalyse als Abwehrmechanismen schon bekannt sind.

Mit dem globalen Aufstieg des Fernsehens als dem beherrschenden Medium von Wirklichkeitsvermittlung begann auch die Karriere des Wortes Holocaust vor ungefähr vierzig Jahren. Wie ein Filter schiebt sich der Holocaust als massenmedialer Artefakt vor Auschwitz. Das Wort Holocaust löst inzwischen die Erinnerung an kulturindustrielle Produktionen aus – an die TV-Serie, an »Schindlers Liste« oder an den Besuch von Museen oder Gedenkstätten, die in vielen Teilen der Welt in den letzten fünfundzwanzig Jahren entstanden sind.

Oberflächlich betrachtet könnte es gleichgültig erscheinen, welches Wort man wählt – Auschwitz oder Holocaust. Die Tatsache aber, dass Holocaust Auschwitz als Bezeichnung verdrängt hat, folgt einer gesellschaftlichen Logik. Wenn der Name Auschwitz fällt, ist der Zusammenhang nicht klar, aber erklärbar. Der Ortsname Auschwitz verweist auf den konkreten historisch-geographischen Ort des Geschehens. Auschwitz steht pars pro toto für das Universum der Konzentrations- und Vernichtungslager, deren stärkste Massierung auf dem Territorium Polens anzutreffen war. Als deutscher Name für einen Ort in Polen verweist Auschwitz auf die deutsche Urheberschaft der verbrecherischen Tat, die ohne den nationalsozialistischen Griff nach der Weltmacht nicht zu begreifen ist. Die deutsche Benennung eines polnischen Ortes symbolisiert diesen Griff. Auschwitz liegt auf der ehemaligen Sprachgrenze im Osten, die in der Geschichte der nationalstaatlichen Konstituierung Europas und den damit verbundenen politischen und kulturellen jüdischen Orientierungen eine wichtige Rolle spielt. Die nationalsozialistische »Endlösung der Judenfrage« sollte in Auschwitz die Geschichte des europäischen Judentums in einer Neuordnung Europas beenden.

Das Wort Holocaust signalisiert ein sprachliches Niemandsland, das raumzeitlich im Ungewissen liegt. Zugleich thematisiert das Fremdwort Holocaust einen verborgenen Sinn, der sich nur dem Wissenden entschlüsselt. Wer Holocaust als »Brandopfer« sich zu übersetzen weiß, ordnet spontan das Geschehen in die im Dunkeln liegende Geschichte des europäischen Mittelalters und seiner religiösen Kämpfe und Verfolgungen ein. Holocaust trennt die Tat aus dem sprachlichen Erfahrungszusammenhang der Gegenwart als eine ganz fremde ab, der man sich allein über Vergleiche nähern kann. Der Hinweis auf Religion in einem säkularisierten Zeitalter liefert einen, wenn auch dunklen Grund für das schwer Erklärbare. Die Bezeichnung bleibt so vage, dass sich jeder das unter ihr vorstellen kann, was er gerade möchte. Wenn Auschwitz zu oft erwähnt wird, hält man sich die Ohren zu. Vom Holocaust kann man dagegen beliebig reden. Leicht lässt sich der Holocaust inflationieren – schon bald nach dem weltweiten Erfolg der Fernsehserie 1978, die das Wort Holocaust global einführte, gab es den atomaren und den ökologischen Holocaust. Das Wort Holocaust erfüllt anders als der Name Auschwitz die Bedingungen massenmedialer Kommunizierbarkeit: Er verschlüsselt ein offenes, aber schwer erträgliches Geheimnis zu einer vielfach benutzbaren Hieroglyphe.

Hieroglyphen lesen – dies erwartet man von der Wissenschaft. Sie hat sich auch des Holocaust bemächtigt. »Holocaust Studies« nennt sich eine Forschungsrichtung, in der sich vor allem Kulturwissenschaftler und Historiker mit dem Gewirr aus Realität und Verarbeitung der Realität, die man eben Holocaust nennt, beschäftigt. Der Literaturwissenschaftler James E. Young versucht in seinem Buch Beschreiben des Holocaust die Sperren aus dem Weg zu räumen, die der unendlichen Kommunizierbarkeit des Holocaust entgegenstehen. Um dies zu erreichen, muss die Sprachkritik außer Kraft gesetzt werden. »Die Opfer haben Auschwitz vermittelt durch Metaphern erfahren und verstanden und in Metaphern darauf reagiert. Die Schreiber von Auschwitz haben Auschwitz mit Hilfe von Metaphern geordnet, ausgedrückt und interpretiert; und auch die Wissenschaftler und Dichter der nächsten Generation erinnern und kommentieren Auschwitz heute vermittelt durch Metaphern und unterlegen ihm auf diese Weise historische Bedeutung. Wollte man die Metaphorisierung von Auschwitz verbieten, so hieße dies bei nüchterner Betrachtung nichts anderes, als die Ereignisse gänzlich jenseits von Sprache und Bedeutung anzusiedeln. Das liefe auf eine Mystifizierung des Holocaust hinaus, und damit würde im nachhinein genau das erreicht werden, was die Nazis mit der metaphorischen Mystifizierung der Ereignisse, die sie selbst häufig praktizierten, erreichen wollten.«6

Man könnte dies als Methode einer szientivischen Banalisierung bezeichnen. Die Wissenschaft vom Holocaust rechtfertigt ihre wissenschaftliche Praxis durch den Hinweis darauf, dass es »so und nicht anders« doch alle anderen auch machen würden. Durch die Banalisierung wird das Spezifische, das es zu erkennen gilt, eskamotiert, weggezaubert – ein kulturindustrieller Trick par excellence. Verwischt wird in Youngs Gebrauch von »Metapher« die Differenz von Wort, Begriff und Name. Auschwitz ist ein Name, Holocaust ein bloßes Wort. Wenn man keinen Begriff wählt für ein bestimmtes Geschehen, sondern einen unverwechselbaren Namen wie Auschwitz, kann das heißen, dass man gerade die außerbegriffliche Realität festhalten will. Derzeit im Wissenschaftsbetrieb dominierende Richtungen der Sprachphilosophie und Literaturtheorie machen jedoch durch ihre modische Nomenklatur vor, dass es auf diesen bestimmten Unterschied von außerbegrifflicher Wirklichkeit und sprachlicher Kommunikation gar nicht ankäme. Diese Art Wissenschaft liefert einer begriffslosen kulturindustriellen Praxis die Legitimation. Beiden kommt es auf die bestimmten Unterschiede nicht an. Die entscheidende Frage, ob die Vorstellungskraft und Erfahrungsweise des Individuums nicht durch Auschwitz außer Kraft gesetzt worden ist, wird mit dem Hinweis auf die alltägliche kommunikative Praxis vom Tisch gewischt.

Qualitativ unterscheidet sich die kommunikationspraktische Banalisierung von Auschwitz nicht von der Alltagsweisheit, dass das Leben trotz allem weitergehe. Von dieser Tatsache, dass aus Auschwitz für das Leben der Menschen nach Auschwitz nichts folgte, gingen Adornos Überlegungen aus, jede Form kultureller Praxis nach Auschwitz für von der Barbarei gekennzeichnet zu halten. Kulturwissenschaft bereitet, wenn sie sich rechtfertigend auf Alltagspraxis wie massenmedialen Umgang mit Auschwitz bezieht, einer ästhetischen Banalisierung den Weg. Im Trivialen kommunizieren Alltagsbewusstsein der Konsumenten und die Praktiken kulturindustrieller Produktion. Der Erfolg kulturindustrieller Wirklichkeitsbearbeitung liegt in ihrer befreienden Wirkung für den Konsumenten. An diesem Erfolg möchten Wissenschaftler teilhaben. Adornos Bemerkung hat so viel Aggression auf ihn gezogen, weil er das Pseudos der Befreiung, das Missglückte an der Befreiung benannt hat. Die Differenz der Varianten des Vergessens, die Adorno vor über vierzig Jahren dingfest gemacht hat, und der Geschwätzigkeit von heute besteht darin, dass es der Kulturindustrie gelungen ist, auch den äußersten Schrecken kommensurabel zu machen. Der Kulturkonsument kann die massenmediale Bearbeitung von Auschwitz zum Artefakt Holocaust genießen, weil in ihm sein Bedürfnis und die Praxis, Auschwitz zu entwirklichen, zusammentreffen.

Allein das Denken bringt das entwirklichte Grauen in das Bewusstsein zurück. Wer sich Auschwitz nähern will, muss seinen Kopf anstrengen und kritisch zu den eigenen Emotionen sich verhalten. Kulturindustrielle Praxis zielt darauf ab, Bedürfnisbefriedigungen ohne schmerzhafte Anstrengungen des Begriffs zu gewähren. Den psychischen Vorgang von Wirklichkeitsverwerfung, den kulturindustrielle Praxis mechanisch wiederholt, hat Freud sichtbar gemacht: »Das Ich reißt sich von der unerträglichen Vorstellung los, diese hängt aber mit einem Stück der Realität zusammen, und indem das Ich diese Leistung vollbringt, hat es sich auch von der Realität ganz oder teilweise gelöst.«7 Theorie thematisiert den Riss zwischen der Alltagsvorstellungswelt, die einen Teil der Realität verwirft, und dem Ganzen, das ohne das außertheoretische Dementi der vernünftigen Welt nicht denkbar ist. Gesellschaftstheorie greift, wenn sie Auschwitz untersucht, ein Vermächtnis auf, das Adorno in der Erinnerung an Walter Benjamin formuliert hat – die »Nötigung, dialektisch zugleich und undialektisch zu denken«.8

Die Wirklichkeit von Auschwitz erzwingt eine Gesellschaftstheorie, die den gigantischen kulturindustriellen Artefakt Holocaust kritisiert. Wer Auschwitz begreifen will, muss sich durch die kulturindustriellen Produkte vom Holocaust erst einmal hindurcharbeiten. Ihre globale Verbreitung garantiert aber auch, dass Auschwitz in einer verzerrten vorbewussten Form überall präsent ist. Auschwitz ist ein Teil jener universalen Angst, die virtuell jedes Individuum ahnen lässt, wie wenig es zählt. Das Grauen hat einen Namen und jeder hat von ihm schon einmal gehört. Der Artefakt Holocaust verspricht, dieses Grauen durch seine Praktiken einzurahmen, einzuordnen und weniger bedrohlich zu machen. An den amerikanischen Fernsehproduktionen der fünfziger Jahre, die Jeffrey Shandler entschlüsselt hat, dominiert das Schema der Success Story. Sie ermöglicht eine kommensurable Erzählstruktur, in der Auschwitz zu einer »Hölle« gemacht wird, die sich als Negativ von dem durch sie wieder sinnvoll gewordenen Alltag abhebt.

Imre Kertész' 1990 erschienenes, auf ungarisch geschriebenes Buch Schicksalslosigkeit (Sorstalanság) endet mit der Unfähigkeit von Menschen außerhalb des Lagers, sich das Lager vorzustellen. An den Aporien der konventionellen Vorstellungswelt wird erfahrbar, dass es sich um eine außerbegriffliche Realität sui generis handelt.

Der in Ich-Form Berichtende trifft am ersten Tag seiner Rückkehr aus Deutschland in Budapest einen engagierten Journalisten. Die Fehlkommunikation zwischen beiden enthält Aporien, die immer wieder in der Öffentlichkeit wiederkehren:

»›Kommst Du aus Deutschland, mein Junge?‹ – ›Ja.‹ – ›Aus einem Konzentrationslager?‹ – ›Natürlich‹ – ›Aus welchem?‹ – ›Aus Buchenwald.‹ Ja, davon hatte er schon gehört, er wusste sogar zu berichten, dass dies ›einer der Höllenschlünde der Nazis‹ war, wie er sagte. ›Von wo haben sie dich verschleppt?‹ – ›Von Budapest.‹ – ›Wie lange warst du dort?‹ – ›Ein Jahr, alles in allem‹ – ›Da hast du bestimmt alles Mögliche gesehen, mein Junge, viele Greuel‹, sagte er dann, und ich erwiderte nichts darauf. ›Ja, aber‹, fuhr er dann fort, ›Hauptsache, es ist zu Ende, aus und vorbei‹, und mit heiterer Miene auf die Häuser zeigend, zwischen denen wir gerade dahinratterten, erkundigte er sich, was ich jetzt, wieder zu Hause und angesichts der Stadt, die ich damals verlassen hatte, empfinden würde. Ich sagte: ›Hass‹. Er verstummte, doch dann meinte er, leider müsste er meine Gefühle verstehen. Und im übrigen, wie er sagte, hätte das Hassgefühl in einer ›gegebenen Situation‹ durchaus einen bestimmten Platz, eine bestimmte Rolle, ›ja, sogar einen Nutzen‹, und er glaubte annehmen zu können, so fügte er hinzu, dass wir uns darin einig wären, und er wüsste ganz genau, wen ich hasse. Ich sagte: ›Alle‹. Da verstummte er aufs neue, diesmal für eine längere Zeit, schließlich fragte er mich dennoch: ›Hast du viel Schreckliches durchmachen müssen?‹, und ich gab ihm zur Antwort, das käme darauf an, was er darunter verstehen würde. Bestimmt hätte ich, sagte er darauf, mit einem recht unbehaglich wirkenden Gesicht, vieles entbehren müssen und hungern, und wahrscheinlich hätten sie mich auch geschlagen, und ich sagte zu ihm: ›Natürlich.‹ – ›Warum, mein lieber Junge‹, rief er da laut aus, als würde er gleich die Geduld verlieren, ›antwortest du auf alles, was ich sage: natürlich? Und immer zu solchen Sachen, die gar nicht natürlich sind?!‹ Ich sagte: ›In einem Konzentrationslager ist das natürlich.‹ – ›Ja, ja‹, sagte er, ›dort schon, aber…‹, und er stockte, zögerte ein Weilchen, ›aber… also, was ich meine, das Konzentrationslager an sich ist nicht natürlich!‹ Endlich war ihm offenbar der passende Ausdruck eingefallen, ich jedoch erwiderte nichts darauf – so langsam sah ich ein: Über das eine oder das andere kann man, wie es scheint, mit Fremden, mit Unwissenden, in gewissem Sinn mit Kindern nicht diskutieren, um es einmal so auszudrücken…

Im Grunde, bemerkte er, kämen jetzt erst die Greuel so richtig ans Licht, und er fügte hinzu: ›Die Welt steht vorerst verständnislos vor der Frage: wie, und auf welche Weise konnte das alles überhaupt geschehen?‹ Ich sagte nichts dazu, und da meinte er, sich ganz mir zuwendend, mit einem Mal: ›Möchtest du, mein Jungchen, nicht von deinen Erlebnissen berichten?‹

Ich staunte nicht schlecht, als ich das hörte, und ich erwiderte, so ungeheuer viel Interessantes hätte ich ihm wohl nicht zu erzählen. Da lächelte er ein ganz klein wenig und sagte: ›Nicht mir: der Welt!‹ Worauf ich, noch mehr verwundert, von ihm wissen wollte: ›Aber worüber?‹ – ›Über die Hölle der Lager‹, antwortete er mir, worauf ich dann einwarf, dazu hätte ich nichts zu sagen, die Hölle würde ich nämlich nicht kennen, ja ich könnte sie mir nicht einmal vorstellen. Aber er behauptete, das wäre nur ein Vergleich. ›Müssen wir uns denn nicht‹, fragte er, ›das Konzentrationslager als Hölle vorstellen?‹ Und ich gab ihm zur Antwort, mit der Ferse unterdessen ein paar Kreise in den Staub vor mir zeichnend, das sollte sich jeder nach seiner Lust und Laune vorstellen, ich meinerseits könnte mir nur das Konzentrationslager vorstellen, das würde ich einigermaßen kennen, die Hölle aber nicht.

›Und wenn nun doch?‹ beharrte er auf seinem Standpunkt, und nach einigen weiteren Kreisen erwiderte ich: ›Dann würde ich sie mir als einen Ort vorstellen, wo man sich nicht langweilt, weil es einem nämlich‹, so fügte ich hinzu, ›im Konzentrationslager passieren kann, dass man sich langweilt, sogar in Auschwitz – unter bestimmten Voraussetzungen, verständlicherweise.‹ «9