LOUISE ERDRICH

DIE RÜBENKÖNIGIN

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Helga Pfetsch

Aufbau Digital

Impressum

Die Originalausgabe unter dem Titel

The Beet Queen

erschien 1986 bei Harper Collins, New York.

ISBN 978-3-8412-0748-7

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, April 2014

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Bei Aufbau Taschenbuch erstmals 2014 erschienen;

Aufbau Taschenbuch ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

THE BEET QUEEN. Copyright © 1986, Louise Erdrich.

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www.aufbau-verlag.de

Inhaltsübersicht

Cover

Impressum

Der Ast

ERSTER TEIL

ERSTES KAPITEL
1932

Mary Adare

Karls Nacht

ZWEITES KAPITEL
1932

Sita Kozka

Mary Adare

Celestine James

Rettung

DRITTES KAPITEL
1932

Karl Adare

Luftansicht von Argus

ZWEITER TEIL

VIERTES KAPITEL
1941

Mary Adare

Das Waisenpicknick

FÜNFTES KAPITEL
1950

Sita Kozka

Sitas Hochzeit

SECHSTES KAPITEL
1952

Karl Adare

Wallaces Nacht

SIEBTES KAPITEL
1953

Celestine James

Marys Nacht

ACHTES KAPITEL
1953

Sita Kozka

Russells Nacht

NEUNTES KAPITEL
1954

Wallace Pfef

Celestines Nacht

DRITTER TEIL

ZEHNTES KAPITEL
1960

Mary Adare

Sitas Nacht

ELFTES KAPITEL
1964

Celestine James

Vogelshow

ZWÖLFTES KAPITEL
1964

Wallace Pfef

Das ox Motel

VIERTER TEIL

DREIZEHNTES KAPITEL
1972

Celestine James

Sita Tappe

Mary Adare

Der höchstdekorierte Held

VIERZEHNTES KAPITEL
1971

Wallace Pfef

Der Reisende

FÜNFZEHNTES KAPITEL
1972

Karl Adare

Die Tribüne

SECHZEHNTES KAPITEL
1972

Dot

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

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Der Ast

Schon lange bevor in Argus Rüben angebaut und die Highways angelegt wurden, war die Bahnlinie da. Auf den Schienen, die die Grenze zwischen Dakota und Minnesota überquerten und sich weiter bis nach Minneapolis erstreckten, kam alles an, was das Wesen der Stadt ausmachte. Und alles, was der Stadt abträglich war, verließ sie auf diesem Wege wieder. An einem kalten Frühlingsmorgen im Jahre 1932 transportierte der Zug sowohl einen Zugang als auch einen Abgang. Beide kamen per Fracht. Als sie Argus endlich erreichten, waren ihre Lippen violett und ihre Füße so taub, daß sie beim Sprung aus dem Güterwagen stolperten und sich die Hände und Knie an der Schlacke aufschürften.

Der Junge war vierzehn und hochaufgeschossen, von seinem plötzlichen Wachstum gebeugt und sehr blaß. Sein Mund war lieblich geschwungen, seine Haut zart und mädchenhaft. Seine Schwester war erst elf Jahre alt, aber schon jetzt war sie so stämmig und gewöhnlich, daß klar war, sie würde ihr Leben lang so bleiben. Ihr Name war so kompakt und zweckmäßig wie alles an ihr. Mary. Sie klopfte sich den Mantel ab und stand im nassen Wind. Zwischen den Häusern gab es nichts als leeren Horizont zu sehen und von Zeit zu Zeit Männer, die ihn querten. Damals wurde hauptsächlich Weizen angebaut, und der Boden war so frisch bestellt, daß die Erdkrume noch nicht weggeblasen worden war wie in Kansas. Die Zeiten waren im östlichen North Dakota überhaupt viel besser als fast überall sonst, und das war auch der Grund, warum Karl und Mary Adare mit dem Zug hierhergekommen waren. Die Schwester ihrer Mutter, Fritzie, wohnte am östlichen Rand der Stadt. Sie führte zusammen mit ihrem Mann einen Metzgerladen.

Die beiden Adares schoben die Hände in die Ärmel und gingen los. Sobald sie sich bewegten, wurde ihnen wärmer, obwohl sie die ganze Nacht gefahren waren und die Kälte tief saß. Sie gingen nach Osten, über den Lehm und den Bohlenbelag der breiten Hauptstraße, und lasen die Schilder auf den bretterverschalten Ladenfassaden, an denen sie vorbeikamen, sogar die Goldbuchstaben im Fenster der aus Ziegeln erbauten Bank lasen sie. Keins der Geschäfte war eine Metzgerei. Abrupt hörten die Läden auf, und dann kam eine Zeile von Häusern, die grau verwittert waren oder von denen graue Farbe blätterte, und an deren Verandageländern Hunde festgebunden waren.

Kleine Bäume standen in den Vorgärten einiger dieser Häuser, und ein Bäumchen, schwach wie eine Schramme aus Licht im allgemeinen Grau, schwankte in einem Blütenschleier. Mary stapfte unbeugsam voran und beachtete es kaum, aber Karl blieb stehen. Der Baum zog ihn mit seinem zarten Duft an. Seine Wangen röteten sich, er streckte die Arme aus wie ein Schlafwandler, und in einer einzigen langen und starren Bewegung glitt er auf den Baum zu und vergrub sein Gesicht in den weißen Blütenblättern.

Als Mary sich nach Karl umschaute, erschrak sie darüber, wie weit er zurückgefallen war und wie still er stand, das Gesicht in die Blüten gedrückt. Sie rief, aber er schien sie nicht zu hören und stand bloß da, seltsam und stocksteif zwischen den Ästen. Er rührte sich nicht einmal, als der Hund in dem Garten an seiner Leine zerrte und loskläffte. Er merkte gar nicht, daß die Haustür aufging und eine Frau herausgestolpert kam. Sie schrie Karl an, aber er achtete nicht darauf, und deshalb ließ sie den Hund los. Groß und gierig flog er in riesigen Sätzen vorwärts. Und dann, entweder um sich zu schützen oder um die Blüten zu pflücken, griff Karl nach oben und brach einen Ast von dem Baum.

Der Ast war so groß und der Baum so klein, daß die Fäule die Wunde befallen sollte, wo er abgerissen worden war. Die Blätter sollten noch im Laufe des Sommers abfallen, und der Saft sollte in die Wurzeln sinken. Als Mary im nächsten Frühjahr auf einem Besorgungsgang an dem Bäumchen vorbeikam, sah sie, daß es keine Blüten trug und erinnerte sich daran, wie Karl, als der Hund an ihm hochgesprungen war, mit dem Ast um sich geschlagen hatte und wie die Blütenblätter in einem plötzlichen Schneeschauer um den wilden, gestreckten Körper des Hundes gefallen waren. Dann brüllte Karl: «Lauf!», und Mary lief nach Osten, zu Tante Fritzie. Aber Karl lief zurück zum Zug und zu dem Güterwagen.

ERSTER TEIL

ERSTES KAPITEL
1932

Mary Adare

So bin ich also nach Argus gekommen. Ich war das Mädchen in dem steifen Mantel.

Nachdem ich blindlings losgerannt war und zum Halten kam, erschrocken, Karl nicht hinter mir zu sehen, schaute ich mich nach ihm um und hörte lang und schrill den Zug pfeifen. In dem Moment wurde mir klar, daß Karl wahrscheinlich wieder auf denselben Güterwagen gesprungen war und jetzt im Stroh kauerte und zur offenen Tür hinausschaute. Der einzige Unterschied wäre der duftende Stock, der in seiner Hand blühte. Ich sah den Zug wie eine Kette aus schwarzen Perlen über den Horizont ziehen, wie ich ihn seither so oft gesehen habe. Als er außer Sicht geriet, starrte ich hinab auf meine Füße. Ich hatte Angst. Es war nicht so, daß ich jetzt ohne Karl keinen mehr hatte, der mich beschützte, sondern genau umgekehrt. Ohne jemanden, den ich beschützen und auf den ich aufpassen mußte, war ich selbst schwach. Karl war größer als ich, aber mager, und älter natürlich, aber ängstlich. Er litt an Fieberanfällen, die ihn in einen benommenen Traumzustand versetzten, und er reagierte empfindlich auf laute Geräusche und grelles Licht. Meine Mutter bezeichnete ihn als zart, und ich war genau das Gegenteil. Ich war es, die im Lebensmittelladen fleckige Äpfel erbettelte und von der rückwärtigen Rampe der Molkerei in Minneapolis, wo wir in dem Winter wohnten, nachdem mein Vater starb, Molke klaute.

Damals fängt diese Geschichte an, denn vorher und ohne das Jahr 1929 hätte unsere Familie wahrscheinlich weiterhin sorglos und zufrieden in einem einsamen, alleinstehenden weißen Haus am Rand des Prairie Lake gewohnt.

Wir sahen kaum einen fremden Menschen. Es gab nur uns drei: Karl und mich und unsere Mutter Adelaide. Schon damals waren wir anders. Unser einziger Besucher war Mr. Ober, ein großer Mann mit sorgfältig gepflegtem schwarzen Bart. Er besaß hier in Minnesota ganze Ländereien mit Weizen. Zwei- oder dreimal die Woche tauchte er spätabends auf und stellte sein Automobil in der Scheune ab.

Karl haßte es, wenn Mr. Ober zu Besuch kam, aber ich freute mich jedesmal, weil meine Mutter dann immer aufblühte. Es war wie ein Wetterumschwung in unserem Haus. Ich weiß noch, daß sie am Abend, als Mr. Ober das letzte Mal zu Besuch kam, das blaue Seidenkleid anzog und die Kette mit den glitzernden Steinen umlegte, die, wie wir wußten, von ihm war. Meine Mutter flocht ihren dunkelroten Zopf, steckte ihn zu einer Krone auf und bürstete dann mein Haar mit hundert leichten, gleichmäßigen Strichen. Ich schloß die Augen und hörte auf die Zahlen. «Von mir hast du das nicht», sagte sie schließlich und ließ das Haar matt und schwarz auf meine Schultern zurückfallen.

Als Mr. Ober kam, saßen wir mit ihm im Salon. Karl thronte auf dem Roßhaarsofa und gab vor, von den in den Teppich gewobenen roten Rauten fasziniert zu sein. Wie gewöhnlich wurde ich von Mr. Ober zum Schäkern auserwählt. Er setzte mich auf seinen Schoß und nannte mich Schatzi. «Für dein Haar, kleines Fräulein», sagte er und zog ein grünes Satinband aus seiner Westentasche. Seine Stimme war tief, aber ich mochte ihren Klang als Kontrapunkt oder Begleitung zu der meiner Mutter. Später, nachdem Karl und ich ins Bett geschickt worden waren, blieb ich wach und lauschte, wie die Stimmen der Erwachsenen lauter wurden, sich ineinander verknäuelten und sich dann wieder senkten, erst unten im Salon und dann gedämpft im Eßzimmer. Ich hörte beide die Treppe heraufkommen. Die große Tür am Flurende schloß sich. Ich hielt die Augen geöffnet. Um mich war Dunkelheit und das Knacken und Pochen, das Häuser nachts von sich geben, Wind in den Asten, Klopfen. Am Morgen war er fort.

Am nächsten Tag schmollte Karl, bis unsere Mutter ihn mit Umarmungen und Küssen wieder gutgelaunt stimmte. Auch ich war traurig, aber mit mir war sie ungeduldig.

Karl las immer als erster die Comics in der Sonntagszeitung, deshalb war er es, der das Bild von Mr. Ober und seiner Frau auf der ersten Seite fand. Beim Kornverladen war ein Unglück passiert, und Mr. Ober war erstickt. Auch Selbstmord konnte nicht ausgeschlossen werden. Sein Landbesitz war schwer verschuldet. Mutter und ich machten gerade in der Küche Schubladen sauber und schnitten weißes Papier zum Auslegen zurecht, als Karl die Zeitungsseite hereinbrachte, um sie uns zu zeigen. Ich erinnere mich daran, daß Adelaides Haar zu zwei roten, geringelten Zöpfen geflochten war und daß sie der Länge nach auf den Fußboden fiel, als sie die Nachricht las. Karl und ich schmiegten uns an sie, und als sie die Augen aufschlug, half ich ihr auf einen Stuhl.

Sie warf den Kopf nach vorn und zurück, wollte nicht reden und zitterte wie eine zerbrochene Puppe. Dann schaute sie Karl an.

«Du freust dich auch noch!» schrie sie. Karl drehte mürrisch den Kopf weg.

«Er war dein Vater», stieß sie hervor. Jetzt war es also heraus.

Meine Mutter wußte, daß sie jetzt alles verlieren würde. Seine Frau lächelte auf dem Foto. Unser großes weißes Haus lief unter Mr. Obers Namen und alles andere auch, mit Ausnahme eines Automobils, das Adelaide am nächsten Morgen verkaufte. Am Tag der Beerdigung nahmen wir, was wir in Koffern tragen konnten, und fuhren mit dem Mittagszug in die Zwillingsstädte. Meine Mutter dachte, sie könnte dort - mit ihrer Figur und ihrem Aussehen - in einem vornehmen Geschäft Arbeit finden.

Aber sie wußte nicht, daß sie schwanger war. Sie wußte auch nicht, was Dinge wirklich kosteten, und sie kannte die harten Realitäten der Weltwirtschaftskrise nicht. Nach sechs Monaten ging uns das Geld aus. Wir waren am Ende.

Ich wußte gar nicht, wie schlecht es uns ging, bis meine Mutter unserer Wirtin, die nett war oder doch zumindest nichts gegen uns hatte, und die von meiner Mutter zu den uns freundlich gesinnten Menschen gezählt wurde, ein Dutzend schwere silberne Löffel stahl. Adelaide gab keine Erklärung für die Löffel ab, als ich sie in ihrer Tasche entdeckte. Wenige Tage später waren sie fort, und Karl und ich besaßen jeder einen dicken Mantel. Außerdem war unser Vorratsregal mit grünen Bananen beladen. Mehrere Wochen lang tranken wir halbliterweise Buttermilch und aßen gebutterten, dick mit Marmelade bestrichenen Toast. Nicht lange danach, glaube ich, sollte das Baby auf die Welt kommen.

Eines Nachmittags schickte meine Mutter uns nach unten zu unserer Wirtin. Diese Frau war dick und so langweilig, daß ich ihren Namen vergessen habe, obwohl ich mich an alles andere, was damals geschah, bis in die Einzelheiten hinein lebhaft erinnere. Es war ein kalter Spätwinternachmittag. Wir starrten in die Vitrine mit der Glastür, in der seit dem Diebstahl die silbernen Pokale und bemalten Teller verschlossen waren. Die Umrisse unserer Gesichter starrten geisterhaft auf uns zurück. Von Zeit zu Zeit hörten Karl und ich, wie jemand aufschrie. Einmal fiel direkt über unseren Köpfen etwas Schweres zu Boden. Beide schauten wir zur Decke hinauf und streckten schnell die Arme hoch, wie um es aufzufangen. Ich weiß nicht, was Karl durch den Kopf ging, aber ich dachte, es sei das frisch geborene Baby, das schwer wie Blei geradewegs durch die Wolken und den Körper meiner Mutter fiel. Ich hatte nur eine undeutliche Vorstellung vom Vorgang der Geburt. Nichts von dem, was ich mir zusammenreimen konnte, erklärte jedenfalls den langen Schrei, der die Luft zerriß und Karl erbleichen und auf dem Stuhl nach vorn sacken ließ.

Ich hatte es aufgegeben, Karl jedesmal wiederzubeleben, wenn er in Ohnmacht fiel. Inzwischen vertraute ich darauf, daß er von selbst wieder zu sich kommen würde, und das tat er auch stets, wobei er sanft und benommen und irgendwie erfrischt aussah. Allerhöchstens hielt ich ihm den Kopf, bis er blinzelnd die Augen öffnete.

«Es ist da», sagte er, als er zu sich kam.

Als wüßte ich schon, daß unser Verderben mit diesem Schrei besiegelt worden war, rührte ich mich nicht von der Stelle. Karl redete auf mich ein, wenigstens die Treppe hinaufzugehen, wenn schon nicht ins Zimmer selbst, aber ich blieb eisern sitzen, bis die Wirtin herunterkam und uns sagte, daß wir erstens ein kleines Brüderchen bekommen hätten und daß sie zweitens einen der Silberlöffel ihrer Großmutter unter der Matratze gefunden hätte und nicht fragen wolle, wie er dort wohl hingekommen sei, aber uns vier Wochen Zeit zum Ausziehen gäbe.

In dieser Nacht schlief ich auf einem Stuhl neben Mamas Bett im Sitzen ein, bei Lampenlicht, das Baby in einer leichten Wolldecke im Arm. Karl hatte sich zu Mamas Füßen zu einem spinnenartigen Knäuel zusammengerollt, und sie schlief schwer und tief, mit wild und leuchtend über den Kissen ausgebreitetem Haar. Ihr Gesicht war weiß und eingefallen, aber als sie zu sprechen begann, hatte ich kein Mitleid mehr.

«Ich sollte es sterben lassen», murmelte sie. Ihre Lippen waren blaß, in einem Traum erstarrt. Ich hätte sie wachgerüttelt, aber das Baby lag schwer auf mir.

«Ich könnte es draußen, hinten auf dem Grundstück begraben», flüsterte sie, «auf dem Unkrautstück.»

«Mama, wach auf», sagte ich, aber sie sprach weiter.

«Ich werde keine Milch haben, ich bin zu dünn.»

Ich schaute hinunter auf das Baby. Sein Gesicht war rund, blau gequetscht, und seine Augenlider waren fast zugeschwollen. Es sah schwach aus, aber als es sich rührte, steckte ich ihm meinen kleinen Finger in den Mund, wie ich es Frauen hatte tun sehen, um ihr Kind zu beruhigen, und es saugte gierig.

«Er ist hungrig», sagte ich zu ihr.

Doch Adelaide drehte sich um und kehrte das Gesicht zur Wand.

Die Milch schoß in Adelaides Brüste, sogar mehr, als das Baby anfangs trinken konnte. Sie mußte es stillen. Die Milch sickerte in dunklen Flecken durch ihre hellgrünen karierten Hemdblusen. Sie ging verzweifelt hin und her, von den Schmerzen gebeugt. Sie ignorierte das Kind nicht vollständig, allerdings weigerte sie sich, ihm einen Namen zu geben. Sie schnitt ihre Unterröcke zu Windeln und nähte aus ihrem Nachthemd eine Babyausstattung für ihn, aber sie ließ ihn oft schreien. Manchmal schrie er so lange, daß die Wirtin nach oben geschnauft kam, um nachzusehen, was los war. Es bekümmerte sie, uns so verzweifelt zu sehen, und sie brachte uns Lebensmittel herauf, die die zahlenden Mieter zurückgelassen hatten. Aber ihren Entschluß änderte sie nicht. Als der Monat um war, mußten wir trotzdem ausziehen.

Die Frühlingswolken waren hoch, und die Luft war warm an dem Tag, als wir loszogen, um eine neue Wohnung zu suchen. Alle normalen Kleider, die Mama besessen hatte, waren für das Baby zerschnitten worden, und deshalb hatte sie nichts anderes mehr als ihre vornehmen Sachen, Spitze und Seide, guten Kaschmir. Sie trug einen schwarzen Mantel, ein schwarzes, mit cremefarbenen Spitzen besetztes Kleid und feine Garnhandschuhe. Ihr Haar saß in einem strengen und glänzenden Knoten. Wir gingen die Backsteinbürgersteige entlang, auf der Suche nach Schildern in Fenstern, nach Pensionen der billigsten Sorte, Mietskasernen oder Hotels. Wir fanden nichts und setzten uns schließlich zum Ausruhen auf eine Bank, die an der Seitenwand eines Ladens angebracht war. Zu jener Zeit waren die Straßen in den Städten viel einladender. Keiner hatte etwas dagegen, daß arme Leute dort Kräfte sammelten, eine Last absetzten, ihren Niedergang in der Welt diskutierten.

«Wir könnten zurück zu Fritzie gehen», sagte Mama. «Sie ist meine Schwester. Sie müßte uns aufnehmen.»

Ich hörte an ihrer Stimme, daß es das letzte war, was sie tun wollte.

«Du könntest deinen Schmuck verkaufen», sagte ich zu ihr.

Mama warf mir einen warnenden Blick zu und legte die Hand auf die Brosche an ihrem Hals. Sie hing an den Dingen, die Mr. Ober ihr im Laufe der Jahre geschenkt hatte. Wenn wir darum bettelten, zeigte sie sie uns: die feinziselierte Granatkette, die Trauerbrosche aus Onyx und die Perlentropfen-Ohrringe, den spanischen Kamm und den Ring mit dem echten gelben Diamanten. Ich ging davon aus, daß sie die nicht einmal verkaufen würde, um uns zu retten. Unsere Notlage hatte sie niedergedrückt, und sie war schwach, aber in ihrer Schwäche war sie auch stur. Wir saßen vielleicht eine halbe Stunde auf der Bank vor dem Laden, dann hörte Karl irgendwo Musik.

«Mama», bettelte er, «ein Jahrmarkt!»

Wie immer bei Karl sagte sie zuerst einmal nein, aber das war nur eine Formalität, und beide wußten es. In kürzester Zeit hatte er sie beschwatzt und becirct, hinzugehen.

Das Waisenpicknick, ein Basar zugunsten der heimatlosen Kinder von Sankt Hieronymus, fand nur ein paar Straßen weiter auf dem städtischen Marktplatz statt. Wir sahen das über den Eingang gespannte Spruchband mit seinen hellgelben handgenähten Buchstaben auf fröhlichem Rot leuchten. Bretterbuden waren in dem hohen braunen, vom Winter übriggebliebenen Gras aufgestellt. Nonnen raschelten zwischen den Tischen mit Skapulieren und Heiligenbildchen oder standen hinter Ständern mit Rosenkränzen, Schuhschachteln voller Heiligenbildchen, winzigen geschnitzten Heiligenstatuen und normalem Spielzeug. Wir ließen uns in die Aufregung hineintreiben, musterten die Grabbelsäcke, Glücksspiele, Auslagen von Süßigkeiten und Devotionalien. An einem Stand, der Klimperkram und Eisenwaren feilbot, blieb Mama stehen und zog eine Dollarnote aus ihrem Geldtäschchen.

«Ich nehme das da», sagte sie zu dem Verkäufer und deutete darauf. Er nahm ein Taschenmesser mit Perlmuttgriff aus seinem Schaukasten und gab es Karl. Dann deutete sie auf eine Kette aus silbernen und goldenen Perlen.

«Ich will sie nicht», sagte ich.

Ihr Gesicht rötete sich, aber nach kurzem Zögern kaufte sie die Kette trotzdem. Dann trug sie Karl auf, sie ihr um den Hals zu befestigen. Mir legte sie das Baby in die Arme.

«Hier, Fräulein Miesepeter», sagte sie.

Karl lachte und nahm ihre Hand. Von Stand zu Stand wandernd, kamen wir schließlich an die Tribüne, und sofort begann Karl sie zu den Sitzen hinzuziehen. Ich mußte hinter ihnen herstolpern. Alte Eintrittskarten bedeckten den Boden, Plakate klebten an Baumstämmen und den splittrigen Holzwänden. Mama hob einen der kleineren Zettel auf.

DER GROSSE OMAR, stand darauf, LUFTSCHIFFER EXTRAORDINAIRE. AUFTRITT 12 UHR MITTAGS! Unter den Worten war das Bild eines Mannes, geschmeidig, mit Schnurrbart, sein orangefarbenes Halstuch flatterte im Wind.

«Bitte!» sagte Karl.

Also gesellten wir uns zu der glotzenden Menge.

Das Flugzeug stieß nach unten, schlingerte, summte, glitt über uns hinweg wie eine Art Insekt. Ich reckte weder den Hals noch hielt ich vor Aufregung den Atem an wie die anderen. Ich schaute auf das Baby hinunter und beobachtete sein Gesicht. Es tauchte gerade aus dem endlosen Schlaf des Neugeborenen auf, und jetzt schaute es mich von Zeit zu Zeit mit höchster Konzentration an. Ich schaute zurück. In seinem Gesicht fand ich mich selbst wieder, nur anders zusammengesetzt -kühner, aufgeweckt, übellaunig. Es schaute mich mit gerunzelter Stirn an, sich seiner Hilflosigkeit gar nicht bewußt, wenn auch beunruhigt vom lauten Dröhnen des Doppeldeckers, der jetzt landete und auf die Menge zurollte.

Wenn ich jetzt zurückdenke, kann ich gar nicht glauben, daß ich nichts Böses ahnte. Ich schaute kaum hin, als der Große Omar aus dem Flugzeug sprang, und ich applaudierte seinen schwungvollen Verbeugungen und Erklärungen nicht. Ich hörte kaum zu, als er denjenigen, die es wagten, anbot mitzufliegen. Ich glaube, er nahm einen Dollar oder zwei für dieses Privileg. Ich nahm es gar nicht wahr. Ich war nicht gefaßt auf das, was dann kam.

«Hier!» rief meine Mutter und hielt ihre Tasche hoch in die Sonne.

Ohne einen Blick zurück, ohne ein Wort, ohne Vorwarnung und ohne Zögern bahnte sie sich mit den Ellbogen den Weg durch die Leute, die sich am Fuß der Tribüne versammelt hatten, und trat in den freien Raum um den Piloten. Zum erstenmal schaute ich mir jetzt den Großen Omar an. Der Eindruck, den er erweckte, war wirklich schneidig, genau wie auf seinen Plakaten. Er hatte tatsächlich das orangerote Halstuch um den Hals gebunden, und zweifellos hatte er eine Art Schnurrbart. Ich glaube, er trug einen weißen Pullover mit Ölflecken. Er war schlank und dunkel, im Vergleich zu seinem Flugzeug viel kleiner als auf dem Plakat, und auch älter. Nachdem er meiner Mutter in den Passagiersitz im Cockpit geholfen hatte und selbst hinter das Instrumentenbrett gesprungen war, zog er sich eine grüne Fliegerbrille über die Augen. Und dann kam ein erschreckender, endloser Augenblick, als sie sich zum Start bereit machten. Der Luftschiffer machte zwei Männern, die ihm beim Wenden des Flugzeugs geholfen hatten, Zeichen.

«Anwerfen! Ausschalten! Läuft!»

«Propeller klar!» schrie Omar, und die Männer sprangen zur Seite.

Der Propeller machte Wind. Das Flugzeug schoß vorwärts, stieg über die niedrigen Bäume auf, gewann Höhe. Der Große Omar zog eine flache Schleife über dem Platz, und ich sah, wie das lange rote Kraushaar meiner Mutter sich aus dem festen Knoten löste und in einem Bogen flatterte, der sich auszubreiten und um seine Schultern zu legen schien.

Karl starrte mit verzweifelter Faszination in den Himmel und sagte keinen Ton, als der Große Omar mit seinen Flugkunststücken und brummenden Passagen begann. Ich konnte nicht zuschauen. Ich betrachtete das Gesicht meines kleinen Bruders und wartete in höchster Anspannung darauf, daß das Flugzeug abstürzte.

Die Menge verlief sich. Die Menschen wanderten weiter. Das Motorgeräusch wurde schwächer. Als ich es endlich wagte, in den Himmel zu schauen, flog der Große Omar in gleichmäßigem Tempo mit meiner Mutter von dem Jahrmarktsplatz fort. Bald war das Flugzeug nur noch ein weißer Punkt, dann wurde es eins mit dem blassen Himmel und verschwand.

Ich rüttelte Karl am Arm, aber er machte sich von mir los und schwang sich auf den Rand der Tribüne. «Nimm mich mit!» schrie er und beugte sich über das Geländer. Hochgereckt, als wolle er sich hineinwerfen, starrte er den Himmel an.

Genugtuung. Es überraschte mich, aber das war das erste, was ich empfand, nachdem Adelaide weggeflogen war. Ausnahmsweise hatte sie einmal keinen Unterschied zwischen Karl und mir gemacht, sondern uns beide verlassen. Karl ließ den Kopf in die Hände sinken und begann, in seine dicken Wollärmel zu schluchzen. Ich schaute weg.

Um die Tribüne herum bewegte sich die Menge in ungleichmäßigen Wellen. Über uns breiteten sich die Wolken zu einem dünnen Tuch aus, das den Himmel bedeckte wie Musselin. Wir sahen zu, wie sich die Dämmerung in den Ecken des Platzes zusammenzog. Nonnen begannen ihre Rosenkränze und Gebetsbücher zusammenzupacken. Farbige Lichter gingen in den Schaustellerbuden an. Karl schlug die Arme um sich, stampfte mit den Füßen auf, hauchte sich auf die Finger, aber mir war nicht kalt. Das Baby hielt mich warm.

Dann wachte das Baby auf, sehr hungrig, und ich war ratlos, wie ich es beruhigen sollte. Es saugte so fest, daß mein Finger weiß und runzlig wurde, und dann schrie es. Leute scharten sich um uns. Frauen streckten die Arme aus, aber ich hielt meinen Bruder fester. Ich traute ihnen nicht. Ich traute auch dem Mann nicht, der sich neben mich setzte und leise sprach. Es war ein junger Mann mit einem scharfgeschnittenen, traurigen, unrasierten Gesicht. Am stärksten ist mir seine Traurigkeit in Erinnerung. Er wollte das Baby mit zu seiner Frau nach Hause nehmen, damit sie es stillte. Sie hatte selbst ein Neugeborenes, sagte er, und genug Milch für zwei.

Ich gab ihm keine Antwort.

«Wann kommt eure Mutter zurück?» fragte der junge Mann. Er wartete. Karl saß stumm da und schaute unverwandt in den dunklen Himmel. Ringsum mischten sich Erwachsene ein und sagten mir, was ich tun sollte.

«Gib ihm das Baby, mein Kind.»

«Sei doch nicht so eigensinnig.»

«Laß ihn das Baby mit nach Hause nehmen.»

«Nein», sagte ich auf jeden Befehl und jeden Vorschlag. Ich trat sogar um mich, als eine Frau kühn versuchte, mir meinen Bruder aus den Armen zu nehmen. Einer nach dem anderen ließen sie sich entmutigen und gingen weg. Nur der junge Mann blieb.

Es war das Baby selbst, das mich schließlich überzeugte. Es hörte einfach nicht auf zu brüllen. Je länger es schrie, je länger der traurige Mann neben mir saß, um so schwächer wurde mein Widerstand, bis ich kaum mehr die Tränen zurückhalten konnte.

«Dann komme ich eben mit», sagte ich zu dem jungen Mann. «Wenn das Baby getrunken hat, nehme ich es wieder mit hierher.»

«Nein!» schrie Karl, der plötzlich aus seiner Betäubung erwachte. «Du darfst mich nicht allein lassen!»

Er packte mich so leidenschaftlich am Arm, daß das Baby ins Rutschen kam, und der junge Mann fing mich auf, als ob er mir helfen wollte, aber statt dessen raffte er das Baby an sich.

«Ich werd' gut auf ihn aufpassen», sagte er und drehte sich um.

Ich versuchte, mich Karls Griff zu entwinden, aber wie meine Mutter war auch er noch hartnäckiger, wenn er Angst hatte, und ich konnte mich nicht losmachen. Der Mann verschwand im Dunkel. Ich hörte, wie das Jammern des Babys schwächer wurde. Schließlich setzte ich mich neben Karl und ließ die Kälte in mich sinken.

Eine Stunde verging. Eine weitere Stunde. Als die bunten Lichter verloschen und der Mond verschwommen hinter den Wolkentüchern aufging, wußte ich mit Sicherheit, daß der junge Mann gelogen hatte. Er würde nicht zurückkommen. Aber weil er zu traurig ausgesehen hatte, als daß er jemandem ein Leid antun könnte, hatte ich mehr Angst um Karl und mich. Wir waren die beiden wirklich Verlorenen. Ich stand auf. Karl auch. Wortlos gingen wir durch die leeren Straßen zu der Pension. Wir hatten keinen Schlüssel, aber Karl entfaltete ein unerwartetes Talent. Er nahm das Messer mit der schmalen Klinge, das Adelaide ihm geschenkt hatte, und brach das Schloß auf.

Das kalte Zimmer war vom schwachen Duft der Trockenblumen erfüllt, die unsere Mutter immer in ihre Truhe streute, vom intensiven Geruch der mit Nelken besteckten Orange, die sie in den Schrank gehängt hatte, und von dem Lavendelöl, mit dem sie sich abends einrieb. Die Süße ihres Atems schien noch darin zu hängen, das Rascheln ihres Seidenunterrocks, das schnelle Klappern ihrer Absätze. Unsere Sehnsucht begrub uns unter sich. Wir sanken weinend auf ihr Bett, umarmten einander und wickelten uns in ihre Quiltdecke. Als das getan war, begann ich eiskalt zu überlegen.

Ich wusch mir das Gesicht in der Waschschüssel, dann weckte ich Karl und sagte ihm, daß wir zu Tante Fritzie fahren würden. Er nickte ohne Hoffnung. Wir aßen alles, was in dem Zimmer an Eßbarem zu finden war, nämlich zwei kalte Pfannkuchen, und packten einen kleinen Pappkoffer. Den trug Karl. Ich trug die Quiltdecke. Als letztes griff ich weit nach hinten in die Schublade meiner Mutter und zog ihre kleine runde Andenkenschatulle heraus. Sie war mit blauem Samt bezogen und fest verschlossen.

«Wir werden diese Sachen verkaufen müssen», sagte ich zu Karl. Er zögerte, aber dann nahm er das Kästchen mit einem harten Blick an sich.

Wir schlüpften vor Sonnenaufgang hinaus und gingen zum Bahnhof. Auf dem unkrautbewachsenen Gelände gab es Männer, die den Bestimmungsort jedes einzelnen Güterwagens kannten. Wir fanden den Wagen, den wir suchten, und kletterten hinein. Wir breiteten die Quiltdecke aus und rollten uns dicht aneinandergekuschelt zusammen, die Köpfe auf dem Koffer und Mamas blaue Samtschatulle zwischen uns in Karls Brusttasche. Ich klammerte mich an den Gedanken der Schätze, die darin waren, und konnte dabei nicht ahnen, daß das beruhigende Klappern, das ich hörte, sobald der Zug sich am Nachmittag in Bewegung setzte, nicht das Klimpern von kostbarem Erbschmuck war, der uns retten konnte - die Granatkette und der echte gelbe Diamant -, sondern Stecknadeln, Knöpfe und ein stummer Pfandschein aus einem Leihhaus in Minneapolis.

Wir verbrachten die ganze Nacht in diesem Zug, während er rangierte und bremste und in Richtung Argus rumpelte. Wir wagten nicht, auf der Suche nach einem Schluck Wasser oder etwas Eßbarem hinauszuspringen. Das einzige Mal, als wir das versuchten, fuhr der Zug so rasch an, daß es uns kaum gelang, noch das Trittbrett zu erreichen. Wir verloren unseren Koffer und die Quiltdecke dabei, weil wir den falschen Wagen erwischten, einen weiter hinten, und den Rest dieser Nacht schliefen wir wegen der Kälte überhaupt nicht mehr. Karl war sogar zu niedergeschlagen, um sich zu wehren, als ich sagte, ich sei jetzt damit dran, Mamas Schatulle zu verwahren. Ich steckte sie unter das Oberteil meines Trägerrocks. Warm hielt sie mich nicht, aber wenn ich die Augen schloß, dann gaben mir das Glitzern des Diamanten und das Muster der Granate, die in der dunklen Luft tanzten, trotzdem etwas. Mein Inneres verhärtete sich, geschliffen und glänzend wie ein magischer Stein, und ganz deutlich sah ich meine Mutter vor mir.

Sie saß immer noch in dem Flugzeug, das dicht an den pulsierenden Sternen vorbeiflog, als Omar plötzlich feststellte, daß der Treibstoff knapp wurde. Er war nicht in Adelaide verliebt, ja ihm war sogar ziemlich egal, was aus ihr wurde. Er mußte sich selbst retten. Irgendwie mußte er Gewicht loswerden. Also stellte er seine Regler ein. Er stand im Cockpit auf. Dann zog er mit einer plötzlichen Bewegung meine Mutter aus ihrem Sitz und warf sie über Bord.

Die ganze Nacht fiel sie durch die schreckliche Kälte. Ihr Mantel flatterte auf, und ihr schwarzes Kleid wickelte sich fest um ihre Beine. Ihr rotes Haar züngelte steil nach oben wie eine Flamme. Sie war eine Kerze, die keine Wärme gab. Mein Herz gefror. Ich empfand keine Liebe zu ihr. Deshalb ließ ich es, als der Morgen kam, zu, daß sie auf der Erde aufschlug.

Als der Zug in Argus hielt, war ich ein Klumpen verdrossener Kälte. Es tat weh, als ich sprang und mir die kalten Knie und die Handballen aufriß. Der Schmerz stachelte mich genügend an, die Schilder in den Fenstern zu lesen und mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wo denn bloß Tante Fritzies Laden war. Es war Jahre her, daß wir dort zu Besuch gewesen waren.

Karl war älter, und wahrscheinlich sollte ich mich nicht auch noch dafür verantwortlich fühlen, daß ich auch ihn verlor. Andererseits half ich ihm aber auch nicht. Ich rannte bis ans Ende der Stadt. Ich konnte es nicht aushalten, wie sein Gesicht im reflektierten Licht der Blüten glühte, rosa und strahlend, genau wie wenn er unter der streichelnden Hand unserer Mutter saß.

Als ich stehenblieb, stiegen mir plötzlich heiße Tränen in die Augen, und meine Ohren brannten. Ich sehnte mich danach zu weinen, aber ich wußte, daß das nichts brachte. Ich drehte mich um und betrachtete alles um mich her ganz genau, und das war ein Glück, denn ich war an der Metzgerei vorbeigelaufen, und jetzt stand sie plötzlich da, um eine kurze Lehmeinfahrt von der Straße zurückversetzt. Ein weißes Schwein war auf die Hauswand gemalt und in das Schwein die Buchstaben KOZKAS FLEISCHWAREN. Zwischen Reihen winziger Fichten ging ich darauf zu. Das Haus sah unfertig, aber wohlhabend aus, als seien Fritzie und Pete zu sehr mit der Kundschaft beschäftigt, um auf Äußerlichkeiten achten zu können. Ich stand auf der breiten Stufe vor der Tür und merkte mir alles, was ich konnte, wie Bettler das tun. Ein Brett mit Wapiti-Geweihen war über die Tür genagelt. Ich ging unter ihnen durch.

Der Eingang war dunkel, und mein Herz hämmerte. Ich hatte so viel verloren und so unter dem Kummer und der Kälte gelitten, daß das, was ich nun sah, sicherlich ganz natürlich war, verständlich, wenn auch nicht real.

Noch einmal sprang der Hund auf Karl zu, und Blüten fielen von seinem Stock. Nur fielen sie jetzt über mir herunter, im Eingang zum Laden. Ich roch die Blütenblätter, die auf meinem Mantel schmolzen, schmeckte ihre schwache Süße in meinem Mund. Ich hatte keine Zeit, mich zu fragen, wie das wohl geschehen konnte, denn sie verschwanden so plötzlich wieder, wie sie gekommen waren, als ich dem Mann hinter der Glastheke meinen Namen nannte.

Onkel Pete war groß und blond und trug eine alte blaue Jeansmütze von der gleichen Farbe wie seine Augen. Sein Lächeln kam langsam und war lieb für einen Metzger, voller Hoffnung. «Ja?» fragte er. Er erkannte mich nicht, auch nachdem ich ihm gesagt hatte, wer ich war. Schließlich weiteten sich seine Augen, und er rief nach Fritzie.

«Die Tochter deiner Schwester! Sie ist hier!» rief er in den Flur hinein.

Ich erzählte ihm, daß ich allein sei, daß ich in einem Güterwagen hergekommen sei, und er nahm mich in die Arme und hob mich hoch. Er trug mich nach hinten in die Küche, wo Tante Fritzie gerade eine Wurst gebraten hatte, für meine Kusine, die schöne Sita, die am Tisch saß und die Augen aufriß, während ich Fritzie und Pete erzählte, wie es sich zugetragen hatte, daß ich so einfach aus dem Nichts hier hereingeschneit war.

Sie musterten mich mit wohlwollendem Mißtrauen, im Glauben, ich sei ausgerissen. Aber als ich vom Großen Omar erzählte, und wie Mama ihre Tasche hochgehoben und Omar ihr ins Flugzeug geholfen hatte, wurden ihre Gesichter grimmig.

«Sita, geh nach draußen und putz die Scheibe», sagte Tante Fritzie. Sita rutschte unwillig von ihrem Stuhl.

«So», sagte Fritzie. Onkel Pete setzte sich schwerfällig und stützte das Kinn auf die zusammengepreßten Fäuste. «Weiter, erzähl den Rest», sagte er, und so erzählte ich den ganzen Rest, und als ich fertig war, hatte ich auch ein Glas Milch getrunken und eine Wurst gegessen. Inzwischen war ich so müde, daß ich kaum noch aufrecht sitzen konnte. Onkel Pete hob mich hoch. Ich erinnere mich noch daran, daß ich gegen ihn sank, dann an nichts mehr. Ich schlief den ganzen Tag und die ganze Nacht durch und wachte erst am nächsten Morgen auf.

Ich lag ganz still da, lange Zeit, so schien es mir, und versuchte, die Gegenstände im Zimmer unterzubringen, bis mir einfiel, daß sie alle Sita gehörten.

Hier sollte ich nun für den Rest meines Lebens jede Nacht schlafen. Die Täfelung war aus warmer gebeizter Kiefer. Die Vorhänge waren mit Tänzern und Noten gemustert. Der größte Teil der einen Wand wurde von einer hohen eichenen Frisierkommode mit kunstvollen Schnörkeln und vielen Schubladen eingenommen. Darauf stand eine hölzerne Lampe in Form eines Wunschbrunnens. Ein bodenlanger Spiegel war an der Innenseite der Zimmertür angebracht. Durch diese Tür kam nun, während ich noch meine Umgebung in mich aufnahm, Sita persönlich hereinspaziert, groß und makellos, mit einem blonden Zopf, der ihr bis an die Taille reichte.

Sie setzte sich auf die Kante meines Rollenbetts und verschränkte die Arme vor ihren kleinen jungen Brüsten. Sie war ein Jahr älter als ich und ein Jahr jünger als Karl. Seit ich sie zum letztenmal gesehen hatte, war sie plötzlich hochgeschossen, aber das Wachstum hatte sie weder ungelenk noch staksig gemacht. Sita grinste. Sie schaute auf mich herunter, ihre kräftigen weißen Zähne glänzten, und sie streichelte den blonden Zopf, der ihr über die eine Schulter hing.

«Wo ist Tante Adelaide?» fragte sie.

Ich antwortete nicht.

«Wo ist Tante Adelaide?» sagte sie noch einmal mit wütender Singsangstimme. «Wieso bist du hier? Wo ist sie hin? Wo ist Karl?»

«Ich weiß nicht.»

Wahrscheinlich dachte ich, die Jämmerlichkeit meiner Antwort würde Sita verstummen lassen, aber das war, bevor ich sie richtig kennenlernte.

«Wieso hat sie dich allein gelassen? Wo ist Karl? Was ist das hier?»

Sie nahm die blaue Samtschatulle von meinem Kleiderhaufen und schüttelte sie dicht an ihrem Ohr. «Was ist da drin?»

Ich entriß ihr die Schatulle mit einer wütenden Behendigkeit, die sie nicht erwartete. Dann schwang ich mich vom Bett, nahm mein Kleiderbündel in die Arme und ging aus dem Zimmer. Die einzige Tür, die im Flur offenstand, war die zum Badezimmer, einem großen verrauchten Raum, der vielen Zwecken diente und bald meine Zuflucht wurde, da dies die einzige Tür war, die ich vor meiner Kusine verriegeln konnte.

Wochenlang, nachdem ich in Argus angekommen war, wachte ich täglich im Glauben auf, ich sei wieder in Prairie Lake und nichts von alledem sei geschehen. Dann sah ich die dunklen Astlöcher im Kiefernholz und Sitas Arm, der aus dem Bett über mir hing. Der Tag begann. Ich roch die Luft, die vom Wurstmachen pfefferig und warm war. Ich hörte das rhythmische Jaulen der Fleischsägen, Schneidemaschinen, den pulsierenden Takt von Ventilatoren. Tante Fritzie rauchte im Bad ihre starken Viceroys. Onkel Pete war draußen und fütterte den großen weißen deutschen Schäferhund, der nachts im Laden gehalten wurde, um die Segeltuchsäcke mit dem Geld zu bewachen.

Ich stand auf, zog eins von Sitas abgelegten rosa Kleidern an und ging hinaus in die Küche, um auf Onkel Pete zu warten. Ich machte das Frühstück. Daß ich im Alter von elf Jahren einen guten Kaffee kochen und Eier braten konnte, war eine Quelle des Staunens für meine Tante und meinen Onkel und eine Ungeheuerlichkeit für Sita. Deshalb tat ich es jeden Morgen, bis es ihnen zur Gewohnheit wurde, mich bei sich zu haben.

Ich plante, ihnen allen unentbehrlich zu werden, sie so von mir abhängig zu machen, daß sie mich niemals wegschicken könnten. Das tat ich ganz absichtlich, weil ich bald herausfand, daß ich sonst nichts zu bieten hatte. Am Tag, nachdem ich in Argus angekommen und unter Sitas anklagenden Fragen aufgewacht war, hatte ich versucht, ihnen das zu schenken, was ich für meinen Schatz hielt -die Samtschatulle, die Mamas Schmuck enthielt.

Ich tat es so würdevoll ich nur konnte, im Beisein von Sita als Zeugin, während Pete und Fritzie am Küchentisch saßen. An diesem Morgen trat ich mit naß gekämmtem Haar ein und legte die Schatulle zwischen meinen Onkel und meine Tante. Ich schaute von Sita zu Fritzie, während ich sprach.

«Dies dürfte als Entgelt reichen.»

Fritzie hatte die Gesichtszüge meiner Mutter, aber eine Spur zu scharf, um schön zu sein. Ihre Haut war rauh und ihr kurzes gelocktes Haar platinblond gebleicht. Ihre Augen hatten einen verschwommenen, verrückten Türkiston, der die Kundschaft verblüffte. Sie aß herzhaft, aber das beständige Rauchen hielt sie bohnendürr und bläßlich.

«Du brauchst uns nichts zu zahlen», sagte Fritzie. «Pete, sag's ihr. Sie braucht uns nichts zu zahlen. Setz dich, halt den Mund und iß.»

Fritzie redete so - barsch, aber im Spaß. Pete war langsamer.

«Komm. Setz dich und vergiß das mit dem Geld», sagte er. «Du weißt ja gar nicht, was deine Mutter überhaupt...» fügte er mit einer ernsthaften Stimme hinzu, die dann verklang. Die Dinge hatten eine Art, unter Fritzies Augen zu verdunsten, zu verschwinden, in die blaue Hitze ihres unverwandten Blicks aufgesaugt zu werden. Nicht einmal Sita hatte etwas zu sagen.

«Ich möchte euch dies hier schenken», sagte ich. «Ich bestehe darauf.»

«Sie besteht darauf», rief Tante Fritzie aus. Ihr Lächeln hatte einen verwegenen Schwung, weil einer ihrer Schneidezähne abgebrochen war. «Besteh doch nicht darauf!» sagte sie.

Aber ich weigerte mich, mich zu setzen. Ich nahm ein Messer vom Butterteller und fing an, das Schloß aufzubrechen.

«Na, jetzt aber», sagte Fritzie. «Pete, hilf ihr.»

Pete stand also auf, holte einen Schraubenzieher, der auf dem Kühlschrank lag, setzte sich und zwängte die Spitze unter das Schloß.

«Laß sie es selbst aufmachen», sagte Fritzie, als das Schloß aufsprang. Pete schob die kleine runde Schatulle über den Tisch.

«Ich wette, die ist leer», sagte Sita. Sie ging ein ziemliches Risiko ein, als sie das sagte, aber es zahlte sich haushoch für sie aus, unsere ganze weitere gemeinsame Jugend hindurch, denn einen Moment später hob ich den Deckel, und was sie sagte stimmte. In der Schatulle war nichts von Wert.

Stecknadeln. Ein paar dicke Metallknöpfe von einem Mantel. Und ein Pfandschein, der einen Ring und eine granatbesetzte Kette beschrieb, die für so gut wie nichts in Minneapolis versetzt worden waren.

Es war still. Sogar Fritzie war um Worte verlegen. Sita schwirrte fast vom Stuhl vor Triumph, hielt aber den Mund bis später, wo sie dann loskrähen würde. Pete fuhr sich mit der Hand an den Kopf. Ich stand stumm da, während meine Gedanken sich im Kreis drehten. Wäre Sita nicht dagewesen, so wäre ich vielleicht zusammengebrochen und hätte den Tränen freien Lauf gelassen, wie in unserer Pension, aber bei ihr war ich auf der Hut.

Ich setzte mich hin, um außerhalb der Reichweite von Sitas stupsendem Ellbogen zu essen. Schon arbeitete mein Gehirn daran, wie ich mich an ihr rächen konnte, und schon jetzt war ich ihr weit voraus, wenn es ums Abrechnen ging, denn Sita lernte mich erst richtig kennen, als es schon viel zu spät war. Und so wurde ich, während die Jahre vergingen, lebensnotwendiger als jeder Ring oder jede Kette, während Sita zu jener Art von vergänglicher Schönheit heranblühte, die jeder vorübergehende Junge von einem Baum brechen und wegwerfen konnte, wenn der Duft vergangen war.

Ich stellte die Schmuckschatulle auf die Frisierkommode, die ich jetzt mit Sita teilte, und schaute nie wieder hinein. Ich erlaubte mir nicht nachzudenken und auch nicht, mich zu erinnern, sondern lebte einfach weiter. Nur die Träume konnte ich nicht abstellen. Nachts kamen sie: Karl, Mama, mein kleiner Bruder und Mr. Ober mit dem Mund voller Getreide. Sie versuchten, durch Luft und Erde zu greifen. Sie versuchten mir zu sagen, daß all das Sinn und Verstand habe. Aber ich hielt mir die Ohren zu.

Ich hatte mein Vertrauen in die Vergangenheit verloren. Sie waren Teil eines verblassenden Musters, das jenseits meines Verständnisses lag und mir keinen Trost brachte.

Karls Nacht

Als Karl sich an diesem Morgen wieder in dem Güterzug niederließ, beschloß er, sich nicht mehr zu rühren, bis er sterben würde. Aber dann fuhr der Zug nicht so weiter, wie er sollte. Keine zehn Meilen außerhalb von Argus wurde Karls Waggon vom Rest des Zuges abgekuppelt und blieb stehen. Den ganzen Tag sah er, wenn er vom Dösen aufwachte, dieselben beiden hohen silbernen Kornsilos am Ende der Geleise. Am Spätnachmittag war er so durstig, ausgekühlt und hungrig und hatte das Warten auf den Tod so satt, daß er, als ein Mann sich durch die Tür hereinschwang, froh um diesen Vorwand war, das Sterben aufschieben zu können.

Karl hatte sich in das Heu aus den aufgebrochenen Ballen vergraben, und der Mann setzte sich keinen halben Meter vor ihm hin, ohne ihn zu sehen. Karl betrachtete ihn genau. Zunächst kam er ihm alt vor. Sein Gesicht war zu einem ledrigen harten Braun verbrannt. Seine Augen verloren sich fast in den Blinzelfalten; seine Lippen waren schmal. Er sah steinhart aus unter seinen Kleidern, den Überresten einer alten Armeeuniform, und als er sich einen Zigarettenstummel anzündete, reflektierte das Streichholz zwei dünne Flammen in seinen Augen. Er blies den Rauch in einem Ring aus. Sein Haar war eher lang, sandfarben, und sein Bart war stoppelig.

Karl sah zu, wie der Mann seine Zigarette vorsichtig bis zum Papierende hinunterrauchte, und dann sprach er.

«Hallo?»

«Huaah!» Der Mann fuhr hoch und taumelte nach hinten, dann fing er sich. «Was zum...»

«Ich heiße Karl.»

«Verdammt, hab' ich einen Schreck gekriegt.» Der Mann starrte ins Dunkel um Karl und lachte dann abrupt auf. «Du bist ja noch ein Kind», sagte er, «und, ach Gottchen, siehst du trottelig aus. Komm mal her.»

Karl trat heraus und stand im breiten Lichtkegel der Tür. Das Heu, in dem er geschlafen hatte, hing an seinem Mantel und steckte in seinem Haar. Er starrte den Mann unter einer Handvoll von Gräsern hervor an, und sein Blick war so kummervoll, daß der Mann friedfertiger wurde.

«Du bist ein Mädchen, stimmt's?» sagte er. «Tut mir leid wegen meiner Ausdrucksweise.»

«Ich bin kein Mädchen.»

Aber Karl war noch nicht ganz durch den Stimmbruch, und der Mann war nicht überzeugt. «Ich bin kein Mädchen», wiederholte Karl. «Was hast du gesagt, wie du heißt?»

«Karl Adare.»

«Karla», sagte der Mann. «Ich bin ein Junge.»

«Mhm.» Der Mann drehte sich eine neue Zigarette. «Ich bin Sankt Ambrosius.» Karl nickte vorsichtig.

«Das ist kein Witz», sagte der Mann. «Mein Nachname ist Sankt Ambrosius. Vorname Giles.»

Karl setzte sich neben Giles Sankt Ambrosius auf den Heuballen. Der Hunger ließ ihm alles im Kopf verschwimmen. Er mußte blinzeln, um noch klar zu sehen. Trotzdem merkte er jetzt, daß der Mann nicht so alt war, wie er zuerst angenommen hatte. Jetzt, wo er nahe bei ihm saß, sah Karl, daß sein Gesicht von Sonne und Wind, nicht vom Alter gegerbt war.

«Ich komme aus Prairie Lake», brachte Karl heraus. «Wir hatten ein Haus.»

«Und habt es verloren», sagte Giles und schaute Karl durch Wolken von Rauch an. «Wann hast du zum letztenmal gegessen?»

Das Wort essen bewirkte, daß Karls Zähne aufeinanderschlugen und ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Wortlos starrte er Giles an.

«Hier.» Giles nahm ein in Zeitungspapier gewickeltes viereckiges Päckchen aus seiner Jackentasche. Er packte es aus. «Das ist gut, es ist Schinken», sagte er.

Karl nahm ihn in beide Hände und aß mit so jäher Gier, daß Giles vergaß, an seiner Zigarette zu ziehen.

«Das Zuschauen hat schon gelohnt», sagte er, als Karl fertig war. «Ich wollte dich bitten, mir ein Stück übrigzulassen, aber ich habe es nicht fertiggebracht.»

Karl faltete das Zeitungspapier zusammen und gab es Giles zurück.

«Schon recht», winkte Giles ab. Er faßte nach unten und hob den Stock auf, den Karl mit in den Güterwagen gebracht hatte. Ein paar verwelkte graue Blüten hingen noch an den knotigen Verdickungen. «Der würde eine gute Moskitopatsche abgeben», sagte Giles.

«Der gehört mir», sagte Karl.

«Ach ja?» sagte Giles und peitschte damit durch die Luft. «Hat dir gehört. Jetzt nicht mehr. Guter Tausch.»

Das, was jetzt mit Karl geschah, sollte ihn später beschämen, aber er konnte nicht anders. Der Ast erinnerte ihn an den springenden Hund, an sein Knurren mit gefletschten Zähnen, an Mary, die wie angewurzelt auf der Straße stand, und an sich selbst, wie er mit aller Kraft an dem Baum riß und wie es ihm gelang, den Ast abzubrechen und damit um sich zu schlagen. Karls Augen füllten sich mit Tränen und liefen über.