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4. Auflage 2018

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Redaktion: Mareike Fallwickl, Rif bei Hallein
Umschlaggestaltung: Maria Wittek, München

Satz: HJR, Jürgen Echter, Landsberg am Lech


 

ISBN Print 978-3-86882-645-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-221-4

ISBN E-Book (EPUB,Mobi) 978-3-86415-170-5

ISBN Hörbuch 978-3-86882-576-3

ISBN Hörbuch (Download) 978-3-86882-579-4


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Einleitung

Dies ist kein Glücksratgeber. Ratgeber bringen überhaupt nichts, glauben Sie mir, ich habe viele davon. Manche habe ich auch gelesen. Wenn es nach meinem Bücherregal ginge, wäre ich schon längst schlank im Schlaf geworden, ich wäre die perfekte Liebhaberin und ein Kommunikationsprofi, ich wüsste Wege in die Entspannung, es wäre egal, wen ich heirate, denn ich würde mich selbst lieben, und ich würde mich nicht sorgen, sondern leben.

Dies ist ein Erfahrungsbericht. Ich habe mich auf den Weg gemacht und es tatsächlich versucht: das Glück zu finden. Schritt für Schritt. Wie ich auf dieses schmale Brett gekommen bin? Ich hatte da mal einen lichten Augenblick …

Manchmal hat man die größten Lichtblicke in den blödesten Momenten. Eine ganz wichtige Erkenntnis kam mir zum Beispiel, als ich spätnachts vor meiner Toilette kniete und kotzte, was das Zeug hielt. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich mit L. die Liebe meines Lebens getroffen hatte. Die Liebe meines Lebens kniete dabei neben mir und reichte mir Klopapier. Zugegeben, das war nicht exakt die Situation, die ich mir für so eine Erkenntnis vorgestellt hatte. In meiner Fantasie spielten eine sternenklare Sommernacht, ein Vollmond und eine Laube im Park die tragenden Rollen – und nicht eine Porzellanschüssel von Ideal Standard mit lila Kloumpüschelung. Außerdem sollte ich zu dieser Gelegenheit ein traumhaftes Kleid tragen und meine Blahniks, die ich dann ausziehen könnte, wenn wir ›total verrückt‹ in den nächsten Springbrunnen stiegen. L. würde mich verliebt ansehen und mir eine Strähne meines fluffigen, aber kraftvollen Haars aus dem Gesicht streifen. In der Realität sah mich L. verliebt an, während er mir den Pferdeschwanz hielt, damit der nicht ins Klo hing. Auch romantisch, aber anders.

Meiner Freundin Jana dämmerte während eines Einkaufs im Supermarkt, dass ihr Markus, der gerade verzweifelt versuchte, eine von diesen Obst- und Gemüsetüten aus dem Spender auseinanderzufalten, der Mann ihres Lebens war. Was folgte, war eine rührende Szene vor dem Kopfsalat. Auch Jana hatte sich diesen Moment anders vorgestellt. »Mit weniger Obst und Gemüse im Hintergrund«, sagt sie. Kurzum: Erkenntnisse kommen, wann sie wollen. Wie Pickel.

Das war bei der folgenden Erkenntnis nicht anders. Es war wieder so weit. Ich besuchte meine Oma im Altenheim. Sie ist die beste Oma der Welt. Sie ist klein und zart, wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. Wenn ich sie drücke, bin ich sehr vorsichtig, um ihr nicht aus Versehen das Rückgrat zu brechen. Sie freut sich sehr über meine Besuche und bereitet immer einen Kaffeetisch vor. Es muss sie viel Zeit und Kraft kosten, den Tisch zu decken und Kaffee zu kochen, aber wenn ich ihr am Ende meines Besuchs helfen will, wieder abzuräumen, lässt sie mich nicht. »So kann ich deinen Besuch noch ein bisschen nachschmecken«, sagt sie, und dann kullern ihr ein paar Tränchen aus den Augen, weil ich gehe, und mir kullern ein paar Tränchen aus den Augen, weil die Oma heult. So laufen meine Besuche normalerweise ab.

Als wir dieses Mal auf dem Oma-Sofa sitzen, sagt sie plötzlich: »Weißt du, Kind, ich habe heute in den Spiegel geschaut und ich sehe aus wie eine alte Frau.« (Sie ist 83.) Und noch bevor ich altklug darauf hinweisen kann, dass das in diesem Alter gar nicht so unwahrscheinlich ist, sagt sie: »Aber ich fühle mich gar nicht anders als früher! Ich fühle mich nicht alt.« Und dann sagt sie noch: »Nütz’ die Zeit, sie geht so schnell vorbei.«

Als ich mich verabschiede und nach unserem Traditionsheulerchen mit der Tram nach Hause fahre, kommt sie, die Erkenntnis. In der Tram, während sich im Gang neben mir ein paar Halbstarke Halbsätze zubrüllen, die alle mit »Ey« anfangen, ist sie plötzlich da. Sie kennen doch auch diesen Satz aus Kindertagen: »Wenn ich mal groß bin …« Das impliziert irgendwie die Vorstellung, es gäbe einen gewissen Zeitpunkt, ab dem alles anders ist. Man wäre irgendwann jemand anderes, jemand Großes, jemand, der sich so viel Gummibärchen kaufen kann, wie er will, und auch über die Bettgehzeit selbst entscheiden darf. So groß! Meine Vorstellung davon, wann genau es so weit sein würde, war als Fünfjährige verschwommen. Vielleicht, wenn ich endlich in die Schule käme. Aber nein. Es stellte sich heraus, dass man noch nicht groß war, wenn man statt einem Kindergartenkind ein Schulkind war, obwohl einem im Kindergarten die Schulkinder wie die coolsten Typen der Welt vorgekommen waren. Und das ging immer weiter so. Groß genug war man irgendwie nie. Mit den Jahren veränderte sich nur die Vorstellung davon, was wäre, wenn man dann groß wäre. Und es änderte sich auch die Vorstellung, was groß überhaupt ist: In der Pubertät dachte ich, wenn ich groß wäre, müsste doch dieses Gehangel und Dahingewurstel und diese Unsicherheit und dieses Schwierige vorbei sein. Ich würde wissen, wie der Hase läuft, und das Leben, das zweifelsohne für mich etwas ganz Spezielles in petto hätte, könnte endlich beginnen. Ich wäre vermutlich groß, wenn ich:

Schließlich konnte ich Auto fahren und Überweisungsformulare ausfüllen und es änderte sich überhaupt nichts. Das soll nicht heißen, dass ich in meiner Entwicklung stehen blieb, zum Glück, aber ich fühlte mich kein bisschen anders. Alles war immer noch schwierig und undurchsichtig. Ich war immer noch ich. »Überraschung«, werden Sie jetzt vielleicht sagen und mit den Augen rollen.

In dem Moment, als meine Oma sagt, sie habe im Spiegel eine alte Frau gesehen, fühle sich aber gar nicht so, verstehe ich, dass »Wenn ich groß bin« nicht kommen wird. Es gibt keine Haltestelle in meinem Leben, die »Sie sind jetzt groß« heißt. Es wird weitergewurstelt und die Tage vergehen, bis ich auch einmal vor dem Spiegel stehe und mir denke: Ich sehe aus wie eine alte Frau.

Es ist ein großer Unterschied, ob man etwas versteht oder fühlt. Als ich mit 6 Jahren meinen Hamster beerdigen musste, lernte ich, dass alles Leben vergeht und dass aller Wahrscheinlichkeit nach meine Eltern und vielleicht sogar ich irgendwann sterben müssen. Das habe ich verstanden. Aber auf meiner Heimfahrt in der Tram fühle ich es zum ersten Mal. Ohne den Verkehrsbetrieben da irgendeinen Vorwurf machen zu wollen.

Das jagt mir einen mordsmäßigen Schreck ein und ich erinnere mich an all die Filme und Bücher, in denen jemand von einer hammermäßig tödlichen Krankheit erfährt, um dann in der verbleibenden Zeit endlich was aus seinem Leben zu machen. Am Ende wird gestorben oder alles war ein Irrtum. So oder so, ich finde diesen Stoff überstrapaziert. Ich will trotz meiner Erleuchtung nicht alles stehen und liegen lassen, um drehbuchartig ans Meer zu fahren, einmal einen Berg zu besteigen, an einer Orgie teilzunehmen, oder was den Leuten sonst so einfällt, was sie in ihrem Leben verpasst haben. Nein. Ich habe die einmalige Gelegenheit, mein Leben vor der schockierenden Diagnose zu ändern. Ich möchte, wenn einmal der Sensenmann kommt, nicht sagen: »Wie, jetzt schon?« Ich möchte sagen: »Schön war’s!« Wenn ich mir meinen Alltag so ansehe, bin ich viel zu oft nur damit beschäftigt, gleichzeitig Job, Beziehung, die Buntwäsche, die Oma und den ganzen Rest unter einen Hut zu bekommen. Das kann doch nicht alles gewesen sein!

Mein Entschluss steht fest: Ich will aus meinem Leben das Größtmögliche herausholen. Ich will größt-glücklich-möglich sein.

Und zwar ab: Jetzt.

Es heißt immer und überall, Glück sei erlernbar. Da bin ich ja mal gespannt. Es hieß in der Schule auch, Latein sei erlernbar, und ich weiß, das ist es definitiv nicht. Kann man in Glück durchfallen? Und was heißt erlernbar? Muss ich vier Mal am Tag sagen: »Das Leben ist schön, ich fühle mich gut«, und dann bin ich schon glücklich? Oder wie geht das? Ich werde es herausfinden. Die gute Nachricht für Sie: Sie müssen sich nicht alle Ratgeber kaufen, die einem beibringen sollen, wie man glücklich wird. Das habe ich nämlich schon gemacht.

Wenn man sich so umsieht auf dem Glücksmarktplatz, dann verliert man schnell den Überblick. Jede Menge Tipps à la »Akzeptiere dich selbst«, und wenn ich noch einmal diese Parabel vom griechischen Fischer am Strand höre, übergebe ich mich aus dem Stand. Sie wissen schon, die hier:

Ein reicher Industrieller macht Urlaub in einem südlichen Land und sieht schon am Vormittag einen einheimischen Fischer ruhend unter einem schattigen Baum:

»Warum sind Sie nicht auf dem Meer beim Fischen?«

»Ich war schon draußen.«

»Warum fahren Sie nicht nochmals?«

»Warum sollte ich?«

»Damit Sie mehr Fische und mehr Geld bekommen!«

»Warum sollte ich?«

»Damit Sie sich ein weiteres Boot anschaffen können und Leute bezahlen, die Sie beim Fischfang unterstützen!«

»Warum sollte ich?«

»Damit Sie Ihre eigene Fischverwertung gründen können und höhere Gewinne erzielen!«

»Warum sollte ich?«

»Damit Sie irgendeinmal nicht mehr selbst so viel arbeiten müssen und das Leben genießen können!«

»Aber das mache ich doch bereits …«

Nachdenklich ging der reiche Mann weiter.

Yeah. Das ist, wie wenn einen Hermann Hesse mit einem nassen Batikhandtuch erschlägt. Nein, nein, ich bin da pragmatisch, was mein Glück angeht. Ich mache einen Plan, nämlich:

Das GlücksPROJEKT:

Sport muss sein

Ich hasse Sport. Na, obwohl, das stimmt nicht ganz. Ich hasse Anstrengung. Die einzige Sportart, die mir mal gut gefallen hat, war Reiten. Da kann man sich nämlich tragen lassen. Leider ist das aber ein Punkt, bei dem sich alle Glücksexperten einig sind: Sport muss sein. Und drei Bahnen im Schwimmbad ziehen und anschließend zwei Stunden saunieren, das zählt leider nicht. Ich werde eine Sportart finden. Das wird lustig. Mehr für Sie als für mich.

Tiere machen glücklich

Tiere machen glücklich, heißt es. Ich probiere es mit einem Hund.

Der buddhistische Weg zum Glück

Ich werde mir keine bunten Gebetsfahnen in den Garten hängen. Mit fünf konkreten Übungen mache ich mich auf den Weg zur Erleuchtung.

Psychotricks

Ich werde eine Liste mit Tipps und Tricks abarbeiten, die mir angeblich ein Dauergrinsen aufs Gesicht zaubern. Mit dabei:

  1. Lächeln, lächeln, lächeln
  2. Glückstagebuch schreiben
  3. Großzügig sein
  4. Die kleinen Dinge genießen

Ich bin dann mal wallfahren

Ich werde wallfahren. Warum? Das Schweizer Monatsmagazin Das Magazin hat es mir geraten: »Weil Sie unbedingt Ihr Ego auf Normalmaß bringen müssen. Körper und Seele leiden, wenn man nicht ab und zu vor etwas Größerem niederkniet als sich selbst.« Dem stimme ich voll und ganz zu. Die klassischen Wallfahrtsorte und Wege haben jedoch an Bedeutung verloren, auf dem Jakobsweg trifft man lauter Schwaben und haben Sie schon einmal die Pilger in Lourdes gesehen? Die haben richtig einen an der Klatsche. Nein, ich reise an einen Ort, der es tatsächlich mit meinem Ego aufnehmen kann: zum letzten Weltwunder der Antike. Den Pyramiden von Gizeh.

Die Zufriedenheit und ich

Eine große Nummer unter den Glücksbringern. Ohne Zufriedenheit wird das nichts mit dem Glück. Ich habe einen Zufriedenheitsplan aufgestellt, der mir in vier Schritten mehr davon bescheren soll.

  1. Ein paar längst überfällige Dinge erledigen
  2. Mich ruhig mit anderen vergleichen, die haben es nämlich auch nicht besser
  3. Nicht ständig schwarzsehen
  4. Mit dem Fingernägelkauen aufhören

Bestellung beim Universum

Ich gebe eine Bestellung auf. Dabei hilft mir meine Esoterik-Freundin Anne.

Geld macht nicht glücklich

Aber man kann sich mit Geld eine Menge Dinge kaufen, die glücklich machen. Ich teste, wie glücklich es wirklich macht,

Das Lachyoga-Seminar

Vom Lachen wird man glücklich. Sagt der Gründer der ersten Münchner Lachschule und Lachyoga-Therapeut Christoph Emmelmann. Er unterrichtet die Mischung aus Yoga und Lach-übungen, die von dem berühmten indischen Arzt Madan Kataria entwickelt wurden und die auf den ersten Blick etwas, sagen wir, gewöhnungsbedürftig erscheinen.

Ich werde sein Seminar besuchen und zusammen mit 13 anderen Erwachsenen grundlos giggeln und prusten, kichern und wiehern. Wir werden gackernd wie Hühner im Kreis laufen und uns johlend auf dem Boden wälzen. Mir ist jetzt schon schlecht.

Freunde und andere Herausforderungen

Freunde machen glücklich. Was aber, wenn Freunde unglücklich machen? Da gibt es welche, die kennt man schon ewig und irgendwie bringen sie einen immer in schlechte Stimmung. So wie Kathrin, und die muss jetzt gehen. So schwer es ist. Von den Leuten, die man super findet, gibt es andererseits viel zu wenige. Das war doch einmal anders? Ich aktiviere nach einem Vierteljahrhundert zwei alte Freundschaften und stelle mich der Aufgabe: Finde mindestens eine neue Freundin.

Die Suche nach dem Sinn

Sinn macht froh. Wer sinnvolle Dinge tut und anderen hilft, gewinnt an Lebensfreude und Glück. Wie ich mich um süße Waisenkinder kümmern will und stattdessen einen unwirschen Onkel bekomme.

Der Trick mit dem Kleiderschrank

Was das Ausmisten eines Kleiderschranks mit meinem Glück zu tun hat.

Freizeit

Mehr Spaß in der Freizeit: Was macht mir wirklich Spaß? Was hat mir früher Spaß gemacht und funktioniert das noch? Mein Weg zum Hobby durch Ausschlussverfahren. Wie man eins findet, auch wenn man schlecht malt, bastelt, töpfert und singt.

Liebe

Liebe gehört zum Glück wie das A- zum B-Hörnchen. Einen Liebsten habe ich schon, jetzt wird die Beziehung gepimpt. Ich starte mit meinem Höllentrip »Nicht immer recht haben müssen« und lerne dann noch zu loben. Außerdem bringe ich Ihnen das Konzept von Döff-Tagen näher.

Mehr Glück in der Arbeit

Arbeit nimmt einen großen Teil unserer Zeit in Anspruch, sie kann glücklich machen und unglücklich, sie kann eine Quelle echter Selbstbestätigung sein oder einem das Leben vermiesen. Ich werde meine Arbeitswelt optimieren, ich werde effektiver, kreativer und lauter so Zeug. Hier mein Drei-Punkte-Plan:

  1. Wo kriege ich flow her?
  2. Nein sagen
  3. Ein neues Ziel

Es geht los.

Sport muss sein

Ich hasse Sport. Ab und zu Federball spielen im Sommer ist in Ordnung, aber nur, wenn mein Gegenüber den Ball nicht zu weit weg schlägt. Ansonsten akzeptiere ich noch Schlittenfahren und Skifahren. Auf irgendwas den Berg runterzurutschen, kommt meinem Verständnis von Bewegung recht nahe. Das war’s schon, damit ist das Thema Sport für mich abgehakt. L. hingegen ist ein Läufer. Er läuft sogar hin und wieder bei einem Marathon mit. Als ich da einmal als Zuschauerin am Straßenrand stand, mit einem Alupäckchen voll Astronautennahrung in der Hand, fiel mir auf, dass die Leute am Straßenrand wesentlich glücklicher aussahen als die armen Würste auf der Straße. Kunststück, dachte ich, die müssen ja auch keine 42,195 Kilometer rennen.

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich zähle mich nicht zu dieser Gruppe, die sich den Ranzen hält und »Sport ist Mord« plärrt. Aber jedes Mal, wenn ich in einer Zeitschrift lese, dass man auch mit 70 durch Sport noch erhebliche Verbesserungen des Herz-Kreislaufs erreichen kann, denke ich mir: Prima! Das mach ich dann. Bis dahin beschäftige ich mich mit anderen schönen Sachen.

Für mein Projekt Glück kann ich auf Sport jedoch nicht verzichten. Ich weiß, dass Sport einer von den Guten ist. Sport stärkt Geist und Seele, dient zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Krankheiten sowie Krebs, Sport optimiert den Stoffwechsel und kann Rückfälle in der Infarkt- und Tumortherapie verhindern. Sport ist wie ein Tritt in den Hintern für die Regionen unseres Gehirns, die für das Glück zuständig sind.

Und das Beste: Man wird knackig davon. Viele Sportler berichten von grandiosen Glücksgefühlen bei höchster körperlicher Anstrengung. Die Glücksgefühle hätte ich auch gerne, aber die gibt es erst bei Belastungen bis zur Schmerzgrenze, wenn man zum Beispiel 20 Kilometer gelaufen ist. (Zu Fuß!) Dann hält der Körper die Glücksgefühle als eine Art Schmerzmittel bereit. Angeblich ist das bei Geburten genauso: Da erleben Frauen intensive Schmerzsituationen, die sie anschließend als nicht so extrem empfinden, weil Endorphine ausgeschüttet werden.

Ich glaube, das hat ein Mann erfunden. Die Mütter, die ich kenne, sagen heute noch, dass das so schlimm war wie einen Ziegelstein quer zu sch…

Die Sache mit den Endorphinen gefällt mir zwar, aber vielleicht kann man das vereinfachen und sich ordentlich verkloppen lassen. Das tut auch weh, da kann der Körper ebenfalls Schmerzmittel herstellen. Sie merken vielleicht, ich nehme die Sache nicht allzu ernst. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich in meiner Vorstellung von Glück mit einer Decke und einem Buch auf der Couch liege. Wenn möglich, mit etwas Nougatschokolade in der Nähe. Ich habe es trotzdem ausprobiert. Das Laufen habe ich sogar schon mehrmals ausprobiert. Nicht nur, weil ich weiß, dass es mir guttäte, sondern weil ich mich gerne einmal wie eine von diesen Yogurette-Frauen fühlen würde. Hübsch, gut gelaunt, braune Oberschenkel und kein Schweißfleck auf dem T-Shirt. Ich wette, zu Hause wartet der Mann aus der Lätta-Werbung in dem Loft aus dem Jacobs-Krönung-Spot. Vielleicht sehe ich zu viel fern. Aber ich stelle mir vor, wenn ich nur endlich durch den Park joggte, würde ich auch ein bisschen hübscher, besser gelaunt, bekäme braunere Oberschenkel und hätte keinen Fleck auf dem T-Shirt. Vielleicht würde meine Wohnung auch endlich mehr wie das Loft aus dem Jacobs-Krönung-Spot aussehen und weniger wie unter Hempels Sofa. Und L. würde ein bisschen mehr wie …

Ich habe es jedenfalls probiert, das Joggen. Das erste Problem tauchte noch in der Wohnung auf. Wenn man keine Sportskanone ist, so wie ich, hat man zwar eine Jogginghose, aber das ist nicht unbedingt ein Kleidungsstück, mit dem man auf die Straße gehen kann, ohne dass einen fremde Leute mit Almosen bewerfen. Das sind diese Art Hosen, die an den Knien so ausgebeult sind, dass man da Sachen drin aufbewahren könnte. Melonen zum Beispiel. Die Hosen, die der neue Freund erst zu sehen bekommt, wenn drei Jahre ins Land gegangen sind. Da denkt man sich dann: Wenn er es bis jetzt ausgehalten hat, dann verträgt er das. Eine Ironie, dass so was Jogginghose heißt. Die Jogginghosen, die ich tatsächlich auf der Straße rumlaufen sehe, sind hauteng, gehen bis zur Hälfte der Waden und bestehen aus so einem Nasa-Stretch-Teflon-Material, das Wasser nur rein, aber nicht mehr raus lässt. Oder umgekehrt.

Mit meiner Kniebeulen-Jogginghose und meinen alten Turnschuhen bin ich also eines schönen Sonntags losgelaufen. Die komplette Straße runter, bis zur nächsten Kreuzung. Während dieser 20 Meter rutschte die Hose bei jedem Hüpfer ein kleines Stückchen weiter nach unten. Ich sage nur: Leierbündchen. Und zu joggen und gleichzeitig mit beiden Händen die Hose vom Rutschen abzuhalten, sieht wirklich, wirklich unelegant aus. Ich drehte also um und ging nach Hause. Im Schritttempo. Was genauso unangenehm war, denn jetzt, wo ich nicht mehr lief, war ich keine Joggerin mehr, sondern eine verschwitzte Frau mit Pferdeschwanz, die in ihrer alten Jogginghose spazieren ging. Hat nur noch die offene Flasche Bier gefehlt.

Bei meinem nächsten Versuch war ich besser ausgerüstet. Damit hier nicht der Eindruck von Hudelei entsteht: Zwischen den Versuchen lagen drei Jahre.

Ich hatte dieses Mal richtige Turnschuhe gekauft, in einem Laden, in dem meine Fußdaten gespeichert wurden. Und eine von diesen engen dreiviertellangen Jogginghosen hatte ich auch. Ich bereitete mich auf diesen Versuch außerdem vor, indem ich einen Ratgeber kaufte: Laufen lernen. Ich habe viele Ratgeber. Ich habe dann das Gefühl, ich müsste die gar nicht mehr lesen, sondern allein der Akt des Kaufens sei schon die halbe Miete.

Ich blätterte meinen neuen Laufratgeber durch und da gab es eine Sache, auf die er wirklich Wert legte: unbedingt mit Pulsmesser laufen. Ohne Pulsmesser zu laufen, ist praktisch der Tod. Ein Pulsmesser besteht aus zwei Teilen. Teil eins ist eine hässliche kleine Digitaluhr, die man sich ums Handgelenk schnallt und die piepst, wenn man sich zu sehr anstrengt. Teil zwei ist ein Gummiband mit einem Nöppel, das man sich um den Brustkorb schnallt. Das hat mich sofort genervt. Da willst du Sport machen und das Gummiband sagt dir vorher: »Der Bleistifttest fiel auch schon einmal besser aus, mein Fräulein.«

Ich hätte nicht gedacht, dass ich den Alarm auslösen würde, ich bin jetzt nicht gerade der Roadrunner – aber er ging doch los. Und zwar noch bevor ich aus der Tür war! Diese Pulsmesser sind auf so niedrigen Maximalpuls eingestellt, dass man direkt beim Schuhezubinden anfängt zu piepen. Damit will der Pulsmesser erreichen, dass ich gaaanz langsam laufe. Langsamer als langsam. So langsam, wie Sie es sich nur vorstellen können. Es war kein sportliches Erlebnis. Nur so viel: Ich wurde von Laub überholt. Und von einem Bobby-Car. Seit diesem Erlebnis liegt der Pulsmesser zusammen mit den Turnschuhen und der Laufhose in einer Tüte ganz oben ganz hinten im letzten Schrankfach. Da, wo die Jeans liegt, die mir das letzte Mal in den Achtzigerjahren gepasst hat.

Was ich in Sachen Sport früher noch unternommen habe, war ein Besuch im Fitnessstudio. Meine Freundin Jana erklärte sich bereit mitzukommen, zu zweit, hieß es, mache das ja viel mehr Spaß. Jana und ich suchten ein Studio aus, das erst kurz zuvor aufgemacht hatte. Es hieß M.I.S.S. Fitness. Ich hatte im Vorbeigehen immer M.I.S.T. Fitness gelesen und dem Unternehmen einen trockenen Humor unterstellt. Ich wurde eines Besseren belehrt. Fitnessstudios sind nicht lustig. Jana und ich standen an der Rezeption, wo uns eine entnervend gut gelaunte Yogurette-Frau musterte und dann in ein Mikro auf ihrem Tresen sagte: »Mike, bitte zum Empfang, Mike, bitte zum Empfang.« Jana und ich sahen uns an. Ob sie den Rausschmeißer gerufen hatte? Mike war aber nur der Trainer, der uns das Studio zeigen sollte. Können Sie sich an Spike erinnern? Diesen bulligen Hund aus Tom und Jerry? Der mit dem Dornenhalsband? So sah Mike aus, nur mit einem Muskelshirt und ohne Dornenhalsband. Im Geräteraum erklärte er Dinge, die ich sofort wieder vergaß, wahrscheinlich deswegen, weil ich Mike die ganze Zeit beobachten musste, während er sich heimlich selbst in der Spiegelwand Blicke zuwarf. Dann zeigte er uns einen verglasten Raum, in dem ein Dutzend Erwachsener immer wieder auf kleine Schemel stieg, die vor ihnen auf dem Boden standen. »Step«, erklärte Mike. Anschließend sahen wir noch die Fitness-Fun-Bar, die Reklame für Getränke in Neonfarben machte und an der ein einsamer Fitness-Fun-Gast ein Pils trank. Nach dem Rundgang fragte Mike-Spike uns, was unsere Ziele seien.

Ich war das so gewohnt von meinem Vater zu Hause, dass ich sofort aufsagte: »Spitzenjob mit Herausforderung, große Liebe finden, Hund anschaffen.« Jana sagte: »Fünf Kilo abnehmen.« Mike sah mich an, als hätte ich ausgeholt, um einen Ball zu werfen, und ihn dann hinter meinem Rücken versteckt. Er schüttelte sich und drehte sich zu Jana. Dann deutete er auf ihre nackten
T-Shirt-Arme und sage: »Und etwas Gerätetraining für die schlaffen Oberarme vielleicht.«

Als wir wieder auf der Straße waren, walkte und knetete Jana nach Kräften an ihren Oberarmen herum. »Schlaff also«, sagte sie und winkte probehalber mit dem Arm, um zu sehen, ob sich etwas bewegte. Und dann: »Ich glaube, ich möchte da nicht mehr hingehen.«
»Der meint das nicht so wertend, wie sich das anhört, seine Sichtweise ist eher so wie die eines Arztes«, versuchte ich abzuschwächen, aber Jana ließ sich nicht beruhigen: »Ich weiß nicht, wie deine Ärzte aussehen, aber die Ärzte, zu denen ich gehe, sehen ganz, ganz anders aus.« Da hatte sie natürlich recht. Und man lässt sich nicht gerne von irgendeiner Bulldogge die eigenen Problemzonen erklären.

Nach der Pleite mit dem Fitnessstudio machte ich um organisierten Sport einen großen Bogen und kaufte mir zusammen mit der Restbevölkerung Inlineskates. Ich stopselte am Wochenende mit ihnen im Park herum und ärgerte mich, dass mir nicht vorher aufgefallen war, dass es sich bei den meisten Parkwegen um Kieswege handelt. Im Robocop-Stil, mit Knieschützern und Helm, leicht nach vorne gebeugt und mit rudernden Armen, strumpelte ich über den Kies. Auf dem Bürgersteig blieb ich, einmal angeschoben, möglichst lang in starrer Abfahrtshaltung, um nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen. Auch wenn ich mich in Sachen Geschwindigkeit gegenüber dem Laub nicht wesentlich verbessern konnte. Sie erinnern sich an die Haltemanöver von Inlineskatern, indem sie an einer Ampel den Arm rausstrecken und sich dann um den Mast der Ampel wickeln? Das war ich.

Ich konnte meinen Stil zwar verbessern, aber es wurde nie zu diesem leichten Dahingleiten, das mir vorschwebte. Die Yogurette-Fraktion hingegen konnte sogar rückwärts laufen.

Als Jana mir daraufhin einen Yogakurs vorschlug, schmiss ich dankbar die Inlineskates in die Ecke und sagte freudig zu. In meiner Vorstellung sah ich uns schon gazellenartig auf einem Bein stehen, gelassen und strahlend schön würden wir langsame, elegante Bewegungen in einem Loft mit Blick über die Stadt ausführen. In der Realität kniete ich auf einer dünnen Schaumstoffmatte in einem Raum, der nach Schweiß und Räucherstäbchen roch, und unterdrückte nach Kräften einen Furz. Kennen Sie diese Stellung aus dem Sonnengruß, in der man mit durchgestreckten Beinen die Hände auf den Boden legt?

Sonnengruss.tif

Also wenn Ihnen mal einer quer sitzt, kann ich das nur empfehlen.

Was ich unlängst versucht habe, ist Schwimmen. Schwimmen gehört zu den gesündesten Sportarten überhaupt. Man verhebt sich nicht, man fällt nicht auf die Nase und man belastet die Gelenke nicht. Da Wasser eine höhere Dichte hat als Luft, müssen wir mehr Energie aufwenden, um uns zu bewegen. Noch besser wäre es, in Wackelpudding oder in Mousse au Chocolat zu schwimmen. Man kann brust- oder rückenschwimmen, den Delfin geben oder kraulen. Selbst wenn man nur planscht, nennt man das einfach Aquajogging, und das ist immer noch sportlich. Ein großer Vorteil im Wasser: Es klebt einem nie ein verschwitztes T-Shirt am Körper, das man nach dem Training in seiner Sporttasche vergisst. Ich kaufte mir gleich eine Monatskarte mit dem Vorsatz, jede Woche mindestens drei bis vier Mal zu schwimmen. 1000 Meter. Mindestens. Tatsächlich schwamm ich schon bald nur noch ein paar Bahnen, und zwar quer, um mir dann im Jacuzzi die Orangenhaut wegblubbern zu lassen. Anschließend setzte ich mich in die Sauna und ließ dort die Haarkur einwirken. Das war zwar sehr schön, hatte aber mit Sport nicht viel zu tun. Schlimmer noch: Ich saß irgendwann mit der Haarkur und einem schlechten Gewissen in der Sauna, die nicht geschwommenen Meter drängten sich auch noch mit rein, und dann war zu wenig Platz für uns alle und ich kam nie wieder.

Das Projekt Glück erfordert einen neuen Anlauf. Nur wo die Reise hingehen soll, ist mir noch nicht ganz klar. Welcher Sport macht tatsächlich glücklich, und sind sportliche Menschen glücklich? In Deutschland laufen rund 17 Millionen Leute, das sind 26 Prozent der Bevölkerung – sind sie glücklicher als die anderen? Ich muss an meine Freundin Miriam denken, die jede Woche 100 Kilometer rennt und inzwischen eine Figur hat wie ein zwölfjähriger Junge. Leider sehe ich sie nicht oft, weil sie nicht viel Zeit hat neben ihrem Job und dem Rennen. Abends ist sie kaputt, weil sie meistens schon um halb sechs aufsteht, damit sie vor der Arbeit noch 20 Kilometer schafft. Mit zum Tanzen geht sie auch nicht mehr, wegen ihrer Knie, und ein Glas in einer Kneipe zu trinken, ist auch nicht mehr ihr Ding. Sie ist jetzt mit Leuten aus ihrem Lauftreff befreundet. Ich bin da einmal mitgekommen und habe eine Flasche Wein mitgebracht – die ich dann alleine getrunken habe. Es wurde über Trainingspläne und Zeitmess-Chips gesprochen und über Schuhe. Schuhe, dachte ich, das ist ja super, da kann ich mitreden. Denkste. »Sieht so Glück aus?«, fragte ich mich, als ich Miriam beobachtete, die vor ihrem Glas laktosefreiem Mineralwasser oder etwas in der Art saß und über ihre anaeroben Schwellen redete.

Ich denke auch an Sandra, den größten Pilates-Fan, den ich kenne. Seit acht Jahren ist sie dabei. Währenddessen hat sie drei beeindruckende Jojo-Effekte hingelegt, eine Depression bekommen und wurde von ihrem Freund verlassen. Jetzt ist sie außer in Pilates auch noch in einer Selbsthilfegruppe, und so stelle ich mir Glück wahrlich nicht vor.

Und dann ist da noch Stefan, der seit Jahren im Verein Volleyball spielt. Er lud mich ein, mitzukommen. Zuerst lernte ich die anderen vom Verein kennen, beim Griechen um die Ecke von der Turnhalle, wo sich alle mit Bieren und der Platonplatte die verbrauchten Kalorien wieder draufschafften. Stefan erklärte mir später, wer von den Spielern blöd, nett oder langweilig war, und auf meine Frage, warum er sich mit blöden und langweiligen Leuten treffe, antwortete er: »Die sind halt im Verein.« Was passieren würde, wenn ich jetzt nach dem Spiel nicht zum Griechen um die Ecke wolle? »Nee, das ginge nicht«, sagte Stefan. »Das ist schließlich Tradition.« Für Stefan trägt sein Volleyballverein wohl zu seinem Glück bei, aber für mich ist das nichts.

Wen kenne ich noch, der Sport macht? Paula! Natürlich. Paula macht alles. Sie ist Mitglied im teuersten und modernsten Fitnessclub der Stadt. Sie ist permanente Teilnehmerin aller Power-Yoga-, Bikram-Yoga- und Aerobic-Kurse des Clubs, zumindest theoretisch. Sie zahlt nämlich nur die (horrenden) Gebühren, geht aber höchstens zweimal im Jahr hin. Und dann legt sie sich nur auf die Sonnenbank. Das könnte sie billiger haben, finde ich, aber Paula sieht das anders: »Ich fühle mich gut so. Ich weiß natürlich, dass es nichts bringt, nur angemeldet zu sein, aber so habe ich das Gefühl, etwas zu tun – ich könnte ja schließlich jederzeit hingehen. Ich zahle einen, wie ich finde, angemessenen Betrag dafür, dass mein Gewissen beruhigt wird.« Das kann man jetzt finden, wie man will, aber Paula gehört von den Menschen, die ich kenne, auf jeden Fall zu den glücklicheren.

Und jetzt? Unglücklich hole ich die Tüte mit den Laufsachen vom Schrank, und aus dem Augenwinkel sehe ich einen Schweinehund, der sich schon wieder siegessicher ins Fäustchen lacht. L. findet mich an diesem Tag auf dem Bett sitzend, Laufschuhe und Laufhose vor mir auf dem Boden ausgebreitet. »So schlimm?«, fragt er. Ich nicke mit dem Kopf.

»Gibt es denn gar nichts, das du gerne machst?«

»Doch«, antworte ich, und das ist ein bisschen unangenehm zu sagen: »Ich gehe gern spazieren.« L. sieht mich an und zuckt mit den Schultern. »Na, ist doch prima!« Prima?! Ich stelle mir vor, wie mir ein Marathonläufer erzählt, wie er es geschafft hat, die 42 Kilometer zu rennen. Ich könnte dann so etwas sagen wie: »Ja, ich war heute auch ganz schön weit – was? Lustwandeln?«

Vielleicht ist das meine erste Lektion: Vergleiche dich nicht immer mit der Yogurette-Fraktion. Das nimmt mir den ganzen Spaß am Spazieren, weil ich mir denke: Eigentlich müsste ich laufen. Aber Herr Hirschhausen hat recht, wenn er sagt: Was nützt es schon, wenn irgendwann auf deinem Grabstein steht: Sie hat regelmäßig Sport getrieben und es gehasst.

»Gehen ist sogar olympische Disziplin!«, weiß L., und da fallen sie mir wieder ein, die lustigen Gestalten, die ganz schnell gehen und dabei so tuntig mit den Armen wackeln. So schon mal nicht! Ich will einfach stramm marschieren. Angeblich ist es ein guter Einstieg, 20 Minuten am Tag stramm zu marschieren. Das pumpt das Zehnfache an Sauerstoff ins Blut, Stress wird abgebaut, die Durchblutung wird gefördert und in meinem Fall habe ich noch den Eindruck, mein Gehirn wird gelüftet. Die besten Ideen kommen mir beim Gehen – und es macht Spaß. Und Spaß ist der einzige Grund, warum man gewillt ist, eine körperliche Anstrengung auszuhalten. Sex hätte man auch nicht, wenn es nur gesund wäre, darum hat die Natur es so eingerichtet, dass er Spaß macht.

Um meinen täglichen Marsch in den Alltag zu integrieren, muss ich etwas verändern: Ich gehe nun morgens zu Fuß in die Arbeit, statt mit dem Bus zu fahren. Und zwar im Stechschritt. Das hat den Effekt, dass ich hellwach und gut gelaunt in der Arbeit ankomme, anstatt müde, zerknautscht und schlecht gelaunt, weil mich die Halbstarken im Bus so nerven. Ich muss nicht mehr erst das System hochfahren, ich laufe bereits auf Hochtouren im Büro ein. Und das Beste ist, dass ich Gefallen daran finde. Auch bei schlechtem Wetter. Denn trotz schlechtem Wetter bricht der Tag an, trotzdem steht der Lieferwagen mit frischem Gemüse vor dem Eckladen und der Fahrer pfeift beim Ausladen. Die Erstklässler stehen an der roten Ampel, und weil sie nicht stillhalten können, hüpfen ihre knallbunten Schulranzen immer auf und ab. Es riecht nach Croissants und frischen Brötchen aus der Bäckerei, in der die Verkäuferin mit den Händen über ihre blitzend weiße Schürze streicht. Mich überkommt dabei fast ein Gefühl von Gemeinschaft: Wir fangen den Tag an, jedem wird er etwas anderes bringen, aber den Start haben wir alle gemeinsam. Ich bin morgens schon gut gelaunt. Unfassbar.

»Was ist denn mit dir los in letzter Zeit?«, fragt meine Kollegin Frau Drösel und ich kann nicht fassen, dass der kleine Spaziergang mich so verändert, dass sogar andere es bemerken. Zumindest morgens.

Zu Beginn nehme ich mir vor, im Winter, wenn es noch dunkel ist und eisig kalt, mit dem Bus zu fahren. Als es dann Winter wird, bleibe ich trotzdem beim Fußmarsch. Auch wenn Schnee, Matsch oder Eis meinen Weg erschweren, ist es immer noch um einiges schöner, die bunten Regenschirme auf der Straße tanzen zu sehen und die kalte Luft in die Lungen zu ziehen, als im dampfenden Bus die Schnupfennase der Frau hinter mir im Nacken zu haben. Obwohl mein morgendlicher Gang keine große Anstrengung darstellt, gibt er mir doch das Gefühl, etwas für mich zu tun, worauf ich stolz bin. Das fühlt sich gut an. Und dieses gute Gefühl macht Lust auf mehr. Ich gehe jetzt oft am Wochenende oder abends noch eine Stunde raus. Weil es keine Pflicht ist, sondern Kür, mache ich es nur aus Spaß. Und schneller als Laub bin ich auch.