Vorwort

„Ziel der Erziehung ist und bleibt letztlich – wie auch immer begründet oder verbrämt – die Ein- und Anpassung der nachwachsenden Generation in das gesellschaftlich sanktionierte Normen- und Rollengefüge – bzw. positiver ausgedrückt: die Vermittlung von individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungen, vom Glückanspruch des Individuums und den materiellen und sozialen Gegebenheiten. In der Heilpädagogik wird dieses Problem noch verschärft durch die reduzierten Lebensbedingungen behinderter Menschen sowie ihr reduziertes Leistungsvermögen, zur gesellschaftlichen Reproduktion beizutragen. Dieser Widerspruch kann nun aber nicht einfach in einer Formel aufgelöst werden – so wie es in der Heilpädagogik mit dem selbstverständlich gewordenen Leitziel: ‚Selbstverwirklichung in sozialer Eingliederung‘ geschieht.“ (Jakobs 1997, 175)

Diese Formulierung Hajo Jakobs’ verweist auf die zentralen Fragen, die eine Ethik1 der Behindertenpädagogik gegenwärtig zu beantworten hat: Inwiefern lassen sich subjektive Bedürfnisse und gesellschaftliche Erwartungen miteinander in Beziehung setzen? Und wie sind menschliche Beziehungsverhältnisse zueinander zu beschreiben? Sind sie machtvolle Beziehungen, in denen jeder um seine Anerkennung und Integrität kämpft, wie es Axel Honneth ausbuchstabiert hat (vgl. Moser in diesem Band)? Oder sollten wir uns um das Etablieren fürsorgerischer Haltungen bemühen, die eine feministische philosophische Perspektive nahelegt, in der es um eine Care-Ethik, eine Ethik der Sorge geht, in der das Mitfühlen von besonderer Bedeutung ist? Und in der Verhältnisse zwischen den Menschen per se als asymmetrische angenommen werden (vgl. hierzu Conradi und Horsters ersten Beitrag in diesem Band)?

Und wer ist überhaupt dieser Andere, mein Gegenüber? Muss der Andere für eine Ethik der Behindertenpädagogik anthropologisch bestimmt werden oder ist der Weg der Anthropologie eine Sackgasse, weil hier immer schon Festschreibungen über Wesensmerkmale und Eigenschaften eines Menschen vorgenommen werden, die entweder unvollständig, fragwürdig oder gar sinnlos sind (vgl. hierzu die Beiträge um den Personbegriff in diesem Band von Quante und Schweikard sowie die Beiträge zur Anthropologie und Menschenwürde von Bohlken, Zirfas und Schaber)?

Und welche Aufgaben der Behindertenpädagogik hinzukommen, ist eine weitere Frage. Übernimmt sie die Rolle des Katalysators, des Übersetzers, des Stellvertreters? Dann setzt sie sich dem Vorwurf der Fremdbestimmung, des Paternalismus, der Verfügung über den anderen aus, wie Hans-Uwe Rösner pointiert formuliert hat:

„Die Heilpädagogik muss sich damit auseinandersetzen, dass sie mit einer bestimmten Art und Weise der Enthüllung des Anderen zusammenfällt. Von ihrem Beginn an ist sie von einer unüberwindbaren Allergie vor dem Anderen ergriffen. Sie will sich nicht eingestehen, dass diejenigen, denen man helfen möchte, nicht nur befreit, sondern durch den eigenen Diskurs stets auf eine Identität festgelegt werden. Insofern sollte die doppelte und paradoxe Aufgabe der Heilpädagogik darin bestehen, sich kritischer als bisher in der Funktion als machtvolles Medium zur Konstruktion von Behindertsein zu reflektieren und zugleich behinderte Menschen im Kampf gegen festlegende Identitätszuschreibungen zu unterstützen.“ (Rösner 2002, 23)

Daraus leitet sich für die Ethik einer Behindertenpädagogik die Forderung ab, gesellschaftliche Prozesse mit zu reflektieren, die Menschen mit Behinderungen bestimmte Identitäten und Orte in der historischen Entwicklung zugeschrieben haben (vgl. dazu die Einleitung).

Und wie steht es dann um Fragen der Gleichheit und der Gerechtigkeit? In welcher Hinsicht sind die Menschen überhaupt gleich und welche Merkmale müssen Beziehungen und Verhältnisse erfüllen, um als gerecht beschrieben zu werden (vgl. hierzu Bielefeldt und Liesen u. a. in diesem Band)?

Damit sind bereits die wesentlichen Felder eingekreist, die dieses Buch als Grundlage für eine Ethik der Behindertenpädagogik zur Diskussion stellt und die es nicht erlauben, alles unter einer einzigen Thematik abzuhandeln. Vielmehr zeigen die unterschiedlichen Texte eben auch die unterschiedlichen Perspektiven auf, die für eine Ethik der Behindertenpädagogik aus unserer Sicht unverzichtbar sind.

Neben diesen eher systematischen Fragen stehen aber auch ganz praktische im Vordergrund, wenn es um den Umgang mit Pränataler Diagnostik oder mit Syndromen des Verlustes kognitiver Kompetenzen geht, die eine ethische Verortung behindertenpädagogischen Handelns vor dem Hintergrund der oben angesprochenen Themen zweifelsfrei erforderlich machen (vgl. Horster Angewandte Ethik in diesem Band).

Literatur

Jakobs, H. (1997): Heilpädagogik zwischen Anthropologie und Ethik. Eine Grundlagenreflexion aus kritisch-theoretischer Sicht. Bern.

Rösner, H.-U. (2002): Jenseits normalisierender Anerkennung. Frankfurt am Main.

1 Der Begriff Ethik wird unterschiedlich verwendet und es ist eine Unsitte, dass in Büchern zur Ethik am Anfang nie geklärt wird, welche Begriffsbestimmung man verwendet. Verschiedentlich gebraucht man die Begriffe Moral und Ethik identisch, was daher rührt, dass das alt-griechische ‚ethos‘ in der Übersetzung Gewohnheit und Sitte bedeutet. Der Lateiner übersetzte mit ‚mos/moris‘, woher der Begriff der Moral kommt, der übersetzt ebenfalls Gewohnheit, Sitte oder Brauch bedeutet. In Abgrenzung von der Antike nimmt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eine Zweiteilung vor (vgl. AB V). Viele sind ihm gefolgt, wenn sie die Ethik nun als Frage nach dem guten und gelungenen Leben und die Moral als Frage nach den allgemeinen Regeln der Handlungskoordinierung ansprechen. Ethik ist demnach auf das Individuum bezogen. Mit Moral hingegen bezeichnet man die Regeln, die zwischen mindestens zwei Personen gelten. Die dritte Weise der Begriffsverwendung bedeutet, dass mit Ethik die akademische Moralphilosophie gemeint ist. Dieser dritten Version folgen wir hier.

1 Einleitung:
Ethische Argumentationen der Behindertenpädagogik – eine
Bestandsaufnahme

Vera Moser & Detlef Horster

1.1 Die Thematisierung ethischer Problemlagen in der Behindertenpädagogik in ihrer historischen Entwicklung

Die ethische Grundlegung der Behindertenpädagogik ist fast so alt wie das Fach selbst – dies soll anhand eines eher kursorischen Überblicks verdeutlicht werden.

Zunächst lässt sich feststellen, dass die erste wissenschaftliche Beschäftigung mit Phänomenen, die heute unter dem Etikett ‚Behinderung‘ firmieren, aus einem Interesse an methodischen Fragen im Kontext des Perfektibilisierungskonzepts der Aufklärung entstanden sind (vgl. Moser 1995; Tenorth 2006): Die Experimente des Taubstummenlehrers Jean Itard, gegründet auf den Vorstellungen des Sensualismus, sind hierfür geradezu symbolisch. In diesem Kontext war bis zu den Schriften Georgens’ und Deinhardts Heilpädagogik nahezu eine naturwissenschaftlich-experimentelle Frage. Dennoch waren dort bereits ethische Fragen eingelassen, wie die, an welchem Ort solche Fördermaßnahmen durchgeführt werden sollten – nicht nur Georgens und Deinhardt sprachen sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts für eine integrative Pädagogik aus, auch die sog. ‚Verallgemeinerungsbewegung‘ im Bereich der Taubstummenpädagogik forderte eine integrative Beschulung sog. ‚taubstummer‘ Kinder in den damaligen Volksschulen (vgl. auch Moser 1995). In diesem Sinne waren die ersten ethischen Fragestellungen im Bereich der Behindertenpädagogik eher mit Fragen des pädagogischen Settings und des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung befasst – Georgens und Deinhardt beispielsweise hielten die Behandlung behinderter Personen für eine immanent gesellschaftlich relevante Aufgabe, auch wenn die hier angeführten Argumente der sozialen wie biologischen ‚Entartung‘ durchaus ambivalent waren, wie Rösner (2002) anmerkt. ‚Entartung‘ bezeichnete das Zusammenspiel von sozialen Faktoren und deren Auswirkungen auf die Konstitution, das Temperament, die Sinne, den Charakter sowie die geistigen und moralischen Anlagen.

Durch den Einfluss des Protestantismus und im Speziellen des Pietismus traten um die Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt moralische Fragen mit Blick auf das Subjekt auf den Plan. So beklagte der Begründer der Inneren Mission, Johann Heinrich Wichern,

„wie groß der Verfall des kirchlichen und christlichen Lebens überall und auch unter uns geworden ist. Ursachen davon sind nicht die Einwanderungen reicher oder armer Flüchtlinge in unsere Stadt [...]. Die Ursache des Verfalls liegt tiefer; der Ueberdruß an Gottes Wort hatte Reich und Arm erfüllt, der Glaube war gewichen“ (Wichern 1845, 3 f.).

Mit der Thematik des Glaubensverfalls und schließlich der allgemeinen Verwahrlosung in Folge des Industrialisierungsprozesses wurde Behinderung wieder in die alttestamentarische Tradition der Strafe Gottes eingefügt und im – durchaus auch weltlichen – Paradigma der Selbstverschuldung ventiliert. Von hier aus sahen die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründeten christlichen Wohlfahrtsverbände (über ihre Legitimierung innerhalb des Subsidiaritätsprinzips hinaus) auch eine geeignete Strategie zur Sicherung des eigenen Machtanspruches angesichts eines allgemeinen Säkularisierungsprozesses. Das Argument war hier aber vor allem auch die Übernahme von pflegerischen Aufgaben für die sog. ‚Unheilbaren‘, die aus den Psychiatrien in öffentlicher Trägerschaft ausgegliedert wurden.

Unter dieser Entwicklung konnten die kirchlichen Verbände Institutionen der Behindertenhilfe mit ethischen Fragestellungen verbinden:

„Die religiöse Überhöhung der Behinderten bildet auch eine moralische Grundlage für ihre Anstaltsversorgung. Wird das gesellschaftliche Leben eines Behinderten auf ein gottgefälliges, stilles Dulden beschränkt, so kann dies am besten in einer Anstalt organisiert und gesichert werden“ (Fandrey 1990, 101).

Es ging einerseits um Nächstenliebe im Bereich der Anstaltspflege, zugleich aber auch um Aussonderung im Kontext anwachsender sozialdarwinistischer Argumente ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert: „Die Armen bräuchten sich nur ordentlich zusammenzureißen und nicht mehr so viel zu trinken, dann blieben sie nicht mehr arm und hätten keine behinderten Kinder“ (ebd.). Nicht nur die Gesellschaft sollte durch Anstaltsverwahrung entlastet werden, auch war die Frage des Verhinderns von Fortpflanzung durch strenge Geschlechtertrennung wie auch durch den Einsatz von Sterilisationen unhinterfragte soziale Praxis. Dass der Sozialdarwinismus dabei auch im Zentrum der Gesellschaft verankert war, zeigt das folgende Beispiel:

„Der Industrielle Friedrich Alfred Krupp finanziert im Jahr 1900 eine wissenschaftliche Preisaufgabe mit dem Thema ‚Was lernen wir aus den Principien der Descendenztheorie [Abstammungslehre] in bezug auf die innenpolitische Entwicklung der Völker?‘. Den ersten Preis unter allen Teilnehmern erhält der Arzt Wilhelm Schallmayer für seinen Aufsatz ‚Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker‘, der Heiratsverbote, Zwangsasylierung und Sterilisierung von ‚genetisch minderwertigen‘ Menschen empfiehlt“ (ebd., 104).

Die moralische Erziehung des Individuums, die, wie beschrieben, im Bereich der Verwahrlosung insbesondere von Johann Heinrich Wichern vorangetrieben wurde und im ausgehenden 19. Jahrhundert mit sozialdarwinistischen Argumenten angereichert wurde, entwickelte sich weiter innerhalb eines psychiatrisch ausgerichteten Konzepts der Kinderfehlerlehre, insbesondere in den Arbeiten von Strümpell, Koch, Trüper. Koch definierte in seinem 1891 erschienenen Buch „Die Psychopathischen Minderwertigkeiten“:

„Unter dem Ausdruck psychopathologische Minderwertigkeiten fasse ich alle, sei es angeborenen, sei es erworbenen, den Menschen in seinem Personenleben beeinflussenden psychischen Regelwidrigkeiten zusammen, welche auch in schlimmen Fällen noch keine Geisteskrankheiten darstellen, welche aber die damit beschwerten Personen auch im günstigsten Falle nicht als im Vollbesitze geistiger Normalität und Leistungsfähigkeit stehend erscheinen lassen“ (Koch 1891, 1).

Auf diese Weise erhielt die moralische Erziehung zentral auch Einzug in die Hilfsschulpädagogik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Die Hilfsschule als Institution, die für einen starken Professionalisierungsschub der Behindertenpädagogik insgesamt sorgte (vgl. auch Ellger-Rüttgardt 2008), entwickelte als eine Perspektive auf Behinderung am Konzept der Hilfsschulbedürftigkeit systematisch die Fragen der Besonderheit, der Gefährdung der Gesellschaft, der individuellen Verwahrlosung. „Die Lehre von den schwachsinnigen, halbidiotischen, nicht normalen Kindern diente der Begründung einer notwendigen Spezialisierung der Lehrer innerhalb des allgemeinen Schulwesens“ (Möckel 1976, 55). Pointierter:

„Ganz im Sinne erbbiologischer Überzeugungen interpretierten viele Hilfsschullehrer die Zugehörigkeit ihrer Schüler zu den armen Volksschichten nicht etwa als Auswirkung sozialer Ursachen, sondern argumentierten genau umgekehrt, indem sie eine mangelhafte geistige Veranlagung für soziales Elend verantwortlich machten“ (Ellger-Rüttgardt 2008, 138).

Als Dienst an der Gesellschaft wurden insbesondere die Argumente der individuellen Brauchbarmachung und der Entlastung der Volksschule vom 1898 gegründeten Verband der Hilfsschullehrer Deutschlands herausgestellt (vgl. Ellger-Rüttgardt 2008). Diese Thematiken standen im Gegensatz zu speziellen Methoden weiterhin im Vordergrund der professionellen Orientierung (vgl. Tenorth 2006). Insofern generierten Professionstugenden wie Geduld und Rücksichtnahme auf das kleinschrittige Lernen primäre Professionsmerkmale.

Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ausgearbeitete Konzeption des sog. ‚moralischen Schwachsinns‘ (‚moral insanity‘) im Kontext einer psychiatrisch orientierten Lehre diente der Heilpädagogik schließlich insgesamt als Vorbild, Behinderung aus pädagogischer Perspektive zu einem Moralproblem auszulegen (vgl. auch Moser 1998): Bruchlos bis in das Werk Paul Moors hinein war der gemeinsame kleinste Nenner der vielfältigen Erscheinungen, die heute unter dem Begriff ‚Behinderung‘ subsumiert werden, eine sog. ‚Seelenschwäche‘, die durch unzureichende Denktätigkeit, unzureichende Eindrücke aus der Umwelt durch Sinnesbeeinträchtigungen bzw. durch unzureichende Willensbildung aufgrund von Verwahrlosung entstanden sei (vgl. auch Moser 2009, 2010). Bei Paul Moor wird dies noch Mitte der 1960er Jahre im Anschluss an Hanselmann als Mangel an ‚innerem‘ und/oder ‚äußerem Halt‘ beschrieben. Die Tradition der Schweizer Heilpädagogik hat an dieser Thematisierung einer besonderen Beziehungsgestaltung mit den Moor-Schülern Haeberlin und Kobi bis in die Gegenwart festgehalten.

Die bis in die Nachkriegsära anhaltende unklare Positionierung der Heilpädagogik zwischen christlich-wohltätiger Tradition einerseits und medizinisch-psychiatrischen Bezügen andererseits zeigte sich paradigmatisch bereits bei der Besetzung der ersten heilpädagogischen Professur in deutschsprachigen Ländern, nämlich 1931 in der Schweiz durch Heinrich Hanselmann an der Universität Zürich: Es blieb in der Diskussion um die Einrichtung dieser Professur unklar, ob sie an der Medizinischen oder Philosophischen Fakultät angesiedelt sein sollte (vgl. Hoyningen-Süess 1992; Wolfisberg 2002).

Insofern blieben als dominante ethische Orientierungen Nächstenliebe, aber auch die Sicherung normativer Erwartungen (vgl. auch Schumann & Lob-Hüdepohl 2007). Die Frage der sozialen Exklusion blieb bis in die späten 1960er Jahre ungestellt; der Prozess der Verbesonderung spielte auch in den Nachkriegsjahren keine Rolle – trotz der mehr als 150000 sog. ‚Krankenmorde‘ in den Psychiatrien und den mehr als 400 000 Sterilisationen unter dem NS-Regime (vgl. Klee 1986; Ellger-Rüttgardt 2008). Vielmehr verstärkte sich in der Argumentation der Paternalismus – der besondere Schutz für Personen mit Behinderung sollte durch weitere Sonderbehandlung in exkludierenden Strukturen gewährleistet werden (vgl. hierzu die Argumente des Verbandes für Sonderschulen in der Bundesrepublik zur Neuordnung des Sonderschulwesens 1955; in: Ellger-Rüttgardt 2008, 300f.).

Erst mit der Debatte um Chancengleichheit in den 1970er Jahren setzt eine neue ethische Problemstellung innerhalb der Behindertenpädagogik ein, nämlich die Frage nach sozialem Ausschluss durch Sonderbehandlungen. Mit neuem soziologischem Instrumentarium wurde der Zusammenhang von sozialer Lage und Behinderung – hier in erster Linie Lernbehinderung – beschrieben (vgl. paradigmatisch dazu Begemann 1969) und von hier aus die Elternbewegung für die Integration von Kindern und Jugendlichen in Kindergärten und Schulen ab Mitte der 1970er Jahre argumentativ unterstützt. Zugleich entwickelte sich aus der Studentenbewegung die ‚Krüppelbewegung‘, die für ein selbstbestimmtes Leben in allen Dimensionen eintrat.

Zu einem signifikanten disziplinären Schub ethischer Argumentationen kam es aber erst in den ausgehenden 1980er Jahren in der Auseinandersetzung um die Thesen des australischen Bioethikers Peter Singer, der den Personenstatus behinderter Menschen in Frage stellte und damit eine Welle politischer Empörung heraufbeschwor (zur Argumentation Singers vgl. in diesem Band Quante & Schweikard; Horster 2002). Etliche Autoren/innen innerhalb der Behindertenpädagogik bemühten sich um neue ethische Positionierungen entlang der nunmehr systematischen Bearbeitung der Fragen um das Lebens- und Bildungsrecht behinderter Kinder (z. B. Antor & Bleidick), um soziale und gesellschaftliche Integration (z.B. Rödler, Feuser), um das Verhältnis von Gleichheit und Differenz (z. B. Reiser, Prengel) sowie um das Verhältnis von Selbstbestimmung und Stellvertretung (z.B. Stinkes, Dederich, Jakobs; vgl. hierzu auch ausführlich Moser in diesem Band). Dederich und Schnell beschreiben analog dazu als aktuelle Themenfelder einer ethischen Reflexion der Behindertenpädagogik die folgenden: Menschenwürde einschließlich der Klärung anthropologischer Fragestellungen, Fürsorge, Gerechtigkeit, Anerkennung und Stellvertretung (Dederich & Schnell 2009). Einen Versuch, diese Themenfelder in einer ethischen Reflexion zusammenzubinden, unternahm zuletzt Mechthild Hetzel (2007). Machttheoretische Perspektiven waren dabei eher seltener anzutreffen, einen solchen Zugang verfolgten insbesondere Wolfgang Jantzen und Hans-Uwe Rösner, der forderte, „dass der Kampf behinderter Menschen um Anerkennung ihrer persönlichen Integrität auf der Ebene symbolisch verankerter kultureller Normen geführt werden muss; dort wo herabwürdigende Distinktionspraktiken zwischen Behinderten und Nichtbehinderten wirksam sind“ (Rösner 2002, 26). Weiterhin entwickelten sich aus den politischen Forderungen der ‚Krüppelbewegung‘ in den 1990er Jahren auch pädagogische Konzeptualisierungen des Selbstbestimmungstheorems (vgl. z.B. Waldschmidt 1999; Rock 2001; zusammenfassend Weber 2010). Doch über einen breiten Diskurs hinaus im Sinne normativer Orientierungsvorgaben sind hier differenzierte Ausarbeitungen hinsichtlich professioneller Handlungsdilemmata nur in Ansätzen ausgeführt worden (vgl. Rock 2001). Insofern ist hier der soziologischen Einschätzung Uwe Krähnkes zuzustimmen, wenn er schreibt:

„Die semantischen Kämpfe um öffentliche Deutungshoheit, in denen mit der Selbstbestimmungsidee operiert wird, zetteln nicht nur Debatten an und polarisieren die Meinungsbildung. Sie tragen auch dazu bei, dass normative Grenzen symbolisch attackiert werden, welche das Selbstbild des Okzidents mitprägen. Solche mithilfe der Selbstbestimmungsrhetorik in Frage gestellten Demarkationslinien der Moderne sind die biopolitische Grenze zwischen Leben und Tod (Diskurs über Abtreibung und Sterbehilfe); die medizindiagnostische Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit (Diskurs über Behinderung); die moralisch-juridische Grenze zwischen geschützter Privatsphäre und staatlicher Überwachung (Diskurs über Datenschutz); die Gender-Grenze (Feminismus-Diskurs); die anthropozentrische Grenze (Tierrechtsdiskurs); die Grenze zwischen ethnischer Eigenständigkeit und staatlicher Souveränität (Völkerrechtsdiskurs). Somit könnte man eine latente Funktion der Selbstbestimmungsrhetorik darin sehen, dass sie den sozio-kulturellen Wandel mit vorantreibt“ (Krähnke 2007, 189).

Selbstbestimmung ist, so der Autor, damit zu einer „zentralen Chiffre der Moderne“ geworden und nicht nur ein primäres Problem einer spezifischen behindertenpädagogischen Ethik.

Der beschriebene neue Schub ethischer Grundlegungen des Faches Behindertenpädagogik in den 1990er Jahren entbehrte allerdings oftmals einer expliziten Anbindung an aktuelle philosophische Diskurse und platzierte das Phänomen ‚Behinderung‘ zudem eher generalistisch als Problem eines allgemeinen entsolidarisierenden Individualisierungsprozesses (Speck; Dederich): So fordert Speck beispielsweise eine notwendige ökologische Perspektive ein, sie sei „auf den aktuell gewordenen Wert des Überlebens durch mehr Verständigung und gegenseitige Ergänzung anstelle bisher bestimmender Werte der aversiven Selbstdurchsetzung partialisierter Systeminteressen gerichtet“ (Speck 2003, 21). Weiterhin wird Behinderung als Herausforderung für eine besondere Beziehungsgestaltung gesehen, aufgrund der ethischen Einsicht in einen nicht-verfügbaren (aber auch nicht erkennbaren) Anderen (Dederich, Haeberlin, Stinkes). Dieses Postulat mag aus der Perspektive der Nicht-Verfügung natürlich richtig sein, aber aus der Perspektive der Anerkennung von Bedürfnissen ist es höchst problematisch (vgl. Moser in diesem Band). Darüber hinaus fehlte es an einer expliziten systematischen professionstheoretischen Weiterentwicklung, zu der der vorliegende Band nun allerdings beiträgt.

1.2 Ethische Diskussionen in der Gegenwart

Die skizzierten neu entbrannten Diskussionen innerhalb des Faches Behindertenpädagogik enthalten Themenstellungen, die in einer neuen systematischen Anthologie berücksichtigt werden müssen. Dazu zählen neuere grundlegende ethische Überlegungen, insbesondere mit Blick auf

Eine neue Debatte über Begriffe und Probleme der Behindertenpädagogik kann nur belebt werden und fruchtbar sein, wenn die skizzierten eingetretenen Pfade verlassen werden. Dies ist möglich, indem wir im vorliegenden interdisziplinär angelegten Setting Autoren/innen zu Wort kommen lassen, die die Ethikdiskussion in der Behindertenpädagogik auf einer rationalen Basis führen. Weltanschaulichen und religiösen Hintergründen wird in den Beiträgen eine Absage erteilt. Durch die interdisziplinäre Anlage kommen nicht nur Behindertenpädagogen/innen, sondern auch Philosophen/innen zu Wort. Dadurch wird eine nicht nur spezifisch behindertenpädagogisch orientierte, sondern eine allgemeine und grundsätzliche Thematisierung der für die Behindertenpädagogik zentralen Problemfelder vorgenommen. Dies ist für die Orientierung der in der Profession arbeitenden Menschen sinnvoller als das ‚Klein-Klein‘ der Spezifik von konkreten Fällen, zu denen man eine Gebrauchsanweisung sucht. Diese allgemeinere Ausrichtung erlaubt es, sich ein Hintergrundwissen zu verschaffen, das in vielen Situationen des Alltags orientierend wirksam werden kann und das zu selbständigen und reflektierten Entscheidungen führt.

Nun wird das sofort einleuchten, doch ist auch die philosophische Basis für die Reflexion der in der Behindertenpädagogik auftretenden Fragen und Probleme nicht einheitlich, und das schon seit langem nicht. Noch bis ins späte Mittelalter hatte das moralische Handeln einen für alle gleichermaßen verbindlichen und sicheren Bezugspunkt und eine unangezweifelte Basis, diese waren Gott und die Offenbarung. Es gab ein alle Stände umfassendes Richtigkeitserlebnis. Der einfache Bauer und Leibeigene konnte ebenso wie der Fürst und König für alltägliche moralische Entscheidungen in der Bibel, die ihm vom Geistlichen ausgelegt wurde, Handlungsanweisungen finden. In der Neuzeit, als die gesellschaftlich integrierende Kraft der Religion allmählich zu schwinden begann, entstanden folgerichtig die uns heute bekannten und geläufigen normativen Ethiken: der Kontraktualismus (Hobbes und Hume), der Utilitarismus (Bentham, Mill und Sidgewick), Emotivismus oder Sensualismus (Shaftesbury, Hutcheson, Reid, Hume und Adam Smith) und die Sollensethik (Kant). Damit sind nur die wichtigsten normativen Theorien genannt, auf die sich noch heute die Philosophen beziehen (vgl. Horster 2009, 13–72). Alasdair MacIntyre konstatiert sehr richtig, dass sich nach der Entstehung dieser Theorien in der Neuzeit jeder Einzelne von uns frei zu entscheiden hat, „mit wem wir moralisch verbunden sein und durch welche Ziele, Regeln und Tugenden wir uns leiten lassen wollen“ (MacIntyre 1984, 245).

In der Meta-Ethik ist die Lage nicht anders. Dort unterscheiden wir grob die Realisten und die Nonrealisten, wobei es derzeit, nachdem der Realismus wieder an Bedeutung und Attraktivität gewonnen hat, weitere Differenzierungen innerhalb dieser Richtung gibt: Naturalismus, Supernaturalismus und Nonrealismus, um nur einige zu nennen. Und auch innerhalb dieser Untergruppen gibt es wieder Differenzierungen, wie beispielsweise nonreduktiver, reduktiver und schwacher Naturalismus. Damit sollte klar sein, dass die Beiträge sich nicht auf eine einheitliche und unbestrittene moralphilosophische Basis beziehen können.

Bisher ging es nur um die moralischen Normen und nicht um Werte. Es gibt aber auch kulturell unterschiedliche Werte, auf die eine Haltung in der Behindertenpädagogik, wie wir an den historischen Ausführungen gesehen haben, aufgebaut werden kann. Habermas unterscheidet zwischen Werten und Normen. Werte sind für ihn kulturelle Werte, wie z.B. eine bestimmte lokale Heiratszeremonie. Normen hingegen gelten universell, wie etwa die Pflicht, Grausamkeit gegenüber anderen Menschen zu unterlassen (vgl. Habermas 2002, 296). Es gibt allerdings auch einen Zusammenhang von Werten und Normen, der in dem Beitrag Was ist Moral? im vorliegenden Band dargestellt wird.

Um noch präziser aufzuzeigen, was moralische Normen sind, müssen weitere Unterscheidungen vorgenommen werden, die jedoch nicht immer eindeutig zu treffen sind. Dementsprechend unübersichtlich gestaltet sich die Ausgangslage, die wir vorfinden. Doch versuchen wir eine Differenzierung: Zunächst haben wir moralische Normen von den Werten unterschieden. Weiterhin müssen wir sie vom Recht und von rechtlichen Normen unterscheiden, was heutzutage in Urteilsbegründungen zum Ausdruck kommt, beispielsweise wenn Menschen beim Protest gegen Atommülltransporte das geltende Recht verletzt haben und vom Richter zu hören bekommen, dass er moralisch zwar ganz auf der Seite der Angeklagten stünde, sie aber trotzdem verurteilen müsse. Die Unterscheidung von Recht und Moral ist ein altes Thema. Da in diesem Band eine Abhandlung über die Gerechtigkeit zu finden ist, die dem Bereich der Moral zugeordnet wird, wollen wir diese Unterscheidung an folgender Anekdote zum Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit verdeutlichen:

„‚Zu seiner Zeit als Richter am Supreme Court nahm Holmes auf seinem Weg zum Gerichtshof den jungen Learned Hand‘ – der später Dworkins Lehrer wurde –‚ in seinem Wagen mit. Hand stieg, an seinem Fahrtziel angelangt, aus, winkte und rief munter hinter dem weiterfahrenden Auto her: ‚Sorgen Sie für Gerechtigkeit, Richter Holmes.‘ Holmes ließ den Fahrer den Wagen stoppen und zum überraschten Hand zurückkehren, um sich mit den Worten aus dem Fenster zu lehnen: ‚That’s not my job.‘ Anschließend kehrte der Wagen wieder um und beförderte Holmes zu seiner Arbeit, die angeblich nicht darin bestand, für Gerechtigkeit zu sorgen.‘ Dworkin will mit dieser Geschichte eine Frage veranschaulichen, die ihn ein Leben lang beschäftigt: Welchen Einfluss dürfen, ja sollen und müssen die moralischen Überzeugungen eines Richters auf dessen Rechtsprechung haben“ (Habermas 2008, 66).

Andererseits hat das Recht eine Verbindung zur Moral, denn man muss konstatieren, dass Rechtsnormen solche sind, die unsere wichtigen moralischen Regeln absichern (vgl. Bayertz 2004, 260). Als Beispiel: Ein wichtiges moralisches Gebot ist, dass wir menschliches Leben schützen sollen. Das wird strafrechtlich beispielsweise mit dem § 211 und dem § 212 StGB abgesichert.

Wir haben die komplexe und unübersichtliche Ausgangslage sowohl in der Behindertenpädagogik wie in der Philosophie nicht deshalb skizziert, um eine „neue Unübersichtlichkeit“ (Habermas 1985) zu präsentieren, sondern um klar zu machen, dass wir uns natürlich die Frage stellen mussten, wie wir vorgehen, wenn wir mit diesem Buch der Diskussion neue Impulse geben wollen. Außerdem sollte das Buch nicht überkomplex werden, sondern sollte denjenigen, die es angeht, eine Orientierung bieten. Dazu war es zuallererst nötig, in der Behindertenpädagogik, der Erziehungswissenschaft und der Philosophie ausgewiesene Fachleute auf ihren Gebieten zu suchen und zu finden. Deren Qualifikation sollte überdies darin bestehen, dass sie in der Lage sind, ihren Gegenstand in verständlicher, rational-logischer Argumentation darzustellen, den jede/r Leser/in problemlos erfassen kann. Zur Nachvollziehbarkeit gehört auch, dass die Argumente klar und zugespitzt vorgebracht werden. Erst dann sind die Darstellungen kritisierbar. Kritik und Kritikfähigkeit ist ein Kennzeichen von Wissenschaft. Wir hoffen damit, die Diskussion über die Ethik in der Behindertenpädagogik neu eröffnet zu haben.

Literatur

Bayertz, K. (2004): Warum überhaupt moralisch sein? München.

Begemann, E. (1969): Die Bildungsfähigkeit der Hilfsschüler. Sozio-kulturelle Benachteiligung und unterrichtliche Förderung. Hannover.

Dederich, M. & Schnell, M.W. (2009): Ethische Grundlagen der Behindertenpädagogik: Konstitution und Systematik. In: Dederich, M. & Jantzen, W. (Hrsg.): Behinderung und Anerkennung, Stuttgart, 59–83.

Fandrey, W. (1990): Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozialgeschichte behinderter Menschen in Deutschland. Stuttgart.

Georgens, J.D. & Deinhardt, H. (1861/63): Die Heilpädagogik, mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten. Leipzig.

Habermas, J. (1985): Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V. Frankfurt am Main.

Habermas, J. (2002): Werte und Normen. Ein Kommentar zu Hilary Putnams Kantischem Pragmatismus. In: Raters, M.-L. & Willaschek, M. (Hrsg.): Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus, Frankfurt am Main, 280 – 305.

Habermas, J. (2008): Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI. Frankfurt am Main.

Haeberlin, U. (2005): Grundlagen der Heilpädagogik. Bern.

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Horster, D. (2002): Peter Singers Argumentationslogik. In: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 8, 22–27.

Horster, D. (2009): Ethik. Stuttgart.

Hoyningen-Süess, U. (1992): Heilpädagogik als Wissenschaft. Heinrich Hanselmanns Theorie der Sonderpädagogik. Luzern.

Jakobs, H. (1997): Heilpädagogik zwischen Anthropologie und Ethik. Eine Grundlagenreflexion aus kritisch-theoretischer Sicht. Bern.

Klee, E. (1986): ‚Euthanasie‘ im NS-Staat. Die ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens‘. Frankfurt am Main.

Koch, J.L.A. (1891): Die Psychopathischen Minderwertigkeiten. Ravensburg.

Krähnke, U. (2007): „Selbstbestimmung“. Zur gesellschaftlichen Konstruktion einer normativen Leitidee. Weilerswist.

MacIntyre, A. (1984): Geschichte der Ethik im Überblick. Vom Zeitalter Homers bis zum 20. Jahrhundert. Meisenheim.

Möckel, A. (1976): Die besondere Grund- und Hauptschule. Von der Hilfsschule zum Kooperativen Schulzentrum. Rheinstetten.

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Rösner, H.-U. (2002): Jenseits normalisierender Anerkennung. Frankfurt am Main.

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Speck, O. (2003): System Heilpädagogik. Eine ökologisch-reflexive Grundlegung (5. Auflage). München.

Tenorth, H.-E. (2006): Bildsamkeit und Behinderung – Anspruch, Wirksamkeit und Selbstdestruktion einer Idee. In: Raphael, L. & Tenorth, H.-E. (Hrsg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. München, 497–520.

Waldschmidt, A. (1999): Selbstbestimmung als Konstruktion. Opladen.

Weber, E. (2010): Selbstbestimmung. In: Moser, V. (Hrsg.): Enzyklopädie Erziehungswissenschaften Online (EEO). Fachgebiet Behinderten- und Integrationspädagogik. Weinheim. Online im Internet: www.erzwissonline.de: DOI 10 3262/EEO11 100 032 [aufgerufen am 15. 04. 2011].

Wichern, J.H. (1845): Festbüchlein des Rauhen Hauses in Horn. Hamburg.

Wolfisberg, C. (2002): Heilpädagogik und Eugenik. Zur Geschichte der Heilpädagogik in der deutschsprachigen Schweiz (1800 – 1950). Zürich.

2 Was ist Moral?

Detlef Horster

2.1 Moral und Behinderung

Ulrich Bleidick geht in dem Kapitel „Ethische Aspekte menschlichen Behindertseins“ seines Buches Behinderung als pädagogische Aufgabe davon aus, dass der Rationalität in der Ethik Grenzen gesetzt seien. Der barmherzige Samariter habe ohne philosophische Reflexionen gewusst, was er zu tun hatte (vgl. Bleidick 1999, 136). Orientierung in moralischen Fragen bei Menschen mit einer Behinderung wird in der christlichen Anthropologie durch die Auffassung von der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen gegeben (vgl. Bleidick 1999, 141; 1983, 446). Bleidick stimmt einer solchen Betrachtungsweise zu, indem er schreibt: „Ein nicht voraussetzungsfreies normatives Denken ist keine Schwäche gewisser Richtungen der weltanschaulich gebundenen und ideologisch vorgefaßten Pädagogik“ (Bleidick 1983, 442). Das bedeutet, dass es als eine Stärke angesehen wird. Auch andere bekannte Behindertenpädagogen, deren Bücher als Standardliteratur in der Ausbildung gelten, wie Otto Speck (vgl. Speck 1996, 166) und Emil Kobi (vgl. Kobi 1993, 307f.), vertreten einen vergleichbaren Standpunkt. Die Gottesebenbildlichkeit gilt als verallgemeinerndes Prinzip, so dass allen Menschen ohne Unterschied Würde zukomme. „Wenn das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 1, Absatz 1 sagt: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘, dann meint es, dass die Würde als unantastbar gelten soll“ (Bleidick 1999, 140). Diese redundante Einsicht werde allmählich durch den „postmodernen Zeitgeist einer Individualisierung moralischer Entscheidungen“ aufgeweicht (Bleidick 1999, 143). Der Zeitgeist habe offenbar auch das höchste deutsche Gericht erfasst, denn nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 gilt der Schwangerschaftsabbruch „für die ganze Dauer der Schwangerschaft als Unrecht [...] und [ist] demgemäß rechtlich verboten“, nicht aber strafbar, wenn er in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten von einem Arzt auf Verlangen der schwangeren Frau vorgenommen wird. Bleidick kommentiert das mit den Worten: „Die Doppelmoral wird vom Gesetzgeber aus höheren legitimatorischen Gründen in Kauf genommen“ (Bleidick 1999, 143).

Prüfen wir, von letzterer angefangen, die Einlassungen Bleidicks einmal genauer. Abgesehen davon, dass es sich bei der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung um eine rechtliche Regelung handelt, die man sorgfältig von einer moralischen unterscheiden muss, ist eine solche Regelung nichts Ungewöhnliches. Es ist oft so, dass im Recht etwas verboten ist und dennoch nicht strafbar. Beispielsweise werden bei Verkehrsunfällen fahrlässige Sachbeschädigungen begangen. Sachbeschädigung ist zwar rechtlich unzulässig, wird aber bei einem Verkehrsunfall nicht bestraft. Insofern kann man nicht behaupten, dass das Bundesverfassungsgericht neuerlich vom postmodernen Zeitgeist erfasst worden sei.

Weiterhin: Die Klarheit in Bezug auf den Art. 1, Abs. 1 des Grundgesetzes, die Bleidick konstatiert, ist vom Gesetzgeber ausdrücklich nicht gewollt worden. Die ‚Würde des Menschen‘ war eine Kompromissformel der Verfassungsgeber, um die unterschiedlichen kulturellen Strömungen, die sowohl im Parlamentarischen Rat wie auch in der Gesellschaft vorhanden sind, unter einem Dach vereinigen zu können. Darum ist der Begriff ganz im Gegensatz zu Bleidicks Auffassung bewusst nicht präzisiert worden (vgl. Deutscher Bundestag/Bundesarchiv 1993, 67).

Der barmherzige Samariter handelt nicht moralisch, sondern mehr als moralisch. Darum sprechen wir in der Philosophie in Anlehnung an die lateinische Formulierung in der Vulgatafassung der Bibel von Supererogation. In Lukas 10, 35 heißt es dort: „Curam illius habe, et quodcumque supererogaveris ego cum rediero reddam tibi.“ Daher stammt der philosophische Begriff der Supererogation, der bei uns alltagssprachlich Nächstenliebe heißt. Man kann die lateinische Fassung folgendermaßen übersetzen: „Sorge für ihn, und wenn du deine Pflicht in einem Übermaß erfüllen wirst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich zurückkomme.“ Der barmherzige Samariter erfüllt seine moralische Pflicht demnach in einem Übermaß, er handelt mehr als moralisch.

Ich will im nächsten Schritt die Frage, was Moral ist und was sie in Bezug auf Menschen mit einer Behinderung bedeutet, systematisch beantworten.

2.2 Was ist Moral?

Gehen wir zur Beantwortung der Frage, was Moral ist, von Werten aus, denn die moralischen Pflichten leiten sich aus ihnen ab: Ein hoher Wert ist beispielsweise das menschliche Leben oder unsere Gesundheit bzw. körperliche und geistige Unversehrtheit. Wir haben entsprechend moralische Normen, Regeln oder Pflichten, die diese Werte realisieren sollen. Da gibt es das moralische Verbot, dass man nicht töten soll, bzw. das moralische Gebot, dass wir Leben schützen sollen. Da gibt es das Verbot, Menschen zu quälen oder zu foltern. Ein anderer hoher Wert ist die wechselseitige Anerkennung und Achtung. Daraus ergibt sich die Pflicht des rücksichtsvollen Umgangs miteinander oder die Pflicht, ein einmal gegebenes Versprechen zu halten. Wenn wir einige dieser unbestrittenen moralischen Regeln ansehen und miteinander vergleichen, können wir deren Kerngehalt ermitteln und folgende Moraldefinition vornehmen: Moral ist die Gesamtheit der Regeln, die zur Realisierung der Werte oder zum Wohl der Menschen beiträgt, bzw. man kann auch sagen, dass die moralischen Regeln, wenn sie angewendet werden, die Menschen, die vom Handeln anderer betroffen sind, schützen sollen. Das bedeutet – vor allem, wenn wir die letztgenannte Pflicht, das Halten von Versprechen, ins Auge fassen –, dass es durchaus sein kann, dass man manchmal zu Handlungen verpflichtet ist, die nicht im eigenen Interesse liegen, ja, die zuweilen unserem Eigeninteresse zuwiderlaufen und zu deren Einhaltung man sich bei freier Wahlmöglichkeit nicht ohne Weiteres verpflichten würde (vgl. Schaber 2003, 20).

2.3 Wie kann man moralische Regeln erkennen?

Wir erkennen sie intuitiv. An die Stelle der Wahrnehmung und Beobachtung, mit deren Hilfe wir empirische Fakten erkennen, tritt für das Erkennen der moralischen Tatsachen die Intuition. Das bedeutet für moralisches Wissen Folgendes: Wir wissen, dass man Babys nicht quälen oder Menschen nicht foltern soll, dass man das einfach nicht tut. Das ist selbstevident und jedem intuitiv klar. Insofern hat Ruth Anna Putnam Recht, wenn sie sagt: „Was ist, was könnte irreduzibler sein als mein Wissen angesichts eines bedürftigen Menschen, daß ich verpflichtet bin, diesem Menschen zu helfen? [...] Sich zu fragen, ob es ein solches Gesetz gibt, wäre schon ein Gedanke zuviel“ (Putnam 2002, 243). Zwar würde auch ich sagen, dass es selbstevident ist, dass man andere Menschen nicht quälen darf oder ihnen in Not helfen muss, doch wenn wir Gründe dafür nennen sollen, dann sagen wir, weil es schlecht für einen Menschen ist, weil es ihn schädigt und erniedrigt oder weil es einfach richtig ist, jemandem in Not zu helfen und zu seinem Wohl beizutragen. Jonathan Dancy macht mit einem einfachen Beispiel klar, was gemeint ist. Wenn man über die Straße gehen will und schaut links und rechts, ob ein Auto kommt, dann schaut man ganz intuitiv, fertig. Wenn ich aber gefragt werde, warum ich das tue, kann ich als Antwort geben, weil ich nicht überfahren werden will, weil ich gesund bleiben will, weil ich lange leben will (vgl. Dancy 1993, 416). Das alles spricht für die Möglichkeit intuitiver Erkenntnis.

Doch genauso, wie man sich bei Beobachtungen irren kann, kann man sich auch bei intuitiver Wahrnehmung irren. Dem beugt man dadurch vor, dass man das Kohärenzkriterium einführt (vgl. Schaber 1997, 111 ff.). Jede einzelne Beobachtung oder Intuition muss mit bestimmten moralischen Überzeugungen, die wir unbestritten haben, kompatibel sein. Nehmen wir ein Beispiel: Der Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner hatte einen Kommissar angewiesen, dem Angeklagten Gäfgen Folter anzudrohen, so dass er dadurch, unter Druck gesetzt, den Aufenthaltsort seines Entführungsopfers preisgeben sollte. Würde jemand in diesem Fall die Überzeugung bestreiten, dass es schlecht sei, andere Menschen zu schädigen, dann müsse er um des Kohärenzkriteriums willen weitergehend die These vertreten, dass es moralisch gut sei, andere Personen zu bedrohen. Das aber wäre absurd.

Moralische Intuitionen sind nicht aus anderen Sätzen abgeleitet. Sie können zwar wie die wissenschaftliche Beobachtung theoriegeleitet sein und so wie die die Wissenschaftler orientierenden Theorien Einfluss auf das Ergebnis haben. Doch ebenso wie die Beobachtungen Theorien bestätigen oder widerlegen, können das auch Intuitionen. Jede empirische Forschung ist theoriegeleitet, denn das ist die Funktion einer Theorie, dass sie für den empirischen Forscher orientierend wirkt (vgl. Horster 2010, 158f.). Beobachtungen mögen zwar theorie- oder wertgeleitet sein, doch es sind und bleiben Beobachtungen. Mit Intuitionen verhält es sich ebenso. Auch sie können durch eine Moraltheorie geleitet sein, dennoch handelt es sich um Intuitionen.

2.4 Die moralische Gemeinschaft, in der wir leben

Wodurch zeichnet sich nun die moralische Gemeinschaft aus und wann ist man ihr Mitglied? Jeder, der der moralischen Gemeinschaft angehört, hat Rechte und Pflichten. Die eben genannten moralischen Pflichten sind nur die Vorderseite der Medaille, auf der wir auf der Rückseite die Rechte sehen. Jeder ist nur zu soviel verpflichtet, wie er umgekehrt erwarten kann. Man ist zu nichts darüber hinaus verpflichtet, nicht zu den von Bleidick eingebrachten supererogatorischen Leistungen, also nicht zu Leistungen, die über das ‚Gesollte‘ hinausgehen, und das ‚Gesollte‘ ist das Reziproke von dem, was man erwarten kann. Man kann also andererseits nur das verlangen, wozu man umgekehrt verpflichtet ist. Man ist moralisch und rechtlich zur Hilfeleistung verpflichtet, wenn z.B. jemand, der mit seinem Auto verunglückt ist, im Straßengraben liegt und Hilfe braucht. Man hat aber auch ein moralisches Recht auf Hilfeleistung, wenn man selbst in dieser hilflosen Situation ist.

2.5 Die moralische Gemeinschaft und Menschen mit einer Behinderung

Dieses reziproke Verhältnis ist unproblematisch. Problematisch hingegen ist es, wenn Menschen ihre moralischen Pflichten nicht erfüllen können oder wenn Menschen aufgrund ihrer Behinderung gar keine Pflichten haben können. Der Mensch, der auf einen Rollstuhl angewiesen ist, kann nicht allein auf einer einsamen Landstraße jemandem aus dem Straßengraben helfen. Da behinderte Menschen keine oder nur in begrenztem Rahmen moralische Pflichten erfüllen können, ist die Ausgewogenheit von moralischen Rechten und Pflichten in ihren Fällen nicht gegeben. Da diese Reziprozität aber gegeben sein muss, wenn man einen Menschen als Mitglied der moralischen Gemeinschaft bezeichnen will, entsteht die Frage, ob Menschen Mitglieder sein können, wenn sie der moralischen Reziprozität nicht genügen, obwohl sie Gesellschaftsmitglieder sind. Haben sie möglicherweise einen anderen Status als andere Menschen, wenn wir auf die moralische Gemeinschaft blicken?

Der Tübinger Philosoph Otfried Höffe bringt folgendes Argument ins Spiel: „Ein Großteil der Behinderungen [resultiert aus] jenen Risiken, die mit unserer Zivilisationsform zusammenhängen. Da wir deren Vorteile kollektiv in Anspruch nehmen, sind auch die Nachteile kollektiv zu tragen“ (Höffe 1996, 212). Die moderne Gesellschaft ist eine Risikogesellschaft. „Früher konnte man davon ausgehen, daß die riskant Handelnden selbst die Betroffenen sind, oder daß es sich mehr oder weniger um ein gruppenspezifisches Phänomen handelt, etwa [...] um Seefahrer oder Pilzsammler“ (Luhmann, 2008, 352). Wer sich in Gefahr begab oder sie erzeugte, trug das Risiko; die anderen nicht. Das ist heute anders. Gefahren werden unter Umständen von anderen erzeugt und kommen häufig für die Betroffenen von außen. Daneben steht auch heute selbstverständlich wie früher noch das Risiko, das man selbst erzeugt und auch selbst tragen muss: Wer ein Flugzeug besteigt, trägt das Risiko abzustürzen. „Wer kein Flugzeug besteigt, kann nicht abstürzen“ (Luhmann, 2008, 350). Nichtflieger haben in dieser Hinsicht keine Risikobereitschaft. Für sie kommt die Gefahr, dass sie von herumfliegenden Flugzeugtrümmern verletzt oder getötet werden, von außen (vgl. Luhmann, 2008, 350). Die Risiken erzeugen in diesen Fällen die anderen, die Gefahren trägt man selbst. „Was für den einen ein Risiko ist, ist für den anderen eine Gefahr. Der Raucher mag seinen Krebs riskieren, aber für andere ist er eine Gefahr“ (Luhmann 2008, 351). Mit dieser Differenzierung von Risiko und Gefahr entstehen völlig neuartige moralische Probleme. Diese Einsicht brachte neue Gebiete für die Moral hervor, wie z.B. die Umwelt-Ethik. Im Bereich der Ökologie erzeugen wir Risiken, die für andere und vor allem für nachfolgende Generationen eine Gefahr bedeuten, ohne dass sie die Risiken erzeugt haben. Die Höffesche Lösung nun bewegt sich im Rahmen einer Moral der Reziprozität: Wenn man die Vorteile der risikoreichen Zivilisation in Anspruch nimmt, muss man auf der anderen Seite deren Risiken mittragen, auch wenn man sie an der konkreten Stelle nicht selbst erzeugt hat. Man genießt die Vorteile, darum muss man auch für die Nachteile einstehen, und zwar kollektiv. Es handelt sich dabei um eine Art Solidarhaftung. Darum gehören Menschen mit Behinderungen zur moralischen Gemeinschaft, die eine Solidargemeinschaft ist. Die Solidarhaftung basiert auf dem Konzept der Wechselseitigkeit, das die Basis für den Höffeschen Gedanken ist. Wir erzeugen das Zivilisationsrisiko kollektiv und müssen auch kollektiv für die aus der Zivilisation entstehenden Gefahren einstehen. Die Risikogesellschaft ist notwendigerweise eine Solidargemeinschaft.

Ein weiterer Gesichtspunkt der Wechselseitigkeit darf nicht unberücksichtigt bleiben: Für die Pflichterfüllung in einer moralischen Gemeinschaft gilt der Grundsatz „ultra posse nemo obligatur“, niemand ist zu mehr verpflichtet, als er zu leisten in der Lage ist. Dieser Grundsatz ist nicht nur auf Menschen mit einer Behinderung anzuwenden, sondern er gilt generell, z.B. muss derjenige, der nicht so viel Geld hat, nicht so viel für die Armutsbekämpfung geben wie der Reiche. Fraglich und umstritten ist in der Philosophie, wie weit jemand seinen Lebensstandard einschränken muss, um Bedürftigen helfen zu können (vgl. Mieth 2007, 12).

2.6 Supererogation