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Über den Autor
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Klaus Kordon, geboren 1943 in Berlin, war Transport- und Lagerarbeiter, studierte Volkswirtschaft und unternahm als Exportkaufmann Reisen nach Afrika und Asien, insbesondere nach Indien. Heute lebt er als freischaffender Schriftsteller in Berlin. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und mit zum Teil internationalen Preisen ausgezeichnet. Für sein Gesamtwerk erhielt Klaus Kordon den Alex-Wedding-Preis der Akademie der Künste zu Berlin und Brandenburg.
Bei Beltz & Gelberg erschienen u.a. Der Käpt’n aus dem 13. Stock, Paule Glück. Das Jahrhundert in Geschichten, Monsun oder Der weiße Tiger, Ein Trümmersommer sowie der Roman-Sammelband Frank oder Wie man Freunde findet, die drei Paula Kussmaul-Romane, Piratensohn und Kiko.
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-78946-4)
www.beltz.de
© 2003, 2005 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Frank Griesheimer
Neue Rechtschreibung
Einband: Philip Waechter
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74550-7

Fünfhundert Euro

Nebel und Nieselregen, Pfützen und Dreckspritzer an den Beinen – Linus aber fand kein Ende mit seinem Kastaniensammeln. Wütend stakste Paula hinter dem kleinen Bruder durch das aufgeweichte Kastanienwäldchen. Nur weil Linus’ Lehrerin alle Kinder aufgefordert hatte, aus Kastanien kleine Kunstwerke zu basteln und sie in die Schule mitzubringen, war Linus so eifrig. Wo er ansonsten bei solchem Schietwetter doch am liebsten vor dem Fernseher lag!
Ganz begeistert von dieser Idee war er. Gleich einen ganzen Zoo aus Kastanien wollte er basteln: Elefanten, Kängurus, Kamele, Giraffen und immer so weiter. Der größte Kastanienkünstler der Welt wollte er werden. Und sie? Sie musste mitlatschen und auch noch so tun, als ob ihr das Spaß machte, durch diese Matschsuppe zu schwimmen. Und warum das alles? Nur weil sie Linus sein kleines Regal abbetteln wollte. Weil sie es so nötig brauchte. Für ihre Bücher. Die wurden ja immer mehr, sie wusste längst nicht mehr, wohin damit. Linus’ Regal, in dem ja nur sein Fußball und die Luftpumpe lagen, wäre die Rettung. Darin könnte sie all ihre Lieblinge einsortieren, nach Alphabet sogar … Und Linus hatte ihr sein Prunkstück auch schon versprochen – aber eben nur, wenn sie ihm half, Kastanien zu sammeln.
»Du suchst ja gar nicht richtig.« Linus drehte sich um und betrachtete Paula misstrauisch. Seine Plastiktüte war schon halb voll, ihre noch nicht mal zu einem Viertel gefüllt.
»Natürlich suche ich!« Rasch klaubte Paula mal wieder eine Kastanie aus dem Dreck. Die grüne Schale war noch nicht ganz auf, ihre Stacheln piekten. »Aua!«
»Wer was nicht gerne tut, der soll es lieber gar nicht tun.«
Wieder mal einer von Linus’ altklugen Sprüchen. Nicht viel größer als seine Luftpumpe war er, redete aber schon wie der Pfarrer in der Kirche! Schlecht gelaunt suchte Paula weiter. Es lagen eine Menge Kastanien herum, der letzte Sturm hatte sie zuhauf von den Bäumen gerissen. Und es nützte ja alles nichts, sie war von Linus’ Gnade abhängig. Hob er den Daumen, durfte sie sich in seinem Regal einnisten; senkte er ihn, blieben ihre Bücher bis in alle Ewigkeit auf dem Kleiderschrank aufgestapelt, staubten voll und kuckten immer trauriger.
Ein besonders großer Kastanienbaum. Hier lagen die zukünftigen Elefanten und Giraffen so dicht an dicht auf dem Boden, dass es schwierig war, nicht draufzutreten und sie damit völlig in den Dreck zu drücken. Seufzend richtete Paula sich auf, um Linus zu rufen, damit er ihr half, hier Beute zu machen, als ihr Blick auf ein großes Stück Papier fiel. Es war unter einer durchsichtigen Folie an den Baumstamm gepinnt wie ein Steckbrief in einem Cowboyfilm. Neugierig trat sie näher heran – und blickte in zwei große, grüne Katzenaugen.
Der Anschlag war ein farbiger Computerausdruck. Ein Katzengesicht war darauf abgebildet – und drunter stand: Unser Kater Knutschfleck ist entlaufen. Bieten 500 Euro für Wiederbeschaffung. Tel.: 53 5167.
Paula las den Text noch mal und noch mal und wollte es nicht glauben: Fünfhundert Euro Belohnung für einen Kater? Bekam man denn für so viel Geld nicht zehn neue Katzenviecher? Und »Knutschfleck«? Was für ein komischer Name für einen Kater!
»Du suchst ja schon wieder nicht!« Streng stemmte Linus die Arme in die Seiten. Er wusste, solange die Schwester auf sein Regal hoffte, durfte er sich alles erlauben.
»Komm doch mal her!« Mit weit ausholenden Armbewegungen winkte Paula ihn heran und deutete auf den Anschlag. Mühselig studierte Linus den Text unter dem Bild – und dann staunte auch er: »So viel Geld – für eine einzige Katze?«
»Für einen Kater«, verbesserte ihn Paula.
»Das ist dasselbe.«
»Das ist nicht dasselbe!«
Eine zu freche Antwort für Linus. Jedenfalls an diesem Tag. In seinen Augen stand zu lesen: Willst du nun mein Regal oder nicht?
»Aber eine Katze und ein Kater, das ist wirklich nicht dasselbe«, verteidigte sich Paula. »Eine Katze ist ein Weibchen und ein Kater das Männchen.«
»Denkste, das weiß ich nicht?« Jetzt war Linus echt empört. »Aber so viel Geld für ’ne Katze oder für ’nen Kater – das ist dasselbe!«
Da hatte er Recht. Fünfhundert Euro, das war wirklich sehr viel Geld für ein entlaufenes Tier. Um so viel zu verdienen, musste die Mutter ja fast einen halben Monat lang arbeiten.
Andächtig starrten die Geschwister den Kater an, der sie mit seinen grünen Augen anfunkelte, als wäre er lebendig und könnte sie ebenfalls sehen. Er war ein Prachtkater, ganz schwarz war er, hatte aber ein weißes Ohr.
»Ist das der Knutschfleck?«, wollte Linus wissen.
»Was?«
»Na, das weiße Ohr.«
»Quatsch!« Paula musste lachen.
»Aber er hat ja gar keinen anderen Fleck.«
»Knutschen ist doch nur ein anderes Wort für küssen«, erklärte Paula da mit Tantengesicht. Zwei Jahre Altersunterschied waren eben doch eine ganze Menge.
Linus krauste die Stirn. »Aber vom Küssen kriegt man doch keine Flecke.«
»Doch!«, sagte Paula und kicherte. »Man muss es nur ganz fest tun.«
Darüber musste Linus erst ein Weilchen nachdenken. Als er damit fertig war, schüttelte er den Kopf. »Aber Mami drückt mich auch oft ganz doll – und ich hab noch nie einen Fleck davon gekriegt!«
»Das geht ja auch nur, wenn man verliebt ineinander ist.«
»Mami hat mich doch lieb.«
»Aber doch nicht soo lieb – da muss man sich wie ein Liebespaar lieb haben.«
Wieder überlegte Linus ein Weilchen, dann stellte er fest, dass Paula offensichtlich auch nicht wusste, was ein Knutschfleck war. »Du gibst ja nur an.«
»Mann, bist du schwierig!« Paula seufzte, krempelte sich den Jackenärmel hoch und küsste ihren Arm, indem sie an der Haut saugte. Nach einem Weilchen war ein Fleck zu sehen. »So«, sagte sie und hielt Linus ihr Kunstwerk hin. »Das ist ein Knutschfleck.«
Erst starrte Linus sie nur entgeistert an, dann musste auch er lachen. »Biste in dich selbst verliebt?«
»Klar! Was denn sonst? Nächste Woche will ich mich heiraten.« Paula krempelte sich den Ärmel wieder runter. »Aber es ist ja auch ganz egal, ob du weißt, was ein Knutschfleck ist. Der Kater könnte auch Rumpelstilzchen oder Donald Duck heißen. Die Leute, denen er weggelaufen ist, haben sicher nur einen lustigen Namen gesucht. Und weil er einen weißen Fleck hat und so zum Knutschen lieb ist, haben sie ihn Knutschfleck genannt.«
Wieder was zum Nachdenken für Linus. »Knutschen sie ihn denn immer nur aufs Ohr?«
Das war zu viel für Paula. Wollte Linus sie etwa auch noch verkohlen? »Mit einem, der so blöd ist, red ich überhaupt nicht mehr«, schimpfte sie. »Da unterhalt ich mich doch lieber mit ’nem Kaktus.«
Gleich spielte Linus wieder den Beleidigten. »Na gut! Wenn ich blöd bin, dann brauchst du ja auch mein blödes Regal nicht.«
Sollte sie jetzt etwa einen Kniefall vor ihm machen? – Nein, noch länger hielt Paula diese Schauspielerei nicht aus. »Weißt du was? Von mir aus kannst du dein Regal kariert anmalen und danach als Klo benutzen, ich jedenfalls will es nicht mehr. Und deine Kastanien kannste dir zum Frühstück braten. Was einer nicht gerne gibt, darauf soll man nämlich verzichten.«
Rums! Das war die passende Antwort auf Linus’ Spruch »Wer was nicht gerne tut…«. Paula kippte dem Bruder ihre Kastanien vor die Füße, drehte sich um und ging.
»Paula!«, schrie Linus ihr noch nach, nun wieder ganz klein, ganz lieb. »Du kannst mein Regal ja haben. Hab das doch gar nicht so gemeint… Aber… aber du musst die Kastanien wieder aufheben.«
Paula lief nur noch schneller. Linus und sein bekloppter Kastanien-Zoo! Sie würde wegen diesem blöden Regal doch nicht zu seiner Sklavin werden. Servier mir das Essen, putz mir die Schuhe, bezahl mir das Kino? – Nee! Da verzichtete sie lieber. Außerdem war die Sache mit diesem Kater ja viel interessanter. Wer gab denn so viel Geld für einen entlaufenen Kater? Das mussten ja Millionäre sein.

Eine Villa im Sonnenschein

Paulas große Schwestern saßen in der Küche, tranken Cola, erzählten sich was und kicherten.
Paula zögerte. Wenn Katja und Jenny so miteinander tuschelten, wünschten sie keine Zuhörerin. Doch dann ärgerte es sie, dass sie, »die Kleine«, mal wieder davon ausgeschlossen sein sollte, was die beiden Großen für Geheimnisse miteinander hatten. Sie machte ein entschlossenes Gesicht, holte sich ein Glas, setzte sich dazu und goss sich ebenfalls ein.
»Wo hast du denn Linus gelassen?« Katja kuckte unwillig.
Eben hatte sie noch wie ein kleines Mädchen gekichert, jetzt spielte sie wieder die Großmutter.
»Der ist in ’ner Pfütze ertrunken.« Paula gab sich cool. Katja sollte ja nicht denken, dass sie ihr, bloß weil sie schon neunzehn war, jetzt eine Standpauke halten durfte. Sie war doch nicht Linus’ Kindergärtnerin.
»Und du?«, fragte Jenny. »Bist du von einem U-Boot aufgefischt worden?«
»Ja«, erwiderte Paula ganz ernst. »Und stell dir mal vor, der Kapitän hat genauso blöd gegrinst wie du.«
»Na, na!« Katja spielte weiter die Erwachsene. »Unserm Paulchen ist wohl ’ne Laus über die Leber gelaufen.«
»Nee, damit ihr’s wisst – es war ’n ganzer Zoo! Und alle Tiere waren aus Kastanien.« Paula trank ihr Glas aus und stellte es so fest auf den Tisch, dass es fast zersprungen wäre, dann ging sie in Linus’ und ihr Zimmer und starrte Linus’ Regal an. Das musste man sich mal vorstellen, ein dreistöckiges Regal für einen einzigen Fußball und ’ne Luftpumpe!
Aus der Küche drang wieder so ein Kichern. Sicher waren Katja und Jenny mal wieder bei ihrem Lieblingsthema: all die verliebten Jungen, die um die hübsche Katja herumscharwenzelten! Jenny, sechzehn, dunkelhaarig, nicht gerade schlank, dafür aber ziemlich frech, war kein Jungentyp; sie lachte nur immer über die »verpickelten Gockels«, die der blonden Katja nachliefen. Katjas Geschichten aber hörte sie gern. Vielleicht, weil sie in Wahrheit nur neidisch war?
Leise schlich Paula zur Küchentür zurück und lauschte.
Na bitte, hatte sie es doch gewusst! Es ging mal wieder um einen von Katjas Verehrern! Chris oder Chrissie wurde er gerufen, eigentlich aber hieß er Christopher, war 2,02 m groß und in ganz Bakenburg bekannt, weil er der Star der Bakenburger Basketballmannschaft war.
»Wirklich«, sagte Katja gerade, »mir ist, als würde ich ihn schon ganz lange kennen. So als wären wir beide schon mal auf der Welt gewesen – und hätten uns auch damals schon gekannt.«
»Vielleicht hattet ihr ja sogar Kinder«, spottete Jenny. »Dann seid ihr eure eigenen Urgroßeltern.«
Wieder kicherte Katja. »Nein, wirklich! Das hab ich noch nie erlebt, dass einer mir so vertraut vorkam. Die anderen, na ja, die waren mal ganz nett und manchmal auch ’n bisschen doof, aber Chrissie … wirklich, er ist ganz anders! Wenn er lacht, strahlen seine Augen … also, wirklich, die kucken einen an … wie … wie zwei Sterne. Das geht einem durch und durch.«
Liebesgeschichten! Nichts als Liebesgeschichten. Sollte Linus doch Katja mal fragen, was ein Knutschfleck ist, die wusste da sicher am besten Bescheid.
Paula wollte schon in ihr Zimmer zurück, da ging die Tür und die Mutter kam. In ihrem Gefolge der völlig aufgeweichte Linus mit seiner prallvollen Kastanientüte in der Hand. Ein böser Blick zu Paula hin, dann verschwand er mitsamt seinen Kastanien erst mal auf dem Klo.
»Also weißt du, Paulchen!«, sagte die Mutter, noch bevor sie ihre nasse Jacke ausgezogen hatte. »Du hättest Linus doch wirklich mal helfen können. Bei dem Sauwetter hat er ganz allein Kastanien gesucht. Und es ist doch gut, dass er so einen Spaß an der Sache hat. Wo er doch sonst am liebsten immer nur vor dem Fernseher hockt.«
»Hab ihm ja geholfen«, verteidigte sich Paula. »Aber wenn er immerzu streiten will?«
»Zu jedem Streit gehören mindestens zwei.«
Jenny kam und nahm der Mutter die Einkäufe ab, Katja hängte ihre Jacke auf einen Bügel. Danach setzte die Mutter sich wie immer erst mal an den Küchentisch, zog sich die Schuhe aus und massierte ihre müden Beine. »Worum ging’s denn überhaupt?«
»Um Knutschfleck!«
»Um was?« Die Mutter und Katja glaubten, sich verhört zu haben, nur Jenny wusste Bescheid. »Das ist dieser Superkater«, klärte sie die Mutter und Katja auf. »In der ganzen Stadt hängen Anschläge mit seinem Foto an den Bäumen. Der ist wohl weggelaufen, und nun hat sein Besitzer fünfhundert Euro Belohnung ausgesetzt, damit er seinen Schmusekater wiederbekommt.«
»Fünfhundert Euro?« Die Mutter schüttelte den Kopf. »Na, da muss er ja im Geld schwimmen.«
»Und seinen ›Knutschfleck‹ sehr lieb haben«, ergänzte Katja.
»Wohl so lieb wie du deinen Chrissie.«
Das war Paula nur so rausgerutscht. Gleich hielt sie sich die Hand vor den Mund.
»Chrissie?«, seufzte die Mutter. »Wer ist das denn nun schon wieder? Ein neuer Freund?«
»Hast du wieder gelauscht, du neugieriges Küken!«, zischte Katja Paula zu und wollte sich beleidigt und ärgerlich geben, hielt das aber nicht lange durch. »Ja«, gab sie zögernd zu. »Chris und ich, wir gehen seit ein paar Tagen miteinander … Aber er ist nicht einfach nur ein neuer Freund – er ist der Mann in meinem Leben! Wirklich! Mir ist, als würde ich ihn schon ganz lange kennen.«
»Ja, im Ernst«, sagte Jenny und kicherte. »Sie waren schon mal ihre eigenen Großeltern, und er ist 2,80 m groß und spielt Basketball.«
Katja holte aus, als wollte sie Jenny eine kleben, die Mutter stöhnte nur: »Oje! Oje! Die große Liebe – und das so kurz vor dem Abitur! Da denkst du doch sicher überhaupt nicht mehr ans Lernen. Und nachher musst du die 13. Klasse noch mal wiederholen – und alles nur, weil du dich in so einen Stelzenläufer verkuckt hast, der vielleicht schon morgen eine andere hat.«
Die Mutter war nur wenig größer als Paula. Da musste Katjas neuer Freund ihr wirklich als Riese erscheinen. Dabei hatte die Mutter sich doch selbst mal in einen viel größeren Mann verliebt, damals, als sie den Vater kennen lernte. Es gab da so ein ulkiges Foto, auf dem sah die Mutter aus wie eine Zwergin und der Vater wie ein Funkturm.
Katja dachte kurz nach, dann lachte sie. »Chrissie – ’ne andere? Nie!«
»Na, wenn du das so genau weißt …« Die Mutter machte sich ans Auspacken ihrer Einkäufe und Katja und Jenny halfen ihr beim Wegstellen. Paula sah ein Weilchen zu, weil sie dachte, das Gespräch über Chrissie würde noch ein bisschen weitergehen, doch die Mutter musste sich etwas ganz anderes von der Seele reden. Sie war ja Busfahrerin, fuhr mal den 9er- und mal den 16er-Linienbus durch die Stadt, und heute – der Schreck saß ihr immer noch in den Knochen – wäre ihr beinahe ein Kind unter die Räder gekommen.
»Ein Junge war das, etwa so alt wie Linus. Der lief ganz plötzlich los, bei Rot, mitten über die Straße. Hab natürlich gleich auf die Bremse getreten … Vollbremsung! Hinter mir fiel alles durcheinander. Eine alte Frau stürzte sogar hin und schlug sich die Stirn auf… Und hat mich danach ausgeschimpft, man solle eben keine Frauen ans Steuer lassen … Selbst ’ne Frau und sagt so was! Aber egal, einen halben Meter vor dem Jungen stand ich. Der starrte mich ganz verdutzt an – und lief weg. Hab versucht, der Alten klar zu machen, weshalb ich so hart bremsen musste. Aber sie hat gar nicht zugehört, hat sich nur meinen Namen sagen lassen und die Busnummer notiert und ist schnurstracks zum Arzt marschiert.«
Katja, Jenny und Paula – sie wussten alle drei nicht, was sie sagen sollten. Was, wenn die Mutter den Bus nicht rechtzeitig zum Stehen gebracht hätte? Dann wäre der Junge jetzt vielleicht tot – und wie wäre der Mutter dann wohl zumute gewesen?
Die Mutter bemerkte ihr Entsetzen und lächelte aufmunternd. »Na, nun macht mal nicht gleich solche Gesichter. Sicher werd ich heute Nacht lange nicht einschlafen können, weil ich immer nur den Jungen vor mir sehe und die Alte schimpfen höre. Doch zum Glück ist ja nichts wirklich Schlimmes passiert.«
Linus lag auf seinem Bett und starrte zur Decke hoch. Paula musste daran denken, dass der Junge, der der Mutter vor den Bus gelaufen war, etwa in seinem Alter gewesen war. Wenn nun Linus eines Tages mal was passierte? Wie würde sie sich dann für den blöden Streit im Kastanienwäldchen und für all die anderen Streitereien mit ihm schämen!
Sie wollte dem Bruder etwas Nettes sagen. »Oh!«, rief sie erstaunt aus. »So viele Kastanien hast du noch gefunden? Das sind ja mindestens zehn Pfund.«
»Lass mich in Ruhe!« Linus spürte mal wieder, dass ihre Begeisterung nicht ganz echt war.
»Hab dich bloß nicht so.« Paula setzte sich zu ihm. »Ich hätte dir ja geholfen – wenn du nur nicht immer so angegeben hättest: Mein Regal! Mein supertolles Regal! Das war ja schon fast Erpressung.«
»Du hast mir ja überhaupt nur geholfen, weil du mein Regal willst.«
Damit hatte Linus mal wieder Recht. »Na und? Ist ja nichts Schlimmes dabei. So was nennt man ›Eine Hand wäscht die anderem Ich helfe dir beim Sammeln – und du gibst mir dafür dein Regal.«
Linus tippte sich an die Stirn. »Gleich ’n ganzes Regal – für so ’n bisschen Sammeln helfen!«
»Ich kann dir ja auch noch beim Basteln helfen.«
»Nein! Das darfst du nicht. Frau Ulrich hat gesagt, wir sollen uns nicht helfen lassen. Sonst bringt der eine was mit, was sein großer Bruder gebastelt hat, und der andere hat sich von seiner Tante helfen lassen. So was ist unfair, hat sie gesagt.«