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eISBN 978-3-89425-803-0

Der Autor

Wilfried Eggers, geboren 1951, Studium der Rechtswissenschaften und skandinavischer Sprachen in Kiel. Verheiratet, drei Kinder, überzeugter Moorbewohner. Seit Ende der Siebzigerjahre ist er als selbstständiger Notar und Rechtsanwalt tätig und hat so Einblick in das gesamte Spektrum des prallen Lebens – vom platt gefahrenen Huhn bis zur Aktiengesellschaft. Nachdem seine Kinder aus dem Haus sind, ist er wieder mehr auf Reisen; eine hat ihn nach Tunceli in der Türkei geführt, einen Ort im gebirgigen Osten Anatoliens, an dem Fürchterliches passiert ist …

Paragraf 301 wurde als einer der fünf besten Romane, die 2008 erschienen sind, für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert.

Von Wilfried Eggers sind außerdem lieferbar: Die Tote, der Bauer, sein Anwalt und andere und Ziegelbrand.

Weitere Informationen unter www.wilfried-eggers.de

 

 Widmung

für Nika und Sıddık

 Zitat

Was immer du suchst – such es in dir selbst.
Der erste Schritt zur Weisheit ist Bescheidenheit.
Hüte deine Hand, deinen Mund und deine Lenden.
Der Weg, der nicht durch die Wissenschaft führt, endet in Finsternis.
Gib den Frauen Bildung.
Schätze keinen Menschen und kein Volk gering.
Der Verstand sitzt im Kopf und nicht in der Krone.
Vergiss nicht, dass auch dein Feind ein Mensch ist.
Betet nicht mit den Knien, sondern mit dem Herzen.
Andere haben die Kaaba, meine Kaaba ist der Mensch.
Auch wenn man dich verletzt hat – verletze niemanden.
Tue niemandem an, was du nicht willst, dass man es dir antut.

Hacı Bektas Veli (1209–1295),
Gründer des anatolischen Alevitentums.
Aus seiner Grabinschrift in Hacıbektas, Türkei

Vortexte 

Gesetz Nr. 2510 vom 14. Juni 1934

Art. 1
Um die Bevölkerungskonzentration der nicht türkischsprachigen Menschen zu verhindern und die bereits vorhandene aufzulösen, ist es notwendig, eine Verbannung innerhalb des Landes vorzunehmen.

Art. 11
Diejenigen, die nicht zur türkischen Rasse gehören, werden in Form von Zerstreuung in Dörfer, in verschiedene Stadtteile und Bezirke zwangsumgesiedelt, damit sie keine Mehrheit bilden.
Personen ohne Beziehung zur türkischen Kultur und Personen mit einer Beziehung zur türkischen Kultur, aber mit einer anderen Muttersprache können jederzeit auf Anordnung des Innenministeriums aus kulturellen, militärischen, politischen, gesellschaftlichen oder sicherheitsbezogenen Gründen umgesiedelt werden.

 

Amtliches Nachrichtenblatt der Türkei
am 21. Juni 1934

Um die türkische Kultur zu verbreiten, wird die Regierung das oben genannte Gesetz nach bestimmten Punkten verwirklichen. Dazu hat das Innenministerium die Türkei in drei Regionen aufgeteilt:

1. die Regionen, in denen die türkische Kultur in der Bevölkerung sehr stark verankert ist;

2. die Regionen, in denen die Bevölkerung anzusiedeln ist, die es zu türkisieren gilt (das sind Gebiete im Westen, besonders am Mittelmeer, der Ägäis, dem Marmarameer und Thrakien);

3. die Regionen, die aus gesundheitlichen, ökonomischen, kulturellen, militärischen und sicherheitstechnischen Gründen entvölkert werden müssen, in denen sich niemand mehr ansiedeln darf (das sind Agrı, Sason, Dersim, Van, Kars, der südliche Teil von Diyarbakır, Bingöl, Bitlis und Mus).

Surnâme

Der Regierungsgesandte für die Hinrichtung der Festgenommenen, ein Mann mit Namen Ihsan Sabri Çaglayangil, der spätere Außenminister der Türkei, traf am Samstag, den 6. November 1937 früh um neun mit dem Nachtzug von Ankara aus in Xarpêt ein, oder besser – in Elazıg, wie die Großstadt im Osten Anatoliens jetzt hieß. Sechs Männer begleiteten ihn.

Seine Exzellenz, der Erste Staatspräsident Atatürk, hatte Çaglayangil mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet, damit er die rechtzeitige Hinrichtung der Festgenommenen veranlassen konnte. Diese sollten, natürlich unter strengster Beachtung aller Vorschriften des Rechtsstaates, durchgeführt werden, noch bevor Atatürk am kommenden Montag anreisen würde. Der Staatspräsident war auf dem Weg nach Diyarbakır, wo er die Brücke über den Fluss Murat einweihen wollte, einem Symbol der staatlichen Macht im Osten des Landes. In Elazıg lungerten sechstausend Weißhosen, wie man die Leute aus der Provinz Dersim, die nun den Namen Tunceli trug, nannte. Sie sollten keine Gelegenheit mehr bekommen, Seine Exzellenz um Gnade anzubetteln für ihren Anführer, der sie ins Elend geführt und um ihre Heimat gebracht hatte.

Im letzten Jahr hatte Seine Exzellenz Atatürk in seiner Rede zur Eröffnung des Parlaments die Zustände in der Provinz Tunceli als Narbe im Fleisch der Türkei, als furchtbaren Eiter im Innersten des Landes erkannt und gefordert, die Aufständischen endlich niederzuwerfen und das Übel samt seiner Wurzel anzupacken und zu säubern, koste es, was es wolle. Wenig später, am 4. Mai 1937 fasste der Ministerrat den geheimen Beschluss, sämtliche Dörfer der Provinz zu vernichten und ihre Einwohner zu deportieren und alle, die eine Waffe benutzt hatten, unschädlich zu machen. Jetzt, nach exakt achtzehn Monaten, war der Aufstand beendet; er hatte viele Menschen das Leben gekostet, aber dafür war das Dersimtum endgültig vernichtet und man konnte nun das Gebiet schrittweise dem türkischen Rechtswesen unterwerfen. Der greise Anführer der Aufständischen, Seyit Rıza, und sechsundzwanzig seiner Gefährten waren schon vor Monaten verhaftet worden, als sie nach Erzurum gekommen waren, um der Regierung einen Friedensvorschlag zu machen. Aber es ging nicht um Frieden, sondern um Vernichtung und Unterwerfung.

Die Gerichtsverhandlung gegen die Gefangenen war kurz und fast abgeschlossen. Das Gesetz über die Verwaltung der Provinz Tunceli Nr. 3195 vom 2. Januar 1936 gebot, innerhalb von zwei Tagen nach Abschluss der Vorermittlungen Anklage zu erheben, und es verbot, die Anklage den Angeklagten zur Kenntnis zu geben. Das war auch nicht nötig, denn diese verstanden kein Türkisch. Außerdem war gemäß Paragraf 29 des Gesetzes die Berufung ausgeschlossen.

Der Regierungsgesandte deponierte sein Gepäck im Hotel und eilte zur Wohnung des Richters, den er mit dem Diktat der Urteile beschäftigt vorfand.

Übermorgen, am kommenden Montag, treffe Seine Exzellenz in der Stadt ein, erklärte der Gesandte und verlangte, dass die notwendigen Todesurteile bis dahin vollstreckt zu sein hätten.

Am Samstag könne das Gericht nicht tagen, lehnte der Richter ab, nachdem er die Sekretärin fortgeschickt und ihr Tee zu bereiten befohlen hatte. Und ebenso wenig am Sonntag. Das Gericht trete vorschriftsgemäß nur an Werktagen zusammen, die Urteile könnten deshalb erst am Montag verkündet und vor Dienstag nicht vollstreckt werden.

Der nimmt es wohl sehr genau, wie es sich gehört für einen ordentlichen Richter einer Republik, dachte der Regierungsgesandte. Ob es auch vorkomme, fragte er listig, dass das Gericht nach 17 Uhr tage, in den Abend hinein?

Der Richter rieb seine klammen Hände über dem Kohlebecken, das neben seinem Schreibtisch stand. O doch, gab er widerstrebend zu, das komme vor, man verhandele mitunter bis abends um 22 Uhr oder noch länger. Wenn es nötig sei.

Wenn man Gerichtsverhandlungen später enden lassen könne, schlug der Gesandte vor, könne man sie doch auch früher beginnen lassen? Nämlich Sonntagabend um Mitternacht; beginne nicht der Montag um 24 Uhr? Wo sei da ein Unterschied zu machen? Wie solle er, der Gesandte, Seiner Exzellenz erklären, dass der Richter zwar bereit sei, eine Verhandlung um fünf Stunden zu verlängern, jedoch nicht, sie um kaum längere Zeit früher zu beginnen?

Die Sekretärin brachte den Tee, ließ das Henkeltablett auf dem Schreibtisch stehen. Der Richter rührte schweigend in seinem Glas, mit einem scheuen Seitenblick auf das Porträt des Präsidenten. Man könne derart verfahren, gab er schließlich zu – doch werde es an der notwendigen Beleuchtung fehlen.

Das Problem werde er lösen, versicherte der Gesandte, auch werde er Galgen, Henker und Beisitzer herbeischaffen, damit die Urteile unmittelbar nach ihrer Verkündung vollstreckt werden könnten; der Staatsanwalt habe den Tod aller siebenundzwanzig Angeklagten verlangt, ob man die Vorbereitungen danach orientieren könne?

Das wisse er nicht, erklärte der Richter, das stehe erst fest, wenn die Urteile geschrieben seien.

Nachdem dies besprochen war, eilte der Regierungsgesandte zum Kommandeur des Ausnahmezustandsgebietes, Abdullah Pasa. Dieser hatte nach Paragraf 33 des Tunceli-Gesetzes die Todesurteile zu bestätigen. Auf siebenundzwanzig vorbereiteten Blankobögen unterschrieb der Kommandeur den Satz Das obige Urteil wird hiermit bestätigt und versah jedes Blatt mit Signatur und Siegel.

Der Gesandte war zufrieden. Den Erfordernissen des Rechtsstaates war Genüge getan und er und seine Mitarbeiter hatten noch einen ganzen Tag Zeit, um mit Unterstützung des Kommandeurs die technischen Vorkehrungen zu treffen, also Galgen, Henker und Beisitzer herbeizuschaffen und nicht zuletzt reißfeste Stricke und einen Eimer Olivenöl, um sie einzuweichen.

Zur Mitternacht des folgenden Tages, zur ersten Minute des Montags, trat das Gericht im Gefängnis zusammen, dessen Umfeld mit Autoscheinwerfern ausgeleuchtet wurde. Der übermüdete Richter verkündete seine Urteile. Nur sieben der Angeklagten wurden zum Tode verurteilt, der Rest zu Freiheitsstrafen; einige wurden sogar freigesprochen. Da der Richter im Urteilsspruch nicht den Begriff ›Hinrichtung‹ gebrauchte, das türkische Wort dafür hatten die Angeklagten im Gefängnis gelernt, sondern die ›Todesstrafe‹ verhängte, verstanden die Angeklagten das Urteil falsch und jubelten: Keine Hinrichtung!

Dann fuhr man mit dem Automobil zum Gendarmeriequartier. Der Polizeidirektor Ibrahim als Stellvertreter des Staatsanwalts und der Sondergesandte nahmen den Anführer des Aufstands, Seyit Rıza, zwischen sich. Für alles war gesorgt. Der Gouverneur, Abdullah Alpdogan, hatte einen Henker aufgetrieben, der zehn Lira je Hinrichtung verlangte und damit nicht zu teuer war.

Sie führten Rıza in das Gebäude, dessen rissige Wände von Druckluftlampen erhellt wurden. Die Tischchen waren aufgestellt, wie es sich gehörte für Hinrichtungen. Erst als Seyit Rıza diese sah, begriff er seine Lage.

»Ihr werdet uns erhängen«, stellte er fest und wandte sich dem Gesandten zu. »Bist du extra aus Ankara gekommen, um mich zu erhängen?« Rıza zitterte nicht und lächelte kalt.

Der Gesandte Atatürks schwieg. Er war erst neunundzwanzig Jahre alt und stand zum ersten Mal in seinem Leben einem Menschen gegenüber, der hingerichtet werden sollte, einem alten Mann von fünfundsiebzig Jahren. Über die Schultern des Delinquenten hinweg beobachtete er durch das Fenster, wie Findik Hafiz auf dem Hof gehenkt werden sollte. Das Seil riss, offenbar hatte es der Henker nicht lange genug im Öl eingeweicht. Der Gesandte stellte sich so vor das Fenster, dass Rıza nicht hindurchblicken konnte; denn das Strafgesetzbuch schrieb vor, dass, sofern mehrere Personen zu erhängen waren, diese nicht den Tod der anderen sehen durften.

 

Der Staatsanwalt fragte Rıza, wie es das Gesetz bestimmte, ob er beten wolle und welchen letzten Wunsch er habe.

Rıza schüttelte den Kopf und antwortete: »Ich habe nur vierzig Lira und meine Uhr. Gebt alles meinem Sohn.«

Dann wurde er nach draußen geführt. Die Scheinwerfer der herbeigeholten Personenkraftwagen beleuchteten den Galgen. Der tote Hafiz war fortgebracht.

Keine Menschenseele war zu sehen, aber Rıza hob den Kopf und sprach laut, als hätte er eine Menge vor sich: »Wir sind die Nachfahren von Kerbela. Wir sind unschuldig. Es ist eine Schande! Eine Grausamkeit! Ein Mord!«

Die Worte hallten wider von den Mauern des Hofes. Den Gesandten überlief es kalt.

Der alte Mann ging mit gleichmäßigen scharfen Schritten auf den Henker zu und stieß ihn zur Seite, bestieg den Stuhl, nahm das Seil, legte die Schlinge um seinen Hals und trat ins Leere.

»Es ist kalt«, sagte der Gesandte zum Staatsanwalt. »Ich gehe zurück zum Hotel.«

Seine Stimme zitterte. Seine Nerven waren angegriffen. Aber er hatte seinen Auftrag ausgeführt und alle rechtsstaatlichen Vorschriften eingehalten.

Teil 1

Adamans Stein

 

Ich könnte die Thora schreiben
Die Bibel könnte ich in Verse fassen
Den verborgenen Gehalt des Koran fühle ich
Denn ich bin ein Mensch

Asık Daimi (1932–1983),
alevitischer Dichter

1.

»Wackel nicht so, beim Satan!«, brüllte der Mann unter uns.

Eine Sekunde später stand er neben dem Bett und zog hinten unter dem Hemd einen Eisenspieß hervor. Dann ging er auf mich los. Aber er hatte seine Augen nicht unter Kontrolle. Es sind die Augen, die verraten, ob du Angst hast. Du musst deine Augen ruhig und überlegen blicken lassen, schon bevor du sie aufmachst. In den Augen des Mannes aber flitzte Angst hin und her wie eine Ratte, die du in die Enge getrieben hast. Ich ließ mein rechtes Bein hervorschnellen und traf die Ratte mit dem Fuß an der Kehle. Der Spieß streifte mich am Bein und fiel scheppernd zu Boden, bevor der Mann zusammensackte. Er röchelte und blieb liegen. Ich hätte ihn töten können mit diesem Tritt. Ich bin sonst ein friedlicher Mensch, der niemandem Böses will, aber als ich ihn trat, hatte ich den Bauch voller Hass. Das haben hier alle.

»Lass mich zufrieden, wenn du nicht sterben willst«, sagte ich. Ganz ruhig sagte ich das. Und sah dabei woanders hin, als interessierte mich der Verletzte nicht mehr. Denn Ruhe zeigt Macht. Seine Kumpane rührten sich nicht um ihn, aber sie wollten den Spieß, und eine behaarte Hand kroch zu dem Eisen hin. Da sprang ich schon hinunter und quetschte sie, der Mann stöhnte vor Schmerz, blieb sonst aber schweigsam, und ich nahm den Spieß. Nun hatten wir eine Waffe.

Zum Glück hatte ich nicht gelegen. Wer weiß, ob ich sonst die Kehle so gut getroffen hätte. Wir können hier tagsüber nicht liegen. Es sind nicht genug Betten für alle da. Ich hatte im Schneidersitz gehockt, im Rücken den Koffer des Deutschen, den ich bewache. Das ist eine meiner Pflichten und ich erfülle sie gewissenhaft.

Der Angreifer hatte verloren. Wer hier verliert, hat keine Würde mehr. Er ist nichts mehr wert und taugt nur noch zum Diener, zum Sklaven.

Ich bin auch Sklave, aber ich habe es besser als die anderen Sklaven, weil ich der Sklave der Ausländer bin. Wir sind nur zu viert. Es ist die kleinste Gruppe hier. Es gibt Gruppen mit über zwanzig Leuten, vielleicht sogar mehr, ich kenne sie nicht alle. Jede Gruppe hat einen Anführer. Der Anführer ist der König und, was er sagt, ist Gesetz. Die übrigen sind Untertanen, sie müssen gehorchen. Einige unterstehen nur dem König, wie Minister. Er bespricht sich mit ihnen, wenn er will. Die anderen Untertanen müssen den Ministern gehorchen und natürlich auch dem König selbst. Sie sind kleine Statthalter. Der Sklave aber muss allen gehorchen. In Gruppen, die groß sind, gibt es mehrere Sklaven. Wenn man längere Zeit hier ist, stellt man fest, dass es auch unter ihnen eine Rangordnung gibt. Immer gibt es einen, der ganz unten ist, der sich mit niedergeschlagenem Blick zur Seite drückt, wenn ein anderer seinen Weg geht. Der Mann, der mich angegriffen hatte, würde von jetzt an auch mir gehorchen.

Mein König ist ein Österreicher. Er ist ein komischer König, weil er Arbeiten macht, die eigentlich mir zustünden als seinem Sklaven. Aber das schadet seiner Würde nicht, er kann es sich leisten. Wer mächtig ist, darf geben, ohne seine Macht zu verlieren. Ja, die Macht wird durch das Geben sogar noch größer. Wer viel geben kann, ist ein mächtiger König. Zum Beispiel kocht der Österreicher für uns, er bedient uns, obwohl er König ist. Er hat ein Kuchenblech und Geld genug, um sich Gas zu kaufen für den Kocher. Auf dem Kuchenblech brät er Zwiebeln und Kartoffeln und manchmal ein Ei. Ich schneide die Zwiebeln und schäle die Kartoffeln für ihn und die anderen beiden Ausländer, und er brät sie, der Österreicher. Ich sitze stumm daneben und warte, dass er mir das Essen zuteilt. Der König muss für seine Untertanen sorgen, das gehört zu seinen Pflichten. Denn die Untertanen sind sein Heer, das ihn verteidigt, wenn es zum Kampf kommt. Wenn wir tapfer sind, belohnt er uns, und als ich dem Mann unter uns den Spieß genommen hatte, da bekam ich ein gebratenes Ei.

Nach dem Essen wasche ich ab. Ich gehe nach nebenan, durch den steinernen Torbogen in einen dämmrigen Seitenraum, wo es einen Spülstein mit drei Wasserhähnen gibt und zwei Klos. Unter den Löchern im Betonboden gären unsere Ausscheidungen, man glaubt, die Dünste zu sehen, und die Luft taugt nicht zum Atmen. Es ist immer starker Betrieb dort, besonders wenn der Durchfall seine Runde macht, denn die Leute von oben haben nur ein Klo und keinen eigenen Wasserhahn. Sie verrichten ihre Notdurft bei uns und holen ihr Wasser aus unseren Wasserhähnen, und weil sie keine Eimer haben, sondern nur kleine Konservendosen, müssen sie den ganzen Tag herunter- und hinaufgehen, und so ist es ein Kommen und Gehen von früh bis spät. Sie leben in einem riesigen steinernen Saal, mehr als dreihundertfünfzig sollen es sein, und ich habe lange gebraucht, bis ich mir bestimmte Gesichter merken konnte.

Einige Male war ich oben. Man muss in den Innenhof gehen und eine steile eiserne Treppe aufsteigen, um in den Saal zu gelangen. Vor dem einzigen Fenster steht eine Tonne, ein ehemaliges Ölfass vielleicht, unter dem ein rauchiges Feuer das Wasser wärmt. Beißender Qualm empfängt dich, wenn du eintrittst, und dahinter ist eine Dunkelheit, so dicht und pechschwarz wie der Blick des Blinden. Sie haben ein paar nackte Glühbirnen dort und manchmal, wenn es Strom gibt, sieht man die langen Reihen der doppelstöckigen Betten, immer vier und vier zusammengestellt, und die bärtigen Gesichter magerer Männer. Sie hocken auf den Matratzen und schweigen, oder sie flüstern miteinander, meistens von der nächsten Amnestie, und dann werden ihre Blicke noch glühender als sonst.

Dagegen ist unser Reich klein. Es besteht aus der oberen Etage von zwei zusammengestellten doppelstöckigen Eisenbetten. Nachts schlafen wir darauf und am Tag sitzen wir darauf, jeder auf seinem Viertel, wir vier: der Österreicher, der Deutsche, der Franzose und ich. Seit ich Untertan des Österreichers bin, habe ich genug zu essen. Deshalb passe ich gut auf den Koffer des Deutschen auf, denn darin sind seine Sachen, die er nach und nach verkauft. Mit dem Geld schicken sie mich einkaufen, unten im Hof kann man vormittags an einer hölzernen Luke Kartoffeln, Zwiebeln und Eier erstehen, und manchmal Käse oder Tomaten und Paprika. Nur das Brot und die Suppe, die wir vormittags bekommen, müssen wir nicht bezahlen. Aber man wird nicht satt davon und kann die Suppe nur essen, wenn man einen Napf hat. Die Ausländer haben jeder einen, der Franzose hat ihn dem letzten Toten abgenommen, einem Mann aus Bingöl, über den ich sonst nichts weiß. Hier wird ziemlich viel gestorben, besonders nach Razzien, wenn wir geschlagen worden sind, oder nach Verhören, in denen wir gefoltert wurden. Sie fesseln uns die Hände auf dem Rücken und hängen uns daran auf, an einem Haken in der Decke, den sie drehen können. Es dauert nicht lange, bis die Arme auskugeln, und man kann seine Kraft verlieren für alle Tage. Oder wir müssen uns nackt ausziehen und werden mit eiskaltem Wasser abgespritzt. Manchmal müssen wir dabei auf Glasscherben stehen, jede Bewegung schneidet in die Füße. Oder sie machen Sachen mit uns, die man später niemals erzählen kann. Denn sie dürfen mit uns machen, was sie wollen – es gibt ein Gesetz, dass sie nicht bestraft werden können für das, was sie im Dienst getan haben.

Den Deutschen schlagen sie nicht. Er glaubt, er kommt hier bald raus, sein Konsul hole ihn. In der letzten Woche dachte er, es sei so weit. Die Wachen haben ihn abgeführt und abends zurückgebracht. Ihm war nichts passiert, er kam so gesund wieder, wie er fortgegangen war. Er erzählte, er sei in einem großen Raum gewesen, mehrere Männer in Uniformen hätten hinter Tischen gesessen, sie hätten geredet, aber er habe ja nichts verstehen können. Den Konsul habe er nicht gesehen. Eine Gerichtsverhandlung, habe ich ihm erklärt. Sicher hatte man ihn verurteilt. Aber zu wie vielen Jahren, das vermochte ich auch nicht zu sagen. Wir haben hier nur Drogenhändler, Mörder und Politische. Die Drogenhändler bekommen alle sechsunddreißig Jahre, die Mörder lebenslänglich und die Politischen verschiedene Strafen.

Wenn Zellendurchsuchung ist, werfen wir unsere Waffen auf die Betten der Mörder, ihnen macht es nichts, wenn sie drei Jahre mehr bekommen wegen unerlaubten Waffenbesitzes. Sie kommen sowieso nicht wieder heraus. Es sei denn, dass es eine Amnestie gibt. Fast jeden Tag wird gemunkelt, es gäbe bald eine neue Amnestie. Das ist ein großes Thema hier. Und dass bald neue Gefängnisse gebaut werden sollen, mit kleinen Zellen für höchstens drei Gefangene oder sogar mit Einzelzellen. Solche Zellen nennen wir Särge. Wir wollen keine Zellen wie zu Musa Anters Zeiten. Alle haben Angst davor, denn wenn wir allein sind, können wir uns nicht wehren, wir sterben einen namenlosen Tod und verlieren unsere Ehre. Unsere Angehörigen können nichts erzählen. Wenn die neuen Gefängnisse kommen, wird es einen Aufstand geben, wird gemunkelt.

Der Deutsche braucht keine Amnestie. Dauernd redet er von seinem Konsul. Er sagt es so oft, dass ich es nachsprechen kann. Überhaupt – ich lerne Deutsch. Er und der Österreicher, sie bringen mir ihre Sprache bei und ich ihnen meine. Sie schwärmen von ihren Ländern. Dort gäbe es keine Gemeinschaftszellen, sagen sie. Und die Häftlinge haben keine Angst vor kleinen Zellen. Im Gegenteil, sie beschweren sich sogar, wenn sie in einer Zelle sitzen müssen, in der mehr als vier oder fünf Gefangene sind. Alles genau umgekehrt wie hier.

Der Franzose redet wenig, denn er versteht niemanden. Deutsch beherrscht er nicht, unsere Sprachen erst recht nicht, und er will sie auch nicht lernen. Der Österreicher spricht ein paar Worte Französisch und ist sein Dolmetscher.

Der Deutsche hat mir seine Adresse gegeben. Er sagt, in seinem Land ist alles besser. Es würde Rechtssicherheit geben, sagt er. Ein langes Wort, das hat er mir beigebracht. Man dürfe seine Meinung überall kundtun, und jeder in seiner Sprache.

Hier im Gefängnis von Edirne dürfen wir alle Sprachen sprechen, die Kurden tragen sogar ihre Beutelhosen, die sie Salvar nennen, aber draußen ist das verboten, dort ist nur Türkisch erlaubt, und wer Kurdisch oder Zazaki spricht, ist ein Staatsfeind, der für die Spaltung des Landes eintritt. Es reicht schon für eine Verhaftung, dass man eine Kassette mit kurdischer Musik im Auto liegen hat. Und wer Zazaki spricht und gar noch wie ich ein Rotkopf aus dem Dersim ist, der ist für die Türken ein Terrorist. Auch den Kurden sind wir verdächtig. Einer wie ich gehört nirgendwo dazu. Deshalb nennen sich viele von uns Kurden, obwohl wir keine sind, und manche behaupten sogar, sie seien Türken, obwohl wir das erst recht nicht sind.

Der Deutsche sagt, in Deutschland gebe es keine Unterdrückung. Wohl deshalb sind von unseren Leuten aus dem Dersim so viele nach Deutschland geflohen, es sollen schon hunderttausend sein, oder in die Schweiz und sogar nach Schweden. Die meisten sagen, es gehe ihnen gut, und sie schicken ihren Familien Geld. Ich wollte es nicht glauben, denn wem ein Wagnis misslungen ist, der mag es nicht zugeben und übertreibt gern.

Doch mittlerweile glaube ich es auch. Es sind nur noch wenige, die im Dersim leben. Die Türken nennen den Bezirk Tunceli, seit damals, als unsere Leute unter Seyit Rıza den Aufstand gewagt haben und mit dem Tod oder Vertreibung bezahlten.

Wenn ich hier jemals herauskomme, dann werde ich nach Deutschland gehen, nach Hamburg. Mein Onkel sagt, wo ein großer Hafen ist, dort sind die Menschen freundlicher. Sie sind gewöhnt an fremde Menschen und haben keine Angst vor dunkler Haut und fremden Sitten.

Ja, wenn ich hier herauskomme – dann gehe ich nach Deutschland, nach Hamburg.

2.

Es gab keinen Grund, mehr Angst zu haben als sonst. Trotzdem klopfte sich Heyder Cengi den Zementstaub aus der blauen Arbeitsweste, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und trat zum dritten Mal an das offene Fenster im Südgiebel, um einen misstrauischen Blick nach unten auf die Straße zu werfen.

Nichts. Dieselben Baufahrzeuge wie vorhin. Irgendwo kreischte eine Flex, wahrscheinlich kam der Lärm aus dem übernächsten Block, wo Paul die alten Heizkörper von den Wänden holte. Paul war in Ordnung. Er nahm Cengi morgens mit zur Arbeit und abends wieder mit zurück. Er brachte ihn sogar bis zum Wohnwagen nach Ruthensand, wo Cengi seit dem Sommer wohnte. Der Campingplatzwart ließ ihn einen der Wohnwagen benutzen, als Gegenleistung mähte Cengi den Rasen, schnitt die Hecken und machte das Klohaus sauber. Es war gut, wenn man nicht mit dem Fahrrad zur Arbeit musste. Nicht wegen der Anfahrtszeit, zweiunddreißig Kilometer hin und zweiunddreißig Kilometer wieder zurück – das war nicht schlimm. In seiner Zeit in Vechta war Cengi monatelang fünfzig Kilometer zur Arbeit gefahren. Und fünfzig wieder zurück. Nein, auf dem Fahrrad fühlte man sich schutzlos. Man war allein. Als würde jeder sehen, dass man keine Aufenthaltsgenehmigung hatte. Besonders im November. Im November fuhr bestimmt niemand freiwillig mit dem Fahrrad: nur illegale Türken und führerscheinlose Einheimische. Wenn man mit dem Fahrrad fuhr, fuhr die Angst mit. Deshalb war Cengi froh, dass ihn Paul mit zur Arbeit nahm, in die ehemalige Kaserne, die vor gut drei Jahren geschlossen worden war.

Der Mann, für den sie arbeiteten, ein gewisser Schütt, hatte drei große Häuser gekauft; man nannte die Gebäude Mannschaftsblöcke, weil früher Soldaten darin gewohnt hatten. Er wollte sie zu Wohnungen umbauen; eine Menge Arbeit, Cengi würde lange zu tun haben. Das beruhigte. Nur organisieren konnte Schütt nicht; in allen drei Blöcken wollte er gleichzeitig mit der Arbeit anfangen. Bevor der Winter kam, sollten die alten Heizkörper von der Wand, damit sie nicht platzten und das Wasser durch die Decke lief.

Dutzende der klobigen Backsteinriesen säumten die Straße, angetreten und stillgestanden wie Soldaten zum Appell, jeder ungefähr zwanzig Meter breit und fünfzig Meter lang. Sie trugen noch die alten Nummern, die Hitler und seine Generäle ihnen 1938 gegeben hatten. Vor einigen der Häuser rührten sich Schilder, Container, Schutthaufen, Gruben, Baumaterial. Die meisten aber hielten den Atem an und warteten auf einen Käufer.

Ein harmloser blauer Wagen bog in die Straße ein und fuhr langsam an den Häusern vorbei. Der Fahrer suchte etwas, denn er saß weit vorgebeugt und drehte seinen Kopf zwischen den Fäusten am Steuerrad. Cengi sah dem blauen Wagen nach, bis er im Westen hinter den letzten welken Novemberblättern der Bäume verschwand. Wahrscheinlich war die alte Turnhalle sein Ziel. Cengi atmete tief durch, drehte sich um und begann, neuen Putzmörtel zu mischen.

Vier Schaufeln Sand, eine Schaufel Kalk und eine knappe halbe Schaufel Zement in die Balje. Zementstaub puffte aus dem Bottich auf, eine kleine Wolke, durch die die Sonne schien. Schnell einen Eimer Wasser dazu, bevor der Staub ihm in die Augen biss. Cengi hätte den Mörtel auch unten vor der Tür und mit der Mischmaschine und nicht hier im zweiten Stock mit der Hand mischen können. Aber so musste er das Wasser, mit dem er die Masse anrührte, nicht auch noch mit hochtragen. Es gab in dem langen Flur ein Klo und neben den Pinkelbecken einen Wasserhahn, von dort hatte er sich einen Schlauch in diesen Raum gelegt. Der Chef war einverstanden.

Außerdem fühlte er sich hier oben sicherer. Cengi stach die Schaufel in den Mörtel und näherte sich wieder dem Fenster. Wo war der harmlose blaue Wagen? Ob der schon wieder zurückgekommen war? Oder fuhr er auf der Parallelstraße zurück?

Cengi hängte den Schlauch in den Wassereimer, drehte die Düse auf und ließ ihn volllaufen. Dann tauchte er den Quast in das Wasser und bespritzte die Wand zwischen Fenster und Tür. Das war das Wichtigste beim Putzen: Die Wand nahm nichts an, wenn sie trocken war. Und diese Wand war so trocken wie der anatolische Sommerwind, der den Wasserstand des Euphrat um Meter senkte, zwischen Mai und Oktober, wenn kein Regen fiel. Der Mörtel musste an der Wand kleben bleiben, wenn man ihn mit einem lockeren Schwung aus dem Handgelenk von der Kelle dagegen warf. Lieber hätte Cengi mit Lehm geputzt. Der blieb überall sofort kleben. Zu Hause benutzten sie ihn seit jeher, sie bauten sogar ihre flachen Dächer aus Lehm, mischten Salz unter die letzte Schicht und walzten sie, bis sie wasserdicht war. Zu Hause brauchten sie neben dem Haus nur ein Loch zu graben und schon hatten sie genug Lehm. Nach der Schneeschmelze war der so schmierig, dass man nach drei Schritten feststeckte. Hier kam Lehm gerade in Mode. Wer Geld hatte, besorgte sich Lehmputz vom Biobaustoffhandel und beschmierte damit seine Wände. Der Chef lästerte über diese Leute. »Früher hatten sie lange Haare und einen Bart, und heute laufen sie kahl rasiert rum und lassen sich Lehm an die Wände schmieren.« Cengi schüttelte den Kopf. Ganz schön verrückt, dachte er und dabei fiel ihm auf, dass er auf Deutsch dachte. Es war besser, auf Deutsch zu denken, wenn man hier war. Die anderen Sprachen, die er konnte, nützten ihm in diesem Land nichts.

Jedenfalls sollte hier kein Lehm an die Wand und auch kein Fertigmörtel, »bei dem weiß man nie, was drin ist«, wie der Chef gesagt hatte, sondern ein von Hand angerührter ordentlicher Kalkzementputz. Selbst gerührter Mörtel war billiger. Der Chef war ein geiziger Kerl, er zahlte nur sechs Mark die Stunde und hatte einen monströsen Bauch. Es gab viele dicke Bäuche und große Hosen hier. Den Leuten ging es gut.

Cengi arbeitete systematisch. Er bewarf die feuchte Wand mit Mörtel und strich ihn grob zurecht. Er nahm das große Putzbrett, stemmte es mit beiden Händen an die Wand und schliff in geschwungenen Achten über den Putz, zuerst abwärts, dann wieder aufwärts, drückte die Unebenheiten auseinander. Er hörte nur das sanfte Schmirgeln des Bretts über den fester werdenden Putz und seinen stoßweisen Atem. Zwischendurch ließ er das Brett sinken, trat einen Schritt zurück, prüfte das Ergebnis seiner Arbeit mit zusammengekniffenen Augen und horchte dabei instinktiv nach ungewohnten Geräuschen. Das war ihm zur Gewohnheit geworden, denn die Angst begleitete ihn Tag und Nacht, seit er aus dem Gefängnis freigekauft worden und mit falschen Papieren nach Deutschland geflohen war.

Putzen musste man können. Eine Arbeit, die man nicht mit Maschinen machen konnte, deren Ergebnis aber so aussehen sollte, als sei sie mit der Maschine gemacht worden. So war das hier. Dafür brauchte man zwei Fäuste an lockeren Handgelenken und im Auge eine dreidimensionale Wasserwaage. Die Leute waren anspruchsvoll in Deutschland, das könnte man zu Hause in Pulur niemandem erklären. Cengi legte das Putzbrett über die Balje. Dabei rechnete er aus, wie lange er den Mörtel noch würde verarbeiten können, bevor Riefen entstanden, weil er zu fest geworden war. Die Sonne, die durch die Fenster schien, heizte den Raum noch erstaunlich auf.

Plötzlich hörte er laute Stimmen. Cengi machte zwei lange Sätze zum Fenster. Der blaue Wagen stand vor dem Haus, der verdammte harmlose blaue Wagen. Drei Leute waren ausgestiegen und einer von ihnen ging auf die Eingangstreppe zu. Cengi riss seine Tasche an sich und stand mit einem Sprung im Treppenhaus. Von unten hallten die entschlossenen Schritte eines Mannes hoch, der in dreißig Sekunden vor ihm auftauchen würde.

Zu spät. Er steckte in der Falle.

Katzenleise wich Cengi zurück, zog die Tür zum Treppenhaus bis auf einen Spalt zu, stellte seine Tasche neben die Schwelle an die Wand. Zog das Putzbrett aus dem Mörtel. Begann zu reiben, während er die Schritte näher kommen hörte. Fühlte, wie ihm der Schweiß aus den Haarwurzeln trat.

Sie dürfen mich nicht kriegen, sie dürfen nicht.

Mit hämmerndem Herzen zwang er sich zur Arbeit. Die Tür wurde aufgeschoben. Cengi täuschte Überraschung vor, hielt in seiner Arbeit inne, das Putzbrett noch an der Wand. Ein schwerer Mann mit strähnigen blonden Haaren und fettglänzender Stirnglatze stand in der Tür. Er war mehr als einen Kopf größer.

»Guten Tag«, sagte Cengi höflich und zog die Augenbrauen fragend hoch.

»Guten Tag«, erwiderte der Dicke. »Sie – arbeiten hier?« Er atmete rasselnd und schwitzte. Der Mann war nicht in bester Form.

»Ja, wie Sie sehen.« Cengi schlenkerte mit der Rechten, als würde er Mörtelreste abschütteln, und ließ das Putzbrett locker herunterhängen. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Mein Name ist Helmcke. Helmcke mit c, k. Ich komme vom Arbeitsamt.« Er hatte ein fettes Gesicht, falsche Zähne und bleiche Bürokratenfinger, die aussahen wie Würste.

»Ah ja.« Cengi setzte das Putzbrett wieder an.

»Sozialversicherungskontrolle«, erklärte Helmcke mit c, k. »Wir prüfen, ob Sie eine Arbeitserlaubnis haben und als sozialversicherungspflichtig gemeldet sind. Wollen Sie meinen Ausweis sehen?«, fragte er und griff in die Jackentasche.

»Nein, tut nicht nötig.«

»Haben Sie eine Arbeitserlaubnis?«, fragte der Kontrolleur.

»Ach so«, machte Cengi. »Natürlich! Sie wollen meine Papiere sehen, verstehe ich das richtig?«

»Das verstehen Sie sehr richtig«, nickte Helmcke. Er trat von einem Fuß auf den anderen und sein Bauch schwabbelte.

»Mönsch, so ’n Scheiß. Die habe ich leider nicht hier«, erklärte Cengi bedauernd und sah dem Mann mit der Andeutung eines Lächelns in die Augen. »Die sind zu Hause. Würde es Ihnen ausreichen, wenn ich sie morgen mitbrächte – so um die gleiche Zeit?«

»Nein. Leider nicht. Meine Anweisungen … Ich müsste Sie sonst …« Der Dicke sprach nicht weiter, aber Cengi verstand ihn trotzdem sehr gut.

»Tja«, sagte Cengi und legte das Putzbrett auf die Balje. »Dann müssen wir eben …«, er zog sich die Weste aus und klopfte sie über den Knien aus, »… hinfahren. Zu mir nach Hause, meine ich. Meinen Sie, dass das geht?«

Helmcke nickte. »Müssen wir denn eben«, sagte er und blieb stehen wie festgewachsen, mitten in der Tür. »Hauptsache Sie zeigen mir die …«

Während in seinem Kopf die Gedanken rasten, ging Cengi in einem großen Oval an den Fenstern entlang, die sich über dem Haupteingang zum Parkplatz hin befanden. »Ein schönes Arbeiten hier«, sagte er. Er trat an das offene Fenster im Südgiebel. »Sehen Sie mal. Allein die Aussicht!«

Unten standen die Kumpane des Kontrolleurs, der eine lehnte am Wagen und rauchte. Der andere verdrehte den Kopf, als wollte er Vogelnester zählen.

Wenn er es vor dem Dicken ins Erdgeschoss schaffte und durch den Hinterausgang fortlief? Vielleicht hatte er eine Chance. Eine sehr kleine Chance. Und nur, wenn der Dicke ihn verfolgen würde, anstatt seine Kumpane von oben aus dem Fenster heraus zu alarmieren.

»Sehen Sie, da drüben!«, zeigte Cengi aus dem Fenster.

Der Dicke rührte sich nicht. Helmcke mit c, k interessierte sich nicht für Aussichten. Er bewachte die Tür wie Koukul die Gruft.

Umständlich faltete Cengi seine Weste.

Breitbeinig stand Helmcke in der offenen Tür und beobachtete Cengi misstrauisch.

»Kommen Sie schon«, sagte er. Ungeduld war in seiner Stimme. Sein Atem hatte sich inzwischen beruhigt und er wischte sich den Schweiß von der glänzenden Stirn. Er hatte milchblaue Augen.

»O Mann, schade um den Mörtel«, sagte Cengi, während er sich langsam dem Vollstrecker näherte. »Der wird mir jetzt hart. Und nachher kann ich die Brocken aus der Balje klopfen. Können wir nicht …«

»Tut mir leid, aber …«

Jetzt war Cengi neben dem Beamten. Er bückte sich zu seiner Tasche hinab und spannte alle Sehnen. Dann schnellte er hoch und rammte dem Kontrolleur den linken Ellbogen in den Schwabbelbauch, während er mit der rechten Faust seine Tasche packte und durch die Tür zurück in das Treppenhaus sprang.

Der Beamte keuchte, schnappte zusammen, fuchtelte mit den Armen, erwischte die Tasche und hielt sie fest wie ein Terrier die Ratte, stolperte hinter Cengi her bis vor den Absatz der Treppe.

Heyder Cengi kämpfte um sein Eigentum. Aber der Be-amte ließ nicht los. Sie drehten sich wortlos umeinander und knurrten sich an wie zwei brünstige Kater. Der Beamte langte mit einer Pranke nach Cengis Brust. Cengi ließ die Tasche fahren und stieß seinen Gegner mit beiden Fäusten von sich. Helmcke geriet ins Stolpern, torkelte Richtung Treppenabsatz und hielt sich im letzten Moment am Geländer fest. Die Tasche polterte zu Boden.

»So haben wir nicht gewettet«, zischte Helmcke und blockierte breitarmig wie ein Sumo-Ringer den Treppenabgang.

Cengi bohrte seine Augen in die seines Feindes, machte einen Satz und brachte mit einem Griff die Tasche wieder in seine Gewalt. Aber wie sollte er jetzt an dem Kerl vorbeikommen? Plötzlich blitzte ihm die Erkenntnis auf, dass gestern auf der anderen Seite des Dachbodens das Dach für eine Loggia geöffnet worden war und seit vorgestern das Gerüst an der Fassade stand. Ein Fluchtweg. Die einzige Möglichkeit. Die Kumpane des Dicken standen mit ihrem Auto auf der Vorderseite des Hauses, vielleicht konnte er unbemerkt auf der Rückseite hinuntersteigen. Wenn er schnell war …

Bevor er weiterdenken konnte, hatte Cengi sich umgedreht und die Eisentür auf der anderen Seite des kleinen Flurs am Kopfende der Treppe aufgerissen. Als die Tür hinter ihm zuknallte, hatte er den Bodenraum schon fast durchquert, er sprang durch das Loch im Dach hinaus auf das Gerüstbrett, wandte sich nach links und hastete außen an der Fassade entlang. Die Leiter nach unten – wo war der Niedergang? Hinter sich hörte er das angestrengte Schnaufen des Dicken.

Cengi umrundete die Hausecke, dort müsste er nach unten kommen können, hoffentlich sahen ihn die beiden anderen nicht.

Aber es gab hier keinen Niedergang. Er war in die falsche Richtung gelaufen. Er war gefangen. Er hatte den Fluchtweg nicht erkundet. Er hatte sich zu sicher gefühlt, er …

An der Hausecke rannten sie ineinander. Helmcke hieb seine fetten Pranken in Cengis sehnige Schultern und zerrte ihn zurück zur Loggia. Der Dicke war Spross eines Altländer Obstbauerngeschlechts und ließ niemals los, was er einmal in Händen hielt, Äpfel oder Geld – oder einen armen Anatolen, der Angst vor Verhaftung, Abschiebung und Folter hatte.

Sie kämpften verbissen, ohne Worte, um jeden Zentimeter.

Cengi verlor, der Vollstrecker zerrte ihn Stück um Stück zurück, bis Cengi sich mit beiden Händen an einer der senkrechten Gerüststangen festklammerte. Die Panik verlieh ihm die Kraft, die Knie hochzubringen, er stemmte sie dem Dicken vor die Brust und gewann etwas Raum.

Und dann …

»Ohh!«

Plötzlich war der Dicke weg.

Cengi ließ los. Er hörte ein trockenes Krachen, sah die unter ihm fortschwingende Gerüststange und dann Helmcke mit c, k, der mit aufgerissenen Augen auf dem Betonmischer lag, unten vor dem Hinterausgang. Er hatte noch nicht einmal mehr Zeit zum Schreien gehabt.

Cengi starrte die Gerüststange an, die schräg und sinnlos die Ordnung des rechtwinkligen Gefüges störte. Er schwankte auf dem jetzt ungesicherten Brett, fand den Abstieg jenseits der Loggia, die Leiter führte hinab zur nächsten Gerüstetage, mechanisch wie ein Schlafwandler griff er Sprosse für Sprosse, als habe er Zeit. Er konnte nicht mehr denken. Unten angekommen, blieb er Sekunden auf dem Gras stehen, näherte sich zögernd dem Vollstrecker, seine Tasche an sich gepresst wie einen Schutzschild. Es war kaum etwas darin. Nur eine saubere Hose, ein sauberes Hemd, eine Dose mit Brot und die Thermoskanne. Das war alles, was er besaß, nicht mehr als das, womit er vor drei Jahren nach Deutschland gekommen war.

Helmcke rutschte in Zeitlupe vom Betonmischer, sackte zusammen und blieb verrenkt liegen, mit leerem Blick aus toten Augen.

»He, Hinrich, was machst du denn da?«, brüllte es plötzlich von oben.

Cengi schnellte herum. Die Kollegen. Er hatte sie vergessen. Er musste fort.

»Was machst du bloß, Hinrich?!«

Aber Hinrich machte nichts mehr.

Jetzt stiegen die beiden Männer die Leiter herab. Mit jeder Sprosse wurden sie schneller.

»Ich …,« fing Cengi an. Er wollte erklären, wie … Aber sie würden ihm nicht zuhören.

Schnell überquerte er die mit Büschen und Bäumen bewachsene Fläche zum nächsten Mannschaftsblock und verschwand dahinter.

Er hatte eine sehr kleine Chance, wenn er es über den Zaun schaffen würde. Über den Stacheldraht.

3.

Rechtsanwalt Schlüter, von manchen seiner Kollegen auch »der Fuchs« genannt, verließ seine Kanzlei im Dachgeschoss des Altstadthauses, trat hinunter auf die dunkle Straße und atmete die scharfe Novemberluft ein. Es roch nach fauligem Hafenwasser und Frost. Gestern war Buß- und Bettag gewesen und pünktlich zeigte der Winter seine ersten Kristalle. Nicht lange, und man würde Weihnachtssterne und Lichterketten aufhängen und die Fensterbänke mit Kerzentreppen vollstellen.

Im alten Hafen dümpelte ein abgetakeltes Segelschiff. Man hatte es kürzlich mit einem Kran in das Becken gesetzt, der Touristen wegen. Es konnte nicht fort und hinaus auf die Elbe in Wind und Tide und Wellen und die Freiheit der Meere, weil eine Straße den alten Hafen vom neuen trennte. Und so wie das Schiff fühlte sich Schlüter: eingesperrt, überflüssig, schal. Ein Leben ohne Herausforderungen. Am liebsten wäre er zum Nordpol gegangen, aber er ging immer nur in sein Büro, im dritten Jahrzehnt nun schon, jeden Arbeitstag, und das ganze Jahr stritt er sich für andere und zu Hause las er dicke Bücher und trank Tee mit Christa, seiner Frau, mit der er seit frühesten Studententagen verheiratet war und drei Kinder großgezogen hatte, die längst ihr eigenes Leben führten. Schlüter fühlte sich taub, leer. Er sehnte sich nach einem Abenteuer. Er hatte schon lange nichts Richtiges mehr erlebt.

Abgesehen vielleicht von dem Konzert vorgestern. In dem er mit Christa gewesen war, in der Stadthalle, dem teuersten Dorfgemeinschaftshaus Norddeutschlands, ein 53 Millionen Mark teurer Beweis für die Unfähigkeit des Menschen, mit fremdem Geld zu haushalten; es sollte der müden Kultur dieses verschlafenen Beamtennestes aufhelfen. Kultureum hieß das Haus aus Beton und Glas hochtrabend, das sich der Stadtdirektor als Denkmal gesetzt hatte, bevor er zum Aufbau Ost nach Sachsen-Anhalt davongegangen war. Nun hatte sein Nachfolger das Defizit zu verantworten.

Seitdem konnte Heino auch in Hemmstedt Kein schöner Land singen. Aber nicht für Peter Schlüter und seine Frau Christa, sie hatten das slowakische Symphonieorchester aus Bratislava unter der Leitung von Libor Pešek gehört: die Salzburger Symphonie von Mozart, Köchelverzeichnis 137, und Stücke von Haydn und Vivaldi. Frau Elfers hatte die Konzertkarten, die sie von ihrem Putzstellenchef geschenkt bekommen hatte, auf Schlüters Schreibtisch gelegt, als sie ihn wegen des Grabsteinprozesses heimsuchte, mit der Bemerkung, vielleicht könne er ja was damit anfangen. Sie jedenfalls nicht. »Mein Mann geht nicht zu so was, und Pratischlawa, wo ist das eigentlich?«

Schlüter ging eigentlich auch nicht zu so was, nach der Arbeit mied er Menschen. Seine freie Zeit pflegte er lieber mit dem Lesen abseitiger Bücher zu verbringen, möglichst mit einer Tasse gutem Tee. Lesend lernte man; Länder, Landschaften, Städte und Völker waren aus der Verborgenheit jenseits der gefallenen Grenzen wieder aufgetaucht, mit neuen Namen. Und mit ihnen die Literaturen, ein halber Ersatz für Reisemuffel wie Schlüter, die glaubten, dass man seit der Erfindung des Buchdruckes Erfahrungen nicht mehr selbst machen musste. Seine letzte Reise mit Christa ging vor vier Jahren nach Oslo, damals, nachdem er die Sache Kaczek gegen von Rönn überstanden hatte. Ein Einzelkämpfer konnte sich keinen Urlaub leisten, denn einer Vertretung traute Schlüter nicht, abgesehen von den Kosten. Er war unentbehrlich. Der Gedanke an freie Tage mitten in der Woche machte ihm Angst.

Schlüter beschloss, wenn er denn schon nicht zum Nordpol gehen konnte, wenigstens eine Runde am Burggraben entlang zu machen, bevor er in den Gerbergang heimkehrte. Man bewegte sich ja sonst nicht. Man wurde älter und setzte an. Sollte er sich mit seinen mittlerweile deutlich mehr als fünfzig Jahren etwa eine pink Hose mit bonbonfarbenen Nähten und reflektierenden Rallyestreifen anziehen und im Stadtpark zwischen den Enten herumrennen? Nein! No sports. Schlüter ging spazieren und hinterher würde er Björnsson lesen, einen vergessenen Dichter, den man zu seiner Zeit in den Städten Europas als Aufrührer und Frauenbefreier gefeiert hatte, in Paris, Berlin, Wien – und wahrscheinlich auch Bratislava, als es noch Pressburg hieß und seine Juden noch nicht ermordet und seine Ungarn noch nicht vertrieben waren. Björnsson stammte aus einer kleinen Stadt weit im Norden, die damals nicht größer als das Hemmstedt von heute gewesen war und keine 40.000 Einwohner gezählt hatte. Von diesem Kaff namens Bergen hatte sich Björnsson die Welt erobert. In Oslo hatte Schlüter einer zehnbändigen Gesamtausgabe nicht widerstehen können, obwohl er kein Wort Norwegisch konnte, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als die Sprache zu lernen, wollte er sich nicht dem Spott seiner Frau aussetzen. Er hatte zunächst heimlich begonnen und nach den ersten Fortschritten offen unter Christas Augen weitergemacht. Zurzeit buchstabierte er sich durch die Erzählung Synnöve Solbakken mithilfe eines Wörterbuches und einer deutschen Übersetzung, die er im Hemmstedter Antiquariat entdeckt hatte. Die jungfräulichen Seiten des Buches schnitt er mit einem Federmesser altmodisch auf.

Oslo, Bergen, Bratislava. Die Konzertkarten. Frau Elfers, die nicht wusste, woher die Musiker kamen, war die eine der beiden guten Töchter der Erna Rathjens, der Engelsmoorer Altbäuerin, die, jämmerlich krepiert vor fünf Jahren, nicht zur Ruhe kam, weil ihre Kinder um ihren Grabstein prozessierten. Die guten Töchter hatten die Beerdigung bezahlt und verlangten von ihrem Bruder, Hans-Herrmann Rathjens aus Engelsmoor, er möge sich an den Kosten beteiligen, exakt zu einem Drittel; sie wollten sich nicht bereichern, sondern nur haben, was ihnen zustand. Alle wollten immer nur haben, was ihnen zustand. In diesem Land von Gerechtigkeitsfanatikern ein weit verbreiteter Wunsch, der stets für Zwist sorgte und den Rechtsanwälten Brot und Arbeit verschaffte. Wie viel stand einem zu? Das war die Frage, die auch die Justiz nicht beantworten konnte, sooft man sie ihr auch stellte, denn von ihr bekam man keine Gerechtigkeit, sondern nur Urteile.

Hans-Herrmann Rathjens wollte nicht bezahlen, weil er weder die Musik bestellt habe, womit er wohl den Pastor meinte, noch zur Beerdigung der alten Hexe erschienen sei, wie er seine Mutter nannte. Aber er freute sich über das Ansinnen, denn so konnte er es mit Inbrunst zurückweisen und hatte endlich wieder einen Streit, der das Leben lebenswert machte. Hans-Herrmann Rathjens brauchte Streit wie die Luft zum Atmen und nun war das verrostete Familienbeil ausgegraben, frisch geschärft und Schlüter zur Schlacht übergeben worden. Fast täglich fand er eng beschriebene Zettel in seinem Briefkasten, die Rathjens spätabends nach dem Melken verfasst, nach Hemmstedt transportiert und eingeworfen hatte.

Schlüter verdankte die Konzertkarten also der toten Erna Rathjens. So musste er Christa keine Blumen kaufen zum sechsunddreißigsten Hochzeitstag und lud sie zum Konzert ein. Er mied sonst alle Zusammenkünfte, an denen mehr als drei Menschen teilnahmen, er bekam Platzangst bei jeder größeren Versammlung, schon Gerichtsverhandlungen brachten ihn an seine Grenze. Seine Scheu hatte sich mit den Jahren verstärkt. Er war mutig hingegangen zum Kultureum, mit Christa im langen schwarzen Rock, schön wie immer, er selbst in unauffälliger grauer Bürokluft.

Mozart, Haydn und Vivaldi. Eine gehobene Veranstaltung für die obere Klasse, und alles, was Rang und Namen hatte, war in dem lichtfunkelnden Saal erschienen, stand in Grüppchen und unterhielt sich vertraulich. Richter Hohlmeier, genannt Vulgo, ehemals Vorsitzender der Großen Strafkammer, nunmehr der Zweiten Zivilkammer, Schlüters Intimfeind, war einer der Ersten, dem Schlüter zunicken musste. Einige Reihen vor ihnen nahm tatsächlich der perfekt frisierte Kollege Meier-Mertes Platz neben seiner dritten Frau, mit der er nun auch schon wieder zwei Kinder hatte, wie es hieß. Drei Plätze daneben erkannte Schlüter den Präsidenten an seinem feisten Nacken. Er war aus Eisleben zurück, wo er geholfen hatte, die Ostjustiz durcheinanderzubringen, die entspannte Zeit ohne ihn war viel zu schnell zu Ende gegangen. Der Präsident verschickte bereits erste Terminsladungen, natürlich war er auch in der Grabsteinsache zuständig. Und drüben im Gang unterhielten sich die stark geschminkte Familienrichterin mit dem Strafrichter Vollmann und dem Kollegen Reimers.

»Hast du was?«, hatte Christa leise gefragt und ihm ihre intime Hand auf den Schenkel gelegt, eine Geste, mit der sie ihn immer versöhnte.