Titelbild

Richard Friebe

HORMESIS

Das Prinzip der Widerstandskraft

Wie Stress und Gift uns stärker machen

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© 2016 Carl Hanser Verlag München

www.hanser-literaturverlage.de

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Datenkonvertierung E-Book: Kösel Media, Krugzell

ISBN 978-3-446-44311-2

E-Book-ISBN 978-3-446-44325-9

»Alle Dinge sind Gift, und nichts ohne Gift;
allein die Dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei.«

Paracelsus, Septem Defensiones, 1538

VORWORT

Dieses Buch ist ein Risiko. Nicht nur für den Verlag, der auf den Umschlag in großen Buchstaben einen Begriff schreibt, den die allermeisten noch nie gehört haben. Es ist auch ein Risiko für den Autor, einen Wissenschaftsjournalisten, der auf den folgenden Seiten etwas beschreibt, das vielen unerhört und vielen wohl auch gefährlich vorkommen wird.

In diesem Buch steht, dass vieles, was als gesund gilt, im Grunde giftig ist. In diesem Buch steht auch, dass Gifte oft letztlich gar nicht giftig sind und sogar Strahlung letztlich oft gar nicht schädlich wirkt, sondern sogar das Gegenteil der Fall sein kann. Folgende Behauptung allerdings steht nicht in diesem Buch: dass Strahlung generell nicht gefährlich und Gift generell nicht giftig ist. Das ist ein wichtiger Unterschied. Der entscheidende überhaupt für das Thema dieses Buches.

Wer informiert darüber diskutieren will, sollte dieses Buch lesen. Nicht nur Auszüge oder Zwischenüberschriften oder Kommentare, die andere darüber abgeben.

Wir haben versucht, es nicht länger und nicht komplizierter zu machen, als es sein muss. Wir glauben, es ist ausgewogen und differenziert. Wir sind sicher, dass es auf dem Stand der Wissenschaft ist. Es stellt keine Behauptungen auf, sondern präsentiert Forschungsergebnisse sowie offene Fragen und benennt die dazugehörigen Quellen.

Was uns wahrscheinlich nicht gelungen ist: bei all den Beispielen und Analogien aus der Welt des Fußballs eine für alle Leserinnen und Leser gesunde Dosis zu finden. Dafür bitten wir schon jetzt um Nachsicht.

Doch zurück zur Ernsthaftigkeit. Das, worum es in diesem Buch geht, ist elementar wichtig. Für ein Verständnis, was Gesundheit ist und wie man sie fördern kann ebenso wie für eine realistische Einschätzung der Risiken, denen Menschen in Alltag und Umwelt ausgesetzt sind.

Hormesis: Nur wenn man sie versteht, erkennt man ihre Relevanz für das tägliche Leben. Allein das, was man heute schon über sie weiß, kann das Leben eines Menschen, kann sogar Staaten und Gesellschaften verändern. Vor allem aber ist sie der Schlüssel zu so manchem biologischen Rätsel, das sich bislang noch hartnäckig einer Lösung widersetzt.

Hormesis ist ein Wort, das aus dem Griechischen stammt. Es bedeutet »Anregung« oder auch »Anstoß«. Anregung und Anstoß soll auch dieses Buch sein – zur Diskussion, zum fairen Streit, zum Nachdenken, zum Handeln. Zu mehr Forschung natürlich. Zum tieferen Verständnis dessen, was man Leben nennt. Und idealerweise zu einem besseren Leben.

Berlin und München, im Januar 2016

EINLEITUNG

Am Anfang dieses Buches steht etwas, das zugleich Philosophie und Binsenweisheit ist:

Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.1

Das stammt von Nietzsche. Es ist ein hübscher Spruch. Und im täglichen Leben ist er sehr hilfreich hie und da – etwa wenn es darum geht, jemanden aufzumuntern.

Tatsächlich gibt es auffallend vieles, was Menschen zunächst sehr unter Druck setzt, stresst, ihnen wehtut, sie manchmal buchstäblich fast umbringt – sie aber letztlich besser dastehen lässt als zuvor. Und damit ist ein großer Teil dessen, worum es in diesem Buch geht, bereits umrissen.

Doch wie, warum, wo, wann, unter welchen Umständen und Voraussetzungen passiert das? Warum führt ein gewisses Maß an Stress, Gift, Krankheit, an physischer Gewalt sogar, dazu, dass man danach besser gegen Stress, Gift, Krankheit und dergleichen geschützt ist? Und was läuft dabei eigentlich im Körper ab?

All das liegt bereits weit jenseits der Binsenzone. Es ist hochaktuelle Wissenschaft. Es ist kontroverse Wissenschaft. Es ist Wissenschaft, die unser Bild des Lebens – und das eines gesundheitsförderlichen Lebens – grundsätzlich umwälzen wird.

Weitgehend unbemerkt, und nur in verstreuten Meldungen etwa aus der Sport- und Trainingsforschung unter anderem Namen aufscheinend, vollzieht sich derzeit eine Revolution in Medizin und Biowissenschaften. Sie beginnt in der Toxikologie und erstreckt sich bis hin zur Krebsforschung. Die Befunde lauten nicht selten so: Es ist alles ganz anders, als man bisher glaubte. Da wirkt Vitamin C plötzlich nicht als Antioxidans, sondern als Pro-Oxidans – also genau als das, was es eigentlich bekämpfen soll. Und das ist dann sogar gut so. Da profitieren Patienten von Maßnahmen, die jede Menge eigentlich ungünstiger, giftiger Stoffe im Körper freisetzen. Da wirkt radioaktive Strahlung plötzlich nicht krebserregend, sondern offensichtlich krebsverhindernd. Da stellt sich überraschend heraus, dass viele als gesund geltende Stoffe in Wirklichkeit Gifte sind, letztendlich aber meist tatsächlich gesundheitsförderlich wirken. Da zeigen Untersuchungen, dass bei sportlichen Aktivitäten der Körper mit Giften geflutet wird und deshalb nicht der Sport selbst, sondern nur die körperliche Reaktion auf all jene Gifte »gesund« ist. Da gibt es plötzlich Gründe, sich entspannt zurückzulehnen, wenn man die Meldung liest, dass im lokalen Trinkwasser winzige Spuren von Arsen gefunden wurden, oder Uran im Sprudel. Denn diese Spuren sind vielleicht nicht nur unbedenklich, sondern könnten sogar sehr willkommen sein.

Die Umwälzung hat also längst begonnen. Das Bild des Lebens – des gesunden Lebens vor allem – wird bereits neu gezeichnet. Der Widerwille bei vielen im Establishment ist groß – so wie jede Revolution denen Angst macht, die es sich im bestehenden System kommod eingerichtet haben. Doch die Entwicklung ist unaufhaltsam. Die Geschichte unseres Austausches mit der Umwelt und all den Stressfaktoren, die aus dieser Umwelt auf uns einwirken können, wird neu geschrieben.

Unzählige Gesundheitstipps, Medikamente, Nahrungsergänzungsstoffe, Therapien, Trainingsmethoden, landwirtschaftliche Praktiken und vieles mehr beruhen schon heute auf dem Prinzip, um das es in diesem Buch geht. Doch selbst die, die jene Ratschläge geben, jene Substanzen vermarkten, mit jenen Trainingsmethoden arbeiten, jene Agrar-Praktiken anwenden, haben meist noch nie davon gehört.

Es heißt Hormesis. Es ist eines der wichtigsten, der bestimmenden Prinzipien allen Lebens

Es bedeutet schlicht, dass Dosis und Wirkung eines Giftes, eines Stressfaktors, einer Strahlung und dergleichen fast nie strikt im Sinne »Höhere Dosis – größere, aber gleichartige Wirkung« zusammenhängen. Es bedeutet, dass niedrige Dosen von etwas, das in hohen Dosen schädlich ist, oft sehr, sehr nützlich sind.

Eine gewisse Menge eines Giftes kann nicht nur unschädlich, sondern gesundheitsfördernd sein. Oder leistungssteigernd. Oder stimmungsverbessernd. Eine gewisse Menge Strahlung kann nicht nur unbedenklich sein hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, einen Tumor zu bekommen, sondern höchstwahrscheinlich sogar eine Krebsentstehung deutlich unwahrscheinlicher machen. Eine gewisse Menge psychischen Stresses macht uns zu besseren Denkern, zu sozialeren Wesen, ja zu glücklicheren Menschen.

Die Dosis macht das Gift. Das hat schon Paracelsus vor einem halben Jahrtausend gelehrt.

Auch das ist eine sehr hübsche, kurze und griffige Weisheit. Gemeint hat schon er damit aber etwas anderes als den schlichten Unterschied zwischen Nichtwirkung und Giftwirkung, sondern jenen zwischen Heilwirkung und Giftwirkung. Und das ist keine Binsenweisheit, sondern eine fundamentale Einsicht in die Mechanismen der lebenden Natur, in die Physiologie, in das Leben selbst.

Paracelsus, Nietzsche. Jahrhundertealte Einsichten, die sich in der Gegenwart bestätigen. Aber richten wir uns nach ihnen? Sind sie ein Grundprinzip der Medizin, der Arzneimittellehre, der Toxikologie? Fußen populäre Gesundheitsratschläge ganz bewusst auf ihnen? Richtet sich die öffentliche Gesundheitsvorsorge und -versorgung daran aus? Wird der Umgang mit Umweltgiften durch diese Einsichten geleitet? Sind sie Grundlage von Forschungsstrategien? Nein.

Werden schädliche Substanzen routinemäßig im Labor verdünnt, um zu untersuchen, ob sie dann vielleicht sogar biologisch günstige, therapeutische, vorbeugende Wirkungen haben könnten? Werden Grenzwerte aufgrund solcher Untersuchungen festgelegt? Nein.

Dass dies so ist, hat vielfältige Gründe. Einer liegt vielleicht tief in der Psychologie und Kulturgeschichte des modernen westlichen Menschen. Für ihn – für uns also – ist es nicht leicht zu akzeptieren, dass nicht alles in der Natur geradeaus und nach dem kleinen Einmaleins funktioniert. Die Unfähigkeit, Gut und Böse in ein und derselben Sache zu sehen, kommt wohl dazu, denn das verbieten im Grunde sowohl die abendländische religiöse Tradition als auch die Aufklärung. Es ist auch eine Angst vor dem Mephistophelischen, obgleich wir wissen, dass es oft zwar das Böse will, aber doch das Gute schafft. Davon, dass jene Janusköpfigkeit ein und derselben Sache natürlich erst einmal ein Mysterium ist, ganz zu schweigen.

Tatsache ist: Überall dort, wo Substanzen, Strahlen, Kräfte, Stressfaktoren auf Lebendes einwirken, liegt der Unterschied zwischen Gut und Böse fast nie in den Substanzen, Strahlen, Kräften selbst, sondern in der Dosis. Tatsache ist aber auch, dass sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis – von der biomedizinischen Forschung über die Toxikologe und Pharmakologie bis hin zur Ökologie und Landwirtschaft – nach wie vor von sehr vielen so getan wird, als gebe es das alles nicht.

Es ist schon ein paar Jahrzehnte her, da saß ein Student namens Edward Calabrese in einem Botanik-Kurs am State College at Bridgewater in Massachusetts. Es war keine Forschung, die er da betrieb, sondern Lehre, die er über sich ergehen ließ. Ed und seine Kommilitonen versuchten sich an einem zuvor schon tausendfach wiederholten Praktikumsexperiment, das normalerweise folgendermaßen abläuft: Man verabreicht Pflanzen eine wachstumshemmende Substanz, und siehe da, ihr Wachstum wird gehemmt. Pflanzenphysiologie für Anfänger. In Edwards Gruppe allerdings passierte etwas Unerwartetes: Der Wachstumshemmer Phosphon regte Minze zum Wachstum an. Logische Erklärung normalerweise: Da ist etwas schiefgegangen, ein Reagens zum Beispiel war schlecht. Man wiederholt das Experiment, arbeitet so sauber wie möglich, passt besser auf bei jedem Schritt, und dann kommt schon das Erwartete heraus. Man kann es abheften und ein Bier trinken gehen. Und das schiefgegangene Experiment vergisst man und wirft das, was davon übrig ist, in den Müll. Das hätte auch Alexander Fleming tun können, als ihm eine Petrischale mit Bakterienkulturen verschimmelt war. Doch er sah genauer hin und sah in der Umgebung des Schimmels eine komplett bakterienfreie Zone. Es war der Grundstein für die Antibiotikatherapie.

Auch Ed Calabreses Professor ließ damals das Experiment zwar wiederholen. Er fragte allerdings auch in die Runde, ob jemand Lust hätte, diesem vielleicht doch ganz interessanten Phänomen weiter auf den Grund zu gehen. Es gingen nicht viele Hände in die Höhe, tatsächlich war es nur eine. Die von Ed. Er zog also das Praktikumsexperiment noch einmal durch. Dabei versuchte er aber nicht primär, jetzt alles richtig zu machen. Er wollte vielmehr herausfinden, was genau er und seine Jahrgangsgenossen zuvor falsch gemacht hatten. Es stellte sich heraus, dass der Wachstumshemmer zehnmal stärker verdünnt worden war als in der Experimentieranleitung vorgegeben. In dieser Konzentration wirkte er komplett gegensätzlich, nämlich als Wachstumsverstärker.

Gut vier Jahrzehnte später ist der Student von damals Professor. Seine Publikationsliste zählt ein paar hundert Fachartikel. Viele davon behandeln Varianten des Phänomens aus jenem Botanik-Praktikum: Etwas, das eine bekannte Wirkung hat, hat eine vollkommen andere, gegenteilige Wirkung, wenn man die Dosis herabsetzt. So werden Wachstumshemmer zu Wachstumsbeschleunigern, Gifte zu Therapeutika, sogar schädliche Strahlen zu nützlichen Strahlen.

Hormesis, so zeigte sich über die Jahrzehnte, ist ein Grundprinzip der belebten Natur.

Ed Calabrese allerdings hat bislang keinen Nobelpreis bekommen. Lange Zeit bekam er auch deutlich mehr scharfe Kritik als Anerkennung. Er galt als Außenseiter, als gefährlicher Häretiker. Er hatte Vorwürfe aus allen Richtungen auszuhalten. Mittlerweile geht er auf die 70 zu. Und viele der einst sehr kritischen Kollegen gehen auf Ed Calabrese zu. Sie geben ihm recht, greifen seine Experimente auf und führen sie fort. Und sie tun oft auch so, als wären sie nie vom Gegenteil überzeugt gewesen. Calabrese bekommt nun auch hochrenommierte Auszeichnungen, 2009 etwa den Marie Curie Preis.

Doch in der Öffentlichkeit ist all das bislang praktisch überhaupt nicht angekommen. Auch in der Politik, die die Regeln für den Umgang mit Giften und die Erforschung von Medikamenten vorgibt, ist Hormesis noch immer ein Fremdwort. Für viele Wissenschaftler gilt das Gleiche. Das kann der Autor dieses Buches, der viele Wissenschaftler zum Thema befragt hat, persönlich bezeugen.

Dabei gibt es inzwischen sogar sehr gute Erklärungen. Ein Mysterium ist Hormesis längst nicht mehr:

In vielen Fällen werden Stoffe, die in hohen Konzentrationen giftig wirken, in gewissen Mengen einfach gebraucht. Sie sind zum Beispiel als Bauteile lebenswichtiger Moleküle wichtig, für Enzyme etwa.

Sehr häufig aber ist der Grund, dass Giftiges und Schädliches in kleinen Dosen ganz anders, nämlich gut und gesund wirkt, ein ganz anderer: Menschliche, tierische, pflanzliche, auch Bakterien- und Pilz-Zellen werden immer versuchen, sich gegen ein Gift oder auch einen anderen Stressor mit Abwehrprozessen zu verteidigen. Sie werden auch alles daransetzen, entstehende Schäden zu reparieren. Diese Fähigkeiten hat ihnen die Evolution mitgegeben, ohne sie hätten ihre Vorfahren nicht überlebt. Aber auch niedrige Dosen aktivieren derartige Mechanismen. Diese sind dann oft so stark, dass sie dem Organismus sogar zusätzlichen Schutz und Nutzen bringen können. Bei dem wachstumshemmenden Pflanzengift aus Ed Calabreses Botanik-Praktikum lagen die Dinge ähnlich: Es war nicht konzentriert genug, um das Wachstum zu hemmen. Es triggerte im Gegenteil Mechanismen, mit denen die Minze sich gegen solche Wachstumshemmung wehrte. Ergebnis: Die Minz-Pflanze wuchs sogar besser.

Beispiele für Stoffe, die in niedrigen Dosen letztlich gesundheitsfördernd, in höheren aber durchaus giftig wirken, sind etwa Naturstoffe wie Allicin aus Knoblauch, Sulforaphan aus Kohl, Curcumin aus Currygewürz oder Polyphenole und Flavonole aus Heidelbeeren, Kakaopflanzen und anderen Früchten. Dazu kommen Arzneimittel wie etwa das Diabetes-Medikament Metformin, das als wirksamstes gegen diese Krankheit überhaupt gilt. Auch eines der wenigen effektiven Haarwuchsmittel, Minoxidil, scheint in diese Klasse zu gehören – weshalb man als Mann auch aufpassen sollte, sich nicht zu viel davon aufs schüttere Haupt zu massieren. Auch Alkohol, die bekannteste Droge überhaupt, muss hier genannt werden. In niedrigen Dosen stimuliert er Nervenzellen, fördert deren Überleben und Wachstum und schützt auch Blutgefäße. In hohen Dosen aber ist er ein echtes Nervengift und trägt unter anderem dazu bei, dass die Arterien verkalken. Selbst Nikotin, ein Gift ganz ohne Zweifel, regt in niedrigen Dosen eher Schutzmechanismen an, als Schäden zu hinterlassen. Und auch Stoffe, die so in der Natur nicht oder kaum vorkommen, können auf genau dieselbe Weise wirken – sogar solche, die so angsteinflößende Namen wie DDT oder Dioxin tragen.

Hormesis ist überall.

Sie findet sich nicht nur in den Reaktionen von Lebewesen auf mehr oder weniger natürliche Chemikalien.

Sie ist auch der Grund, warum Bewegung und körperliche Anstrengung gesund ist.

Ohne sie könnte kein Sportler seine Leistung verbessern.

An ihr liegt es, dass bestimme Ernährungsformen sich positiv auswirken.

Nur durch sie lässt sich erklären, warum die auch Menschen eingebauten Abwehr- und Schutzmechanismen gegen schädliche Strahlen aus schädlichen Strahlen letztlich nützliche Strahlen machen können.

In ihr liegt die Lösung des Rätsels, warum jahrelang gestresste Herzen bei einem Infarkt vergleichsweise wenig Schaden nehmen.

Sie ist die Basis für eine erfolgreiche Bewältigung psychischer Belastungen.

In ihr steckt der Schlüssel zu erfolgreichem Lernen und mentaler Produktivität.

Sie birgt das Geheimnis des gesunden Altwerdens ebenso wie die besten Strategien gegen fast alle Zivilisationskrankheiten.

Kenntnisse über sie können helfen, pathogene Keime und Schädlinge effektiv zu bekämpfen.

Sie stellt die Möglichkeiten bereit, effizient und umweltverträglich Landwirtschaft zu betreiben und auch besonders gesunde Produkte zu ernten.

Und so weiter.

Hormesis ist überall. Man muss sie verstehen. Man muss sie finden. Dann kann man sie nutzen.

TEIL I

DOSIS UND GNOSIS

1WAS IST GESUND?

DAS LEBEN IST HART – UND WARUM BIST DU NOCH NICHT TOT?

Täglich bekommen wir medial gepredigt, was gesund ist und was ungesund. Das meiste davon ist allerdings falsch. Oder zumindest fehlt die entscheidende Zusatzinformation. Denn von Arsen über Ozon bis Zwiebel ist fast gar nichts per se gut oder schlecht für die Gesundheit. Ob etwas letztlich gesund oder ungesund ist, hängt von einem ganz anderen Faktor ab.

Menschen sind eigentlich keine Memmen. Ihre Ur-Ur-Ur-Vorfahren im Ur-Ozean waren es auch nicht. Das Leben war schon immer hart. Die Umwelt ist zu kalt oder zu heiß. Oder es gibt nicht genug zu essen. Von der Sonne, aus dem kosmischen Hintergrund, aus dem Gestein, aus dem Trinkwasser hämmert Strahlung auf jede lebende Zelle auf Erden und damit auch auf jeden Menschen ein. Im Essen sind außer Nährstoffen noch viel mehr Stoffe. Viele davon wirken als Gifte. Es wimmelt von Feinden, die einem das Essen, den Lebensraum oder das Leben selbst wegnehmen wollen, egal ob man als Amöbe, Grünkohlpflanze, Bachneunauge oder Mensch geboren worden ist.

Obwohl … bei Menschen ist es inzwischen doch ein bisschen anders. Der Mensch ist intelligent. Er hat sich den Planeten untertan gemacht. Er hat gelernt, nicht mehr seinen häufig als primitiv betrachteten und verachteten Instinkten zu folgen, sondern chemischen Analysen, UV-Messgeräten, dem Fernsehdoktor aus dem Morgenmagazin, Ratgeber-Büchern, der Deutschen Gesellschaft für Ernährung etc. Der Mensch des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts schafft es zum ersten Mal, sich im ganz großen Stil all jene Unbill, die seine Vorfahren zu ertragen hatten, vom Leibe zu halten. Zumindest wer in einer Industrienation lebt und dort nicht zu den Allerärmsten gehört, kann sich heute sehr effektiv mit Sonnencreme vor Strahlung schützen, mit Supermarkteinkäufen vor Hunger, mit Heizung und Klimaanlage vor Hitze und Kälte und mit Hilfe von Behörden vor Gift und bösen Menschen.

Schonen, Schützen, Schäden vermeiden. »Gesundes« essen und trinken, Vitamine zum Beispiel. Sich mit schützenden Schichten und Mauern überziehen und umgeben. Stress und Schmerz aus dem Wege gehen.

Der intelligente Mensch von heute hält die Welt, so gut es geht, auf Abstand. Und wer nicht verhungert, nicht erfriert, wem nicht der Schädel eingeschlagen wird, der oder die überlebt. Und lebt länger. Unser moderner, umfassend vor solchen Stressfaktoren geschützter Lebensstil ist also gesund.

Das stimmt. Und stimmt doch auch nicht.

Eines ist nicht von der Hand zu weisen: Die durchschnittliche Lebenserwartung in den Industrieländern ist heute so hoch wie nie zuvor, sie stieg im 20. Jahrhundert jährlich fast um ein Vierteljahr.2 Ursachen dafür sind unter anderem verbesserte Hygiene, verlässlichere Lebensmittelproduktion, biomedizinischer Fortschritt.3 Wer schon bei der Geburt stirbt, zieht die Statistik machtvoll nach unten. Wer mit sechs wegen schlechten Trinkwassers Cholera bekommt und sie nicht überlebt, fast ebenso. Wer mit 20 verhungert oder als junge Mutter wegen fehlender Hygiene tödliches Kindbettfieber bekommt, kann nicht 75 werden. Wer mit 25 als Soldat von Kugeln durchlöchert wird, wird sich kaum je als Großvater überlegen müssen, wie er seinen Enkeln vom Krieg erzählen soll. Wer mit 30 an einer Infektion stirbt, kann nicht 31 werden, und schon gar nicht 85. Wer mit 50 einen schweren Herzinfarkt hat und auf moderne Intensivmedizin und Medikamente verzichten muss, der stirbt auch meist mit 50. Von all den anderen Krankheiten und Verletzungen, Infektionen und Vergiftungen, die einen einst hätten umbringen können, ganz zu schweigen.

Sport ist gesund und Sport ist Mord

Das Magazin Slate nannte dementsprechend die Frage »Warum bist Du noch nicht tot?« einen »fun conversation starter«4, also eine witzige Art, ein Gespräch zu beginnen. Doch diese Beispiele zeigen auch: Mit dem modernen, aus dem Überfluss schöpfenden, alle Härten und Schmerzen des Alltags vermeidenden Zivilisationsleben haben die wichtigsten Faktoren, die die allgemeine Lebenserwartung nach oben geschraubt haben, rein gar nichts zu tun.

Die Generation, die heute in Europa in der Statistik vor allem dafür sorgt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung so hoch ist wie nie zuvor, es sind die heute zwischen 75- und 100-Jährigen. Es ist keine Generation von Memmen, sondern eine, die in ihrer Jugend Krieg, Hunger, Armut, harte Arbeit, oft auch Krankheit und anderes körperliches und seelisches Leid erlebt hat. Nicht eine, die ihr Leben lang rundum gepampert war.

Diese Generation gibt es auch. Es ist die der jüngeren heute Lebenden. Es sind die, für die Demoskopen, Mediziner und Gesundheitsforscher längst befürchten, dass ihre Lebenserwartung schon wieder geringer sein könnte.5

Und dafür, auch das sagen die Demoskopen, Mediziner, und Gesundheitsforscher, ist der Lebensstil dieser Generation verantwortlich. Zu wenig Bewegung und zu viel Essen sollen die Hauptfaktoren sein, die ungesund machen.

Aber hier darf man sich doch schon einmal ein wenig wundern: Warum soll ein Leben ohne Hunger, mit ganzjährig verfügbarem frischen Obst und auch sonst einer Riesenauswahl an Nahrungsmitteln, mit 27 Urlaubstagen, mit Wohlstand, mit durchschnittlich deutlich weniger als zwei Kindern pro Familie, mit neuer Couchgarnitur alle paar Jahre und mit ärztlicher Versorgung für alle ungesünder sein als eines, in dem Krieg, Hunger, Angst, Armut, turbulente Großfamilie und eine deutlich einfachere Gesundheitsversorgung die Regel waren?

Was ist gesund? Und was ist dann ein gesund gelebtes Leben? Und warum?

Die Fragen sind kurz, knapp und klar. Sie zu beantworten allerdings ist längst nicht so simpel, wie manche echte und viele selbsternannte Experten es gerne behaupten.

Brokkoli ist gesund. Sport ist gesund. Entspannung ist gesund. Vitamin C ist gesund. Das Leben in den Bergen ist gesund.

Würde da jemand widersprechen? Gerechtfertigt wäre es. Aber nicht, weil Brokkoli und Sport und Entspannung und Vitamin C und eine Bergtour das Gegenteil von gesund, also ungesund wären.

Es kommt auf die Dosis an

Denn die Antwort auf die Frage, was gesund ist, lautet selten »Dies« oder »Dies nicht«. Und die Antwort auf die Frage, ob etwas gesund ist oder nicht, sie lautet selten »Ja« oder »Nein«.

Die Antwort lautet: »Es kommt darauf an.«

Es kommt auf die Dosis an. Eigentlich immer.

Und hier erst nähert man sich der Antwort auf die dritte oben aufgezählte Frage an. Dem »Warum?«. Warum ist etwas gesund, warum ist etwas ungesund? Weil die Dosis dieses »Etwas« – seien es die Inhaltsstoffe von Brokkoli oder die gejoggten Kilometer – entscheidend ist, und viel weniger jenes »Etwas« selbst. Bei Sport mag einem das noch logisch vorkommen, denn dass etwa ein Marathon ohne ausreichendes Training und bei praller Sonne sogar tödlich enden kann, ist ja schon aus altgriechischer Legende bekannt und bestätigt sich auch in der Gegenwart immer wieder. Es gilt jedoch eben auch praktisch für alles andere, für Brokkoli-Portionen, Vitamine, Gammastrahlen und so weiter.

Geht es um Einflüsse auf die Gesundheit, dann geht es immer um Dosis und Wirkung dieser Einflüsse. Und beide sind auf eine Weise miteinander verknüpft, die nicht unbedingt dem entspricht, was man erwarten würde. Auf eine Weise auch, die nicht dem entspricht, wonach Menschen heute sehr vieles in ihrem täglichen Leben ausrichten.

Der Erste-Welt-Mensch des Jahres 2016 lebt nicht nur satt und bequem, ebenso bequem richtet er auch sein Denken nach einem zentralen Prinzip aus. Er denkt geradlinig. Sein Prinzip ist Geradlinigkeit. Man kann auch – etwas wissenschaftlicher – sagen: Linearität. Nach diesem Prinzip bedeutet ein Mehr von etwas ein Mehr derselben Wirkung. Weniger bedeutet weniger Wirkung, und ganz wenig bedeutet meist gar keine Wirkung mehr.

Mehr Anstrengung – mehr Erfolg. Weniger Kalorien – weniger Bauch. Doppelt so viel Gift – doppelt so giftig. Ganz wenig Gift – gar keine messbare oder statistisch nachweisbare Wirkung. Doppelt so viel gesundes Essen, doppelt so gesund. Dreimal mehr Einkommen, dreimal so glücklich …

Schon beim letzten dieser Beispiele mag man sich ungern von der Liebe zur Linearität losreißen, selbst wenn nun auch die x-te Studie nachgewiesen hat, dass dreimal mehr Euro auf dem Konto kaum jemals auch mit dreimal mehr Glück oder auch nur Zufriedenheit einhergehen.

Denn wir Menschen hassen Nichtlinearitäten.

Fabien Barthez, die kahlrasierte französische Torhüterlegende, hat den Freistoß von Roberto Carlos 1997 gehasst, der sich nicht gleichmäßig in Richtung Tor drehte, sondern im letzten Moment den entscheidenden Haken schlug, was Physiker durch nichtlineare turbulente Prozesse rund um das rasant rotierende fliegende Leder erklären.6

Klimaskeptiker hassen es, wenn Meteorologen ihnen von nichtlinearen Phänomenen erzählen. Beispielsweise davon, dass auch nur ein weiterer kontinuierlicher, linearer Anstieg des Kohlendioxids in der Atmosphäre einen viel steileren Temperaturanstieg als bisher nach sich ziehen könnte. Oder dass schon ein klein wenig mehr oberflächliches Schmelzwasser im arktischen Sommer zu insgesamt deutlich mehr Schmelze führen kann.

Lineale auf den Müll

Wir verzweifeln am unvorhersagbaren Verhalten eines Doppelpendels. Und Chaos, das physikalische Musterbeispiel für Nichtlinearität, hassen wir sowieso – es sei denn, man zeigt uns die hübschen und tatsächlich sehr geordnet und gleichmäßig daherkommenden Apfelmännchen und sonstigen Fraktale, ohne die die Chaostheorie niemals so populär geworden wäre.

Wahrscheinlich auch um mit dem Abweichen vom linear Vorhersag- und Vorhersehbaren irgendwie umgehen zu können, haben Menschen, bald nachdem sie so recht zu denken angefangen hatten, die Religion und die Götter erfunden. Für das Seltsame waren diese dann zuständig. Das brachte auch den Vorteil mit sich, dass der Mensch – weil Seltsames, Unvorhersehbares, Nichtlineares, Unwahrscheinliches doch jeden Tag passierte – auch auf Seltsames, Unvorhersehbares, Nichtlineares, Unwahrscheinliches hoffen durfte. Dass er auf Wunder und Wunderbares hoffen durfte.

Es kommt für den intelligenten, eins und eins zusammenzählenden, das Lineare liebenden Gegenwartsmenschen aber noch schlimmer. Nicht nur Chaos ist real, nicht nur Freistöße, die ins Tor gehen, obgleich sie eigentlich zwei Meter vorbeifliegen müssten. Nicht nur Arabische Frühlinge, die zuerst niemand überhaupt vorhersieht und deren Ausgang dann auch niemand vorhersehen kann. Nicht nur Leute, die so viel essen können, wie sie wollen, ohne dick zu werden.

Tatsächlich ist es so, dass, wenn es um die Wirkung von allerlei nicht besonders beliebten Einflüssen auf den menschlichen Körper geht – Gift, Kälte, Strahlung, Stress –, der Ball von Roberto Carlos nicht nur an einem bestimmten Punkt scharf um die Ecke fliegt. Sondern er fliegt dann sogar gleichsam rückwärts: Wenn eine Dosis sich ändert, kann der Effekt sich ins Gegenteil verkehren. Ein Gift kann dann letztlich gesundheitsfördernd sein, Röntgenstrahlen können als End-Effekt nicht mehr, sondern weniger Schädigungen im Erbgut haben. Ein Kälteschock kann jemandem statt Erfrierungen oder einer Erkältung Schutz vor Erkältungen verschaffen.

Wer beim letzten Beispiel jetzt sagt: Alter Hut, Sauna, kalte Dusche, Eisbaden, das härtet halt ab, hat vollkommen recht. Auch wenn manche Mediziner bis heute behaupten, ein Effekt dessen, was man gemeinhin Abhärtung nennt, etwa auf das Immunsystem, sei in keiner einzigen Studie nachgewiesen7 – was, nebenbei bemerkt, ziemlicher Unsinn ist.8

Man muss jedoch noch den entscheidenden nächsten Schritt weitergehen und sich nun fragen, warum Sauna, kalte Dusche und Eisbaden eigentlich abhärten? Wenn man das tut und dann nebenbei erfährt, was tatsächlich noch so alles auf die verschiedensten Weisen abhärtet und schützt, was anpassungsfähiger und weniger anfällig macht – oder schlicht: gesünder – und warum, dann kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Warum also ist Brokkoli, oder dessen Inhaltsstoff Sulforaphan, bei einer bestimmten Dosis für einen bestimmten Menschen gesund, bei einer anderen ungesund? Warum ist eine bestimmte Dosis Sport für einen bestimmten Menschen gut, eine andere schon fast Selbstmord? Warum wirkt der gleiche Stoff, der gleiche Umweltreiz bei der einen Dosis so, bei der anderen ganz anders?

Antworten darauf finden kann man, wenn man sich dem Leben und den Lebensprozessen sehr intim nähert. Dort, tief in der Physiologie, im Stoffwechsel, in Biochemie und Biophysik, klären sich all diese Seltsamkeiten auf.

Man kennt diese Antworten noch längst nicht alle. Doch mit denen, die schon bekannt sind, kann man durchaus schon einiges anfangen.

Vieles von dem, was wir gesund nennen, ist nicht gesund, weil es gut ist, sondern weil es giftig ist, dadurch aber sehr »gesunde« Reaktionen anregt. Der Name für all das lautet: Hormesis.

2WAS IST GESUNDHEIT?

PARTY-SMALLTALK, SCHNAPPSCHÜSSE –
UND TRUGSCHLÜSSE VOM KOMPLETTEN WOHLBEFINDEN

Selbst die Weltgesundheitsorganisation definiert ihr Thema als
einen Zustand. Dabei ist Gesundheit etwas ganz anderes. Sie ist ein Prozess. Sie ist ein Potenzial. Sie ist ein permanentes dynamisches Werden. Und kein Sein. Sich dessen bewusst zu werden hat nichts mit Begriffs-Haarspalterei zu tun, sondern ist in der täglichen Lebenspraxis ziemlich wichtig – zumindest wenn man sich für die eigene und die Gesundheit seiner Mitmenschen ernsthaft interessiert.

Es ist immer gut zu wissen, worüber man eigentlich spricht. In diesem Buch geht es nicht nur, aber doch häufig um »Gesundheit«. Auch um über sie überhaupt diskutieren zu können, sollte man sich zunächst klar sein, was das eigentlich ist, Gesundheit.

Man kann sich einmal den Spaß machen und auf einer Party oder am Mittagstisch in der Kantine diese Frage stellen: Wie würdet ihr eigentlich Gesundheit definieren? Oft wird die Antwort lauten: das Gegenteil oder die Abwesenheit von Krankheit. Das stimmt dann irgendwie auch. Aber die Frage lautet ja eigentlich nicht, was Gesundheit nicht ist, sondern was sie tatsächlich ausmacht. »Wenn’s einem gut geht« wird dann wahrscheinlich jemand sagen, worauf dann jemand anderes einwenden wird, man könne sich ja durchaus sehr wohlfühlen, obwohl innendrin im Körper schon längst ziemlich Schlimmes vor sich geht. Dann wird jemand sich wissenschaftsbeflissen geben und von Laborwerten sprechen. Und so weiter.

Die Was-ist-Gesundheit-Frage ist jedenfalls auch ein guter »conversation starter«9, eine sichere Methode also, im Smalltalk-Notstand endlich eine Unterhaltung loszutreten. Und umso besser, wenn man dann selbst eine interessante Antwort parat hat.

Das ist kein Zustand

Die beste Adresse, eine Definition zu finden, könnte jene Behörde sein, die sich rund um den Globus im Auftrag der Vereinten Nationen für Gesundheit einsetzen soll: die Weltgesundheitsorganisation WHO. Denn zumindest dort sollte man ja eigentlich wissen, was genau es ist, um das man sich kümmern soll. In ihrem Gründungsdokument von 1946 wird Gesundheit als »Zustand kompletten körperlichen, mentalen und sozialen Wohlbefindens«10 definiert. Schon diese Formulierung war Ergebnis langer Diskussionen und galt als großer Fortschritt gegenüber zuvor verwendeten Definitionen, die Gesundheit schlicht als Abwesenheit von Krankheits-Symptomen beschrieben.

Man wird also fündig bei der WHO. Aber wenn man nur einmal zuvor obige Partydiskussion geführt hat, kann man selbst mit dieser hochautoritativen Definition nicht so recht zufrieden sein. Ein Grund für die Unzufriedenheit, die man bei dieser Definition verspürt, ist die seinerzeit beim Smalltalk geäußerte Meinung, dass tief drin in der menschlichen Physis – oder auch der Psyche – ja durchaus selbst im Zustand kompletten Wohlbefindens längst Prozesse ablaufen könnten, die diesen Zustand vielleicht bald schon beenden.

Im vorhergehenden Satz stehen die beiden Substantive, mit deren Hilfe vielleicht klar wird, wo das Problem liegt. Sie lauten »Zustand« und »Prozesse«. Genauso wie das Leben selbst kein Zustand ist, sondern ein Prozess, der lediglich irgendwann in einem Zustand namens Tod endet, so ist auch Gesundheit ein Prozess. Oder besser: die Summe vieler Prozesse. Und ein »Gesundheitszustand« ist nichts als eine Momentaufnahme.

Wenn es jemandem heute physisch, mental und sozial komplett gut geht, ist das wunderbar. Es ist so schön wie ein Hintertor-Foto, kurz nachdem an einem Tag im Juli 2014 Mario Götze eine Flanke von André Schürrle mit der Brust angenommen und dann mit dem linken Fuß unhaltbar an Sergio Romero vorbeigezirkelt hatte.

Aber es ist ein Schnappschuss.

Genauso wie das Foto aus der 12. Minute eines anderen Fußballspiels, 1966, als Helmut Haller zum 1:0 gegen England getroffen hatte. Nach 120 Minuten sah es dort aber anders aus als nach dem Finale von Rio, Wembley-Tor inklusive. Die Momentaufnahmen mögen schön sein, sie sagen aber über den viel längeren Prozess namens Fußballspiel nur wenig aus.

Vergleiche hinken immer. Aber dieser hilft vielleicht zumindest ein wenig. Menschen, die sich für ihre Gesundheit interessieren, haben sicher nichts gegen viele schöne Momentaufnahmen in ihrem Leben, »Zustände« kompletten Wohlbefindens, Jubelszenen. Sie wollen dann aber auch, dass ihre Mannschaft aus Organen, Körperzellen, Nervenbahnen, Darmbakterien und Co. die Führung hält. Sie wollen, dass, wenn der Gegner einen Sturmlauf startet, diese Mannschaft effektiv gegenhalten und aktiv reagieren kann.

Werden statt Sein

Man kann als Mensch wie auch als Fußballmannschaft einfach Dusel haben. Sicherer ist es aber, gut vorbereitet zu sein.

Gut vorbereitet ist, wer die Fähigkeit besitzt, auf Angriffe zu reagieren, sich neuen, auch widrigen Gegebenheiten anzupassen, Attacken abzuwehren.

»Gesundheit ist die Fähigkeit, sich anzupassen.« So stand es dann 2009 auch in einem vielbeachteten Editorial des führenden Mediziner-Magazins The Lancet11, das die Gültigkeit der WHO-Definition infrage stellte. Es war keine neue Erkenntnis. Die Autoren bezogen sich auf den französischen Arzt, Philosophen und Résistance-Kämpfer Georges Canguilhem, der dies schon 1943 in seiner Dissertation »Das Normale und das Pathologische«12 so formuliert hatte.

Man könnte auch, wenn man die Worte der WHO aufgreift, sagen: Gesundheit ist die Fähigkeit, auf physische, psychologische und soziale Herausforderungen und Störeinflüsse ausgleichend zu reagieren, sich ihnen anzupassen.

Ein gesundes, Gesundheit förderndes Leben ist damit eines, das diese Fähigkeit erhält, trainiert, optimiert. Eines, das so gut als möglich darauf vorbereitet, auf derartige Herausforderungen und Störungen reagieren zu können.

Gesundheit ist kein Zustand, sondern eine Bereitschaft zur richtigen Reaktion auf Störfaktoren. Sie ist nichts Statisches, sondern etwas sehr Dynamisches. Sie ist kein Sein, sondern ein ständiges Werden. Sie ist kein Haben, sondern ein ständiges Erwerben.

Es ist nicht anders als bei eigentlich allen anderen Lebensprozessen. Nicht umsonst wenden sich inzwischen mehr und mehr Wissenschaftler vom Begriff der Homöostase ab, wenn es darum geht, einigermaßen stabil gehaltene physiologische Gleichgewichte zu beschreiben. Der neuere, tatsächlich treffendere Begriff hierfür heißt nun Homöodynamik.

Gesundheit ist die Fähigkeit, stets und stetig mit körpereigenen Antwort-Prozessen derart dynamisch auf Störungen von innen wie von außen reagieren zu können. Sie ist die Fähigkeit, das dynamische Gleichgewicht, das Leben heißt, nach der Störung wieder herzustellen und zu erhalten.

Wie in den folgenden Kapiteln beschrieben werden wird, können viele – und sehr viele besonders wirksame – dieser Prozesse nur dann effektiv ablaufen, ist solch eine Anpassung nur dann optimal möglich, wenn der Körper und seine Zellen an Prozessen geschult werden, die eigentlich schädlich sind. Dafür ist es meist notwendig, sich genau den Einflüssen, die einen kaputtmachen können, immer wieder auszusetzen. Entscheidend ist dabei, dass die Dosis stimmt.