Informationen zum Buch

Mord im Urlaubsparadies

Auf der griechischen Insel Ägina wurde ein international anerkannter Professor für Antike erschossen. Seine berühmte Familie möchte den Mord gern einem alten Offizier in die Schuhe schieben. Ein nicht gerade ehrwerter Minister wird tot aufgefunden, ein Journalist ermordet. Für George Zafiris aus Athen, der als Privatdetektiv in Fällen ermittelt, die die Polizei links liegen lässt, wird das Leben immer gefährlicher.

Ein Griechenlandkrimi voller Sonne und schöner Landschaft, aber auch voller Korruption und Vetternwirtschaft.

»Ein kleines Juwel, perfekt für den Strand.« Tribune

Leo Kanaris

Inseltod

Ein Fall für Detektiv Zafiris

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Bela Wohl

Aufbau

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Anmerkungen

Über Leo Kanaris

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

1

Athen, Juni 2010

Wie zahlreiche andere Häuser in den umliegenden Stadtvierteln hatte auch die Aristotelesstraße 43 schon mal bessere Tage gesehen. Die Marmortreppe, die Türen mit den Rauchglasscheiben, die Reihe der düsteren Holzbriefkästen, alles wirkte schäbig, trostlos und altmodisch. In der Eingangshalle standen zwei Pflanzkübel aus Beton. In einem davon fristete ein Jasmin, der von einer alten Dame aus dem Erdgeschoss am Leben erhalten wurde, sein kümmerliches Dasein. Der andere, direkt daneben, war leer und ausgetrocknet und nur aus Versehen noch da, eine unansehnliche Zierde, mit deren Entsorgung man niemanden behelligen konnte.

Bei seiner Rückkehr von einer kurzen Reise ins Umland spürte George Zafiris die Müdigkeit des Hauses, als wäre sie Teil seiner eigenen Erschöpfung. Die Haustür hinter ihm fiel ächzend ins Schloss. Draußen war helllichter Tag, doch hier drinnen herrschte Halbdunkel. Er drückte auf den Lichtschalter, eine einsame Energiesparlampe begann kraftlos zu glimmen; ihre weißen Röhren ragten in die Luft wie die Beine eines Insekts, das an der Wand von einem Scheinwerfer eingefangen wird. Es roch muffig: nach Feuchtigkeit, Desinfektionsmittel und abgestandener Suppe. Zafiris war kein schwermütiger Mensch, doch wie schon bei anderen Gelegenheiten schoss ihm auch jetzt der Gedanke durch den Kopf, diese Eingangshalle wäre der perfekte Schauplatz für einen Selbstmord.

George öffnete seinen Briefkasten, nahm den Inhalt heraus und sichtete die Umschläge, während er die Treppe hinaufstieg. Einer war handschriftlich adressiert, die restliche Post bestand aus Rechnungen und nutzloser Werbung.

Oben angekommen drehte er den Schlüssel im Schloss herum. Das Scheppern des zurückschnappenden Riegels hallte wie ein Echo durch das marmorne Treppenhaus. George trat ein, ließ die Tür halb offen und warf die Handzettel in den Abfalleimer. Die Wohnung wirkte verstaubt und stickig, obwohl er nur zwei Tage fort gewesen war. Er ging von Zimmer zu Zimmer, zog die Jalousien nach oben und riss die Fenster weit auf. Sonnenstrahlen fielen herein, grell und heiß.

Der Brief war noch ein richtiger Brief: mit Briefmarke und von Hand geschriebener Adresse auf hochwertigem Briefpapier. George zog eine Schublade auf, schob eine Blechdose mit Munition beiseite sowie eine Beretta 950B Jetfire, eine gerichtliche Vorladung wegen Beleidigung eines Polizisten, ein paar Notizen zum Thema mentale Relaxation, ein Mikrofon mit großer Reichweite und einen Bilderrahmen mit gesprungenem Glas, darin ein Foto von seiner Frau, das 1992 an irgendeinem Strand aufgenommen worden war. Zuunterst lag ein Schnappmesser von Bechtold & Schmidt, Modell »Predator«, ein tödliches Erinnerungsstück an eine längst abgeschlossene Ermittlung. Er verwahrte es immer noch, geschliffen und geölt, für alle Fälle. Jetzt klappte er es auf und schob die Klinge unter die Umschlaglasche.

Eine Stimme an der Wohnungstür ließ ihn aufblicken.

»Herr George?«

Dimitri, der Besitzer des Cafés im Erdgeschoss, stand im Eingang, ein Aluminiumtablett an einer dreiarmigen Hängevorrichtung in der Hand.

»Soll ich es reinbringen?«

»Ja, danke.«

George zog eine Euromünze aus der Tasche.

»Wie war die Reise?«, fragte Dimitri.

George nahm einen Schluck Kaffee. »Ich mag keine Beerdigungen«, antwortete er. »Dabei fühle ich mich immer älter als ich bin.«

Dimitri sprach die traditionelle Formel: »Ein langes Leben, um des Gefährten zu gedenken.«

George nickte. Sein Kopf war voller Bilder, sein Herz voller Verlust.

»Ich möchte meinen alten Freund wiederhaben, wenigstens noch einmal mit ihm Mittag essen. Noch einen Ouzo trinken am Meer.«

Dimitri schien seinen Kummer zu spüren. »Ich kenne das Gefühl«, sagte er, »das ist doch wirklich nicht zu viel verlangt. Nur noch ein einziges Mal, mehr nicht. Aber dieser Wunsch geht nie in Erfüllung. So viel steht fest.«

George wusste, dass Dimitri an seine Frau dachte. Sie lebte noch – noch, aber ihre Uhr war fast abgelaufen.

»Wie geht’s Tasia?«, fragte er.

»Unverändert«, antwortete Dimitri.

»Nichts Neues, Gutes oder Schlechtes?«

»Man kann nur abwarten.«

»Geben Sie ihr einen Kuss von mir. Sagen Sie ihr, sie soll gesund werden.«

»Mach ich«, versprach Dimitri, ging und schloss leise die Tür.

George nahm den Umschlag erneut zur Hand. Die Adresse war in Schwarz geschrieben: eine ordentliche, gebildete Handschrift. Poststempel Ägina. Er faltete das einzelne Blatt Briefpapier auseinander.

Sehr geehrter Herr Zafiris,

ich habe Ihren Namen von einem Geschäftspartner erhalten, der Sie als zuverlässig und Ihr Honorar als maßvoll beschrieben hat. Möglicherweise habe ich Anlass, Sie zu engagieren. Ein Familienmitglied wurde ermordet. Die Polizei ist bisher nicht vorangekommen. Ich brauche jemanden, der den Fall sorgfältig und mit absoluter Diskretion untersucht. Rufen Sie mich sofort nach Empfang dieses Schreibens an.

Constantine Petrakis

Der Name ließ ihn innehalten und überlegen. Er kannte den Mann nicht persönlich, doch die Familie war aufs Engste mit der Geschichte Griechenlands verbunden. Man konnte sie durchaus als Dynastie bezeichnen. Juristen, Politiker, Intellektuelle. Davor Kriegsherren, Helden von 1821. Als das Volk zu den Waffen gerufen wurde, hatten sie ihre Gefolgsleute aus sämtlichen Dörfern und Schafställen in den Bergen des Peloponnes zusammengeholt und die verhassten Osmanen aus dem Land gejagt. Jede Stadt in Griechenland hatte ihre Petrakisstraße.

George schaute auf die Uhr. 16:30 Uhr. Mindestens zwei Stunden zu früh zum Telefonieren. Petrakis machte bestimmt ein Schläfchen. Ihn dabei zu stören wäre ein denkbar ungünstiger Auftakt. Er schob den Brief beiseite. Trotz des Kaffees war er müde, legte sich aufs Sofa und schloss die Augen.

George schlief unruhig; er kämpfte gegen ihn bedrängende Erinnerungen an: Ein Hafen auf einer Insel, die Fähre nähert sich im gleißenden Morgenlicht. Die Rampe wird heruntergelassen, ein Leichenwagen rollt an Land. Darin liegt sein langjähriger Freund Mario, 47 Jahre alt geworden. Am Pier, neben dem weißgetünchten Café, Eleni, die Frau des Toten, und ihre beiden Söhne. Sie warten, reglos wie Statuen. Ihre Gesichter sind leer, selbst als George sie begrüßt, als fehle ihnen die Kraft für die geringste Regung.

Dann der Trauerzug, der sich langsam und zögernd hügelaufwärts schiebt, auf die Kirche zu.

Um 18:00 Uhr erwachte George und fühlte sich betäubt und benommen. Er wankte unter die Dusche; der kalte Wasserguss ließ ihn schlagartig munter werden.

Ein Handtuch um die Hüfte geschlungen, schenkte er sich ein eisgekühltes Bier ein, machte es sich auf dem Sofa bequem und wählte die Nummer in Ägina.

Constantine Petrakis hatte eine nervöse, spröde Stimme, die ähnlich schrill quietschte wie eine Tür an rostigen Angeln.

»Ich kenne lediglich die nackten Tatsachen, Herr Zafiris. Mein Bruder wurde erschossen, hier auf der Insel. Sie müssen mit der Dame sprechen, die ihn gefunden hat. Da sie nicht ans Telefon geht, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als sie persönlich aufzusuchen. Ihr Haus ist schwer zu finden. Ich werde es Ihnen zeigen müssen, das ist die einzige Möglichkeit. John hat bei ihr gewohnt. Er kam häufig zu Besuch. Aus welchem Grund ihn jemand erschießen sollte, ist mir unbegreiflich. Er war ein angesehener Mann von internationalem Ruf. Die Polizei ist nichts weiter als eine jämmerliche Bande von Bürokraten, die sich aufs Nichtstun spezialisiert haben. Sagen Sie, wann können Sie kommen?«

George warf einen Blick in seinen Kalender, der für die ganze Woche noch keinen Eintrag enthielt.

»Morgen früh? Um elf?«

»Perfekt. Wir treffen uns im Hotel Brown. Kennen Sie es?«

»Ich werde es finden.«

2

George wohnte den größten Teil des Jahres von seiner Frau getrennt. Die Regelung gefiel ihm zwar nicht, doch akzeptierte er sie als Kompromiss. Der stammte noch aus finsteren Zeiten. Sich näher damit zu befassen würde ihn ernsthaft deprimieren, so dass er sich dagegen entschied. Vom Frühlingsanfang bis spät in den Herbst hinein blieb Zoe auf Andros, im Landhaus ihres Vaters, malte, schrieb Gedichte und kümmerte sich um den Garten sowie um eine Reihe von Tanten und verschrobenen Cousinen. Unterdessen ging George in Athen seinem Broterwerb nach und besuchte die Insel gelegentlich am Wochenende und – wenn er Glück hatte – alljährlich zwei Wochen im August. Im Winter zog Zoe zu ihm in die Stadt, dann verlief ihr Eheleben in konventionelleren Bahnen. Ihr gemeinsamer Sohn Nick studierte in Newcastle Maschinenbau; ein sicherer Beruf, hofften sie, in unsicheren Zeiten.

Georges Arbeitstage waren, wie die aller Einwohner Athens, reich an Komplikationen. Ermittlungen wurden begonnen, weiterverfolgt, behindert, unterbrochen. Neue kamen hinzu. Klienten verstummten oder verschwanden. Manchmal mussten ihretwegen dann wiederum Nachforschungen angestellt werden. Entweder war ihnen das Geld ausgegangen oder sie hatten sich selbst in Schwierigkeiten verstrickt. Die nationale Krise machte es nicht besser. Unternehmen gingen pleite, Gehälter und Pensionen schrumpften mit erschreckender Geschwindigkeit. Die Menschen wurden krank oder verrückt oder wollten so nicht weiterleben.

»Ade na vris ákri.« Dieser Satz war in aller Munde. »Man weiß nicht, wo man anfangen soll.«

George hatte Glück. Bei ihm wurden keine Kredite fällig, niemand schuldete ihm Geld. Zumindest keine nennenswerten Summen. Doch die Auftragslage war miserabel. Nur die Reichen konnten sich die Ausgaben noch leisten, und selbst sie übten sich heutzutage in Zurückhaltung. Er übernahm jeden Fall, der ihm angeboten wurde.

Petrakis’ Stimme hatte ihn misstrauisch gemacht. Nicht was er sagte, sondern wie er es sagte. Nach einigen teuer bezahlten Fehlern hatte George einen Instinkt für schwierige Persönlichkeiten entwickelt. Vor Petrakis musste man auf der Hut sein.

George stand an Deck der Agios Nektarios in Piräus und genoss den Fahrtwind und die stetig breiter werdende Wasserrinne zwischen sich und der Stadt. Langsam, aber sicher fielen die zahllosen, wirr durcheinanderschwirrenden Eindrücke des Großstadtlebens von ihm ab. Am Horizont ragten Berge auf, deren scharfe Umrisse sich gegen den silbrig-blauen Himmel abhoben wie Metallschablonen. Möwen folgten im Windschatten des Schiffes, ohne die Flügel zu bewegen; nur ihre Köpfe drehten sich auf der Suche nach Nahrung von einer Seite zur anderen.

Die Fähre durchquerte eine gespenstische Meereslandschaft aus aufliegenden Tankern und Frachtschiffen. Sinnbilder einer zum Stillstand gekommenen Wirtschaft, ohne Fahrtziel. Sie warteten. Gelegentlich brauste ein Rennboot vorbei und durchschnitt die blaue Wasseroberfläche mit seiner strahlend weißen Schaumspur. Am Steuer ein Mann in den besten Jahren – mit fetter Wampe, Sonnenbrille, Goldkettchen und -armband –, in seiner Begleitung unweigerlich ein Bikini-Mädchen, halb so alt wie er und höchstwahrscheinlich aus Osteuropa stammend. Auf der Rückbank ein gelangweilter Schäferhund. Selbst nach dem Börsenkrach vor zwei Jahren erlebten Luxusgüter – diese skurrile Art von Luxus, die man aus der Zigarettenwerbung der sechziger Jahre kannte – nach wie vor eine Blütezeit. Genau wie die Cafés in der Athener Innenstadt, die immer brechend voll waren und in denen die Gäste unglaubliche Preise für einen Eiskaffee zahlten und im gleichen Atemzug über die Krise jammerten.

Nach einer Stunde erreichten sie Ägina. Die Ankerketten rasselten, in einer Wolke aus Dieselabgasen legte die Fähre rückwärts am Pier an. Eine Stimme aus der Lautsprecheranlage drängte die Passagiere schroff, unverzüglich von Bord zu gehen: »Das Schiff fährt gleich wieder ab.«

Das Hotel Brown lag wenige hundert Meter entfernt, am anderen Ende der Hafenmauer. George schlenderte an Fischerbooten vorbei, an Obstständen, Cafés und einem Kiosk, der mit Hochglanzzeitschriften und Plastikspielzeug vollgehängt war. Da ihm noch zehn Minuten Zeit blieben, setzte er sich in einen staubigen Kirchgarten; hier stand in einem Kreis aus Palmen eine Büste von Ioannis Kapodistrias – dem ersten Staatsoberhaupt Griechenlands, im Alter von fünfundfünfzig Jahren von einem politischen Gegner erschossen – und schaute hinaus aufs Meer.

Petrakis war schlank, präzise und siebzig Jahre alt. Seine hellgrünen Augen flackerten nervös. Schuhe, Hose und Hemd sahen teuer und elegant aus, seine Armbanduhr war ein grundsolides Schweizer Modell. Der Handschlag, mit dem er George begrüßte, wirkte hastig und geschäftsmäßig.

»Wir setzen uns in den Garten.«

Petrakis führte ihn zu einem Tisch unter einer Japanischen Mispel und fegte gereizt drei abgefallene Blätter von seinem Stuhl, bevor er Platz nahm. Einen Augenblick lang musterte er seinen Besucher schweigend.

»Zunächst möchte ich Ihnen einige Informationen über meinen Bruder geben. Danach werde ich Sie zu Madame Corneille begleiten. In ihrer Wohnung hat sich die Tragödie abgespielt.«

»Ich habe mir den ganzen Tag freigehalten«, sagte George.

»So lang werden wir nicht brauchen. Die Fakten sind eindeutig. Mein Bruder war ein klassischer Gelehrter. Er unterrichtete in Stanford, Princeton und zuletzt am King’s College London. Er war ein Mann mit unverblümten und durchaus umstrittenen Ansichten. Seine frühen Arbeiten beschäftigten sich mit Platon, doch am bekanntesten wurde er durch seine Veröffentlichungen über die weniger ehrenwerten Aspekte des Lebens im antiken Griechenland. Über das, was er als ›Dunkel hinter dem Licht‹ bezeichnete: Sklaverei, Prostitution, Verbrechen und Bestrafung, Pädophilie, Homosexualität und sogar, so ungern ich das erwähne, Kinderopfer, obwohl diese Annahme lediglich auf Indizien beruht. Sie können sich vorstellen, wie seine Arbeit hier aufgenommen wurde, besonders in patriotischen Kreisen.«

George nickte.

»John stand gerade im Begriff, bei der Historischen Gesellschaft von Ägina einen Vortrag über dieses total unappetitliche Thema zu halten. Madame Corneille hatte das gemeinsam mit einigen hiesigen Freunden arrangiert, und zwar für den 25. März um 21:00 Uhr.«

Petrakis machte eine Pause und wartete auf eine Reaktion.

»Erzählen Sie weiter«, bat George.

»Ich gehe davon aus, dass Ihnen die Bedeutung dieses Datums klar ist.«

»Vielleicht hat es eine Bedeutung, vielleicht auch nicht.«

»Selbstverständlich hat es eine Bedeutung!«

»Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.«

Petrakis schien verärgert. »Wie Sie wünschen, Herr Zafiris. Ich bitte Sie lediglich, zur Kenntnis zu nehmen, dass mein Bruder genau an dem Tag erschossen wurde, an dem wir unsere nationale Unabhängigkeit feiern.«

»Ich halte diese Tatsache fest«, antwortete George. Ruhig erwiderte er den aufgeregten Blick seines Gegenübers. »Fahren Sie fort.«

»Gegen 19:00 Uhr ging John zum Duschen ins Bad. Er kam nicht mehr heraus. Eine halbe Stunde später klopfte Madame Corneille an die Tür, erhielt keine Antwort, trat ein und fand ihn. Jemand hatte ihn in den Kopf geschossen. Sie rief unverzüglich die Polizei, und seitdem, muss ich bedauerlicherweise feststellen, stagniert die Angelegenheit.«

George dachte nach, während der Kellner den Kaffee servierte.

»Erzählen Sie mir mehr über Ihren Bruder.«

»Mehr fällt mir dazu nicht ein.«

»Das kann nicht sein.«

»Ich wüsste nichts, was hier weiterhilft.«

»Ich brauche Informationen über sein Privatleben.«

»Da gibt es nichts zu verbergen.«

»Mag sein, aber ich benötige die Informationen.«

Wieder wirkte Petrakis verärgert. »Was genau möchten Sie denn wissen?«

»Zuallererst etwas über seine Beziehung zu Madame Corneille.«

»Sie ist über jeden Verdacht erhaben!«

»Andere Personen hier auf der Insel?«

»Ein paar Freunde. Vertrauenswürdige Leute.«

»Ich brauche ihre Namen.«

»Unwichtig.«

»Es könnte ausgesprochen wichtig sein.«

»Ich kann Ihnen versichern, dass dem nicht so ist.«

»Ich werde mir dazu selbst eine Meinung bilden.«

»Ich versuche nur, Ihnen Zeit zu sparen. Und mir Geld. Ich gehe übrigens davon aus, dass Sie auf Stundenbasis abrechnen, so wie Rechtsanwälte?«

»Richtig, allerdings nehme ich nicht annähernd deren Stundensatz.«

Petrakis warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Wie hoch ist denn Ihr Honorar, wenn ich fragen darf?«

»Der Grundbetrag liegt bei fünfzig pro Stunde, zuzüglich Spesen.«

»Wie lange brauchen Sie normalerweise für so einen Auftrag?«

»Kann ich unmöglich sagen.«

»Warum?«

»Manchmal geht es schnell, manchmal dauert es Monate.«

»Ich möchte, dass es in diesem Fall schnell geht.«

»Ich auch.«

Petrakis verzog das Gesicht. Er nippte an seinem Kaffee, als könnte jemand Gift hineingemischt haben.

»Was müssen Sie noch wissen, Herr Zafiris?«

»Das sagte ich bereits. Etwas über sein Privatleben. Dort findet man normalerweise die Antworten.«

»In seinem Fall bezweifle ich das.«

»Wie Sie wünschen.« George leerte seine Tasse. »Ich schicke Ihnen die Rechnung für mein Gastspiel heute Vormittag.«

»Wir müssen noch Madame Corneille aufsuchen!«

George erhob sich. »Gehen Sie zu ihr. Ich verschwende hier nur meine Zeit.«

Petrakis erwiderte ruhig: »Sie sind ausgesprochen ungeduldig.«

»Ich habe andere Fälle, um die ich mich kümmern muss.«

»Sie sagten, Sie hätten den ganzen Tag Zeit.«

»Zum Arbeiten. Nicht zum Herumsitzen.«

»Beruhigen Sie sich, Herr Zafiris!«

»Ich bin vollkommen ruhig. Entweder Sie geben mir mehr Informationen, oder ich gehe.«

»Na schön.« Petrakis hob beide Hände von der Tischplatte. »Mein Bruder war homosexuell. Ist es das, was Sie interessiert?«

George antwortete kalt: »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich brauche noch weitere Einzelheiten.«

»Ich verstehe nicht, wozu!«

»Hat er sich eventuell mit Leuten eingelassen, die gewisse Dienstleistungen anbieten oder bestimmte Vorlieben befriedigen, möglicherweise unappetitliche, um auf Ihre Wortwahl zurückzugreifen?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Würgen, Ersticken, Bondage? Da kann schon mal was schiefgehen. Unfälle, geisteskranke Partner, Kriminelle …«

»Ich kann Ihnen versichern, dass er mit so etwas nichts zu tun hatte.«

»Wissen Sie das ganz genau?«

»Er hat nie etwas Derartiges erwähnt!«

»Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?«

»Niemals!«

»Also gut«, sagte George. »Beginnen wir noch mal von vorn. Woher wissen Sie, dass er schwul war?«

»Er hatte einen ›Partner‹, so nennt man das doch«, sagte Petrakis voller Abscheu.

»Was für eine Art Partner?«

Ein langer, gequälter Blick. »Nicht der Typ Mann, den man bei einem Professor für Alte Geschichte erwarten würde.«

»Also?«

»Er ist Handwerker auf dem Bau. Und Raumgestalter. So was in der Art.«

»Wo war dieser Partner, als John ermordet wurde?«

»Auf dem Rückflug nach London.«

»Ich muss mit ihm sprechen.«

Erneut machte Petrakis seinem Ärger Luft. »Falls auch nur ein Wort davon an die Presse durchsickert, werde ich persönlich …«

»Das wird nicht geschehen.«

Petrakis schwieg eine Weile. »Na schön. Ich gebe Ihnen Bills Telefonnummer, sobald ich zurück in Athen bin.«

»Danke. Jetzt erzählen Sie mir etwas über Johns Beziehung zu Madame Corneille. Und halten Sie sich bitte an Tatsachen.«

»Sie war bloß eine Freundin und Verehrerin.«

»Das klingt ziemlich nichtssagend.«

»Sie ist eine Exzentrikerin. Ein Medium. Eine spirituelle Heilerin.«

»Hat John ihre beruflichen Fähigkeiten in Anspruch genommen?«

»Keine Ahnung.«

»Was hat er über sie gesagt?«

»Nicht viel. Sie war einfach eine Freundin.«

»Hatte er Feinde?«

»Hunderte! Seine Bücher haben viel Unmut ausgelöst.«

»In welcher Form?«

»Briefe, Zeitungsartikel, Angriffe gegen ihn in Rundfunk und Fernsehen. Glücklicherweise wusste keiner seiner Gegner über sein Privatleben Bescheid, sonst hätte er keine ruhige Minute mehr gehabt.«

»Gibt es jemanden hier in Ägina, der sich ganz besonders über seine Schriften aufregte?«

»Da könnte ich ein, zwei Namen nennen.«

»Gut. Ich werde der Sache nachgehen. Kommen wir jetzt auf die Polizei zu sprechen: Mit wem haben Sie geredet? Mit jemandem von hier oder aus Athen?«

»Von hier, soweit ich weiß. Ein gewisser Inspektor Bagatzounis scheint für die Ermittlungen zuständig zu sein. Ein lächerlicher Typ!«

»Was hat er gemacht?«

»Nichts! Das ist ja das Problem! Dieser Kerl hat nicht das Geringste unternommen!«

George hörte diese Klage nicht zum ersten Mal. »Bei allem Respekt, Herr Petrakis, sogar hier in Griechenland kann ein Polizist nicht untätig bleiben, wenn es um Mord geht.«

Petrakis zischte: »Natürlich hat er das Nötigste getan! Das, was ein Bürokrat eben für nötig hält. Er hat Zeugenaussagen und Fotos aufgenommen, ist durch die Wohnung stolziert, hat aus dem Fenster geschaut, hat die absolut naheliegenden Fragen gestellt. Vielleicht hat er sogar einen Bericht verfasst. Aber im Grunde hat er nichts unternommen!«

»Wurde GADA hinzugezogen?«

»GADA?«

»Das Polizeipräsidium in Athen.«

»Das weiß ich nicht. Die geben keine Informationen raus. Mir schon gar nicht. Sämtlichen Nachfragen begegnen sie mit leeren Floskeln und Ausflüchten. Unglaublich, mit welcher Verachtung sie uns Bürger behandeln. Und das in einer modernen Demokratie!«

George sagte nichts. Die Worte dieses Mannes klangen für ihn wie hohle Phrasen.

Petrakis schaute auf seine Uhr. »Wir müssen jetzt zu Madame Corneille. Sie wartet schon. Sind Sie so weit?«

3

Sie liefen durch eine Gasse mit niedrigen Häuschen aus dem neunzehnten Jahrhundert, die von Feigenbäumen überragt wurden. Der Gehsteig war ein schmaler Asphaltstreifen voller Risse, auf dem überall Mülleimer, Paletten mit Ziegelsteinen und schlecht geparkte Motorroller den Weg versperrten. Sie mussten auf die Fahrbahn ausweichen und sich jedes Mal, wenn ein Auto vorbeifuhr und die Gasse in eine Abgaswolke hüllte, gegen eine Hauswand pressen.

Dann bogen sie in eine Straße mit Geschäften ein, in denen lebhafter Vormittagsbetrieb herrschte. Eine Metzgerei, eine Eisenwarenhandlung, ein Bäcker. Sie kamen an der Kathedrale mit ihrem ockergelb getünchten Glockenturm vorbei, in dem Tauben nisteten, und an der Ruine eines herrschaftlichen Anwesens, das sich schutzlos – ohne Dach und Fensterscheiben – gen Himmel reckte. Schließlich erreichten sie ein Gässchen mit blendend weißen Häusern und Innenhöfen voller Wäsche, die in der glühenden Sonne trocknete. Sie stiegen eine Treppe hinauf. Petrakis betätigte die Klingel.

Eine Frau von etwa vierzig Jahren öffnete die Tür; sie war schlank und geschmeidig und trug eine tief ausgeschnittene weiße Bluse und Jeans. Ihre Augen waren von einem intensiven Graublau, ihr Gesicht war blass und nachdenklich und von goldenen Locken umrahmt wie von einem Heiligenschein.

»Constantine! Lieber Freund! Willkommen.«

»Das ist der Mann, von dem ich dir erzählt habe, Rosa. Herr George Zafiris.«

Madame Corneille schüttelte George die Hand. Die Zartheit ihrer Haut und ihre entrückte, vergeistigte Ausstrahlung faszinierten ihn.

In der Eingangshalle waren die Fensterläden geschlossen, es war dunkel und kühl. Der süßliche Duft von Räucherstäbchen schwebte im Dämmerlicht. Sie geleitete ihre Besucher ins Wohnzimmer; es wurde von einem grellen Sonnenstrahl erhellt, der durch einen Schlitz in den hölzernen Klappläden hereindrang und sich als goldener Streifen über den Fußboden zog.

»Deine Aura wirkt angeschlagen, Costa«, wandte sie sich ohne Einleitung an Petrakis. »Du musst besser für dich sorgen.«

»Ist das denn verwunderlich?«, erwiderte Petrakis wütend.

»Nicht im Geringsten. Aber jetzt ist es an der Zeit, etwas dagegen zu tun. Sie zu heilen.« Sie musterte George.

»Hier siehst du einen Mann mit einer großartigen Aura!«

»Freut mich zu hören«, sagte George.

»Sieh dir seine Schultern an. Stark und doch entspannt. Deine sind gebeugt wie bei einem Zwerg. Einem Kobold. Du bist viel zu nervös.«

»Lassen wir das«, entgegnete Petrakis. »Wir sind aus geschäftlichen Gründen hier.«

»Gut. Du kümmerst dich um deine Geschäfte, ich mich um meine. Nehmen Sie Platz, meine Herren.«

Sie setzten sich. Georges Augen gewöhnten sich allmählich an das Halbdunkel.

»Ich muss Ihnen einige Fragen zum Tod von John Petrakis stellen«, begann er.

Madame Corneille zündete sich eine Zigarette an. »Ich hoffe, das stört Sie nicht.« Sie fächelte den Rauch ein wenig beiseite. »Es war ein schreckliches Erlebnis für mich.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»John war ein enger Freund von mir. Es gab so viele Übereinstimmungen zwischen uns: intellektuelle, künstlerische, gefühlsmäßige. Er war ein Genie, ein Seelenverwandter. Wir waren kein Liebespaar, auch wenn ich ganz stark spürte, dass wir das in einem anderen Leben durchaus hätten sein können. Oft führt der Mensch mehrere Leben, parallele …«

Petrakis fiel ihr ins Wort. »Erzähl Herrn Zafiris einfach, was passiert ist.«

»Dazu komme ich noch, wenn ich so weit bin. Das ist nicht leicht für mich.«

»Erzählen Sie es auf Ihre Weise«, sagte George.

»Am Abend seines Vortrags ging John duschen, um kurz nach sieben. Wir hatten gerade die BBC-Nachrichten gehört. Er nahm Handtuch, Shampoo und Kulturbeutel und sagte: ›Ich bin gleich wieder da‹. Um 19:30 Uhr fiel mir jedoch auf, dass er noch nicht aus dem Bad gekommen war. Ich machte mir Sorgen. Ich klopfte an die Tür, wartete, klopfte erneut. Ich hörte, dass die Dusche noch lief, was mir merkwürdig erschien. John war ein spartanischer Typ, er hat nie Wasser verschwendet. Also rief ich seinen Namen. Es kam keine Antwort. Ich rief noch einmal. Stille … Ich hatte eine schreckliche Vorahnung, stieß die Tür auf, und da …« Sie hielt inne, ihre Stimme stockte. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie atmete tief durch.

»Sie haben keinen Schuss gehört?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Können Sie mir beschreiben, was Sie sahen?«

»John hing seitlich über den Rand der Badewanne, schlaff wie ein Stück Stoff, und Blut …« – sie machte kreisende Handbewegungen – »… überall war Blut verspritzt.«

George wartete.

»Das ist alles«, sagte sie traurig. »Ich rief einen Arzt, der in der Nachbarschaft wohnt. Er untersuchte die Herztätigkeit. Nichts. John war tot. Wir alarmierten die Polizei. Sie fielen in meine Wohnung ein, behandelten mich zuerst wie eine Verdächtige, dann wie einen Störenfried und verloren schließlich jegliches Interesse an dem Fall.«

»Was taten Sie in der halben Stunde, während sich der Professor in der Dusche aufhielt?«

»Ich zog mich an.«

»Und Sie haben nichts gehört?«

»Ich hörte Musik.«

»Laute Musik?«

»Nicht besonders. Aber meine Schlafzimmertür war geschlossen, genau wie die des Badezimmers …«

»Ist Ihnen in den Stunden oder Tagen vor dem Mord irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Seltsame Vorkommnisse? Sonderbare Bemerkungen?«

»Nichts. Es geschah wie ein Blitz aus heiterem Himmel.«

»Gut. Gibt es irgendjemanden, hier oder in Athen, der Grund hatte, den Professor zu ermorden?«

»Nein. Jeder, der ihn kannte, bewunderte und respektierte ihn.«

»Die Leute haben sich über seine Bücher aufgeregt.«

»Natürlich! Fanatiker, glühende Patrioten.«

»Kann es sein, dass sie in Erfahrung brachten, wo er wohnt?«

»Höchst unwahrscheinlich.«

»Wusste sonst jemand, dass er hier war?«

»Ein befreundetes Paar.«

»Haben sie ihn getroffen?«

»Wir haben zusammen gegessen, am Abend bevor er starb.«

»Hier oder im Restaurant?«

Petrakis unterbrach ihn. »Ich verstehe nicht, was …«

»Sei still, lieber Costa! Das ist eine vernünftige Frage. Im Restaurant hätte durchaus jemand unser Gespräch belauschen können. Ist es nicht das, was Sie wissen möchten, Herr Zafiris?«

»Exakt mein Gedankengang.«

»Wir haben hier gegessen.«

»Vielleicht muss ich mit Ihren Freunden sprechen.«

»Selbstverständlich. Ihre Namen sind Abbas und Camilla. Telefonnummer 58 360.«

George machte sich eine Notiz. »Jetzt habe ich noch eine etwas persönlichere Frage.«

»Fragen Sie ruhig.«

»Hatte der Professor während seines Aufenthaltes hier irgendwelche sexuellen Abenteuer?«

Sie warf einen Blick zu Petrakis, der müde antwortete: »Er weiß von Bill.«

»Bill war bei ihm bis zum Morgen des Tages, an dem er seinen Vortrag halten sollte«, erklärte Madame Corneille. »Dann flog er zurück nach London. Aber ich würde Bill nicht als ›sexuelles Abenteuer‹ bezeichnen. Die beiden waren praktisch so gut wie verheiratet.«

»Warum blieb Bill nicht bis zum Vortrag hier?«

»Er hätte ihn nicht verstanden«, gab Petrakis zur Antwort.

»Unsinn! Er hätte ihn durchaus verstanden. Er hatte am nächsten Tag geschäftlich in London zu tun.«

»Gab es Anzeichen für Spannungen zwischen den beiden?«

Sie überlegte einen Augenblick. »Nein, sie wirkten völlig unverkrampft.«

»Was für eine Art Mann ist Bill?«

»Ein guter Mann, intelligent, praktisch, mit einer gewissen ästhetischen Bildung, allerdings natürlich gefangen in einer materialistischen Vorstellung vom Leben, wie das bei einem Handwerker zu erwarten ist.«

»Was meinen Sie damit?«

»Er sieht immer nur das Physische. Keinerlei spirituelle Dimension.«

»Gelinde gesagt!«, bemerkte Petrakis.

»Costa! Mäßige deinen Snobismus!«

»Haben Sie irgendeinen Streit mitbekommen?«, fragte George.

»Eher Neckereien: ›Du hast schon wieder meine Sonnencreme geklaut‹ – so in der Art.«

»Hatte John jemals Kontakt zur Stricherszene?«

»Keine Ahnung.«

»Hat er hier sonst noch jemanden getroffen? Freunde, Mitarbeiter, Kollegen?«

»Falls ja, hat er mir nichts davon erzählt.«

»Okay«, sagte George. »Soweit Sie wissen, hatte niemand Grund, ihn umzubringen?«

»Richtig. Ich kann mir unmöglich vorstellen, dass so ein sanfter und harmloser Mann, ein so offener, lustiger und kultivierter Mensch auch nur einen einzigen Feind haben könnte.«

»Ich glaube, da irrst du dich, Rosa«, sagte Petrakis unvermittelt.

»Okay, ich irre mich. Dann leg ihm doch deine Theorie dar, Costa.«

»Nein«, erwiderte Petrakis scharf. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt. Herr Zafiris soll seine eigenen Schlüsse ziehen. Falls er Augen hat zu sehen, möge er sehen!«

»Dagegen ist nichts einzuwenden«, stimmte George zu.

»Noch weitere Fragen, Herr Zafiris?«

»Ich benötige eine Liste Ihrer Kontakte. Der Polizeichef, der Vorsitzende der Historischen Gesellschaft, jeder Einzelne. Und ich möchte das Badezimmer sehen.«

»Zeigst du’s ihm bitte, Costa? Ich glaube, das ertrage ich nicht.«

»Ich würde es vorziehen, wenn Sie mich begleiten.«

»Wozu denn?«, wandte Petrakis ein.

George bemühte sich, nicht die Geduld zu verlieren. »Madame Corneille ist die Hauptzeugin. Ihre Beschreibung des Verbrechens ist äußerst wichtig.«

»Sie hat Ihnen bereits gesagt, was sie gesehen und gehört hat.«

»Ich weiß.«

»Also? Was bringt es dann, die bedauernswerte Dame zu nötigen, das Ganze erneut durchzumachen?«

»Am Schauplatz des Verbrechens erinnern sich Menschen oft noch an Einzelheiten. Dank unseres unbewussten Gedächtnisses, das durch Sinneseindrücke gesteuert wird. Diese Details sind manchmal von entscheidender Bedeutung. Ich erwarte nicht, dass es Madame Corneille leichtfällt.«

»Tatsachen sind Tatsachen!«

»Man sollte es kaum für möglich halten, wie wenig eindeutig Tatsachen sein können.«

»Sind Sie eigentlich Privatdetektiv oder Amateurphilosoph, Herr Zafiris?«

»Ich möchte nur das Badezimmer sehen.«

»Ich denke, das haben Sie deutlich gemacht!«

»Wenn Sie nicht möchten, dass ich diesen Auftrag ordnungsgemäß erledige, fahre ich zurück nach Athen und lasse es sein.«

»Damit haben Sie schon einmal gedroht.«

»Dann zwingen Sie mich nicht, das erneut zu tun.«

Petrakis schäumte vor Wut. Er war ein Mann, der das Ruder immer fest in der Hand halten wollte. George hatte Hunderte solcher Typen kennengelernt, die alle von ihrer Einzigartigkeit überzeugt waren; häusliche Despoten, erzogen von Müttern, die ihre Söhne anhimmelten. Er erwartete den Gegenschlag.

»Ich pflege nicht für Unverschämtheiten zu bezahlen, Herr Zafiris. Die kann ich tagtäglich kostenlos bekommen, wenn ich will.«

»Das bezweifle ich nicht.«

»Was soll das heißen?«

George erhob sich. »Sollten wir nicht aufhören, Zeit zu verschwenden?«

Petrakis wedelte abschätzig mit der Hand. »Geh mit ihm, Rosa. Erzähl ihm, was er wissen möchte. Und versuch, deine Gefühle im Zaum zu halten.«

Madame Corneille schloss die Augen und sammelte sich einen Moment.

Sie betraten einen kleinen Vorraum, dessen Wände mit indischen und persischen Drucken geschmückt waren. Links eine Küche, rechts zwei Schlafzimmer. Zögernd deutete sie auf die halboffene Tür zum Bad. George schob sie langsam ganz auf. Unter dem Fenster stand eine Wanne, die Dusche war an der Wand befestigt. Er zog die Schuhe aus und stieg in die Badewanne. Von dort hatte er einen Blick auf alles, was John Petrakis wohl in den letzten Sekunden seines Lebens gesehen hatte: draußen vor dem Fenster, genau gegenüber, eine Villa im neoklassizistischen Stil, von einem gepflegten Garten umgeben; dahinter, bunt durcheinandergewürfelt, eine Stadtlandschaft aus Gässchen, Häusern, Stromkabeln und Bäumen. Mit einem Gewehr hätte er direkt in die Fenster von fünfzehn, vielleicht zwanzig Wohnungen feuern können. Ein Killer, dachte er, würde möglicherweise sogar riskieren, von einem Dach oder aus einem Hof heraus zu schießen. Allerdings kaum von der Straße.

»Wem gehört das stattliche Wohnhaus gegenüber?«

»Oberst Varzalis.«

»Wer ist das?«

»Ein pensionierter Armeeoffizier.«

»Ein idealer Platz zum Schießen.«

»Ich weiß«, sagte Madame Corneille.

Er beobachtete ihr Gesicht, das von Anspannung und Schmerz gezeichnet war.

»Würden Sie mir bitte ganz genau beschreiben, wie Sie den Professor aufgefunden haben?«

Sie deutete auf die Badewanne. »Er hing über den Rand. Arme und Kopf am Boden.«

»Erinnern Sie sich an seinen Kopf?«

Sie schauderte. »Natürlich. Eine Hälfte fehlte.«

»Und wo waren die Splitter und das Blut?«

»Auf dem Fußboden.«

»Noch anderswo?«

»Am Duschvorhang.«

»Wo genau? Können Sie’s mir zeigen?«

»Ganz oben. Alles rann herunter.«

»War es dieser Duschvorhang?«

»Nein. Den hat die Polizei mitgenommen.«

»Haben sie noch mehr mitgenommen?«

»Die Badematte. Johns Kleidung und seine persönlichen Dinge.«

»Papiere, Brieftasche, Pass?«

»Alles.«

»Sind die Sachen immer noch dort?«

»Keine Ahnung.«

George ließ den Blick erneut durchs Badezimmer schweifen. Es war vollgestellt mit Kosmetikartikeln und dekorativen Gegenständen. Alles makellos sauber und ordentlich.

»Es muss eine Heidenarbeit gewesen sein, das Bad wieder zu reinigen.«

Sie nickte. »Das hat mich einen ganzen Tag gekostet. Auf den Knien und hoch oben auf der Leiter. Bleichmittel, Wasser und Blut … Aber kein Putzmittel der Welt kann meine Seele von diesem Bild reinwaschen.«

4

Als George nachmittags wieder in Athen am Schreibtisch saß, musste er sich um eine dringende Angelegenheit kümmern. Sie stand schon eine ganze Zeit lang auf seiner Liste. Er nannte sie sein »schmutziges Polit-Quartett«. Byron Kakridis, ein Minister der griechischen Regierung, hatte ihm Anfang Mai einen eindeutigen Auftrag erteilt: Berichterstattung über die Sozialkontakte seiner Ehefrau. George brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass sie eine Feierabend-Affäre hatte: mit Angelos Boiatzis, einem Oppositionspolitiker. Sie trafen sich ein- bis zweimal pro Woche in einem Hotel in der Innenstadt, ein ruhiger, geregelter Ablauf, der offenbar niemandem schadete. George wollte schon seinen Bericht abliefern, als seine Intuition ihn zurückhielt. Er fand absolut keinen Gefallen daran, außereheliche Seitensprünge aufzudecken, die oft genug durch ein unerfülltes Eheleben gerechtfertigt schienen. Trotz ihres Geldes, ihrer teuren Wagen und Luxushäuser waren diese Menschen in ihren jämmerlichen Existenzen gefangen und griffen nach jeder Freiheit, die sich ihnen bot.

Er hatte das alles am eigenen Leib erfahren und wünschte inzwischen, ihm wäre nie zu Ohren gekommen, was seine Frau im Schilde führte. Dieses Wissen hatte ihn vergiftet, hatte sein Herz verbrannt und sein Glück zerstört … Was konnten Beweise schon Gutes bewirken?

Im Fall von Kakridis und Boiatzis wurde sein übliches Zögern von einem noch weitaus nebulöseren Gefühl begleitet, von einer Art Vorahnung der Dinge, die ihn erwarteten.

Ein paar Tage später rief Frau Kakridis an. Plötzlich bat ihn ausgerechnet die Gattin, die er einen Monat lang beobachtet und fotografiert hatte, ihren Ehemann zu beschatten.

»Ich glaube, er hat eine Affäre«, erklärte sie.

George hätte den Fall ablehnen sollen, doch sein früherer Radikalismus gewann die Oberhand. Es war doch allzu verlockend, noch einem von diesen gewählten Volksvertretern auf den Zahn zu fühlen und herauszufinden, was der in seiner Freizeit so alles anstellte. Hin- und hergerissen zwischen Neugier und Berufsethos gab er Frau Kakridis schließlich die Telefonnummer von Hektor Pezas, einem befreundeten Privatdetektiv. Er und Hektor tauschten ihre Informationen gelegentlich untereinander aus. Unter moralischen Gesichtspunkten war das mit Sicherheit nicht die sauberste Regelung der Welt, aber sie funktionierte.

Die Beschattung von Byron Kakridis erwies sich als weitaus komplizierter als die seiner Gattin. Sein Wahlbezirk lag im Norden des Landes. In seinem Alltag überschlugen sich Flugreisen, Autofahrten, Besprechungen und Parlamentssitzungen. Dazwischen telefonierte er, oder er schlief. Seine Mahlzeiten nahm er zwischen Tür und Angel ein. Zum Lesen oder Entwerfen von Schriftstücken fand er allenfalls spätnachts oder ganz früh morgens etwas Zeit, zu Hause oder im Hotelzimmer. Hektor Pezas kam zu dem Schluss, dass dieser Mann unmöglich eine Affäre haben konnte.

Genau das teilte er Margarita Kakridis mit. Sie beharrte auf ihrem Verdacht. Ihr Gatte habe einen extrem ausgeprägten Sexualtrieb – er sei »ein Vulkan«, wie sie es formulierte. Überraschend plötzlich habe er jegliches Interesse an ihr verloren. Dafür könne es nur eine Erklärung geben. Hektor setzte zwei zusätzliche Detektive ein und beschattete ihn rund um die Uhr. George riet seinem Freund, das Honorar im Voraus zu kassieren. Sie zahlte ohne Zögern. Und Pezas, ein gründlicher und gewissenhafter Mann, kam Kakridis schließlich doch noch auf die Schliche. Der Herr Minister pflegte sich durch einen Hinterausgang aus der Parlamentssitzung zu stehlen und zu Fuß zu einer Wohnung in Pangrati zu gehen, wo er und eine attraktive blonde Dame genau fünfundvierzig Minuten hinter verschlossenen Türen verbrachten. Dann verließ er sie und saß nach einer knappen Stunde wieder auf seinem Platz im Sitzungssaal. Kein Härchen war verrutscht.

»Irgendeine Idee, wer die Blondine sein könnte?«, fragte George Pezas.

»Ja.«

»Kannst du’s mir sagen?«

»Das wäre unethisch.«

»Natürlich. Aber hilfreich.«

»Na gut. Na schön. Es ist Frau Boiatzis.«

»Frau Boiatzis? Ist sie nicht ein bisschen zu alt für einen Bock wie ihn?«

»Du solltest sie sehen. Fünfunddreißig, eine heiße Russin. Ich weiß nicht, wo er sie aufgegabelt hat, oder sie ihn, aber ich sage dir, sie ist ein Prachtweib.«

»Warum lässt sich Boiatzis dann mit einer anderen ein?«

»Vielleicht ist die Russin zu anstrengend. Das sind sie meistens.«

Nun mussten sie entscheiden, wie sie Herrn und Frau Kakridis die Wahrheit beibringen sollten. Sie sprachen mehrmals sämtliche Möglichkeiten durch. Für Pezas war alles ganz einfach. »Sie haben uns für diese Information bezahlt. Es ist unsere Pflicht, sie ihnen zu geben. Was sie damit anfangen, das ist ihre Sache.«

»Mir gefällt nicht, was danach passiert«, entgegnete George. »Bis jetzt ist alles im Gleichgewicht. Das werden wir zerstören.«

»Sie haben uns darum gebeten.«

»Sie wissen nicht, was sie tun.«

»Bald wissen sie es.«

»Sie werden es bereuen.«

»Das ist ihr Problem.«

»Können wir ihnen nicht wenigstens einen schriftlichen Bericht zuschicken, verbunden mit der Empfehlung, ihn nicht zu lesen?«

»Das soll wohl ein Witz sein!«

»Ganz und gar nicht.«

»Das macht ihnen doch nur Appetit.«

»Zumindest haben wir sie dann gewarnt.«

»Wie du willst. Mein Bericht ist morgen fertig.«

»Ich brauche ein paar Tage länger.«

»Warum?«