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Die englische Originalausgabe erschien 2014
unter dem Titel »Remember Me This Way« bei
Mulholland Books/Hodder & Stoughton/Hachette, UK.

Für B.S., J.S. und M.S.

Übersetzung aus dem Englischen von Elvira Willems

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
Januar 2016

ISBN 978-3-492-97044-0
© Sabine Durrant 2014
Deutschsprachige Ausgabe:
© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2015
Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin
Covermotiv: Anja Weber Decker/arcangel.com
Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen

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Für B. S., J. S. und M. S.

»Ich glaube, ich fange an zu begreifen, warum das Gefühl der Trauer so sehr dem der Spannung gleicht.«

C. S. Lewis

ZACH

Ich stand in der Grünanlage und beobachtete sie oben in der Schulbibliothek. Das Licht brannte, und sie ging zweimal am Fenster vorbei. Beim dritten Mal stützte sie die Ellbogen auf das Fensterbrett und schaute hinaus. Es sah aus, als würde sie mich direkt anschauen, obwohl ich wusste, dass ich gut getarnt war: Den Rücken an den Baum gelehnt, das Gesicht verborgen hinter einem Schleier aus Zweigen. Ich wollte gerade hervortreten, als hinter ihr ein Mann auftauchte, und als sie sich umdrehte, sah ich ihr Lachen, ein Schlitz weißer Kehle. Da stellte ich mir seine Lippen auf ihrer Halsbeuge vor, dort, wo die Ader pulsiert, ihre Augen, die sich schlossen, seine Hände auf der Rundung ihrer Brüste.

Wenn ich ganz sicher weiß, dass sie einen anderen hat, dass sie vergessen hat, was wir hatten, bringe ich sie um.

Und das hat sie dann ganz allein sich selbst zuzuschreiben.






LIZZIE

Kurzferien, Februar 2013

Ein tiefer Atemzug. Benzin, Mist, der mineralische Geruch von Salz. Selbst hier bin ich nicht weit vom Meer. Mein Gesicht ist feucht vom Niesel und dem Sprühnebel, den die Autoreifen auf der nassen Straße aufwirbeln. Ich packe die Blumen jetzt mit beiden Händen, wie eine Braut. Hyazinthen habe ich ausgesucht, auch wenn ich mir nicht sicher war, nur blaue. Zach hat mir erklärt, ein Blumenstrauß solle immer nur aus Blumen einer Farbe bestehen. Die Stiele habe ich in nasse Küchenrolle gewickelt und mit einem Gefrierbeutel gesichert. Entweder habe ich das Papier zu nass gemacht, oder in dem Beutel ist ein Loch, denn es sickert Wasser raus und tropft mir am Ellbogen runter.

Auf der anderen Straßenseite liegt eine grasbewachsene Senke, ein Wäldchen mit stumpfen Bäumen, dahinter der Schatten eines Hügels. Der Himmel darüber hat die Farbe schmutziger Schafe, dunklere Flecken, in der Ferne ein paar Sonnenstrahlen wie fallende Tropfen, während der kalte Nachmittag hereinbricht. Auf all das konzentriere ich mich, weil ich weiß, dass auf der anderen Fahrbahnseite irgendwo am Rand meines Sehfelds, irgendwo links, die Stelle ist. Aber ich werde nicht hinsehen. Noch nicht.

Es ist Valentinstag, der Autounfall meines Mannes ist genau ein Jahr her, und ich befinde mich 320 Kilometer von zu Hause entfernt an einer Bundesstraße mitten in Cornwall. Diese Reise ist ein Ende oder ein Anfang – ich bin mir noch nicht ganz sicher. Es ist Zeit, nach vorn zu sehen. Das sagen die Leute mir andauernd. Ich versuche, ihnen zu glauben.

Ich passe einen Moment zwischen den vorbeizischenden Autos ab und laufe los. Als ich auf der anderen Straßenseite ankomme, schaue ich zurück zur Parkbucht, wo mein Nissan Micra im Windzug vorbeifahrender Lastwagen schaukelt. Mein Hund sieht mir vom Seitenfenster aus zu. Seit ich den Wagen geparkt habe, habe ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Wahrscheinlich liegt das nur daran, dass der Ort so abgelegen ist. Wie viele Leute fahren hier vorbei, ohne dass einer anhält? Oder sind es die Schuldgefühle – wegen allem Möglichen, aber hauptsächlich, weil ich längst hätte herkommen sollen?

Es ist üblich, den Schauplatz eines tödlichen Unfalls zu besuchen und Blumen abzulegen. Man denke nur an die in Zellophan gehüllten Laternenpfosten, wo arme Fahrradfahrer den Tod gefunden haben. Es ist nicht üblich, es so lange aufzuschieben. In der Nacht, als es passierte, als PC Morrow vor meiner Tür stand … sie hätte mich gleich hergebracht. Der Streifenwagen hat gewartet. Doch da ist meine Schwester Peggy dazwischengegangen. Sie hat Morrow gesagt, ich müsse mit ihr nach Hause kommen und nicht fünf Stunden zu einem nassen, windumtosten Straßenrand in Cornwall fahren, um mir Rauch und Trümmer anzusehen. Es wäre verrückt, hat sie gesagt. Ich könnte ein andermal hinfahren. Zach war tot. Und ich konnte nichts tun.

Es war ja auch nicht so, als hätte ich nicht gewusst, was passiert war. Morrow – frisch vom Opferschutz-Kurs – ist es immer und immer wieder mit mir durchgegangen, bis ich die tödliche Kombination begriff: der Seenebel und die nasse Straße, die scharfe Kurve, das Faltverdeck, die Flaschen seines Lieblingswhiskys, direkt aus der Brennerei, auf dem Beifahrersitz, die Ölgemälde und die lösungsmittelgetränkten Lappen im Kofferraum, der dicke Baumstamm – der Baum, der fatalerweise an dieser Stelle steht.

Ich hab’s immer wieder aufgeschoben. Die Leute haben das verstanden. Cornwall war Zachs Lieblingsgegend. Er hatte ein Haus dort unten, um das ich mich irgendwann kümmern müsste, und die Leute nahmen an, irgendwann wäre ich so weit. Doch Tage und Wochen vergingen, und mit jedem Tag graute es mir mehr davor, den leeren Bungalow zu betreten und seinen Verlust noch einmal ganz neu zu spüren.

Ein Zittern kriecht mir den Rücken hoch. Die Wolken werden dichter. Eine Windböe zerrt an meinem Mantel. Ich muss mich beeilen, sollte es hinter mich bringen und zum Auto zurückgehen, bevor es noch dunkler wird. Ein Motorrad, das einen Lastwagen überholt, lässt den Motor aufheulen. Ich trete einen Schritt zurück. Was mir, als ich über dreihundert Kilometer weit weg war, unabdingbar schien, kommt mir allmählich ziemlich verrückt vor und leichtsinnig obendrein.

Ich bewege mich auf dem schmalen, bröckeligen Streifen zwischen der weißen Linie und der Leitplanke. Ein Fuß vor den anderen. So übersteht man so etwas – das sagen einem alle. Ein Schritt nach dem anderen. Ich konzentriere mich mit aller Kraft auf den zugemüllten Boden: das Einwickelpapier eines Hamburgers, mit Ketchup beschmiert, ein benutztes Kondom, seltsam bunt in dem dreckigen Gras. Ein Styroporbecher, der in der Leitplanke klemmt und hin und her flattert, sooft ein Auto vorbeifährt. Als ich mich der Kurve nähere, dröhnt eine Hupe – vielleicht zur Warnung, vielleicht aber auch, weil sich einer über die Verrückte auf der Straße mit ihrem Blumenstrauß wundert.

Wenn ich da bin, lege ich die Hyazinthen am Fuß des Baums auf den Boden. Macht man das so? Oder sollten sie höher sein? Vielleicht hätte ich mehr darüber nachdenken und Klebeband mitbringen sollen. Zach wüsste so was – obwohl er es schrecklich fände, dass ich hergekommen bin. Er würde es als Beleidigung auffassen, nicht als Reverenz. Er hasste Sentimentalitäten. Er mochte nicht mal Jahrestage. Er würde meinen, ich hätte mich dem Klischee ergeben oder mich dem Rat von anderen gebeugt. »Auf wen hast du gehört, Lizzie Carter?«

Ich bekomme eine Ahnung von der Form des Baums, dessen Äste wie Adern in den grauen Himmel ragen. Jetzt habe ich die fransige Lücke in der Hecke erreicht. Hellgrüne Triebe am Ende der Äste. Es ist gefühllos, wie dieser Weißdorn sich erholt hat, wie munter er wieder sprießt. Ich sehe mich noch einmal um, bevor ich über die Leitplanke klettere, und da ist er: der Baum, eine Eiche, seltsam würdevoll, trotz der tiefen Wunde in der knorrigen Rinde.

Zachs Baum. Ich strecke die Hand aus, um ihn zu berühren, und streiche mit den Fingern über die rauen Furchen der Rinde. Ich lehne den Kopf daran. Tränen steigen mir in die Augen.

Meine Freundin Jane fand, ich sollte heute nicht allein herfahren. Ich habe sie zum Lachen gebracht, um ihr zu beweisen, dass ich klarkomme, indem ich eine launige Stimme aufgesetzt und über meinen »feierlichen Besuch« gesprochen habe, mein »rituelles Blumenniederlegen« – Formulierungen aus dem Selbsthilfebuch, das meine Schwester mir geschenkt hat. Ich habe ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt: Wie kompliziert meine Trauer ist, wie unergründlich, und dass es hier vor allem darum geht, die Geister zu besänftigen.

Ist Trauer immer so verworren, oder ist meine nur besonders ungestalt? Es gibt Tage, da akzeptiere ich seinen Tod und bewege mich durch die Welt wie unter Wasser. Ganz alltägliche Aufgaben, wie das Einräumen der Geschirrspülmaschine oder das Bezahlen von Rechnungen, kommen mir brutal und leer vor. Ich ärgere mich über die Tauben, die vor dem Schlafzimmerfenster nisten, und die Schulkinder zu Beginn des neuen Schuljahres in ihren neuen Uniformen. Die kleinste Kleinigkeit kann mich umhauen. Letzte Woche radelte ein Mann die Northcote Road runter, der einen weißen Fahrradhelm trug, und eine Schmerzwelle traf mich mit solcher Macht, dass die Knie unter mir nachgaben. Ich musste mich vor Capstick Sports einen Augenblick aufs Pflaster hocken. An anderen Tagen vergesse ich es ganz. Ich bin beinahe sorglos, entlastet, und dann überkommt mich eine solche Scham, dass ich nicht weiß, wohin mit mir. Dann erliege ich Lethargie und Depressionen. Schiebe Dinge auf.

Jetzt stehe ich hier und fühle mich ihm auf reine Art nah. Dieser Tag musste irgendwann kommen. Zum ersten Mal fühlt sich sein Tod real an. Ich muss ihn loslassen, so schwer es auch ist, denn er war trotz allem die Liebe meines Lebens. Peggy hat recht. Er war der Mann, den ich die meiste Zeit meines Lebens geliebt habe – die meisten Minuten, die meisten Stunden, die meisten Tage, die meiste Zeit. Ich schließe die Augen, blinzele die Tränen fort und frage mich, ob meine rastlosen Gedanken nun zur Ruhe kommen können.

Unter meinem Fuß knistert etwas, und ich blicke nach unten.

An den Wurzeln lehnt ein Blumenstrauß. Casa Blanca Lilien, in Zellophan eingewickelt, mit einem breiten lilafarbenen Band zusammengebunden.

Ich trete zurück. Mein erster Gedanke ist: noch ein Unfall an derselben Stelle. Eine unfallträchtige Stelle: die enge Kurve und die unselige Geländebeschaffenheit. Vielleicht noch eine neblige Nacht. Regen.

Ich bin ganz durcheinander. Ich weiß nicht, wo ich meine Hyazinthen hintun könnte. Die Lilien sehen so professionell und wichtig aus. Ich stehe da und überlege, was ich machen soll. Trotz seiner Verachtung für ein solches Ritual, hätte Zach es sicher nicht teilen wollen. Und so dauert es einen Augenblick, bis ich die Nachricht sehe. Der Zettel ist weiß. Jemand hat ein großes Herz gemalt und einen Namen darum geschrieben – ich neige den Kopf: X E N I A. Und ganz oben steht in großen schwarzen Buchstaben: Für Zach.

Im ersten Moment denke ich wirklich: Was für ein Zufall. Hier ist noch jemand verunglückt und gestorben, der Zach hieß. Ist er, um PC Morrows Formulierung zu benutzen, auch »in Flammen aufgegangen«?

Als mir dann ganz allmählich dämmert, wie die Sache sich verhält, lege ich meine Blumen demütig irgendwo an der Seite ab. Ich stehe auf und bewege mich wie in Trance durch das Loch in der Hecke, steige über die Leitplanke und gehe die Straße runter in die Richtung, aus der ich gekommen bin, mit leeren Händen und gesenktem Kopf. Erst als ich aufblicke, sehe ich ein anderes Auto – eine silberne Geländelimousine, direkt hinter meinem Micra, Stoßstange an Stoßstange.

Ein Knoten drückt auf das obere Ende meiner Wirbelsäule. Ich will über die Straße zu den Autos laufen, doch meine Beine sind wie Blei, ich bin wie unter Drogen. Von hinten kommen Autos. Eine Hupe dröhnt. Mein Rock flattert, der Schal weht mir ums Gesicht. Bremsen quietschen, noch ein Hupen. Ein Windstoß und Spritzwasser.

Ich fummele an der Autotür und schmeiße mich auf den Sitz. Der Hund, ein drahtiger Lurcher, begrüßt mich stürmisch, leckt mich ab, wedelt mit dem Schwanz und versucht gleichzeitig, von mir wegzukommen. Im Rückspiegel sehe ich zu, wie die Geländelimousine ausschert, und erhasche einen kurzen Blick auf den Fahrer, der sich über das Lenkrad beugt und kurbelt. Er hat wohl angehalten, um nach dem Weg zu schauen oder einen Anruf entgegenzunehmen. Oder?

Im Spiegel sind meine Augen rotgerändert. Auf meiner Wange ist ein Kratzer. Ich kraule Howard den Kopf, schiebe die Finger unter sein Halsband und grabe sie tief in die Falten um seinen Hals. Die Tränen kämpfe ich nieder.

Ein von Hand gezeichnetes Herz. Xenia. Er hat nie von einer Xenia gesprochen.

Ein Stich – schmerzliche Eifersucht, vermischt mit dem alten Sehnen –, doch zum ersten Mal spüre ich auch das Gegenteil: ein Entgleiten der Verantwortung. Eine andere hat ihn geliebt. Ganz hinten im Mund habe ich einen metallischen Geschmack, und ich begreife, dass es trotz allem Erleichterung ist.

Das Internet hat Amor gespielt. Damit gehe ich ganz offen um. Meine Schwester Peggy, der mehr am äußeren Schein liegt als mir, war von Anfang an der Meinung, das sollten wir nicht. Wir sollten lieber so tun, als hätte es mit einer zufälligen Begegnung im Supermarkt angefangen. »Erzählt den Leuten, ihr wärt beim Obst zusammengestoßen«, sagte sie, »als ihr gerade nach derselben Fair-Trade-Ananas greifen wolltet oder so.«

»Oder nach derselben Fertigmahlzeit«, versetzte ich.

»Ja, beim Aussuchen von Mr. Brain’s Pork Faggots«, meinte Zach, »oder so.«

Zuerst war ich misstrauisch. Ich begriff einfach nicht, was er in mir sah. Doch als ich ihm in diesem Augenblick in Peggys Küche zuschaute, wie er meine Schwester bezirzte – das »oder so« war längst ein privater Witz zwischen uns –, erlaubte ich mir, mich in ihn zu verlieben.

Jane, die mit ihrer Sandkastenliebe glücklich verheiratet ist, hatte mir zugeredet, mich dort anzumelden. Seit wir uns in der Schule kennengelernt hatten, war ich, bis auf kurze Phasen Mitte zwanzig, immer Single gewesen. Wir arbeiteten in derselben Schule – Jane hatte mich für den Job in der Bibliothek empfohlen –, und in den Pausen setzte sie mir unablässig zu: »Es ist nicht mehr wie früher«, sagte sie. »Es ist keine Schande. Du musst einfach nur eine Webseite von einer seriösen Zeitung wählen, da kommst du schon an die richtigen Männer. Weißt du …« Sie fuhr mit den Händen durch die Luft, wie um Zartgefühl von Vornehmtuerei zu trennen. »Gebildet.« Jane hat studiert und vergisst manchmal, dass ich nicht auf der Uni war.

In meinem Profil wollte ich schreiben: Nachlässig gekleidete Bibliothekarin, mittlerer Bildungsabschluss, die ihre dementen Eltern betreut und wenig Erfahrung in Liebesdingen besitzt. Jane hatte da ganz andere Vorstellungen: Meine Freunde beschreiben mich als kontaktfreudige und lustige Weltenbummlerin, schrieb sie und schubste mich vom Bildschirm weg, die sich in Jeans genauso wohlfühlt wie im kleinen Schwarzen.

»Ich besitze nicht mal ein kleines Schwarzes.«

»Tz, tz, tz«, machte sie abschätzig. »Wen interessiert’s?«

Zach war mein sechstes Date. Ein Künstler aus Brighton – weit außerhalb meines beschriebenen Acht-Kilometer-Radius, weshalb ich mich beinahe gar nicht mit ihm getroffen hätte. Am Telefon schlug er einen Spaziergang vor. Alle raten einem, so etwas zu vermeiden, sondern sich lieber irgendwo zu treffen, wo andere Menschen sind. Schon hatte er sich als einer erwiesen, der sich gern über Regeln hinwegsetzte. Die anderen Männer hatten alle mehrere E-Mails geschrieben, in denen sie persönlichkeitsrelevante Themen abhandelten – Landleben vs. Stadtleben, sexuelle Spannung vs. Kameradschaft. Er hatte nur gefragt, ob er mich anrufen könne. Außerdem schrieb er gleich von Anfang an unter seinem richtigen Namen, also nicht »Lookingforlove_007«, sondern Zach Hopkins.

Auf seinem Foto war er weder beim Skifahren, noch lehnte er sich an einen Oldtimer, und er hatte den Arm auch nicht um einen Deutschen Schäferhund gelegt. Sein Foto war ein unscharfes, mit langer Belichtungszeit von oben aufgenommenes Schwarz-Weiß-Bild, der Mund halb geöffnet, die Stirn leicht gerunzelt – die verwirrte Konzentration eines Menschen, der ein Kreuzworträtsel löst. Das Foto wirkte ungekünstelt, wie wahllos herausgegriffen, doch bei Zach war, wie ich noch herausfinden sollte, nichts je ungekünstelt oder wahllos.

Ich sagte Ja zum Spaziergang. Ich glaube nicht, dass ich zögerte. Seine tiefe, ruhige Stimme, seine ganz leicht ironische Art, gleich zum Punkt zu kommen. Ich war schon in Bann geschlagen, und seine Selbstsicherheit haute mich natürlich von den Socken.

Er nahm den Zug von Brighton nach Clapham Junction, und ich wartete nervös draußen vor dem neuen Eingang. Es war November, wolkenverhangen, eine leichte Kühle in der Luft – aber wirklich kalt war es nicht. Er trug eine russische Pelzmütze und einen dicken Mantel über einem ausgebeulten Leinenanzug. Als wir uns auf dem Weg zum Common machten – und ich Mühe hatte, Howard davon abzuhalten hochzuspringen und sich die Mütze zu schnappen –, erzählte er mir, er habe lange gebraucht, um sein Outfit zusammenzustellen. »Ich wollte Sie mit meinem natürlichen Raffinement beeindrucken. Sie sind schließlich eine Weltenbummlerin.« Er verneigte sich ein wenig. »Ich hatte es auch auf einen Hauch Exzentrizität abgesehen, eine leichte Wunderlichkeit, über die wir später in Erinnerungen schwelgen könnten. Ich wollte, dass wir zurückblicken und sagen können: ›Weißt du noch, die Pelzmütze, die du bei unserer ersten Verabredung getragen hast? Was hast du dir dabei nur gedacht?‹ Und obendrein …« Hier machte er eine Pause, um sich in Pose zu werfen. »Obendrein dachte ich, in dem Trenchcoat sähe ich muskulöser aus.«

Ich brachte kaum ein Wort heraus, denn ich war völlig geplättet, wie gut er aussah: breite Schultern, Augen von einem intensiven Blau, groß gewachsen, aber leicht gebeugte Haltung. Bei meinem letzten Date, einem Kaffee bei Starbucks mit Mr. Netter Typ, einem Telefontechniker von Crystal Palace, hatte ich mitten im Gespräch einen Blick auf uns beide im Spiegel erhascht: unsere runden Schultern, unsere höflichen und doch verletzlichen Mienen. Wir sahen aus wie zwei Schildkröten ohne Panzer. Ich hatte keine Ahnung, was Zach hier machte. Oder warum er seine Zeit mit mir vergeudete. Und auch wie er sprach, seine befangene, theatralische Art, die leichte Nervosität dahinter, die beschleunigte Vertraulichkeit, die ironisch sein konnte oder auch nicht. Er war ganz das Gegenteil von einer panzerlosen Schildkröte, ganz das Gegenteil von höflich.

»Sie kommen mir recht muskulös vor«, sagte ich schließlich.

Wir waren nicht mal bis zur Ampel an der South Circular gekommen, da nahm er meine Hand und steckte sie mit seiner eigenen zusammen in seine Tasche.

Daran erinnere ich mich deutlicher als an alles andere – an die raue Wärme seiner Finger, die Trockenheit, die, wie ich noch herausfinden würde, von Ölfarben und Terpentin stammte, die Risse in seinem Handteller. Daran erinnere ich mich deutlicher als an seine Redseligkeit, den schweren Mantel oder die lächerliche Mütze. Er hielt meine Hand auch nicht reglos. Er rieb sie im Gehen, massierte sie mit dem Daumen, wie um die Muskeln zu testen.

Später, als ich mehr über ihn wusste, als er mir erklärt hatte, wie das mit seiner Kindheit war und dass er nicht so leicht jemandem vertraute; als er mir so tief in die Augen gesehen hatte, dass ich das Gefühl hatte, ich würde innerlich zerfließen, erzählte er mir, dass ihn nicht Einsamkeit ins Internet geführt hatte. Er traf andauernd Singlefrauen. Er suchte einen Neuanfang, das war alles. Er wollte einfach noch einmal neu anfangen.

Ich drehe den Zündschlüssel und fahre los. Es herrscht starker Verkehr an diesem trüben Ende eines Samstagnachmittags, an dem die Ortsansässigen vom Fußballspiel nach Hause fahren, während die Abenddämmerung sich schon über die Felder legt. Von hier habe ich noch gut dreißig Kilometer zu fahren, und ich habe Jane, die weiß, wie sehr mir davor graut, die Tür zu Zachs Bungalow zu öffnen, versprochen, vor Einbruch der Dunkelheit dort zu sein.

Ich nehme den langen Weg – die Umgehungsstraße um Bodmin und die Hauptstraße nach Wadebridge rein; zwei Seiten eines gleichschenkligen Dreiecks. Diese Strecke ist Zach auch immer nach Gulls gefahren, seinem Haus in Cornwall, bevor er die Abkürzung entdeckte. Morrows Rekonstruktion des Unfalls zufolge hat Zach vor einem Jahr die Abzweigung verpasst und ist am nächsten Kreisel zurückgefahren. Morrow sagte, er habe wahrscheinlich getrunken, einen Nachweis gab es nicht, da ein Bluttest nicht mehr möglich war. Aber er war definitiv müde, denn am Abend zuvor war es mit einem Kunsthändler in Exeter spät geworden, eine Nacht in einem Bed & Breakfast und dann ein langer Tag beim Malen auf dem Moor.

Bevor ich es verhindern kann, denke ich daran, wie ich ihn das letzte Mal gesehen habe – an dem Morgen, bevor er starb. Wir waren in unserer kleinen Küche in Wandsworth. Im Radio lief ein Bericht über die Ergebnisse einer Nachwahl in Hampshire. Ich war spät dran für die Arbeit, nahm mich vor ihm in Acht, zog meinen Mantel an, suchte die Hundeleine und zog mir die Mütze über den Kopf. Doch als ich an der Tür vorbeiging, packte er mich am Ärmel. Seine Pupillen waren kleiner, die Iris von einem helleren Blau. Seine Stimmung hatte sich verändert. »Ich liebe dich«, sagte er leidenschaftlich und zog mich näher. »Das weißt du, oder?«

»Ja«, sagte ich. Daran habe ich nie gezweifelt.

»Denn es stimmt«, sagte er. »Ich liebe dich wirklich.«

Er küsste mich auf den Mund, und ich schmeckte Kaffee und Pfefferminz und den Whisky vom Vorabend. Ich spürte, wie ich fiel, nachgab, wie immer. Mein Magen krampfte. Tränen brannten. Wenn er mir mit den Lippen über den Nacken gestrichen hätte, wäre ich mit ihm nach oben gegangen, und wenn ich zehn Mal zu spät zur Arbeit gekommen wäre, und wenn ich noch so viel Angst vor ihm hatte.

»Es tut mir leid, dass im Hühnchen Pilze waren«, sagte ich.

Seine Stimme war sanft. »Ich dachte nur, das wüsstest du.«

»Ich hätte daran denken sollen. Und es tut mir leid, dass ich so spät nach Hause gekommen bin. Peggy war ganz außer sich wegen des Babys.«

»Die hat dich doch um den kleinen Finger gewickelt.«

Da kam Howard und stupste mich am Ellbogen. Ich kraulte ihn hinter den Ohren. Er war in letzter Zeit nicht ganz auf der Höhe gewesen, und ich kniete mich hin und legte ihm die Hand auf die Brust, um seinen Herzschlag zu überprüfen.

Zach wandte den Blick ab. »Du liebst den Hund mehr als mich.«

»Tue ich nicht.«

Er rückte die Kaffeekanne und seine Kaffeetasse auf dem Tisch so zurecht, dass die Henkel in dieselbe Richtung zeigten, und richtete den Teelöffel auf der Untertasse gerade aus. »Versprichst du es mir?«

Ich stand auf und rang mir ein Lachen ab. Da hatte ich schon beschlossen zu gehen. Ich hatte den Brief geschrieben und in die Post gegeben. Er würde in Cornwall auf ihn warten. Ich hatte ihn dorthin geschickt, weil ich es besser fand, wenn Zach weit, weit weg war, wenn er ihn las. Ich hatte gehofft, dieses letzte Frühstück würde normal verlaufen. Doch meine Stimme klang zu hoch in meinen Ohren, wie stranguliert, als würde ich die Worte auf der Zunge trocken quetschen. »Großes Ehrenwort, ich liebe den Hund nicht mehr als dich.«

Zweimal sprach ich noch mit ihm, bevor er starb – einmal an dem Abend am Telefon und dann noch einmal am darauffolgenden Nachmittag. Ich wollte noch einmal seine Stimme hören. Er war noch auf dem Dartmoor, als ich anrief, an einem Ort namens Cosdon, wo er eine Reihe uralter Steinformationen malte. Öde und düster, sagte er, erstreckten sich die riesigen Steine in die Ferne wie unmarkierte Gräber. Er war hinter dem schwindenden Licht her. Er würde erst im Dunkeln am Bungalow sein. Ich sagte ihm, er solle auf dem letzten unbeleuchteten Wegstück vorsichtig fahren. Das war das letzte Mal, dass ich mit ihm sprach.

Ich biege von der Schnellstraße ab, drossele die Geschwindigkeit und fahre über die Brücke. Die Straße wird enger, bis sie nur noch einspurig ist. Ich schalte das Licht an und bleibe unter dem Tempolimit. Das mache ich immer. Zach sagte, ich würde fahren wie eine alte Frau. An so etwas versuche ich mich zu erinnern, an seine Freude an beiläufigen Beleidigungen und daran, wie schnell seine Witze in etwas Hässlicheres umschlagen konnten. Ich hoffe, dann vermisse ich ihn nicht so.

Es funktioniert nicht.

Man kann jemanden lieben und gleichzeitig hassen. Man kann ihn so bemitleiden, dass es sich anfühlt wie eine Faust im Bauch, und kann so zornig auf ihn sein, dass man ihn schlagen möchte. Er kann das Beste sein, was einem je widerfahren ist, und gleichzeitig das Schlimmste. Man kann ernsthaft darüber nachdenken, ihn zu verlassen, und doch kann einem die Erinnerung an seine Haut, an die Berührung seiner Fingerkuppen, den Atem verschlagen, auch nach einem Jahr noch.

Der Brief ist sicher noch im Haus. Er liegt da, seit einem Jahr, ungeöffnet. Ich male mir aus, dass er unter Pizzaflyern, Mahnungen für die Rundfunk- und Fernsehgebühren und braunen Umschlägen mit Wahlbenachrichtigungen begraben ist.

Gott sei Dank ist er gestorben, bevor er ihn gelesen hat. Dafür bin ich wirklich dankbar. Er hat nicht von meinem Verrat erfahren.

Wenn ich dort bin, werde ich ihn verbrennen.

Vor dem Hang schalte ich. Das Auto ruckt. Howard, der sich neben mir zusammengerollt hat, hebt nicht den Kopf von den Pfoten.

Ich bin am Freizeitpark vorbeigefahren und habe durch eine Hecke einen ersten kurzen Blick aufs Meer erhascht, da tauchen im Rückspiegel grelle Scheinwerfer auf. Voll aufgeblendet, ziemlich nah. Ich bin jetzt auf einem leichten Abhang und ich beschleunige, bis die Lichter zurückbleiben. Blöder Idiot, denke ich, doch schon sind sie wieder da. Sie blenden mich, blitzen auf. Das Auto klebt an meiner Stoßstange. Hupen. Ich denke an die silberne Geländelimousine in der Parkbucht. Ist das eine Geländelimousine? Ich kann nichts anderes mehr sehen, nicht das Meer, nicht die Böschungen, nicht die Straße, nur diese beharrlichen grellen Lichter, und ich fahre schneller und immer schneller, poltere den Hügel hinunter Richtung Dorf, bis ich den Bauernladen erreiche. Dort presche ich in die Einfahrt und komme quietschend zum Stehen.

Das Auto zischt vorbei und ist fort. Ich warte einen Augenblick. Howard ist aufgestanden und streckt die Nase zum Fenster. Draußen ist es dunkel, wie Galgen ragen die Gemüseregale auf, und plötzlich ist alles sehr still.

In den Selbsthilfebüchern mit ihren Trauerphasen gehen sie von einer Standardabfolge aus: Schock, Unglaube, Zorn, Verhandeln, Wut, Depression und am Ende Akzeptanz. Ich glaube, ich stecke fest. Das Buch, das Peggy mir gegeben hat, Die Blüte deines Hinscheidens, enthielt ein Kapitel über »pathologische Trauer«. Das ist, wenn ein trauernder Mensch es nicht fertigbringt, sein Leben weiterzuleben. Ich glaube, was ich habe, könnte pathologische Trauer sein.

Es ist niemand hinter mir her. Das ist pathologisch. Der, der überlebt, hat Schuldgefühle. Genau wie der, der geht, Schuldgefühle hat. Unerledigtes.

Wenn ich die Lilien gestohlen hätte, könnte ich sie jetzt bei mir haben. Dann könnte ich sie berühren, ihre seidigen Blütenblätter zwischen den Fingern zerreiben und ihren widerwärtigen Geruch einatmen und wüsste, dass ich sie mir nicht eingebildet habe.

Von hier ist es nicht mehr weit, ein kurzes Stück noch durch ein Gewirr unbefestigter Straßen, die der hügeligen Geländekontur folgen. Gulls, Zachs Bungalow, liegt am äußeren Rand dieses Gewirrs, nahe an der Klippe, wo nur noch wenige Häuser stehen. Ich schalte das Radio ein, rattere über das letzte holprige Stück des Wegs und singe leise einen Country-Song von Taylor Swift mit.






Mülltonnen versperren den Eingang zum Atelier, der ehemaligen Garage neben dem Haus, die Zach sich umgebaut hat. Verfaulte Birnen vom letzten Sommer bedecken den schrägen Streifen Wiese. Auf dem Weg liegen trübselige verblühte Funkienblüten. Der Haupttrieb der Kletterrose, den ich vor zwei Jahren entlang der Veranda zu ziehen versucht habe, ist wieder zu Boden gefallen.

Ich nähere mich dem Bungalow von der Seite wie eine nervöse Katze. Mir hat es hier noch nie gefallen. Es ist mir viel zu abgelegen. Dieses Ende des Klippenweges ist verlottert und öde; die anderen Häuser wirken verschlossen und unbewohnt, auch wenn sie es nicht sind. Zach, der das Haus nach dem Tod seiner Mutter kaufte, hat behauptet, er liebe die Wildheit und die Abgeschiedenheit, doch das kam mir eher vor wie Getue. Ich glaube, er fand, ein Künstler müsse so etwas sagen. In Wirklichkeit hasste er das Alleinsein.

Zuerst klemmt der Schlüssel, doch dann lässt er sich drehen, und ich drücke behutsam gegen einen Stapel Post. Mein Brief wird darunter sein. Ich vernichte ihn so bald wie möglich.

Die Tür läst sich ganz aufdrücken, und ich starre ins Düstere. Niemand ist hier. Niemand hat hier gewohnt. Diese Blumen von »Xenia«, in gewisser Weise sind sie der Beweis, nach dem ich gesucht habe. Er hat sich nicht hier versteckt. Er ist fort. Es riecht feucht. Möbelstücke stehen in düsteren Ecken. Ich trete über die Schwelle und drücke auf den Lichtschalter neben der Tür. Das Licht funktioniert nicht. Ich durchquere den Raum, stolpere über die Kante des Teppichs, um die Lampen links und rechts vom Kamin anzuknipsen. Ein gelbes Glühen fällt auf die staubige Platte eines runden, dreibeinigen Beistelltisches. Ich reibe mit dem Handballen über die Eiche und hinterlasse eine Spur in Form einer Träne.

Wie dumm, Angst vor einem Haus zu haben. Ich gehe herum, schalte sämtliche Lampen ein, sehe in alle Zimmer. Im Bad tropft ein Hahn. Um den Dualit-Toaster in der Küche finden sich Mäuseköttel, und durch einen Spalt im Fensterrahmen kriecht eine Efeuranke. Die Krüge mit Ascheglasur auf dem Regal sind ordentlich aufgereiht, alle Henkel im selben Winkel; die Spülbürsten aus Birkenholz stecken robust in ihrem Topf. Etwas Scharfes liegt in der Luft. Es fühlt sich feucht an, mehr nicht.

Das Schlafzimmer ist so, wie wir es das letzte Mal, als wir hier waren, zurückließen – steife Kissen, das unbezogene Federbett wie ein Körper unter dem alten Durham-Quilt zusammengelegt. Die Laken sind in der untersten Schublade des Wäscheschranks – steif und nach Lavendel duftend. Ich erinnere mich daran, wie wir sie das letzte Mal weggelegt haben: Zachs breite Hände beim Falten, sein hochkonzentriertes Gesicht, der kleine Tanz, als wir zusammenkamen, das Fallenlassen, das Lachen, unsere Nasen über den Laken, ein langer Kuss. Augenblicke vollkommenen Glücks – ich kann sie nicht leugnen.

Meine Beine sind zittrig. Ich setze mich auf die Bettkante und lehne den Kopf an die Wand. Wir haben nicht zusammengepasst, Zach und ich. Die Leute haben sich gefragt, was er in mir sah. Sein Selbstvertrauen, meine Schüchternheit. Ich bin nicht besonders attraktiv. Er dagegen, er zog die Blicke auf sich; bei seinem Anblick setzten Verkäuferinnen ein geziertes Lächeln auf. Er war ein echter Fang, fanden meine Freundinnen. Ich hatte Schwein gehabt – das sah ich in ihren Mienen. Jane war neidisch auf das Neue. Dabei ging es eigentlich mehr um etwas Altes. Ich fühlte mich mit ihm verbunden, fast vom ersten Augenblick an, wie an den Rippen zusammengewachsen. Und es gab noch andere Verbindungen zwischen uns. Er war mit meinem Chef zur Schule gegangen. Wir hatten mal in Clapham im selben Mietshaus eine Wohnung gemietet, waren unwissentlich Nachbarn gewesen. Er brachte Gefühle zum Ausdruck, die auch ich empfunden, aber nicht in Worte gefasst hatte. Er machte sich für mich stark, das hatte noch nie jemand getan. Und er hatte eine Art, Dinge zu beschleunigen (»Wie viele Kinder wollen wir haben?«, »Wo wollen wir uns als Rentner mal niederlassen?«), bis zu dem Punkt, an dem ich das Gefühl hatte, ich hätte ihn schon immer gekannt und würde ihn immer kennen.

Auch im Bett, wenn wir die Kleider abgeworfen hatten, ergänzten wir uns. Es stellte sich heraus, dass die Dinge, von denen ich in Büchern gelesen hatte, doch keine Klischees waren. Ich schmolz dahin. Ich wusste nicht mehr, wo er aufhörte und wo ich anfing. Ganze Nächte verstrichen in einem Gewirr aus Gliedmaßen. Und er verspürte es genauso intensiv. Ich wusste es, obwohl er auch sehr erfahren war. Seine Hände in meinem Haar, die atemlose Stille, der Schmerz der Ekstase in seinem schönen Gesicht, wenn er kam. Seine Seufzer danach, wenn sein Gewicht mich in die Laken drückte, sein kratziges Kinn in meiner Halsbeuge. Das leise zufriedene Stöhnen, wenn er mich an sich zog. Ich hatte schon auch Macht über ihn.

Meine Augen sind zugegangen, doch jetzt schlage sie auf und erkenne, dass ich auf ein Kabel am Boden starre, das aus einer Steckdose in der Wand kommt. Ich stoße mit dem Fuß daran. Es ist von schmutzigweißer Farbe und halb zusammengerollt, in der Mitte ein Adapter. Ich bücke mich, taste unter dem Bett herum, wo das Kabel hinführt, und ziehe einen silbernen Laptop heraus – ein MacBook Air.

Das verstehe ich nicht. Ich drehe den Computer in den Händen und spüre das kalte Metall.

Zach besaß ein MacBook Air. Er schrieb die ganze Zeit darauf, schrieb seine Ideen auf, machte sich Notizen für Gemälde und Projekte. Er war besessen davon und ließ es nie aus den Augen. Er hatte es bei sich, als er London verließ. Er hatte es bei sich, als er starb. Es wurde bei dem Brand zerstört. Also kann es dieses nicht sein. Es muss jemand anderem gehören.

Ich klappe es auf. Zach Hopkins flackert auf dem Bildschirm auf, darunter das Feld für das Passwort. Das Hintergrundbild ist der Blick von der Klippe – tiefe Wolken, das Rollen des Atlantiks, Zachs Lieblingsblick. Ich klappe es zu und lege es mit zitternden Händen behutsam neben mich auf das Bett.

Zach hat mir nie erlaubt, seinen Laptop anzurühren. Einmal habe ich ihn nur vom Küchentisch genommen, um darunter sauberzuwischen, da hat er ihn mir so ungestüm aus den Händen gerissen, dass er zu Boden fiel. Er hob ihn auf, überprüfte ihn und fluchte über mich, und ich verließ das Zimmer, damit er mein Gesicht nicht sah. Als wir uns später wieder versöhnten und er sich im Bett an mich klammerte, entschuldigte er sich für seine heftige Reaktion. »Da ist halt mein ganzes Leben drauf«, sagte er.

Leise stehe ich jetzt auf, bemüht, keinen Lärm zu machen. Ich ziehe die Schublade auf, in der er ein paar alte Klamotten aufbewahrt hat. Ich glaube, eine Shorts fehlt, marineblau, ein graues Sweatshirt und ein abgewetzter Ledergürtel, der normalerweise zusammengerollt in der Ecke liegt. Ich knie mich auf den Boden und spähe unters Bett. Dort müsste eine Reisetasche sein – sie steht dort, weil sie für den Schrank zu groß ist –, doch sie ist weg. Ich laufe in die Küche, wo ich den Backofen und die Schränke durchsuche und die Küchenhandtücher ausschüttele. Im Schrank fehlen eine Taschenlampe und das Notfall-Geld, rund 40 Pfund, das wir in einer leeren Müslischachtel aufbewahrt haben. Ich gehe durchs Haus, nehme mir ein Zimmer nach dem anderen vor und suche mit anderen Augen, unter anderen Prämissen, nach Beweisen. Im Wohnzimmer an der Wand ein schmutziges Rechteck unter einem leeren Nagel. Hier wurde ein Bild abgenommen. Es war eine frühe Arbeit von Zach, ein Ölbild, einfach, rau, eine Frau in einer offenen Tür. Seine Hunter-Stiefel müssten, gemäß seinem strengen Ordnungssinn, im Flurschrank stehen, an ihrem üblichen Platz, in Reih und Glied. Meine alten Dunlops sind da. Doch seine – dunkelgrün, Größe 43, der Linke von Howard angekaut und von mir voller Panik in aller Heimlichkeit mit einem Spezialkleber, den ich im Internet bestellt hatte, wieder geflickt – sind fort.

Ich setze mich auf den Sessel am Kamin. Mein Mund ist trocken. Ich habe angefangen zu zittern. Es geht schon wieder los. Ich bin wieder da, wo ich begonnen habe. Die Leute haben mir gesagt, ich wäre verrückt, und vielleicht bin ich es wirklich. Vielleicht bilde ich es mir ein. Aber nein, das bilde ich mir nicht ein. Er war hier im Haus.

Mein Brief.

Der Stapel Post liegt noch hinter der Haustür. Ich hebe ihn hoch, gehe damit zum Tisch und blättere in den braunen Umschlägen und kostenlosen Zeitungen und Prospekten von Klempnern und Elektrikern, Gasrechnungen und Mahnungen für die Rundfunk- und Fernsehgebühren, dann lass ich alles zu Boden fallen. Da ist kein Brief von mir.

Howard ist noch draußen im Garten. Ich gehe zur Tür und rufe ihn. Es ist ein kalter Abend in Cornwall mit einem Hauch warmem Golfstromwind. Es ist vollkommen still. Er wird, die Nase am Boden, den Weg runtergelaufen sein, vielleicht sucht er nach Zach. Ich rufe lauter.

Formulierungen schießen mir durch den Kopf. Mein geliebter Zach, hatte ich geschrieben. Ich brauche Raumein wenig Abstand: Phrasen, falsche Gefühle, wie Zach sie hasste, Allgemeinplätze. Doch ich hatte zu viel Angst, die Wahrheit zu schreiben. »Sei ehrlich«, sagte er immer. »Sieh mich an. Sag mir, was du empfindest.« Bei der Erinnerung daran steigt Panik in mir auf. Oft wusste ich gar nicht, was ich empfand. Manchmal erstarrte ich regelrecht angesichts seines heftigen Wunsches, es zu erfahren, und empfand überhaupt nichts.

»Du bedeutest mir alles«, sagte er immer. »Ohne dich könnte ich nicht leben.«

Du liebst den Hund mehr als mich.

Howard kommt immer noch nicht, und ich gehe wieder ins Haus, in die Küche. Der Mülleimer ist von Brabantia, ein teures Ding im Retro-Design – Zach hat darauf bestanden. Solche Details waren ihm unglaublich wichtig. Ich öffne den Deckel.

Mein Brief samt Umschlag liegt zusammengeknüllt unten drin.

»HOWARD!« Ich bin zur Haustür raus und schreie, viel zu laut, voller Angst.

Mein Hund kommt angesprungen, rutscht über das feuchte Gras und stolpert über seine eigenen Pfoten. Er stößt gegen meine Beine und geht dann an mir vorbei ins Haus. Seine schmutzigen Pfoten, die weißen Bodenbretter, der helle Teppich. Die alte Panik wie ein Stich in meiner Brust: Ich muss saubermachen, bevor Zach es sieht.

In London lasse ich seit dem Unfall nachts das Licht brennen. Ich traue mir nicht. Fenster und Türen überprüfe ich doppelt und dreifach. Auf meinen Kopf ist kein Verlass. Wenn ich mit Leuten zusammen bin, kommt mir ein Gedanke, und dann weiß ich nicht, ob ich ihn tatsächlich laut ausgesprochen habe. Ich wiederhole mich, sagt Jane. Ein andermal bin ich unnatürlich schweigsam. Ich habe das Gefühl, als würde ich warten. Meine Glieder werden schwer und gehorchen mir nicht. Wenn ich nicht vorsichtig bin, denke ich, dann falle ich noch die Treppe runter, schlage mir den Kopf auf, breche mir sämtliche Knochen. Ich habe Angst, ich könnte sterben.

Überall sehe ich Zach. Auf der Straße, am Bahnsteig oder in der U-Bahn braucht mein Blick nur auf einen Mann zu fallen, und schon setzt mein Herz aus. Ich laufe, schiebe Leute aus dem Weg, und dann stehe ich vor ihm oder er dreht sich um, und es ist gar nicht Zach, sondern ein Fremder mit dem gleichen Gang oder der gleichen Kuriertasche, dem gleichen weichen, dunklen Haar.

Peggy mahnt mich, ich soll seine Klamotten wegräumen. Aber es kommt mir nicht richtig vor. Wie kann ich mich denn von seinen Schuhen trennen, seinen Hemden? Die braucht er doch, wenn er wiederkommt.

PC Morrow hat mir versichert, das ist ganz normal. Das Gehirn muss neue Synapsen bilden. Es ist dem Herzen noch nicht hinterhergekommen. Ich bin wie ein Soldat, hat sie gesagt, der Phantomschmerzen in einem amputierten Glied hat. Das nennt man neuropathische Verwirrtheit. Sie sagt, das hört auf, wenn ich wieder mehr ich selbst bin.

Ich warte noch. Doch die Verwirrung in meinem Kopf scheint immer größer zu werden. Ich spüre seinen Atem an meinem Hals. Einmal, auf der Arbeit, war ich allein in der Bibliothek – ich war damit beschäftigt, Bücher zurück in die Regale zu räumen –, da roch ich plötzlich sein Aftershave. Colonia Intensa (nicht Assoluta, den Fehler habe ich einmal gemacht) von Acqua di Parma. Das Licht im Raum veränderte sich, als stünde jemand in der Tür. Als ich dorthin ging und rausschaute, war der Flur leer.

Wir hatten einen Einbruch. Ich hatte einen Einbruch. Obwohl »Einbruch« vielleicht nicht der richtige Begriff ist. Weder ein geknacktes Schloss, noch ein kaputtes Fenster, und es hing auch nichts in den Angeln. Meine Handtasche, der Fernseher, das Kleingeld auf dem Küchentisch waren unberührt. Aber Zachs iPod war weg. »Das ist das Einzige, was die Kids heutzutage interessiert«, sagte Morrow, »Elektronik, die sie weiterverkaufen können.« Trotzdem. Die Haustür war fest geschlossen, die Post lag ordentlich auf dem Tisch im Flur gestapelt – hatte ich sie da so hingelegt? Ich konnte mich nicht erinnern. Morrow meinte, ich müsse die Tür nicht richtig hinter mir zugezogen haben. Quasi eine Einladung. Solche Fehler passieren mir dauernd. War es Furcht, die mir ein Zittern über den Rücken laufen ließ und mich dazu brachte, mir einzubilden, er hätte mit seinem Schlüssel aufgeschlossen, oder Sehnsucht?

Nachts höre ich Geräusche. Vor ein paar Wochen ist mitten in der Nacht ein Auto die Straße hochgefahren. Elvis Costello, »I Wanna Be Loved«, sein Lieblingslied, drang durch das heruntergekurbelte Fenster. Das Auto blieb mit laufendem Motor direkt vor dem Haus stehen. Die Musik war so laut, dass ich sie hörte, sogar im hinteren Raum, wo ich schlafe. Bis ich am Fenster im Arbeitszimmer war, war das Auto weitergefahren, ich sah nur noch die Rücklichter am Ende der Straße.

In den meisten Nächten träume ich von ihm. In den Falten des Schlafes, die Augen fest geschlossen, denke ich an sein Gesicht, das sich eng an meines schmiegt. Ich schiebe die Hände zwischen meine Schenkel und stelle mir vor, wie seine Lippen über meinen Hals wandern, zu meinen Brüsten, wie seine Finger sich um meine Brustwarzen schließen. Das Gefühl, etwas liegt auf mir, unter den Laken, meine Hände zu Fäusten geballt, das Laken in den Mund gesaugt. Wenn ich am Morgen wach werde, denke ich, er ist durchs Fenster hereingekrochen, unter die Laken. Ich kann ihn auf meiner Haut riechen, sehe den Abdruck seines Kopfes auf dem Kissen. Er hat die Nacht mit mir verbracht. Ich bin mir sicher, dass es Zach ist, der mich kommen ließ.

Das erzähle ich niemandem. Dann würden sie mich für noch bekloppter halten, als sie es eh schon tun. Peggy sagt, wenn man die Liebe seines Lebens verliert, darf man auch den Bezug zur Realität verlieren, aber ich wette, sie hat nicht gedacht, dass das über ein Jahr so geht. Wahrscheinlich genau ein Jahr. Peggy glaubt an das Absolute. Mit Unordnung hat sie nichts am Hut.

Jane weiß ein bisschen was über meine Ehe, aber keine Einzelheiten.

In meinem Kopf ist Dunkelheit, Erinnerungen, die brennen – Dinge, von denen niemand etwas weiß und über die ich wahrlich nicht sprechen kann.

Ich vernichte den Brief und den Umschlag auf der Stufe vor der Haustür. Ich halte ein Streichholz daran und sehe zu, wie das Papier sich einrollt, und dann kehre ich die graue Asche zusammen und werfe sie auf den Weg. Zach war hier. Ich putze mir die Zähne und trinke Wasser direkt aus dem Hahn – der erste Schwall ist lehmig-rot –, und dann setze ich mich aufrecht in den Sessel. Ich versuche, gründlich nachzudenken. Ich hatte eine solche Angst vor seiner Reaktion, war so schwach gewesen, dass ich einen Brief an ein Cottage über dreihundert Kilometer entfernt geschickt habe. Eine Stunde vor seinem Tod habe ich noch mit ihm gesprochen. Sein Tonfall hat mir nicht verraten, dass er ihn gelesen hatte. Er log, selbst da, unterdrückte seinen Zorn, während er überlegte, was er mir antun könnte.

Die Dunkelheit drängt gegen die Fenster. Nächtliche Geräusche – der Wind, der an ihnen rüttelt, Mäuse im Dachgesims. Ich überlege, ob ich weglaufen, mir ein Hotelzimmer suchen, nach London zurückfahren soll, doch ich bin unfähig, mich zu rühren. Und so beschließe ich, zu warten. Soll er ruhig kommen, wenn er hier ist. Ich hab’s verdient.

Wenn ich ganz ehrlich bin, hätte ich ihn niemals verlassen. Zach konnte lustig und selbstbewusst und klug sein, doch seine dunkle Seite zog mich an. Die Schatten, die über sein Gesicht wanderten, die unerklärlichen Kopfschmerzen, die Wutanfälle (nicht gegen mich gerichtet, am Anfang nicht). Nachdem wir einmal mit meiner Schwester und ihrem Mann aus gewesen waren, wetterte er darüber, wie Rob ihn herabgesetzt hatte: »Hast du sein einfältiges Grinsen gesehen, sobald ich von meiner ›Kunst‹ gesprochen habe?« So was führte nur dazu, dass ich ihn noch mehr liebte. Seine Besessenheiten und seine Unsicherheiten, die Empfindlichkeit gegenüber Herablassung: Ich wusste, wo das herkam. In der Schule habe ich gesehen, was Kindesmissbrauch anrichten kann – wie zurückgezogen und wütend sie sein können, was für ein zartes Pflänzchen ihr Selbstgefühl ist. Auch seine Stimmungen: Ich wusste, dass es da nicht um mich ging – ich hatte das falsche Essen gekocht, trug die falschen Kleider –, selbst wenn er das behauptete. Ich wusste das, wirklich. Am Ende war zwischen uns alles so verknäult und so intensiv, so allesverschlingend, dass der Verlust, die Leere, die zurückgeblieben ist, schier nicht auszuhalten ist.

Ich denke an Xenia und ihre Nachricht mit dem Herz und lasse zu, dass ich eine saubere, scharfe Eifersucht auf diese unbekannte Frau empfinde, diese Person, der ich nie begegnet bin – ein wilder Schmerz unter dem Brustbein, von dem mir übel wird. War sie seine Geliebte? Ich erlaube mir, ihn mir hier vorzustellen, mit mir, ein Hauch Whisky streift meinen Hals, seine Haut an meinen Oberschenkeln. Ganz zu Anfang hat er mal gesagt, meine Besessenheit von seinem Körper rühre ihn. Er sagte, ich sei wie ein frisch geschlüpftes Gänseküken, das sich dem ersten lebenden Geschöpf anschließt, auf das sein Blick fällt.

Das Jahr ist um. Er hat den rechten Augenblick abgewartet, hat darauf gelauert, dass ich nach Gulls komme, bevor er sich rührt.

Ich bin bereit.

Was auch immer er will, er kann es haben.

Ich werde die ganze Nacht wach bleiben.