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Giorgio Chiesura

HINGABE

GIORGIO CHIESURA

HINGABE

ROMAN

Aus dem Italienischen
von Monika Lustig

Titel des italienischen Originals:

Das dieser Übersetzung zugrunde liegende Werk

Erste Auflage

Gestaltung und Satz:

Print ISBN: 978-3-905951-30-1
E-Book ISBN: 978-3-905951-35-6

Für Marcello Venturoli

INHALT

DIE VILLA

DER GUTSVERWALTER

DIE HALBPÄCHTER

DIE MÄNNER DES COMITATO LIBERAZIONE NAZIONALE

DIE SCHAM

DER WINTER

DIE INSEKTEN

DIE ALTE

DAS MÄDCHEN

SONDERKOMMANDO

DIE BLITZE

DIE NEUEN PHOTOGRAPHIEN

DER KÖRPER

DAS ANTLITZ UND DIE SEELE

DIE LANDSCHAFTEN

DER SCHREI DES SATYRS

DIE SUPPEN

DIE KÖRPERÖFFNUNGEN

DIE GEHEIMNISVOLLE KAVERNE

DIE RASUR

DIE AUSSERORDENTLICHE SCHWELLUNG

DIE VERWANDLUNG

ZIER UND TAND

DER DUFT

DAS VERSCHWINDEN

DIE SUCHE

DER PARK

DER GROSSE FISCH

DIE HUNDE

DAS INSERAT

DIE PROBEAUFNAHME

DAS LAGER

DER AUFSTAND DER NACKTMODELLE

DIE MÄDCHEN UND DIE HUNDE

DIE GROSSE NEUIGKEIT

TONINAS BAUCH

DIE WAHRHEIT

DER LETZTE BESUCH

DIE LETZTEN PHOTOS

NACHBEMERKUNGEN ZUR ÜBERSETZUNG

Wer gefoltert wurde, bleibt ein Gefolterter.

Wer Qual erlitten hat und Pein, wird auf der Welt

keinen Platz mehr finden.

Der Horror der Vernichtung erlischt nie.

JEAN AMÉRY

DIE VILLA

IM SEPTEMBER 1946 kehrte ich nach einem längeren Aufenthalt in einem amerikanischen Militärkrankenhaus in Deutschland nach Italien zurück. Ich war einer der ganz wenigen Juden aus meinem Lager, die noch am Leben waren; zugleich war ich der einzige Überlebende einer großen Familie. Wie ich später feststellte, war ich von allen Juden, die vormals in dieser Kleinstadt im Veneto lebten, in der ich geboren und aufgewachsen bin, der einzige Heimkehrer. Nicht alle waren tot, nein, das nicht: Ein kleiner Teil von ihnen hatte sich durch Flucht ins Ausland retten können, aber nicht ein einziger von ihnen war heimgekehrt, ich wusste jedoch nicht und es interessierte mich auch nicht, wo sie sich aufhielten. So war und blieb ich der einzige Jude im Ort.

Und: Bereits vor meiner Rückkehr wusste ich, dass ich sehr reich sein würde.

Mit dem Tod meines Vaters, dem meiner Mutter, meiner drei Brüder, meiner zwei Schwestern, meines Onkels, meiner Tante und ihrer vier Kinder sowie mit dem der gesamten Familie eines Cousins meines Vaters, der in Straßburg lebte, hatte sich eine Reihe von Erbschaften zu meinen Gunsten angehäuft, und so war mir ein Riesenvermögen zugefallen, wenngleich ich noch nicht frei darüber verfügte.

Mein Großvater war Eigentümer eines Bankhauses in dieser Stadt, das er aufs Alter hin verkauft und mit dessen Erlös er Häuser und Grundstücke erworben hatte. Mein Vater war ein illustrer Advokat, und meine Mutter, die aus einer Genueser Familie mit spanischen Wurzeln stammte, war ihrerseits sehr vermögend gewesen. Mein Onkel, der vom Großvater den größten Teil der Grundstücke geerbt hatte (wohingegen auf meinen Vater der Großteil der Liegenschaften in der Stadt übergegangen war), hatte in einer kleinen Ortschaft, fünfzehn Kilometer von dem Städtchen entfernt, einen Landwirtschaftsbetrieb im großen Stil gegründet und aufgebaut; vielerlei Erzeugnisse, Reben, Mais, Weizen, Zuckerrüben bis hin zu den verschiedenen Obstsorten, wurden dort angebaut. Es gab Vieh in entsprechenden Stallungen, eine Weinkelter, eine Käserei und sämtliche dafür notwendigen Gerätschaften. Der Betrieb wurde von rund zwanzig Familien in Halbpacht bewirtschaftet; zusätzlich wurden in Zeiten größten Arbeitsaufkommens auch Tagelöhner beschäftigt. In der Mitte des Anwesens, auf einem Hügel umgeben von Buchen, Zypressen, Pinien und Wildkastanienbäumen, stand die große, zweistöckige Villa im Palladio-Stil, mit geräumigem Dachstuhl auf ihrer Stirnseite. Ein Ziergarten mit Springbrunnen, eine Garage, eine Dependance, Pferdeställe, ein Tennisplatz und eine Bocciabahn gehörten ebenfalls dazu.

Ich habe auf diese ausführliche Beschreibung großen Wert gelegt, denn dies war der Ort, an dem ich mich nach meiner Rückkehr niederließ.

In der Tat waren der in der Stadt gelegene Palazzo, in welchem ich mit meiner Familie gelebt und in dem mein Vater seine Kanzlei gehabt hatte, sowie drei weitere Stadthäuser unseres Besitzes bei einem schweren Bombenangriff gegen Ende des Krieges zerstört worden. Schuld an diesem Angriff, das sei betont, hatten die Partisanen mit ihrer an die Alliierten übermittelten Falschinformation eines angeblichen Durchzugs deutscher Panzerdivisionen. Die anderen, teils beschädigten Häuser waren unrechtmäßig von der Stadtverwaltung beschlagnahmt worden, die offenkundig darauf gesetzt hatte, dass niemand von uns je zurückkehren würde. Mittlerweile waren die Gebäude von Evakuierten und Pseudoevakuierten besetzt.

So kam es, dass ich am Abend meiner Rückkunft an den Trümmern meines Hauses und den anderen zerstörten oder besetzten Häusern vorüberging und mich zur Villa meines Onkels begab. Ihre schöne Fassade war durchsiebt von Einschüssen der Maschinenpistolen, die Fensterscheiben waren zerschlagen, das Mobiliar verschwunden, es gab keinen elektrischen Strom und kein Wasser, nur das aus dem Brunnen. Doch seltsamerweise – später erfuhr ich den Grund dafür – funktionierte das Telefon: Dieser Umstand war für mich von größtem Nutzen, denn natürlich würde ich zum Leben vielerlei benötigen und hatte zugleich nicht die geringste Lust, der Beschaffung wegen irgendjemandem begegnen zu müssen.

Die erste Nacht verbrachte ich auf einem Strohlager, unter einer Decke, die man mir im amerikanischen Krankenhaus überlassen hatte, den Kopf gebettet auf meinen Reiserucksack.

Am nächsten Morgen telefonierte ich mit einem jüdischen Rechtsanwalt in Mailand, einem Freund meines Vaters, der zum Glück, dank seiner Flucht in die Schweiz, überlebt hatte. Ich sagte ihm, wer ich war, erklärte ihm meine Situation und nannte ihm die verschiedenen Aufgaben, mit denen ich ihn betrauen wollte. Er wies mich darauf hin, dass es für mich angesichts der territorialen Zuständigkeit und der großen Menge notwendiger Recherchen und Überprüfungen vor Ort sehr viel praktischer und vor allem wirtschaftlicher wäre, wenn ich mich an einen Rechtsvertreter im Städtchen oder in der nächstgrößeren Stadt wenden würde.

Ich hielt dagegen, keinen anderen Rechtsanwalt zu kennen und vermutlich gegen lokale Interessen handeln zu müssen; und dass ich überdies einen jüdischen Anwalt haben wollte. Und schließlich noch, dass er sich keinerlei Gedanken wegen der Kosten zu machen bräuchte: Wie er selbst bald feststellen würde, verfügte ich über so viel Geld, wie ich nur wollte.

Nach kurzem Zögern und eingehender Befragung zur Person meines Vaters, meiner Mutter und so weiter, womit er sich meiner ernsten Absichten versichern wollte, erklärte er sich bereit, meinen Fall zu übernehmen. Knapp achtundvierzig Stunden später ließ er mir ein beglaubigtes Dokument zum unanfechtbaren Nachweis meiner Identität zukommen und eine beachtliche Leihsumme, die mir per Überweisung von einer Schweizer Bank bei einer hiesigen Bank gutgeschrieben wurde.

Zwei Wochen später, nachdem ich bereits, wie ich noch erzählen werde, mit einigen Personen vor Ort zu tun gehabt hatte, suchte er mich schließlich auf. Wir unterhielten uns ausführlich, und er bestätigte mir erneut sein Mandat, woraufhin wir weitere Einzelheiten seines Vorgehens festlegten.

Er begreife, sagte er, voll und ganz die große Eile, die ich von ihm bei der Erledigung verlangte, den Groll, der mich antrieb, und auch die Härte der von mir geforderten Maßnahmen. Und ja, er wolle mir in allen meinen Wünschen willfährig sein. Aber wenn ich einem alten Freund meines Vaters gestatte, mir einen Rat zu geben, würde er mir größere Besonnenheit und Umsicht nahelegen.

Ich enthielt mich jeder Gegenrede: Weder bestätigte ich den Groll noch die Härte und gab auch nicht zu erkennen, ob seine Empfehlung zu vorsichtigerem Handeln mich erreicht hatte. Ich wiederholte lediglich die Aufträge, die er ausführen sollte, und bekräftigte mein Vertrauen in ihn. Er hatte dem nichts hinzuzufügen. Er brach in der vollen Absicht auf, mir in jedem Fall zu Diensten zu stehen, und ich muss gestehen, er war ein Meister seines Fachs.

Sechs oder sieben Monate später hatte er so gut wie alles erledigt. Die Urkunden all meiner Besitzungen befanden sich in seinem Safe in Mailand, die authentifizierten Abschriften hingegen waren in meinen Händen. Nachdem die Beschlagnahmung meiner Häuser rückgängig gemacht worden war, wurden diese für gutes Geld vermietet. Die Grundstücke der zerstörten Häuser (die aufgrund ihrer Lage im Stadtzentrum sehr viel wert waren) wurden eingezäunt, eingeebnet und gründlich gesäubert, mit Ausnahme eines einzigen – die Gründe hierfür werde ich noch erläutern –, desjenigen nämlich, auf dem mein altes Elternhaus gestanden hatte.

Der gute Anwalt hatte rasch und wie versprochen mit großer Entschlossenheit gehandelt, und ich begriff, dass er auf seinem Gebiet ein mächtiger Mann sein musste. Um nämlich etwas Bestimmtes von den inkompetenten und arroganten Bürokraten in Italien zu erhalten, ist ein Zeitraum von sechs oder sieben Monaten unglaublich knapp. Mir war klar, dass er zur Durchsetzung meiner Ziele sicherlich auch politischen Druck, und zwar in den oberen Etagen der Macht, ausgeübt haben musste. Hinzu kamen Vorladungen, Verwarnungen, Drohungen und vielleicht auch Erpressungen, wie sie unehrlichen Leuten gegenüber immer möglich sind.

Was Straßburg betrifft, hatte die dort waltende Korrektheit der Bürokraten und Gemeindeverwaltungen die Dinge sicherlich vereinfacht. Eine vom Rechtsanwalt beauftragte Person wurde dorthin geschickt, und alle notwendigen Unterlagen waren rasch herbeigeschafft. Für die Leitung der Fabrik, die zum Glück oder aus Kalkül zunächst seitens der Deutschen, später der Alliierten noch intakt und in Betrieb war, wurde ein Direktor ernannt. Überdies wurde ein Verwalter meines Vertrauens eingesetzt, dem ich eine allumfassende Vollmacht zukommen ließ. Dieser schickte mir seinerseits alle drei Monate einen Rechenschaftsbericht und überwies größere Geldsummen auf mein Bankkonto.

Doch um die Erzählung meiner Rückkehr um einige Einzelheiten zu ergänzen, muss ich noch einmal auf die ersten Tage zu sprechen kommen.

DER GUTSVERWALTER

WIE GESAGT, ich hatte keine Lust, auch nur eine Menschenseele zu sehen. Ich wollte aus diesem Grund auch nicht in die Stadt hinunter.

Ich verbrachte die ersten Tage auf besagtem Strohlager samt Decke in dem Zimmer, das am längsten in den Genuss von Sonnenlicht kam. Ich machte mit Holz, das ich im Garten gesammelt hatte, Feuer in einem kleinen Kamin. Ich wusch mich am Brunnen und ernährte mich von amerikanischen Konservendosen, die mir im Krankenhaus überlassen wurden: Kondensmilch, Zwieback, Corned Beef, Kartoffeln aus der Dose. Sobald ich vom Rechtsanwalt die Mitteilung über die Bankgutschrift erhalten hatte, besorgte ich mir über die Auskunft (in einem Raum im Erdgeschoss gab es zwar ein Telefonverzeichnis, aber es war völlig verkohlt) die Telefonnummern von drei, vier Geschäften und rief dort an. Ich bestellte ein Bettgestell, eine Matratze, Decken, ein Federbett, zwei Frotteehandtücher, Weißwäsche, grobe Militärschuhe, einen Kordanzug, zwei Flanellhemden, einen Regenmantel, eine Wollmütze, einen wollenen Hausmantel und Filzpantoffeln. Des Weiteren ließ ich mir Teller, Gläser, Besteck, Wurstwaren, einen ganzen Schinken, zwei kleine Laibe Käse bringen und beauftragte einen Lebensmittelhändler, mir jeden Tag in der Früh einen halben Liter Milch, ein kleines Brot, etwas Obst und jeden dritten Tag Eier sowie eine Flasche Wein zu liefern.

Das war viel mehr, als ich wirklich brauchte. Brot, Käse, Wurstwaren, Milch und Eier waren alles, wonach es mich verlangte und was ich glaubte, verlangen zu dürfen. Den Wein, den hatte ich tatsächlich nötig (ich werde noch erklären warum), aber selbst ein halbes Glas nach dem Essen, wie ich es ab und an trank, rief bei mir eine viel zu starke Wirkung hervor. Und die ungeöffneten Weinflaschen häuften sich im Haus.

Ich schlief viel oder streifte im Garten und im nahen Wald umher, ohne mich dabei allzu weit von der Villa zu entfernen. Wenn der Lieferwagen mit den Vorräten eintraf, ließ ich mich nicht blicken. Die Haustür stand immer offen, die Leute luden die Waren aus, traten ein und stellten alles in einer Ecke ab. Die Nachricht meiner Rückkehr hatte offenkundig die Runde gemacht, denn eines Tages erhielt ich zum ersten Mal Besuch: Es war der alte Gutsverwalter meines Vaters.

Es regnete. Ich lag nur mit dem Morgenrock bekleidet neben dem Feuer und beobachtete die Regentropfen am Fenster – eines der wenigen im Hause, das noch Scheiben besaß. Da vernahm ich vom Eingang her eine kräftige und doch schmeichlerische Stimme: »Ist es gestattet, ist es gestattet? Ist hier niemand zu Haus? Meine Ehrerbietung, meine Ehrerbietung …« Ich trat, wie ich war, hinaus und erkannte den Besucher: Es war ein tüchtiger Mann um die fünfundsechzig, etwas fülliger (die Erinnerung kam mir in jenem Augenblick) als damals, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren, als er mich lachend und springend auf den Schultern getragen hatte, um meinen Eltern gefällig zu sein (und da hatte ich auch wieder meine junge Mutter vor Augen, wie sie bei dieser Szene lachte und dabei meine jüngste Schwester auf dem Arm und die andere an der Hand hielt). Um mir seine Aufwartung zu machen, hatte er sich ganz in Schwarz gekleidet, ja, er trug sogar Weste und Krawatte. Seinen triefnassen Regenschirm hatte er bei der Haustür abgestellt, seinen Wagen vor dem Tor geparkt.

Als er mich erblickte, riss er die Arme auseinander, und abrupt wich ich zwei Schritte zurück. Also blieb er stehen und rief laut: »Signorino, signorino!«, und fügte, den Blick himmelwärts gerichtet, hinzu: »Was für ein Glück!« Dann ließ er die Arme wieder sinken und sagte: »Was für ein Unglück, was für ein Unglück!« Ich schwieg, überließ ihm das Wort, damit er erklären konnte, von welchem Unglück er eigentlich sprach. »Ihr Vater, Ihre Mutter, allesamt!«, sagte er kopfschüttelnd. »Und wir dachten schon, dass auch Sie … Aber was für ein Glück, signorino, ein wahres Gottesgeschenk!«

»Setzen wir uns«, sagte ich zu ihm und ließ mich auf den Treppenstufen nieder, denn Stühle gab es noch keine. So blieb er stehen, wo er war.

Mit Blicken durchmaß er die kahle Diele und seitlich die ebenso leeren Zimmer hinter den offen stehenden Türen.

»Was für eine Katastrophe!«, sagte er. »Was für eine Katastrophe! Haben Sie gesehen, was für eine Katastrophe, signorino?« Er war einer von denen, die sich gerne wiederholten. Ich stützte meinen Ellenbogen bequem auf die Treppe und bat ihn, mir alles zu erzählen.

»Ich habe alles getan, was menschenmöglich war«, sagte er. »Ich habe alles gerettet, was ich retten konnte, und bin dabei auch gewisse Risiken eingegangen – wenn Sie nur wüssten, signorino! Aber das Unmögliche, das konnte ich nicht tun.«

Erneut forderte ich ihn auf, doch zu erzählen, was geschehen war.

Als meine Eltern abgereist waren (er verwendete das Wort abgereist, er sagte nicht: gewaltsam wie Vieh auf einen Laster getrieben und weggeschafft), also als meine Eltern abgereist waren (ich selbst war Monate zuvor in Straßburg, wo ich studierte, gefangen genommen worden), hatte man die Villa beschlagnahmt. Die Italiener richteten dort ein politisches Büro ein, abgelöst später von einem deutschen Militärkommando (das erklärte auch das Vorhandensein des Telefons), das wiederum beim Einrücken der Alliierten geflüchtet war. Und dann war es zur Plünderung gekommen.

»Als die Deutschen fliehen mussten, haben sie doch keine Möbel mitgenommen!«, widersprach ich ihm.

»Nein, die Möbel nicht«, sagte er. »Bestimmt aber viele andere Dinge: die kostbarsten Gegenstände, Gemälde, Teppiche, Tafelsilber und so weiter.«

»Und die Möbel?«, fragte ich noch einmal.

»Es war eine schreckliche Plünderung«, wiederholte er und breitete die Arme aus. Er hatte getan, was er konnte, er hatte viele Dinge in Sicherheit gebracht. Er hatte auch die Halbpächter gerufen, damit sie ihm zur Hand gingen, um die Dinge zu retten. Sie hatten ihm tatsächlich geholfen und sich auch mit anderen Leuten herumgeschlagen. »Aber die Leute, Sie verstehen«, sagte er, »die glaubten, dass das Zeug noch von den Deutschen war. Es war unmöglich, sie vom Gegenteil zu überzeugen.«

»Und die Einschüsse in der Mauer?«, fragte ich.

»Oh«, sagte er, »das waren Partisanendummheiten. Sehen Sie, es geschah während des Aufstands. Die Amerikaner rückten näher, die Deutschen waren im Begriff abzuziehen. Und da war es zu dem Aufstand gekommen, um den Amerikanern zu zeigen, dass wir in der Lage sind, uns selbst zu befreien. Die Partisanen haben das Militärkommando, also die Villa, angegriffen, haben von der Seite der Hügel kommend geschossen, nicht wissend, dass die Deutschen bereits abgezogen waren. Oder vielleicht wussten sie es, haben aber dennoch auf die Villa geschossen, einfach weil sie Lust hatten zu kämpfen, sich auszutoben, Sie verstehen doch, um zu rebellieren, Krach zu machen, den Sieg zu feiern. Sie waren ins Haus eingedrungen, hatten getrunken, und es waren noch weitere gekommen, aus anderen Richtungen. Und dann ging die Plünderung los.«

Alles war klar, man brauchte sich nicht zu wundern. Aber was genau hatte er bloß gerettet? Teppiche, sagte er, ein bisschen Tafelsilber, Gemälde, alles, was möglich war, alle Dinge, dem Anschein nach die besten Stücke, und alles gut versteckt in einem Heuschober, für uns, bis zu unserer Rückkehr.

Und die Halbpächter, was hatten die eigentlich gerettet? Auch sie, sagte er, Teppiche, Bilder, Haushaltswaren, Möbel, Kleider – alles, was sie retten konnten.

Jetzt war klar: Die Plünderer waren sofort, noch vor der Beschlagnahmung des Hauses, nicht erst am Ende, zur Tat geschritten. Wie sonst hätten sie es anstellen sollen?

»Morgen werde ich Ihnen alles bringen«, sagte er. »Ich habe alles sorgfältig verwahrt. Aber warum nur wollen Sie bis dahin auf diese Weise hausen? Kommen Sie doch zu uns in unser Haus hinunter. Oder wenn Ihnen das nicht angemessen erscheint, gibt es auch das Hotel. Auf alle Fälle, morgen bringe ich Ihnen alles.«

»Ich danke Ihnen unendlich für die Mühe, die Sie sich für uns gemacht haben. Aber was hätten Sie denn mit dem Tafelsilber und dem ganzen Rest gemacht, wenn ich nicht zurückgekommen wäre?«

Ratlos breitete er die Arme aus. »Wir haben nie den Glauben aufgegeben, dass ihr alle eines Tages zurückkehren werdet. Und stattdessen – was für eine Schmach!«

Ich lachte. »Ja, aber was genau hättet ihr damit gemacht?«

Erneut breitete er die Arme aus. »Ich weiß es nicht«, sagte er, »die Erben … irgendjemand … die Behörden … Aber welch Unglück, welch Riesenunglück.«

»Und das Geld?«, fragte ich weiter.

»Von dem ist nichts mehr da«, erwiderte er.

»Die Bauern haben in den Kriegsjahren gut verdient«, entgegnete ich, »sie haben Zeug auf dem Schwarzmarkt verkauft. Das Gleiche, denke ich, werden Sie mit dem Herrschaftsanteil gemacht haben. Wo sind die Profite geblieben?«

»Da ist nichts mehr«, wiederholte er. »Die Regierung und die Deutschen haben alle Erträge noch vor der Ernte beschlagnahmt. Hätte man etwas davon verkaufen wollen, hätte man Gefängnis oder, schlimmer noch, Kopf und Kragen riskiert. Sie haben das ganze Vieh fortgeschafft. Es gab so gut wie keinen Gewinn. Glauben Sie mir, ich habe auch von meinem eigenen Anteil draufgelegt.«

»Also gut«, sagte ich. »Gehen wir zu den Halbpächtern.«

Ich wollte vermeiden, dass er sie warnte.

»Jetzt?«, fragte er.

»Jetzt«, sagte ich. »Auf der Stelle. Sie haben doch Ihren Wagen draußen stehen, oder nicht?«

Und da es aufgehört hatte zu regnen, stieg ich, wie ich war, im Morgenrock und in Hauspantoffeln, in sein Auto. Völlig entgeistert setzte er sich ans Steuer.

DIE HALBPÄCHTER

WIR BRAUCHTEN DEN GANZEN TAG, um allen zwanzig Pächterfamilien in ihren Häusern einen Besuch abzustatten. Beim Eintreten sagte der Aufseher jedes Mal laut und deutlich: »Der signorino ist gekommen, um sich die Dinge anzusehen, die ihr für ihn gerettet habt.« Dann trat ich barfüßig (die Hausschuhe waren mittlerweile voller Schlamm, und ich hatte sie lieber weggeworfen) im Morgenrock ein, und sie verneigten sich vor mir mit argwöhnischen Blicken.

Überall befanden sich Gegenstände aus der Villa. Sie aßen an unseren Tischen, sie setzten ihre Füße auf unsere Teppiche, sie schliefen in unseren Betten, sie wärmten sich mit unseren Decken, und auch die Kleiderstoffe ihrer Frauen kamen mir bekannt vor. Die Ställe quollen über von Vieh, und zu jedem Haushalt gehörte mindestens ein Fahrzeug.

Stumm, mit zusammengekniffenen Augen, notierte der Verwalter jedes einzelne Stück. Auch die Bauern schwiegen, und ich, wohlwissend, dass es unmöglich ist, einen Bauern zum Reden zu bringen, wenn er nicht will, stellte keine Fragen.

»Das Vieh«, sagte der Verwalter im Wagen, nach den ersten Häusern, »das Vieh ist nicht das unsrige. Das haben sie mit Schulden und so manchen Ersparnissen gekauft.«

»Was für Ersparnisse, wenn doch alles beschlagnahmt war?!«

»Nun, sie arrangierten sich, Sie verstehen, heimlich. Das konnten sie tun, jeder für sich. Aber was den Herrschaftsanteil anging, war so etwas unmöglich. Wie hätte ich das anstellen sollen?«

Ich nickte. Als wir zurück in der Villa waren, sagte ich zu ihm, er solle mir die von ihm gemachten Aufstellungen aushändigen. »Gewiss doch. Ich werde sie kopieren und Ihnen morgen vorbeibringen.«

»Es ist nicht notwendig, sie zu kopieren«, sagte ich. »Ich will sie sofort.« Also gab er sie mir.

»Morgen will ich auch die Liste mit den Namen sämtlicher Halbpächter.«

»Weshalb das?«, fragte er.

»Weil ich mich bei ihnen für die Sachen, die sie für mich gerettet haben und die sie mir morgen zurückbringen werden, bedanken will.«

»Sicher doch«, sagte er, »ich habe verstanden. Wird erledigt.«

Am folgenden Tag trafen die ersten Fuhren mit den »geretteten« Gegenständen ein. Der Gutsverwalter brachte etwas Tafelsilber, Teppiche und Gemälde, wie er gesagt hatte, und andere Dinge, an die ich mich jetzt nicht mehr erinnere. So gelang es mir, die drei größeren Zimmer im Erdgeschoss und die Küche recht und schlecht einzurichten. In eines der Schlafzimmer im ersten Stockwerk ließ ich das Ehebett meiner Eltern stellen. Die Bauern folgten schweigsam, mit verbissenem Gesicht, den Anweisungen des Verwalters, während ich im Garten umherwandelte.

Als alles erledigt war, sorgte ich dafür, dass sie meine Danksagung erhielten. Dazu schrieb ich meinem Rechtsanwalt und übermittelte ihm die Liste der Halbpächter und der gestohlenen Gegenstände. Er sagte mir am Telefon, dass das, was ich wollte, angesichts der Zeiten und der demagogischen Gesetze nur schwerlich zu erreichen sei. Ich sagte, er solle es auf seine Art lösen. Und wieder erwies er sich als äußerst tüchtig. Er verschickte alle Kündigungen mit einem Begleitschreiben, in dem jedem Einzelnen mit einer Diebstahlsanzeige gedroht wurde. Die Namen der Zeugen seien ihm bekannt, behauptete er darin, was zwar nicht stimmte, aber wie auch die Halbpächter war er sich sicher, dass der Gutsverwalter alles nur Erdenkliche, was wir von ihm verlangten, bezeugen würde, nur um seine Haut zu retten. Sämtliche Halbpächter wandten sich hilfesuchend an die Gewerkschaft, die sich daraufhin in Drohgebärden erging, dann aber einknickte und dem Anwalt den Vorschlag unterbreitete, die Bauern wenigstens bis zur kommenden Ernte zu behalten. Der Anwalt leitete den Vorschlag weiter. »Nein. Sofort«, sagte ich, »sie können auch das Vieh mitnehmen«, gestand ich ihnen zu und wusste insgeheim, dass es sicherlich meines war. Da entschlossen sie sich zu gehen.

Der Gutsverwalter war untröstlich. Er sagte, nun hätte ich mir Feinde gemacht, außerdem koste die Arbeit von Hand der Halbpächter sehr viel weniger, als wenn man Lohnarbeiter bezahlen müsse.

»Wie viele Arbeiter braucht es denn?«, fragte ich, einfach so zum Spaß. »Und wie viele Stunden pro Jahr?« Da sah ich, dass er wieder Hoffnung schöpfte. Ihm schwoll der Kamm, er stellte Berechnungen an und legte sie mir vor: Es war eine Unmenge an Stunden und Arbeitskräften. Ich würde es mir überlegen, sagte ich. Er kam zurück, und ich beschied ihn mit: »Es sind zu viele.« Tags darauf kehrte er mit wieder neuen Berechnungen zurück. Er verringerte die Arbeitskräfte zuerst auf die Hälfte, dann auf ein Viertel der ursprünglich angedachten und sah bei jeder Reduzierung den eigenen Verdienst mehr und mehr schwinden.

Schließlich versetzte ich ihm den Todesstoß. Ich sagte ihm, ich hätte beschlossen, das Ackerland und die Felder brach liegen zu lassen. Geradezu verzweifelt versuchte er, mich umzustimmen. Die Grundstücke würden völlig überwuchern, die Häuser verfallen. So verlöre ich über die Hälfte des Werts meines Besitzes (was, wie ich im Nachhinein erfuhr, keineswegs der Fall war, denn jedes der Grundstücke war und ist noch immer Bauland, und ohne die Bauern ist sein Wert doppelt so hoch). Beharrlich bemühte er sich weiterhin, er sagte, ich würde mich nicht auskennen, ich solle ihm doch vertrauen, wie mein Vater es getan hatte, und so weiter und so fort. Ich ließ ihn einige Tage lang reden. Zum Schluss entließ ich auch ihn mithilfe des Anwalts und ohne Empfehlungsschreiben.

Nachdem ich mich seiner entledigt hatte, hörte ich nie mehr wieder von ihm.

Andere Besucher kamen. Es kamen die örtlichen Autoritäten.

DIE MÄNNER DES COMITATO
LIBERAZIONE NAZIONALE

SIE KAMEN IM AUTO, zu sechst oder siebt. Zwei von ihnen trugen ein rotes Tuch um den Hals, zwei andere hatten dreifarbige Halstücher. Sie waren reinlich gekleidet wie Bauern im Sonntagsstaat. Einer (ihr Anführer, außer Partisan war er auch Bürgermeister des Ortes) war in dunkelblaues Tuch gekleidet. Wenn sich der Bürgermeister in Person bereits die Mühe machte, dachte ich, musste das ganz einfach bedeuten, dass die Nachricht von meinem Riesenvermögen längst in aller Munde war.

Beim Eintreten grüßten sie mit »Ist’s gestattet?« und deuteten eine Verbeugung an. Der Blaugekleidete streckte seine Rechte aus und zog sie verunsichert wieder zurück. Zwei grüßten mit geballter Faust, den Arm auf Schulterhöhe erhoben, der eine mit der rechten, der andere mit der linken.

»Wer seid ihr?«, fragte ich. »Was wollt ihr?«

»Nichts. Ihnen unsere Aufwartung machen«, sagte der Anführer grinsend. »Wir sind eine Abordnung des CLN, wir befanden uns gerade in unserer Zentrale, als wir von Ihrer Rückkehr erfuhren, und haben einvernehmlich beschlossen« (er blickte um sich, die anderen pflichteten ihm mit einem Lächeln in meine Richtung bei) »Euch unseren Willkommensgruß zu entrichten (er war offenbar unentschieden zwischen dem Sie1 und dem Euch) und Euch unser Mitgefühl und das des ganzen befreiten Städtchens, vielmehr des guten Teils des Städtchens, zum Ausdruck zu bringen.«

Ich war zusammengezuckt. »Was ist das CLN?«, fragte ich.

Sie waren bass erstaunt, dass ich das nicht wusste. »Aber wie? Das wissen Sie nicht? Ach so ja, Sie … Jetzt verstehe ich! Vielmehr, verzeihen Sie, ich hätte es mir denken können. Es ist das Komitee der Nationalen Befreiung, das alle Kräfte, vielmehr alle Parteien, unter sich vereint, die gegen den Faschismus gekämpft haben, um das Land von der Tyrannei zu befreien.«

»Ich verstehe«, sagte ich. »Und jetzt, was macht ihr jetzt?«

»Wie, was machen wir jetzt?«

»Jetzt, da ihr das Land befreit habt«, sagte ich, »was treibt ihr nun? Warum löst ihr euch nicht auf? Oder hat sich das Komitee bereits aufgelöst, und ihr seid nur noch ein Korps siegreicher Schlachtenheimkehrer, was weiß ich, wie die Jungen von achtundneunzig? Erklärt mir, wie es ist.«

Ein Raunen der Verwunderung machte sich breit, in dem ein leichtes Beleidigtsein mitschwang.

»Nein, nein«, sagte er. »Wir lösen uns nicht auf. Ich verstehe, dass Sie das nicht begreifen. Lesen Sie denn keine Zeitung? Nein? Nun dann. Die Realität ist vielschichtig. Das Land ist befreit und ist es auch wiederum nicht. Das alte Land ist noch immer lebendig, in den Köpfen, in den Herzen der Leute, in den Herzen einiger. Wir müssen im Sattel bleiben, an die Regierung kommen, die begonnene Arbeit vorantreiben mit dem Volksaufstand, mit der Partisanenrevolte, um so aus dem Land ein wirklich demokratisches zu machen.«

»Aha, ich verstehe«, sagte ich (in der Tat hatte ich begriffen: Sie wollten kommandieren, und andere versuchten ihrerseits, das Kommando an sich zu reißen. Die Wirklichkeit, wie komplex auch immer, ist elementar, Watson!). »Jetzt begreife ich. Und was verschafft mir heute die Ehre?«

»Tja, also …«, hob er an. Ich will hier seine Worte zusammenfassen.

Sie hätten von meiner »unverhofften und nicht zu erhoffenden Rückkehr« erfahren und sogleich gedacht, es sei Aufgabe der demokratischen Kräfte, dem Überlebenden von solch unerhörter Grausamkeit und Ungerechtigkeit ihre Ehrerbietung zu erweisen; ihm gegenüber das schmerzliche Empfinden der Bevölkerung des Städtchens zum Ausdruck zu bringen für das, was das ganze Land, ganz Italien (wenn auch, weil es dazu gezwungen war) in der tristen Vergangenheit (in der finsteren, zwanzig Jahre währenden Epoche des Faschismus) zugelassen hatte. Oh, wenn sie es doch nur hätten verhindern können! Sie (die Partisanen) hatten gekämpft, aber es war bereits zu spät für sie (die Juden), denn für sie (immer noch die Juden) war das Schlimmste bereits geschehen. Dennoch hatten sie (die Partisanen), wenn auch spät, rebelliert, sich in den Wäldern versteckt, einen Flankenkrieg gegen den nazifaschistischen Feind geführt, sie hatten sich ihm an die Fersen geheftet, ihn angegriffen, um aus Italien ein anderes Land zu machen. Und jetzt war es ein anderes geworden.

»Aber nicht gänzlich«, sagte ich.

»Das stimmt, nicht ganz und gar. Aber bald wird es so sein.« Auf alle Fälle möge man versichert sein, dass nicht die leiseste Spur von Rassismus (er sprach Rassismus mit einer solchen Umsicht aus, als fürchtete er, mich zu beleidigen), kein Schatten des berüchtigten und verhängnisvollen Rassismus jemals wieder den Geist, das Gewissen, die Gesetze unseres (ihres) Vaterlandes verseuchen werde. Sie waren nun im Namen des Städtchens hier und wollten um Verzeihung bitten. »Ja genau, um Verzeihung bitten«, sagte er im Namen aller, für das, was wir erlitten hatten (wir, natürlich). Wenngleich auch (sie) persönlich unschuldig und vielmehr Feind der persönlich Schuldigen, baten sie um Verzeihung, reichten die Hand, wollten die Einheit der Nation wiederherstellen, wollten den Frieden, die Gerechtigkeit und so weiter wiedererstarken lassen … (Alle nickten, lächelten glücklich, solidarisch, stolz auf ihren Großmut, mit dem sie um Verzeihung baten.)

Und der Bürgermeister fuhr fort, im Städtchen erinnerten alle voller Herzlichkeit und Respekt meinen Großvater, meinen Vater, meinen Onkel, meine Mutter, meine Tante, meine Geschwister und meine Cousins und Cousinen. Alle bewunderten und achteten meine Familie, ihr ehrliches und zurückgezogenes Leben. Ehrenmänner waren wir! Ehrenleute und jetzt Opfer! Oh Jammer! Aber nie mehr wieder dürfe so etwas geschehen! Nie mehr werde einer noch sagen, dass ein Jude kein Bürger wie die anderen sei. Ein Bürger wie sie (und er schaute um sich), die gegen diese Ausgeburt des Wahnsinns angekämpft hatten. Und jetzt war er gekommen, um mir gegenüber kundzutun, dass alle voller Hoffnung und sicher seien, dass ich zuversichtlich in den neuen Korpus des Städtchens eintreten würde. Ja, um den Anfang zu machen, sagte er (um den Anfang zu machen!), werde in wenigen Tagen eine feierliche Totenmesse in der Kirche abgehalten (wenn ich daran teilnehmen wollte. Im Übrigen seien sie ja nicht alle religiös, aber aus Ehrerbietung für die gläubigen Genossen und um der Einheit der antifaschistischen Bewegung willen würden sie hingehen), und danach gebe es eine Versammlung auf der Piazza, um des ruhmreichen Partisanenkampfes und der Vertreibung des Feindes durch die Hand der Partisanen und der Bevölkerung zu gedenken, wie sie zwei Tage vor dem Eintreffen der Alliierten erfolgt war, und ganz besonders (ja, und das werde er tun, sagte er, und wie werde er das tun! Er sei nämlich einer der Redner!), um die Schande des Rassismus dem Vergessen zu entreißen und unsere Familien (die von uns Juden) alle mit Vor- und Nachnamen und ihren Holocaust im Gedächtnis zu verewigen (er sagte es genau so. Gewiss: Holocaust. Ein Wort, das mir aufstößt wie sonst keines und unerhört falsch in meinen Ohren klingt). Am Ende der Zeremonie werde man einen Grabstein mit den Namen aller zur Gemeinde gehörenden Opfer des Faschismus enthüllen, und unter diesen, Seite an Seite mit den Helden, den Märtyrern, den mit der Goldmedaille ausgezeichneten Widerstandskämpfern, seien sämtliche Namen der deportierten und nicht heimgekehrten Juden. Sie (die Partisanen) waren sich meiner Teilnahme sicher, und aus diesem Grund hatten sie mir auch inmitten der Fahnen einen Platz auf der Ehrentribüne neben den Honoratioren der Stadt reserviert. Und sie baten mich, ich möge zum Volke sprechen und von meinem erlittenen Leid erzählen und bei den Leuten die Abscheu vor dem vom Faschismus begangenen Bösen wecken und festigen, um so in der lebendigen Stimme des Volks und seinen Ovationen seine (die des Volkes) Solidarität, seine Forderung nach kollektiver Befriedung in Freiheit und Gerechtigkeit vernehmen zu können.

Nun war ich an der Reihe zu antworten, und ich tat das sogar gern und mit Besonnenheit.

Ich sagte, dass ich sie ob ihres Heroismus überaus bewundere. Ich sagte, dass ich um die vier Toten und das Dutzend Verletzter (dreizehn, stellten sie klar) wusste, die sie in den heftigen Kampfhandlungen gegen die Deutschen davongetragen hatten. Auch wusste ich, dass ein ganzer Ortsteil, rund zwanzig Häuser auf dem Berg, von den Deutschen als Vergeltung für ein Partisanenattentat gebrandschatzt worden war (aus Höflichkeit sagte ich nicht, dass ich um das Misslingen dieses ihres Attentats wusste). Ich sagte, dass ich auch über den unerbittlichen Kampf informiert war, der sich just um diese Villa herum abgespielt hatte, um das feindliche Kommando aus den Räumen zu verjagen: Ich sei froh und stolz, dass die Mauern meines Hauses noch Zeugnis ablegten von diesem Kampf. Ich sagte, dass ich nichts zu verzeihen hätte. Dass ich ihnen für ihre Bemühungen und ihr Anliegen Dankbarkeit zollte, aber dass weder sie, heldenhafte Kämpfer, noch die Stadt mir etwas Böses angetan hätten und es also nichts zu verzeihen gäbe und ich demzufolge auch nicht verzeihe. Ich sähe mich jedoch gezwungen, ihrer Einladung für das Stadtfest nicht Folge zu leisten. Ich hätte keine Lust, auf die Ehrentribüne zu steigen und auch nicht neben irgendeiner Fahne zu stehen, denn ich sei ein Nichts, vielmehr weniger als ein Nichts. Ich wollte nicht zur Menge sprechen, denn all das, was mir in diesen Jahren widerfahren war, war ein viel zu privates Vorkommnis, als dass ich darüber zu anderen sprechen wollte. Weder Beifall noch Ovationen wünschte ich, ja, bei dem bloßen Gedanken daran schauderte es mich. Es täte mir überdies leid, aber als alleiniger Erbe würde ich ihnen nicht die Erlaubnis erteilen, dass die Namen der Toten meiner Familie zusammen mit denen der Helden und Märtyrer im Kampf gegen den Faschismus genannt würden. Sie hatten nämlich gegen niemanden gekämpft, sondern waren wie Tiere abgeschlachtet worden. Und diesbezüglich musste ich ihnen noch Folgendes vor Augen führen: Sicherlich sei es richtig, wie sie behaupteten, dass die Juden von nun an Bürger mit gleichen Rechten wie alle anderen sein müssten. Dies aber bedeute nicht, dass sie tatsächlich »genau wie die anderen« wären. Sie waren Juden, die anderen waren es nicht.

Die Männer waren sprachlos. Meine Worte hatten sie schwer getroffen. All ihr Enthusiasmus und Großmut war wie weggeblasen. Sie murmelten untereinander, wussten aber nicht, was sie sagen sollten. Ihr Anführer bat mich, doch noch einmal in mich zu gehen. Er verstehe mich ja, sagte er, er begreife meinen Gemütszustand. Er könne sich vorstellen, dass auch ich noch Groll hegte, der ganz gewiss gerechtfertigt sei. Aber er bat mich inständig, mir vor Augen zu halten, dass die Zeiten nun andere seien und sie wirklich bedauerten … verurteilten … Mehr wusste er nicht zu sagen.

Einer aus ihrer Gruppe trat vor, ein kleiner Kerl, der ihn am Ärmel zupfte und ihm rasch ein paar Worte sagte.

»Aber wie das?«, gestikulierte er. »Jetzt schon? Ich hatte euch doch aufgetragen, abzuwarten, bis …«

Dann wandte er sich, die Arme leicht weitend, an mich und sagte: »Ich weiß nur, dass die von der Stadt in Auftrag gegebene Gedenktafel mit allen Namen der Opfer bereits fertig gemeißelt und bereit ist, aufgestellt zu werden. Gestatten Sie zumindest, ich bitte Sie, dass die Namen Ihrer Familienangehörigen neben den anderen stehen, alles ehrwürdige Männer und brave Personen, die ebenfalls leiden mussten. Es ist eine Art, Anerkennung zu zollen … eine Art, zu ehren … um die Übel wiedergutzumachen … um …«

»Entfernt sie«, sagte ich.

»Was bitte?«

»Die Namen. Meißelt, schleift sie flach.«

»Aber das ist unmöglich! Auf diese Weise wird eine hässliche Stelle bleiben. Und vor allem wird sie Ausdruck Ihres Willens, eine sehr spezielle Willensbekundung, sein, die ich zwar verstehen kann … aber in den Augen der anderen könnte sie auch erscheinen als, ich weiß nicht, als Zeichen dafür, sich abzusondern, vielleicht als eine Geste der Verachtung, vielleicht eine Beleidigung.«

»Damit müsst ihr euch eben abfinden«, sagte ich. »Sollten diese Namen auftauchen, werde ich vor Gericht klagen. Und dann wird es umso schlimmer sein.«

Sie waren alle verwirrt, mit lauter Stimme besprachen sie sich untereinander, aber ich hörte nicht zu. Mit einem Mal hob der Kleinwüchsige, der zuvor das Wort gehabt hatte, die Hand und sagte: »Vielleicht könnte man ihn schneiden.«

»Schneiden, was?«, fragte der Anführer.

»Den Gedenkstein«, erwiderte der kleine Mann. »Die Namen der Herrschaften machen ungefähr die Hälfte aller bereits eingemeißelten aus. Man kann ein Stück unten und ein Stück oben abschneiden und dann die zwei verbleibenden Stücke miteinander verbinden. So wird der Gedenkstein etwas kürzer, aber es werden keine Abschliffstellen sichtbar bleiben.«

Und wie es schien, entschieden sie sich für diese Lösung. Dann gingen sie: Der eine grüßte noch von der Tür aus mit einer knappen Kopfbewegung, andere gingen grußlos und flüsterten untereinander. Keiner aber hatte mehr jenes strahlende Lächeln von allumfassender Nächstenliebe, Großmut, Solidarität und Kühnheit auf den Lippen, mit dem sie eingetreten waren.

Diese Idee des Gedenksteins ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Das war auch der Grund, weshalb ich die Trümmer meines Vaterhauses nie platt walzen ließ. Diese Ruinen würden der Grabstein sein, um an meinen Vater, meine Mutter und meine Geschwister zu erinnern. Ohne notwendigerweise ihre Namen anzubringen: Es wussten ohnehin alle, wessen hier zu gedenken war. So ordnete ich an, dass die Trümmer nicht weggeschafft würden, und zu einem späteren Zeitpunkt ließ ich einen hohen schmiedeeisernen Zaun ohne Zugang, ohne Ausgang um sie errichten.

Die Bürger protestierten wegen der Ruinentrümmer inmitten der Stadt. Die Gemeindeverwaltung forderte mich auf, sie zu planieren. Sie drohten mir mit Enteignung, führten als Gründe die öffentliche Hygiene und Nutzungsansprüche der Allgemeinheit an. Folglich wandte ich mich wieder an meinen Anwalt, und die Ruinenreste blieben an Ort und Stelle.

Die Villa jedoch wollte ich wieder bewohnbar machen, das heißt, ich musste viele Dinge besorgen und ließ zahlreiche Arbeiten ausführen. Dazu bediente ich mich fast immer des Telefons und war doch häufig gezwungen, ins Dorf hinunterzugehen und der Bankgeschäfte wegen sogar in die Stadt zu fahren.

In den Ort gelangte ich zu Fuß, ich hatte kein Auto, wollte auch keines. In die Stadt nahm ich den Bus. Und dort, in der Stadt, auf dem Weg durch mir nicht unbekannte Straßen, begegnete ich den Leuten, kreuzte ihre Blicke.

Wer mich nicht kannte – und gleichwohl wusste, wer ich war –, musterte mich mit unverhohlener Neugier, vielleicht meiner vernachlässigten Kleidung wegen. Manch einer deutete mit dem Finger auf mich, um seine Begleitung auf mich aufmerksam zu machen.