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Vorwort des Herausgebers

Kaspar Hauser – das ist ein Name, mit einem auch heute noch ganz erstaunlichen Bekanntheitsgrad. Ja, fast schon eine unvergängliche, mit Geld nicht aufzuwiegende Marke. Dahinter steht eine bis heute mysteriöse Geschichte, eine Geschichte, die seit dem Auftauchen des seltsamen jungen Mannes am 26. Mai 1828 in Nürnberg die Wissenschaft in Aufregung versetzt, der Literatur Nahrung gibt, Scharlatanen als Vorlage dient, die Gerichte beschäftigt, und in heutiger Zeit Fernsehproduktionsfirmen dazu bewegt, das Thema immer wieder neu aufzugreifen. Zuletzt waren es auch zwei TV-Produktionen (1996, 2002), die Genanalysen an den alten Blutspuren von Hauser vornehmen ließen, um seine wahre Identität zu klären. Und wie sollte es anders sein: Sie kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Der Fall Hauser bleibt weiter mysteriös, und eine eindeutige Klärung scheint nach so langer Zeit auch schwerlich möglich.

Fest steht: Am 26. Mai 1828 tauchte in Nürnberg ein 16-jähriger, geistig anscheinend zurückgebliebener und wenig redender Jugendlicher auf. Der erste, der ihm begegnete, war der Schuhmachermeister Weickmann – der sich später an eine knappe Unterhaltung erinnerte, bei der der Junge auf die Frage nach seinem Herkunftsort »Regensburg« gesagt habe.

Hauser trug einen Brief bei sich, sowie einen »Zettel«. Der Brief war an den Rittmeister der 4. Eskadron des 6. Chevauxlegers-Regiments in Nürnberg adressiert. Der anonyme Verfasser des Schreibens gab sich als armer Tagelöhner und Ziehvater Kaspar Hausers aus und teilte mit, das Kind sei ihm im Oktober 1812 »gelegt« worden. Er habe es aufgezogen und es lesen, schreiben und das Christentum gelehrt, jedoch seit 1812 keinen Schritt vor die Tür gelassen; nun wolle der Junge ein Reiter werden, wie sein leiblicher Vater.

In einem beiliegenden, angeblich von der Mutter stammenden zweiten Brief, dem sogenannten »Mägdleinzettel«, wurde der Vorname Kasper genannt und als Geburtsdatum der 30. April 1812 angegeben.

Kaspar Hauser kam sozusagen »zur Beobachtung« in das Gefängnis auf der Nürnberger Burg unter die Obhut des Gefängniswärters Andreas Hiltel. Durch seine dann folgenden Aussagen, dass er, solange er sich erinnern könne, immer ganz allein in einem dunklen Raum gefangen gehalten worden sei, erregte Kaspar das Aufsehen der Wissenschaft, und ganze Heerscharen von Ärzten und Psychologen begannen ihn unter die Lupe zu nehmen.

Die allgemein bekannt gewordene – auch von ihm selbst überlieferte – Hauser-Geschichte lautete dann so: Er sei, so lange er denken könne, immer ganz allein in halbliegender Stellung in einem fast lichtlosen Raum gefangen gehalten worden. Während des Schlafes habe man ihm Wasser und Brot gebracht, ihn gereinigt und in frische Wäsche gekleidet, seien ihm Haare und Nägel geschnitten worden (Die Tiefe des Schlafzustandes wurde dann von den Ärzten so erklärt, dass man ihm wohl Opium gereicht habe.) Seine Notdurft habe er in ein Gefäß verrichtet, das in einer Vertiefung des Bodens stand und ebenfalls nächtens geleert wurde. Erst kurz vor seiner Freilassung sei ein Mann, dessen Gesicht er nie gesehen habe, bei ihm erschienen. Dieser habe ihn durch Führen der Hand im Schreiben unterrichtet und ihn dann bis kurz vor Nürnberg gebracht; erst auf diesem Marsch habe er das Stehen und Gehen gelernt. Den Satz, er wolle ein Reiter wie sein Vater werden, habe er von dem unbekannten Mann durch wiederholtes Nachsprechen erlernt, ohne den Sinn der Worte zu erfassen.

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Anselm von Feuerbach, der Autor dieses Buches, kommentiert den »Hype« um Kaspar Hauser so: »Jedermann wurde zu ihm gelassen, der ihn zu besehen Lust hatte. Wirklich genoß Kaspar vom Morgen bis zum Abend kaum eines geringeren Zuspruchs als das Känguru und die zahme Hyäne in der berühmten Menagerie des Herrn van Aken.«

Erklären lässt sich das durch eine neue Aufbruchstimmung in der Medizin. Die Psychologie begann gerade, ihr Terrain zu erobern und ihre Theorien auf wissenschaftliche Füße zu stellen. »Deutungen«, die früher dem Aberglauben vorbehalten waren, versuchte man nun wissenschaftlich zu untermauern. Jeder Hinweis, jede Spur, in das Seeleneben eines Menschenlebens einzudringen, war willkommen. Und Hauser stellte sich offensichtlich als lohnendes Studienobjekt für viele dar.

So wurde Kaspar Hauser also mit unglaublicher Aufmerksamkeit überschüttet – die er sichtlich genoss.

 

Die Erbprinzentheorie

Und dann gab es Gerüchte, die Hausers Schicksal erst richtig spannend erscheinen ließen. Nach einem von Hauser geschilderten Attentat eines Unbekannten im Haus des Gymnasialprofessors Georg Friedrich Daumer am 17. Oktober 1829 – wo er zu der Zeit wohnte – bei dem Kasper Hauser eine Schnittwunde an der Stirn erlitt, kursierten in Bayern erste, noch vage Verdächtigungen, aus denen später das allgemein verbreitete Gerücht entstand, Hauser sei der am 29. September 1812 geborene Erbprinz von Baden, den man in der Wiege mit einem sterbenden Kind vertauscht habe.

Als Täterin oder Initiatorin gilt hierbei die Gräfin Luise Karoline von Hochberg, die zweite Ehefrau des fast vierzig Jahre älteren, im Juni 1811 verstorbenen Großherzogs Karl Friedrich von Baden. Die 1796 zur Reichsgräfin erhobene Hochberg, ursprünglich eine lediglich kleinadelige Hofdame, habe durch die Vertauschung des Erbprinzen ihren eigenen Nachkommen zur Thronfolge verhelfen wollen.

Tatsächlich hatte die Ehefrau des Sohnes des Großherzogs Karl Friedrichs, des Markgrafen Karl, Stefanie Beauharnais, beide Söhne kurz nach der Geburt verloren, und die Erbfolge war an die männlichen Nachkommen der zweiten Ehefrau Karl Friedrichs, der Luise von Hochberg, übergegangen. Die Spekulationen hatten also ein reales, durchaus plausibles Fundament.

 

Theorie der sich aufschaukelnden Lügen

Gleichzeitig gab es schon zu dieser Zeit Stimmen, die das vermeintliche Attentat als Selbstverletzung auf der Suche nach Aufmerksamkeit einordneten und auch bereits große Zweifel an der ursprünglichen Geschichte der einsamen Einkerkerung hegten. Denn dafür war Hauser weitaus zu gut entwickelt – er wies bei seiner Ankunft in Nürnberg weder Vitamin- noch Eiweißmangelerscheinungen auf, wirkte nicht kontaktgestört, hatte offensichtlich keinen körperlichen Entwicklungsrückstand, und einer seiner Untersucher lobte sogar die auffallend gesunde Gesichts- und Hautfarbe kurz nach der Auffindung.

Man kann die Theorie der sich aufschaukelnden Lügen so zusammenfassen: Kaspar Hauser stamme tatsächlich aus einfachen Verhältnissen, habe möglicherweise tatsächliche eine sehr schwierige Kindheit hinter sich, sei vielleicht wirklich zeitweise von der Umwelt abgeschnitten in einer Kammer »gehalten« worden. Auf der Suche nach einem besseren Leben schickte man ihn mit seinen Geleitbriefen nach Nürnberg. Dort hätten die wohlmeinenden aber übermotivierten Ärzte und »Psychologen« dann das »Kerkermärchen« regelrecht in ihn hineingefragt. Als Hauser merkte, wie gut er damit ankam, wieviel Aufmerksamkeit und Zuwendung er damit erfuhr, erzählte er den wissbegierigen »Wissenschaftern« von denen immer weitere anreisten, dann ganz automatisch und freiwillig das, was sie so gerne hören wollten. So hätte sich der Fall eines einfachen und kleinen Hochstaplers zu der Riesen-Akte entwickelt, die sie bis heute ist.

 

Ein wenig Normalität

Trotz der großen Aufregung um seine Person erlebte Kaspar Hauser auch ein wenig Normalität. Er wohnte bei verschiedenen Gönnern und Vormunden, verkehrte in Ansbach in den besten Gesellschaftskreisen. Viele schätzten sein gewinnendes Wesen, und als leidenschaftlicher Tänzer war er bekannt und beliebt; eine engere Beziehung zu einer Frau hatte er aber, soweit man weiß, nie. Künstlerisch war er sehr begabt und fertigte erstaunliche Zeichnungen und Aquarelle an.

Anselm von Feuerbach brachte ihn Ende des Jahres 1832 bei seinem Gericht als Schreiber und Kopist unter. Seelsorgerisch betreut wurde Hauser vom Pfarrer Fuhrmann, der ihn auch am 20. Mai 1833 in der Gumbertuskirche in Ansbach konfirmierte.

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Doch am 14. Dezember 1833 schleppte sich Kaspar Hauser mit einer am Ende tödlichen Stichwunde nach Hause. Er sei im Ansbacher Hofgarten von einem ihm unbekannten bärtigen Mann angesprochen worden, der ihm einen Beutel überreicht habe, und zustach, als Hauser danach griff. Der später im Hofgarten gefundene, lilafarbene Damenbeutel enthielt einen Zettel mit in Spiegelschrift geschriebenem Text: »Hauser wird es euch ganz genau erzählen können, wie ich aussehe, und wo her ich bin. Den Hauser die Mühe zu ersparen will ich es euch selber sagen, woher ich komme –– Ich komme von von – – – der Baierischen Gränze – – Am Fluße – – – – – Ich will euch sogar noch den Namen sagen: M. L. Ö.«

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Gegen 22 Uhr starb Kaspar Hauser an den Folgen der Stichwunde. Skeptiker meinen auch hier, es sei eine Selbstverletzung mit dem Ziel, Aufmerksamkeit (zurück)zuerlangen. Eine Verletzung, die Hauser sich versehentlich zu schwer und zu tief beigebracht hätte, so dass er daran starb.

Am 20. Dezember wurde Kaspar Hauser unter starker Anteilnahme der Bevölkerung auf dem Ansbacher Stadtfriedhof beigesetzt. Sein Grabstein trägt die lateinische Inschrift:

»HIC JACET CASPARUS HAUSER AENIGMA SUI TEMPORIS IGNOTA NATIVITAS OCCULTA MORS MDCCCXXXIII«

»Hier liegt Kaspar Hauser, Rätsel seiner Zeit, unbekannt die Herkunft, geheimnisvoll der Tod 1833«

 

Und im Hofgarten errichtete man einen Gedenkstein mit der Inschrift:

»HIC OCCULTUS OCCULTO OCCISUS EST XIV. DEC. MDCCCXXXIII«

»Hier wurde ein Geheimnisvoller auf geheimnisvolle Weise getötet 14. Dez. 1833«

 

Der Autor: Anselm von Feuerbach

image.pngPaul Johann Anselm Ritter von Feuerbach (1775–1833) war ein aus Jena stammender deutscher Jurist, der auf dem Gebiet des Strafrechts neue Wege wies. 1805 wurde er ins Ministerialjustizdepartment in München berufen, wo er sich u.a. dafür einsetzte, die Folter abzuschaffen. 1817 wurde er Präsident des Appellationsgerichts für den Kreis Ansbach – was ihn auch in die räumliche Nähe zu Kaspar Hauser brachte. Er kümmerte sich von Anfang an um den merkwürdigen »Findling«, sorgte dafür, dass er bei mitfühlenden Menschen untergebracht wurde und war zeitweise sein Obervormund.

Wenn man dem wahren Kaspar Hauser auf die Schliche kommen möchte, dann ist Feuerbach die erste Quelle. In der hier als eBook vorliegenden Schrift »Kaspar Hauser, oder Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben eines Menschen« (Ansbach 1832), deutet Feuerbach die Möglichkeit einer fürstlichen Abkunft Hausers zumindest an. Während er allerdings in einem Bericht an das Bayerische Justizministerium zwei Jahre zuvor die Geschichte vom vertauschten Prinzen noch eine »jedes juristisch tatsächlichen Anhaltspunktes ermangelnde romantische Sage« nannte. In Feuerbachs Nachlass wiederum soll sich ein kleines Schriftstück befunden habe, auf dem er Hauser einen »pfiffigen, durchtriebenen Kauz, einen Schelm« nannte.

Schon Anselm von Feuerbach war also in seiner Einschätzung von Kaspar Hauser uneindeutig, und so ist es, quer durch alle Zeiten und Wissenschaftsdisziplinen, bis heute geblieben.

 

Redaktion ModerneZeiten

März 2013