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GILBERT KEITH CHESTERTON wurde 1874 in London in eine protestantisch-unitarische Familie hineingeboren. In jungen Jahren war er stark vom Okkulten fasziniert, trat aber 1922 dem römisch-katholischen Glauben bei. Nach nicht abgeschlossenen Studien der Illustration und der Literaturwissenschaft war er zunächst als Karikaturist und Journalist tätig, wurde aber 1900 freier Schriftsteller. In seinem literarischen OEuvre, das alle Gattungen umfasst, setzt er sich mit den verschiedensten religiösen, politischen und gesellschaftlichen Fragen auseinander. Auch privat führte er oft freundschaftliche öffentliche Dispute mit Männern wie H. G. Wells, George Bernard Shaw und Bertrand Russell. Chesterton starb 1936 in Beaconsfield.

Niemand käme wohl auf die Idee, Monsieur Dupin oder Sherlock Holmes zu unterschätzen. Chestertons Pater Brown hingegen ist unscheinbar, sieht sogar etwas einfältig aus und ist dazu noch Priester. Dieser wohl eigenwilligste und interessanteste Held der klassischen Kriminalliteratur schlägt seine Widersacher wie alle großen Detektive vor allem mit genialer List und Intelligenz, aber er bringt einen Vorteil mit, den keiner seiner Detektivkollegen vorweisen kann: Als Priester weiß er über die Sünden und Abgründe der Menschen Bescheid und durchschaut so die kriminellen Absichten und Geheimnisse der Täter mit Leichtigkeit.

Dieser Band enthält die Geschichten:
Das blaue Kreuz, Die verdächtigen Tritte,
Die Sternschnuppen, Israel Gows Ehre,
Die Sünden des Prinzen Saradine, Der Hammer Gottes,
Das Zeichen des zerbrochenen Schwertes

Der kleine Priester sieht nicht sonderlich intelligent aus, er hat Augen, so leer wie die Nordsee und ein Gesicht, so rund wie ein Norfolk-Knödel und doch durchschaut Pater Brown seine Widersacher sofort, genau wie er seinen Mitstreitern gedanklich immer schon voraus ist. Dieser Meisterdetektiv beweist, dass er sogar Flambeau, dem Gigant des Verbrechens, gewachsen ist. Die geistige Größe des körperlich unscheinbaren Brown triumphiert dabei in intelligenten Argumentationen, die zu oft überraschenden Wendungen der Handlung führen über die List des riesenhaften Verbrechers. Dieser wird aber letztendlich vom Pater – der das Gute in ihm erkennt – bekehrt und steht diesem fortan als Kollege und Freund zur Seite. Pater Brown erreicht die Sicherstellung von Kirchenreliquien, die Wiederbringung von wertvollen Diamanten und klärt einen mysteriösen Todesfall im schottischen Adel auf. Durch seine unverwechselbare Kombinationsgabe rekonstruiert er selbst die abgründigsten psychologischen Rätsel und begegnet dabei den skurrilsten Tragödien des menschlichen Zusammenlebens stets mit Humor, Einfühlung und zuweilen scharfer Ironie.

»Er ist so lustig, daß man fast glauben könnte, er habe Gott erfunden.« Franz Kafka

Gilbert Keith Chesterton

Pater Brown Geschichten

Gilbert Keith Chesterton

Pater Brown
Geschichten

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
https://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-8438-0487-5

www.verlagshaus-roemerweg.de

»Das unglaublichste an Wundern ist,
daß sie geschehen.«

G. K. Chesterton

INHALT

DAS BLAUE KREUZ

DIE VERDÄCHTIGEN SCHRITTE

ISRAEL GOWS EHRE

DIE STERNSCHNUPPEN

DIE SÜNDEN DES PRINZEN SARADINE

DER HAMMER GOTTES

DAS ZEICHEN DES ZERBROCHENEN SCHWERTES

DAS BLAUE KREUZ

Zwischen dem Silberband des Morgens und dem grünen, glitzernden Band der See legte das Boot in Harwich an und ließ Menschen wie einen Schwarm Fliegen entweichen. Aus diesem Schwarm stach der Mann, dem wir folgen müssen, keineswegs hervor – und er wünscht dies auch nicht zu tun. Außer dem leichten Gegensatz zwischen der Lebhaftigkeit seiner Ferienkleidung und dem offiziellen Ernst seines Gesichtes war nichts Bemerkenswertes an ihm. Zu seiner Kleidung gehörte eine leichte, hellgraue Jacke, eine weiße Weste und ein silberner Strohhut mit blaugrauem Band. Sein mageres Gesicht, das durch den Kontrast dunkel wirkte, endete in einem spanisch anmutenden, schwarzen Spitzbart, der nach einer elisabethanischen Halskrause zu verlangen schien. Er rauchte eine Zigarette mit dem Ernst eines Müßiggängers. Nichts an ihm deutete an, daß die graue Jacke einen geladenen Revolver, die weiße Weste einen Polizeiausweis oder der Strohhut einen der scharfsinnigsten Köpfe Europas bedeckte. Denn es war Valentin selbst, der Chef der Pariser Polizei und der berühmteste Ermittler der Welt; und er befand sich auf dem Weg von Brüssel nach London, um die bedeutendste Verhaftung des Jahrhunderts vorzunehmen.

Flambeau war in England. Die Polizei dreier Länder hatte endlich die Spuren des großen Verbrechers von Gent nach Brüssel und von Brüssel nach dem Hoek van Holland zurückverfolgen können; man mutmaßte, daß Flambeau die ungewohnte Atmosphäre und das Durcheinander des Eucharistischen Kongresses, der damals in London tagte, ausnutzen wollte. Wahrscheinlich würde er als irgendein unbedeutender Geistlicher oder dessen Sekretär reisen; aber natürlich konnte sich Valentin nicht sicher sein; bei Flambeau konnte sich niemand sicher sein.

Es ist nun viele Jahre her, seit dieser Koloss des Verbrechens plötzlich aufhörte, die Welt in Aufruhr zu versetzen, und als er verschwand, war wie nach dem Tode Rolands, eine große Ruhe auf Erden eingetreten. Doch in seinen besten Tagen (ich meine natürlich seinen schlimmsten) war Flambeau eine ebenso ikonische und internationale Gestalt wie der Kaiser. Nahezu jeden Morgen berichteten die Tageszeitungen, daß er sich den Konsequenzen eines außergewöhnlichen Verbrechens durch das Begehen eines anderen entzogen habe. Flambeau war ein Gascogne von riesigem Wuchs und die Inkarnation der Kühnheit; man erzählte sich die wildesten Dinge über die Ausbrüche seines athletischen Temperaments, z. B. wie er den juge d’instruction auf den Kopf stellte, »um ihm einen freien Kopf zu verschaffen«, oder wie er mit einem Polizisten unter jedem Arm die Rue de Rivoli hinabrannte. Um ihm gerecht zu werden, muß man jedoch sagen, daß seine phantastische Körperkraft meist in unblutigen, wenn auch würdelosen Auftritten zur Anwendung kam; seine tatsächlichen Verbrechen bestanden hauptsächlich in genialen, großangelegten Räubereien. Doch jeder seiner Diebstähle war fast eine neue Art von Sünde und eine Geschichte für sich. Er war es, der die große Tiroler Molkerei-Gesellschaft in London betrieb; ohne Molkerei, ohne Kühe, ohne Karren, ohne Milch, jedoch mit einigen tausend Abnehmern. Diese bediente er einfach dadurch, daß er die kleinen Milchkannen anderer Leute vor die Türen seiner eigenen Kunden schob. Er war es gewesen, der einen unnachvollziehbaren und innigen Briefwechsel mit einer jungen Dame unterhielt – der ganze Briefsack mußte abgefangen werden –, indem er sich des außerordentlichen Tricks bediente, seine Nachrichten in unendlicher Verkleinerung auf die Objektträger eines Mikroskops zu photographieren. Trotz allem zeichneten sich seine Experimente durch eine beeindruckende Einfachheit aus. Einmal soll er in der Totenstille der Nacht alle Hausnummern einer Straße übermalt haben, nur um einen Reisenden in eine Falle zu lokken. Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß er eine tragbare Briefsäule erfunden hatte, die er an den Ecken der ruhigen Vorstädten aufstellte, um die Postsendungen von Fremden abzufangen. Zu guter Letzt war er noch als geschickter Akrobat bekannt; trotz seiner mächtigen Gestalt konnte er wie eine Heuschrecke springen und wie ein Affe mit den Baumkronen verschmelzen. Als sich Valentin anschickte Flambeau zu finden, war er sich also vollkommen darüber im Klaren, daß seine Abenteuer nicht enden würden, sollte er ihn denn gefunden haben. Doch wie sollte er ihn finden? Was diesen Punkt betraf, war der große Valentin noch zu keinem schlüssigen Ergebnis gekommen.

Es gab eine Sache, die Flambeau bei all seinem Verkleidungsgeschick nicht verbergen konnte, und das war seine einzigartige Größe. Wenn Valentins flinkes Auge eine hochgewachsene Marktfrau, einen großen Grenadier oder vielleicht eine mäßig große Herzogin entdeckt hätte, er würde sie auf der Stelle verhaftet haben. In der ganzen Eisenbahn war ihm niemand untergekommen, der ein vermummter Flambeau hätte sein können; genauso wenig wie eine Katze eine vermummte Giraffe sein konnte. Über die Leute auf dem Schiff hatte er sich bereits Gewissheit verschafft und diejenigen, welche in Harwich oder auf der weiteren Reise vom Zug aufgelesen worden waren, beschränkten sich mit Sicherheit auf sechs. Da war ein kurzer Eisenbahnbeamter, der bis zur Endstation mitfuhr, dann drei ziemlich kurz geratene Grünzeughändler, welche zwei Stationen später hinzugekommen waren, eine sehr kurze verwitwete Dame, die aus einer kleinen Stadt in Essex kam und ein sehr kurzer römisch-katholischer Priester, der in einem kleinen Dorf in Essex zugestiegen war. Beim letzten Fall gab es Valentin auf und er mußte beinahe lachen. Der kleine Priester war über alle Maßen die Ausgeburt eines Simpels aus dem Osten; er hatte ein Gesicht so rund und ausdruckslos wie ein Norfolk-Knödel und Augen so leer wie die Nordsee. Er trug einige braune Papierpakete, die beisammenzuhalten er vollkommen außerstande war. Der Eucharistische Kongreß hatte anscheinend viele derartige Kreaturen aus der Eintönigkeit ihrer ländlichen Umgebung gezogen, blind und hilflos wie ausgegrabene Maulwürfe. Valentin war auf diese heftige französische Art Skeptiker und hatte nicht viel für Priester übrig. Doch er konnte Mitleid für sie aufbringen und dieser Priester hätte wohl in jedermann Mitleid erregt. Er trug einen großen, schäbigen Regenschirm, der ihm andauernd zu Boden fiel. Er schien nicht zu wissen, welches das richtige Ende seiner Rückfahrtkarte war. Er erklärte mit der Einfalt eines Mondkalbes jedem im Wagen, daß er vorsichtig sein müsse, da er in einem seiner braunen Papierpakete etwas aus echtem Silber »mit blauen Steinen« bei sich trage. Seine drollige Mischung aus Essex-Plattheit und der Schlichtheit eines Heiligen amüsierte den Franzosen ohne Ende, bis der Priester es doch irgendwie schaffte, mit all seinen Paketen in Tottenham anzukommen und noch einmal zurückzukehren, um seinen Regenschirm zu holen. Als er dies tat, zeigte Valentin sich sogar so zuvorkommend, ihn zu warnen, daß er das Silberding wohl am wenigsten dadurch hüten könne, indem er allen davon erzählt. Doch mit wem auch immer Valentin sprach, stets hielt er nach jemand anderem Ausschau. Beständig sah er sich nach jemandem um, ob reich oder arm, männlich oder weiblich, der gut sechs Fuß hoch wäre, denn Flambeau war noch einmal zehn Zentimeter größer.

In der Liverpool Street stieg er aus und war sich sicher, den Verbrecher bislang nicht übersehen zu haben. Dann begab er sich nach Scotland Yard, um die Kompetenzen zu klären und um für den Bedarfsfall Hilfe zu organisieren. Schließlich zündete er sich eine weitere Zigarette an und machte sich zu einem langen Stadtbummel durch die Straßen von London auf. Als er in dem Viertel jenseits von Victoria umherwanderte, machte er plötzlich eine Pause und blieb stehen. Der Platz wirkte malerisch und ruhig, sehr typisch für London, erfüllt von zufälliger Stille. Die großen flachen Häuser sahen gleichzeitig wohlhabend und unbewohnt und das Sträucherviereck in der Mitte so einsam aus, wie ein grünes Inselchen im Stillen Ozean. Eine der vier Seiten ragte wie eine Estrade über die anderen hinaus und die Linie dieser Seite wurde unterbrochen von einer der bewundernswerten Zufälligkeiten Londons – einem Restaurant, das aussah, als hätte es sich von Soho hierher verlaufen. Es war ein unnachvollziehbar anziehendes Gebäude mit Zwergpflanzen in Töpfen und mit hohen, gestreiften Fensterläden in Zitronengelb und Weiß. Es lag eigentümlich hoch über der Straße, und in der für London üblichen Flickwerkart lief eine Flucht von Stufen von der Straße zum Eingang hinauf, fast wie eine Rettungsleiter zu einem Fenster im ersten Stock. Valentin stand rauchend vor den gelb-weißen Blenden und betrachtete sie lange.

Das unglaublichste an Wundern ist, daß sie geschehen. Ein paar Wolken im Himmel ballen sich zusammen und sehen aus, wie ein starrendes menschliches Auge. Auf einer ungewissen Reise ragt einem inmitten einer Landschaft ein Baum in der genauen und vollendeten Form eines Fragezeichens entgegen. Ich habe diese beiden Dinge in den letzten paar Tagen selbst gesehen. Nelson stirbt im Augenblick des Sieges, und ein Mann namens Williams ermordet ziemlich zufällig einen Mann namens Williamson; es klingt wie eine Art Kindsmord. Kurz, es gibt im Leben ein Element zaubrischer Fügung, das Leuten, die nur mit dem Prosaischen rechnen, auf ewig entgehen wird. Weisheit sollte, wie es in Poes Paradoxon so schön heißt, mit dem Unvorhergesehenen rechnen.

Aristide Valentin war unfassbar französisch. Und der französische Verstand ist einzigartig und besonders. Er war keine »denkende Maschine«; denn dies ist nur eine der hirnlosen Phrasen des modernen Fatalismus und Materialismus. Eine Maschine ist gerade deshalb eine Maschine, weil sie eben nicht denkt. Valentin aber war ein denkender Mensch und gleichzeitig ein einfacher Mensch. All seine wunderbaren Erfolge, die wie Zauberei ausgesehen haben mögen, hatte er durch mühsame Logik errungen, durch klares und gewöhnliches französisches Denken. Die Franzosen elektrisieren die Welt nicht, indem sie eine Paradoxie formulieren, sie elektrisieren sie, indem sie Binsenweisheiten in die Tat umsetzen. Diese Binsenweisheiten treiben sie weit – soweit, daß so etwas wie die Französische Revolution dabei herauskommt. Aber eben weil Valentin die Vernunft verstand, kannte er auch die Grenzen der Vernunft. Nur ein Mensch, der nichts von Motoren versteht, spricht von der Arbeit eines Motors ohne Benzin; nur ein Mensch, der nichts von Vernunft versteht, spricht von Vernunftsschlüssen ohne starke unbestreitbare erste Prinzipien. Hier hatte er jedoch keinen starken ersten Ausgangspunkt. Flambeau war in Harwich entwischt, und wenn er überhaupt in London war, dann konnte er alles Mögliche sein, angefangen bei einem übergroßen Vagabunden im Wimbledon-Park bis zu einem übergroßen Tischredner im Hotel Metropole. In solch einem nackten Zustand der Unwissenheit besaß Valentin seine eigenen Ansichten und seine eigene Methode.

In derlei Fällen rechnete er mit dem Unvorhergesehenen. In Fällen, da er nicht den Weg des Vernünftigen gehen konnte, ging er berechnend und sorgfältig den Weg des Unvernünftigen. Anstatt die richtigen Orte aufzusuchen – Banken, Polizeiwachen, rendezvous –, suchte er systematisch die falschen Orte auf, klopfte an jedes leere Haus, bog in jede cul de sac und in jede Kurve ein, die ihn unnütz vom Wege abbrachte und rannte jede mit Schutt versperrte Gasse hinab. Er verteidigte dieses verrückte Verfahren ganz logisch. Er behauptete: wenn jemand eine Ahnung habe, sei dies der schlechtmöglichste Weg, wenn man jedoch überhaupt keine Ahnung habe, sei dies das allerbeste, denn dabei biete sich vielleicht die Chance, daß eine Auffälligkeit, die das Auge des Verfolgers auf sich lenkt, vielleicht die gleiche ist, die auch das Auge des Verfolgten auf sich gelenkt haben mag. Irgendwo mußte der Mensch anfangen, und es sei besser, das dort zu tun, wo ein anderer aufhören würde. Etwas an dieser Treppenflucht hinauf zum Eingang, etwas an der Einsamkeit und Eigenart des Restaurants weckte die ganze (seltene) romantische Vorstellungskraft des Detektivs. Er faßte den Entschluß, aufs Geratewohl vorzustoßen. So stieg er die Treppe hinauf, ließ sich an einem Tisch neben dem Fenster nieder und bestellte eine Tasse schwarzen Kaffee.

Der halbe Morgen lag schon hinter ihm und er hatte noch nicht gefrühstückt. Auf dem Tisch standen die kläglichen Reste anderer Frühstücke und erinnerten ihn an seinen Hunger. Während er seiner Bestellung noch ein pochiertes Ei hinzufügte, schüttete er sich grübelnd etwas weißen Zucker in seinen Kaffee; all seine Gedanken hingen an Flambeau. Er erinnerte sich, wie dieser einmal mit Hilfe einer Nagelschere entkommen war und ein anderes Mal mit Hilfe eines brennenden Hauses, einmal, weil er für einen unfrankierten Brief Strafporto zu zahlen hatte und ein anderes Mal, indem er die Leute durch ein Teleskop auf einen Kometen, der die Welt zerstören konnte, blicken ließ. Valentin hielt sein Detektivgehirn für ebensogut wie das des Verbrechers, und er hatte damit recht, doch war er sich seines Nachteils vollkommen bewußt. »Der Verbrecher ist der schöpferische Künstler, der Detektiv ist nur sein Kritiker«, sagte er sich mit saurem Lächeln, wobei er langsam seine Kaffeetasse zum Mund führte – und sie sehr schnell wieder absetzte. Er hatte Salz hineingetan.

Er blickte auf das Gefäß, aus dem das silberige Pulver gekommen war; es war zweifellos eine Zuckerdose, so unverkennbar für Zucker bestimmt, wie eine Champagnerflasche für Champagner. Er fragte sich, weshalb man Salz darin aufbewahrte. Dann schaute er sich um, ob es da noch weitere orthodoxe Gefäße gäbe. Und in der Tat, gab es zwei vollgefüllte Salzstreuer. Vielleicht war irgendetwas Besonderes an dem Inhalt dieser Salzstreuer. Vielleicht beinhaltete dieser Salzstreuer ja auch eine besondere Würze. Er kostete und es war Zucker. Dann blickte er mit erfrischtem Interesse im Restaurant umher, um zu sehen, ob noch irgendwelche anderen Spuren dieses sonderbaren künstlerischen Geschmakkes zu finden seien, der Zucker in Salzstreuern und Salz in Zuckerdosen aufbewahrte. Außer einem seltsamen Fleck an einer der weißtapezierten Wände, der von irgendeiner dunklen Flüssigkeit herrührte, schien der ganze Raum sauber, freundlich und gewöhnlich. Er klingelte nach dem Kellner.

Als der Kellner notdürftig gekämmt und zu so früher Stunde etwas triefäugig herbeigeeilt kam, ersuchte ihn der Detektiv, dem der Sinn für die einfacheren Formen des Humors nicht abging, er möge den Zucker kosten und entscheiden, ob dieser dem guten Ruf seines Hotels gerecht würde. Das Ergebnis war, daß der Kellner plötzlich gähnte und erwachte.

»Erlauben Sie sich diesen köstlichen Scherz jeden Morgen mit Ihren Gästen?« fragte Valentin. »Und werden Sie des Spaßes nie müde, Salz und Zucker miteinander zu vertauschen?«

Als dem Kellner die Ironie einzuleuchten begann, versicherte er stammelnd, daß sein Etablissement gewiß keine derartigen Absichten hege und daß ein sehr eigentümlicher Irrtum vorliegen müsse. Er hob die Zuckerdose empor und blickte sie an, er hob den Salzstreuer empor und blickte ihn an; sein Gesicht wurde immer verwirrter. Schließlich entschuldigte er sich abrupt, stürzte davon und kehrte nach ein paar Sekunden mit dem Besitzer wieder. Dieser untersuchte die Zuckerdose, dann den Salzstreuer und blickte daraufhin ebenfalls verwirrt.

Augenblicklich schien dem Kellner das Sprachvermögen abhanden gekommen zu sein, so sehr überstürzten sich seine Worte.

»Ichähdenk« stotterte er emsig, »ich denk, das waren diese zwei Geistlichen.«

»Was für zwei Geistliche?«

»Die zwei Geistlichen«, erklärte der Kellner, »die, wo die Suppe an die Wand geschmissen.«

»Suppe an die Wand geschmissen?« wiederholte Valentin, der sich sicher war, es müsse sich wohl um eine einzigartige italienische Metapher handeln.

»Ja, ja«, versicherte der Bedienstete aufgeregt und deutete auf den dunklen Flecken auf der weißen Tapete, »– da an die Wand geschmissen.«

Valentin blickte den Besitzer fragend an, der ihm nun mit einem ausführlichen Bericht zu Hilfe kam.

»Ja, Sir«, sagte er. »es ist ganz richtig, wenn ich auch nicht glaube, daß es etwas mit dem Zucker und dem Salz zu tun hat. Zwei Geistliche kamen herein und aßen sehr früh einen Teller Suppe, kaum daß wir die Rollläden geöffnet hatten. Sie waren beide sehr ruhige, anständige Leute; der eine von ihnen zahlte die Rechnung und ging hinaus, der andere, der überhaupt von der langsameren Sorte war, brauchte einige Minuten länger, seine Sachen zusammenzuklauben. Aber schließlich ging er auch. In dem Moment, als er im Begriff war auf die Straße zu treten, nahm er jedoch bedächtig seine halbgeleerte Schüssel und klatschte die Suppe an die Wand. Ich selbst war im Hinterzimmer, ebenso wie der Kellner, und so konnte ich nur noch hinauseilen, um den Flecken an der Wand und das Geschäft leer zu finden. Es ist kein arger Schaden, aber es war eine vermaledeite Frechheit, und ich versuchte die Männer auf der Straße einzuholen. Aber sie waren schon zu weit weg; ich sah nur noch, daß sie um die nächste Ecke in die Carstairs Street einbogen.«

Der Detektiv war sofort auf den Beinen, den Hut auf dem Kopf und den Stock in der Hand. Er hatte bereits entschieden, daß er in dem universellen Dunkel seines Geistes nur dem ersten seltsamen Fingerzeig folgen konnte; und dieser Fingerzeig war seltsam genug. Seine Rechnung bezahlend und die Glastüren hinter sich zuschmetternd schwang er sich um die Ecke und in die andere Straße. Es war sein Glück, daß sein Auge selbst in so hitzigen Momenten kühl und flink blieb. Etwas in einer Ladenfront zog an ihm vorüber wie ein Blitz; dennoch ging er zurück, um danach zu sehen. Es war der Laden eines beliebten Obst- und Gemüsehändlers. Eine Reihe von einfach mit Preis und Namen ausgezeichneten Waren war im Freien ausgestellt. In den beiden prominentesten Abteilungen befand sich jeweils ein Haufen von Mandarinen und von Nüssen. Auf dem Haufen Nüsse lag ein Stück Pappe, worauf mit dicken blauen Kreidestrichen geschrieben stand: »Beste Mandarinen, zwei Stück 1 Penny.« Auf den Mandarinen war die ebenso klare und genaue Beschreibung zu lesen: »Feinste Paranüsse, 4 Pence das Pfund.« Valentin blickte auf die beiden Schilder und es dämmerte ihm, dieser äußerst feinsinnigen Art von Humor schon einmal begegnet zu sein, und zwar erst vor kurzem. Er lenkte die Aufmerksamkeit des krebsroten Obsthändlers, der ziemlich mürrisch die Straße auf- und niederblickte, auf die Ungenauigkeit in seiner Reklame. Der Obsthändler sagte nichts, sondern brachte nur unwirsch jede Tafel an den richtigen Platz. Elegant auf seinen Spazierstock gestützt fuhr Valentin fort, den Laden zu prüfen. Schließlich sagte er:

»Entschuldigen Sie bitte vielmals die scheinbare Nebensächlichkeit, guter Mann, aber ich möchte Ihnen gerne eine Frage über experimentelle Psychologie und Ideenassoziation stellen.«

Der krebsrote Händler betrachtete ihn drohenden Blickes, doch fuhr jener, seinen Stock schwingend, munter fort:

»Weshalb« fragte er. »sind in einem Gemüseladen zwei Schilder so deplatziert wie ein Schaufelhut, der an einem Feiertag nach London gekommen ist? Oder, falls ich mich nicht klar genug ausdrücken sollte: Welcher Art ist die geheimnisvolle Assoziation, welche die Idee von als Nüssen deklarierten Mandarinen mit der von zwei Geistlichen, der eine klein der andere groß, verbindet?«

Die Augen des Händlers traten aus seinem Kopf hervor wie bei einer Schnecke und es sah wirklich einen Augenblick so aus, als wolle er sich auf den Fremden stürzen. Endlich stieß er zornig hervor:

»Ich weiß nich, was Sie damit zu schaffen ham, aber wenn Sie mit denen befreundet sind, können Sie denen von mir ausrichten, daß ich ihnen ihre blöden Köppe abhauen werde, wenn sie nochmal meine Äpfel durcheinander bringen, Pfarrer hin oder her.«

»Wirklich?« fragte der Detektiv mit großer Anteilnahme, »haben sie Ihnen die Äpfel durcheinander gebracht?«

»Ja, der eine« erwiderte der erhitzte Krämer. »hat se über die ganze Straße verstreut. Ich hätt den Trottel erwischt, mußt mich aber um die Äpfel kümmern.«

»Welchen Weg haben die Geistlichen genommen?« fragte Valentin.

»Die zweite Straße dort links und dann über den Platz«, erwiderte der andere prompt.

»Danke«, empfahl sich Valentin und verschwand wie eine Fee. Auf der anderen Seite des besagten Platzes fand er einen Polizisten und sprach ihn an.

»Es ist dringend, Herr Wachtmeister. Haben Sie zwei Geistliche in Schaufelhüten gesehen?«

Der Polizist begann heftig zu kichern.

»Hab ich, Sir, und wenn Sie mich fragen, war der eine besoffen. Er stand verwirrt auf der Straße, als ob–«

»Wohin sind die beiden gegangen?« blaffte ihn Valentin an.

»Sie haben einen von den gelben Omnibussen dort drüben genommen« antwortete der Mann, »die nach Hampstead fahren.«

Valentin zeigte seinen Dienstausweis und sagte hastig:

»Rufen Sie zwei von Ihren Leuten. Sie müssen mit mir die Verfolgung aufnehmen«, und er überquerte die Straße mit solch ansteckender Energie, daß der schwerfällige Polizist zu beinahe agilem Gehorsam bewegt wurde. Anderthalb Minuten später gesellten sich auf dem gegenüberliegenden Gehweg je ein Inspektor und ein Wachmann in Zivil zum französischen Detektiv.

»In Ordnung, Sir«, begann der Erste wichtigtuerisch lächelnd, »womit können wir –«

Valentin deutete plötzlich mit seinem Stock. »Ich werde es Ihnen oben im Omnibus erklären«, bemerkte er, und schoß wie ein Pfeil durch das Gewirr des Straßenverkehrs. Als alle drei keuchend auf den oberen Sitzen des gelben Fahrzeuges niedersanken, meinte der Inspektor:

»Mit einem Taxi wären wir viermal so schnell.«

»Ganz richtig«, antwortete ihr Anführer ruhig, »wenn wir nur eine Ahnung hätten, wohin wir gehen.«

»Nun, wohin wollen wir denn?« fragte jener ihn anstarrend.

Valentin, runzelte die Stirn und rauchte einige Sekunden schweigend. Dann, seine Zigarette aus dem Mund nehmend, sagte er:

»Wenn Sie wissen, was ein Mensch vor hat, sollten Sie vor ihm herlaufen; wenn Sie aber herausfinden wollen, was er vorhat, sollten Sie sich hinter ihm halten. Schlendern Sie, wenn er schlendert, bleiben Sie stehen, wenn er stehenbleibt, bewegen Sie sich so langsam, wie er es tut. Dann können Sie nämlich sehen, was er sah, und können handeln, wie er gehandelt hat. Alles, was wir tun können ist, unsere Augen nach einer verdächtigen Sache offen zu halten.«

»Welche Art verdächtige Sache meinen Sie?« fragte der Inspektor.

»Jede Art verdächtiger Sache«, antwortete Valentin und verfiel in stures Schweigen.

Der gelbe Omnibus kroch scheinbar stundenlang über die nach Norden führenden Straßen hinweg. Der große Detektiv wollte sich nicht weiter erklären und seine Gehilfen empfanden möglicherweise einen stillen und wachsenden Zweifel an seiner Methode. Vielleicht fühlten sie auch ein stilles und wachsendes Verlangen nach einem Mittagessen, denn die Stunden zogen sich schon lange über die übliche Essenszeit hinaus. Die langen Straßen der nördlichen Vorstädte Londons schienen sich ebenfalls wie ein höllisches Teleskop immer weiter in die Länge zu ziehen. Es war eine jener Fahrten, bei denen der Mensch beständig fühlt, daß er jetzt endlich am Ende des Universums angekommen sein müsse, nur um dann zu erkennen, daß er erst am Anfang von Tufnell Park angelangt ist. London erstarb in einer Ansammlung von schmutzigen Kneipen und ödem Gestrüpp und wurde unvermittelt in glänzenden Hauptstraßen und geräuschvollen Hotels wiedergeboren. Es war, wie wenn man durch dreizehn voneinander getrennte, sich gerade so berührende, gewöhnliche Städte fuhr. Doch obwohl sich die Winterdämmerung bereits über die vor ihnen liegende Straße senkte, saß der Pariser Detektiv immer noch schweigsam und wachsam da und musterte die zu beiden Seiten vorübergleitenden Straßenfronten. Als sie Camden Town hinter sich gelassen hatten, waren die Polizisten beinahe eingeschlafen; jedenfalls machten sie einen Satz, als Valentin sich plötzlich aufrichtete, ihnen auf die Schultern schlug und dem Busfahrer zurief, er möge anhalten.

Sie taumelten die Stufen auf die Straße hinunter, ohne zu verstehen, weshalb sie ausquartiert wurden. Als sie sich um Aufklärung heischend umblickten, sahen sie nur wie Valentin triumphierend mit seinem Finger auf ein Fenster auf der linken Seite der Straße zeigte. Es handelte sich um ein großes Fenster, das einen Teil der langen Fassade eines glänzenden und palastartigen Gasthauses bildete. Es war eines jener Häuser, das für gehobenes Dinieren vorgesehen war und über dem das Wort »Restaurant« prangte. Dieses Fenster war, wie alle übrigen längs der Stirnseite des Hotels, aus verziertem Frostglas; in seiner Mitte jedoch befand sich ein großer schwarzer Sprung der aussah wie ein Stern im Eis.

»Endlich unser Anhaltspunkt«, rief Valentin, seinen Stock schwingend, »das zerbrochene Fenster dort.«

»Welches Fenster? Welcher Anhaltspunkt?« fragte der Hauptgehilfe, »Wieso? Wo ist der Beweis, daß dies irgendwas mit den beiden zu tun hat?«

Valentin zerbrach vor Zorn beinahe seinen Bambusstock.

»Beweis!« schrie er. »Um Gottes Willen, der Mann sucht nach Beweisen! Natürlich, die Chancen stehen zwanzig zu eins, daß es nichts mit ihnen zu tun hat. Aber was können wir sonst tun? Sehen Sie nicht, daß wir entweder der abwegigsten Möglichkeit folgen, oder nach Hause gehen und uns ins Bett legen müssen!«

Gefolgt von seinen beiden Gefährten bahnte er sich einen Weg in das Restaurant. Bald saßen sie bei einem verspäteten Mittagessen an einem kleinen Tisch und schauten von innen auf den Stern im zertrümmerten Glas. Nicht etwa, daß er von hier aus aufschlussreicher gewesen wäre!

»Man hat Ihr Fenster zerbrochen, wie ich sehe«, sprach Valentin den Kellner an, als er die Rechnung bezahlte.

»Ja, Sir«, antwortete der Bedienstete, indem er sich geschäftig über das Wechselgeld beugte, zu dem Valentin nun wortlos ein enormes Trinkgeld hinzufügte. Der Kellner richtete sich mit verzagter, aber unverkennbarer Lebhaftigkeit auf.

»Ah, ja, Sir«, sagte er. »Sehr merkwürdige Sache, Sir.«

»Wirklich? Erzählen Sie uns davon« sagte der Detektiv mit gelassener Neugierde.

»Nun, zwei Herren in Schwarz kamen herein«, begann der Kellner, »zwei von diesen ausländischen Pfarrern, wie sie jetzt herumlaufen. Sie haben in aller Ruhe eine günstige Mahlzeit zu sich genommen und einer von ihnen bezahlte dafür und ging hinaus. Der andere war gerade dabei, sich ihm anzuschließen, als ich nochmals auf mein Wechselgeld schaute und sah, daß er mir mehr als dreimal zu viel bezahlt hatte. ›Sehen Sie!‹ sage ich zu dem Kerl, der schon beinahe vor der Tür war, ›Sie haben zu viel bezahlt.‹ ›Oh‹, sagt er sehr gelassen, ›haben wir?‹ ›Ja‹, sage ich und greife nach der Rechnung, um sie ihm zu zeigen. Ich war sprachlos«

»Wie meinen Sie das?« fragte sein Gesprächspartner.

»Nun, ich hätte auf sieben Bibeln schwören können, daß ich vier Schillinge auf die Rechnung gesetzt hatte. Aber jetzt sah ich klar und deutlich, daß ich vierzehn Schillinge geschrieben hatte.«