Titelbild
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ISBN 978-3-492-97032-7

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von dioxin/photocase.de und John Krempl/photocase.de 

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Kapitel 1

München 2014


»Wir werden gar nichts tun.« Lenas Mutter knallte die Espressotassen so energisch auf den Tisch, dass die Kanten des Briefs leicht erzitterten.

»Aber irgendwie müssen wir doch reagieren«, sagte Lena und zeigte auf das Blatt mit dem goldgeprägten Wappen, das vor ihr auf dem Tisch lag.

»Ich habe meinen Brief schon weggeworfen, und du wirst mit deinem dasselbe machen.« Gabriella nahm die fünfeckige Kanne vom Herd und schenkte den zischend heißen Kaffee ein. Zwischen ihren Augen saßen zwei unversöhnliche Falten, die Lena am liebsten mit dem Daumen weggestrichen hätte. So zornig kannte sie ihre Mutter gar nicht.

»Das ist das erste Lebenszeichen von deiner Familie, seit ich denken kann«, entgegnete Lena, »das kannst du doch nicht einfach ignorieren.«

»Ich bin über dreißig Jahre lang hervorragend ohne meine Verwandten zurechtgekommen, und das wird auch in Zukunft so bleiben.« Gabriella nahm am Küchentisch Platz und presste sich die Handballen auf die Augen, dann sah sie Lena an und schüttelte den Kopf. Ihr wildes Haar züngelte wie dunkle Flammen um ihr Gesicht. »Tesoro, du weißt, ich schreibe dir normalerweise nichts vor, aber das ist meine Angelegenheit. Wirf den Brief einfach weg.«

»Ich würde aber gerne verstehen, weshalb.« Lena verschränkte die Arme. »Warum redest du nie über deine Familie?«

»Weil ich mich lieber lebendig rösten lassen würde, als sie wiederzusehen. Und weil ich dich beschützen will. Wer solche Verwandten hat, braucht keine Feinde mehr, glaub mir.«

Lena kannte ihre Mutter gut genug, um nicht zu widersprechen. Gabriella würde sich sonst nur noch mehr in diese Sache hineinsteigern. Für sie war alles entweder schwarz oder weiß. Entweder war man auf ihrer Seite oder nicht, etwas dazwischen gab es nicht.

Doch der Brief schien sie ernsthaft zu beunruhigen. Normalerweise winkte sie einfach ab, wenn Lena sie nach ihren italienischen Verwandten fragte, und wechselte das Thema. So viel wie an diesem Tag hatte sie nie zuvor von ihrer Herkunft preisgegeben. Dass sie aus Italien stammte, war bisher alles, was Lena über Gabriellas Vergangenheit wusste. Bis sie den Brief gelesen hatte, der an diesem Morgen angekommen war. Ein Brief aus Venedig, von einem Notar. Sie hatte ihn zuerst für Werbung gehalten, ihn aber trotzdem geöffnet – und was darin stand, konnte sie nicht einfach wieder vergessen. Sie hatte den Text, der in sehr geschraubtem Italienisch verfasst war, dreimal durchgelesen, bevor sie verstanden hatte, worum es ging. Dann hatte sie sich an ihren Laptop gesetzt und im Internet nach banca privata Orlandi Venezia gesucht. Gleich das erste Suchergebnis hatte sie auf die richtige Website geführt. Da waren plötzlich Namen, sogar Gesichter, eine Geschichte, die mit ihrer eigenen unmittelbar zusammenhing und von der sie nichts gewusst hatte. Mit jedem Klick hatte sich das Kribbeln in ihrer Magengrube verstärkt und ausgebreitet, bis selbst ihre Fingerkuppen sich anfühlten wie unter Strom. Kurzerhand hatte sie den Brief in ihre Tasche geworfen und war in die Wohnung ihrer Eltern gefahren, um Gabriella zur Rede zu stellen.

»Mamma, deine Familie besitzt eine Privatbank in Venedig, aber du hast es nie für nötig gehalten, mir davon zu erzählen, obwohl ich dir immer Löcher in den Bauch gefragt habe«, beschwerte sie sich jetzt.

»Per l’amor di Dio, ich hab dir doch schon gesagt, dass es dafür gute Gründe gibt.« Die Tasse klapperte, als Gabriella sie auf dem Unterteller abstellte. »Diese Familie macht einen kaputt, stellina, sie ist wie ein polpo mit Fangarmen. Ich habe mich da herausgewunden, weil ich ein anderes Leben wollte, als mein Vater für mich vorgesehen hatte. Wenn ich das nicht getan hätte, hätte ich nicht deinen Vater geheiratet, und dich gäbe es nicht.«

Lena wusste, dass es sinnlos war, ihre Mutter weiter zu bedrängen. Dass nicht über ihre italienische Verwandtschaft gesprochen wurde, war, seit Lena denken konnte, ein ungeschriebenes Gesetz, und jedes Mal, wenn sie es gebrochen hatte, hatte Gabriella so heftig reagiert wie jetzt.

Lena nahm den Brief und las ihn noch einmal durch, obwohl sie ihn so gut wie auswendig konnte: Gemäß der testamentarischen Bestimmungen des verstorbenen Ermano Orlandi werden alle seine direkten und geschäftsfähigen Nachkommen gebeten, sich am Freitag, den 28. November 2014 um zehn Uhr morgens in der Kanzlei Notai Lavezzi, 5254 S. MARCO, Venezia, einzufinden, um über den Verkauf des familieneigenen Bankhauses Banca privata Orlandi abzustimmen.

»Und nun genug davon.« Gabriella lehnte sich über den Tisch, zog ihr den Brief weg und warf ihn in den Mülleimer unter der Spüle. »Wir denken nicht mehr daran, in Ordnung? Ich muss jetzt für die Reise nach Burundi packen.« Sie stellte Tasse und Kanne in die Spüle, mit abrupten Bewegungen, die zeigten, wie wütend sie noch immer war. Dann trat sie hinter Lenas Stuhl und strich Lena übers Haar. Die schloss die Augen und lehnte den Kopf an ihre Mutter, wie sie es als Kind getan hatte.

»Stellina, ich will nur das Beste für dich«, sagte diese leise. »Uns geht es doch gut zu dritt, mehr Familie brauchen wir nicht.«

»Wie lange bleibt ihr diesmal weg?«, fragte Lena mit noch immer geschlossenen Lidern. Sie hatte aufgehört, die Abschiede zu zählen.

»Sechs Wochen, vielleicht zwei Monate. Dein Vater schreibt, es gebe Probleme mit den Behörden in Bujumbura. Sie wollen das Waisenhaus nicht weiter unterstützen und haben gestern einfach den Strom abgedreht. Wir werden lange verhandeln müssen, und das, obwohl wir mehr Kinder haben als je zuvor. Wie wir die Kleinen in den nächsten Monaten satt bekommen sollen, ist uns ein Rätsel.«

»Ihr kriegt das hin wie jedes Mal.« Lena öffnete die Augen und stand auf. »Ich muss los, Nesrin wartet in der Agentur auf mich. Wann fliegst du?«

»Wie immer um zwanzig nach zehn über Abu Dhabi und Nairobi. Du musst mich aber nicht zum Flughafen bringen.«

Sie gingen hintereinander auf den Flur, wo die Wände voller Bilder hingen, die Lenas Eltern inmitten lachender Kinder zeigten.

»Ich weiß, du magst keine Abschiede«, sagte Lena, während sie ihre Stiefel und ihren Wintermantel anzog. »Ich auch nicht, aber ich würde dich trotzdem gerne zum Gate bringen.«

»Das ist doch nicht nötig, du hast selbst genug zu tun. Aber du gießt die Pflanzen und schaust ab und zu mal in den Briefkasten, ja? Und falls was mit der Bank ist: Die Vollmacht auf deinen Namen liegt in der untersten Schublade.«

»Keine Sorge, ich kümmere mich um alles. Meldet ihr euch ab und zu mal?«

Ihre Mutter strich ihr über die Wange. »Ich versuche es, aber da unten weiß man nie, wann man Strom hat – vorausgesetzt, wir kriegen überhaupt welchen. Mach dir also bitte keine Sorgen, dein Vater passt schon auf mich auf.«

Sie umarmten sich, und Lena atmete den Duft von Gabriellas Haar ein: grüner Apfel – sie benutzte dieses Shampoo, seit Lena denken konnte.

»Und vergiss bitte diesen Brief, ja?« Gabriella sah Lena eindringlich an. »Das musst du mir versprechen.«

»Keine Sorge, Mamma. Schon vergessen.«

»Bis in zwei Monaten, stellina. Du wirst uns fehlen.«

Doch das hielt Gabriella nicht davon ab, um die halbe Welt zu reisen. Hatte es noch nie. Sie gab ihr einen schnellen Kuss auf die Wange, dann schloss sie die Tür, und Lena war allein im Treppenhaus. Seufzend wickelte sie sich den Schal fester um den Hals, lief polternd die Stufen hinunter und unterdrückte das Gefühl von Traurigkeit, das jeden Abschied begleitete. Sie war gerade an der Bushaltestelle angekommen, als ihr Telefon klingelte. Sie sah, wer es war und zögerte kurz, bevor sie den Anruf schließlich doch entgegennahm.

»Was gibt es denn?« Sie konnte nicht verhindern, dass es harsch klang.

»Lena, wollen wir uns nicht noch mal treffen und über alles reden? Ich möchte wieder nach Hause kommen – zu dir.« Alexanders Stimme klang nicht selbstsicher wie sonst, sondern beinahe unterwürfig.

Lena atmete tief ein und wieder aus, bevor sie antwortete: »Dein Zuhause ist aber nicht mehr bei mir.«

»Du kannst doch nicht vier Jahre einfach so wegwerfen, nur wegen dieser Geschichte auf der Brücke. Ich verstehe ja nicht mal, was ich eigentlich falsch gemacht habe. Warum erklärst du es mir nicht endlich?«

Lena schloss die Augen und sagte leise: »Weil ich’s nicht kann.«

Das entsprach der Wahrheit. Sie wusste ja selbst nicht, warum sie seit dem Vorfall auf der Boschbrücke Alex’ Gegenwart nicht mehr ertrug. Es war vor viereinhalb Monaten gewesen: Sie, Alex, Nesrin, Clemens und dessen Frau Miriam waren zusammen bis spätnachts durch die Bars gezogen. Sie hatten alle zu viel getrunken, als sie sich gegen zwei Uhr morgens auf den Heimweg machten. Clemens und Miriam nahmen sich ein Taxi nach Unterföhring, Lena und Alex wollten nach Untergiesing laufen, und Nesrin, die im selben Stadtteil wohnte, begleitete sie. Lena und Alex stritten eine Weile halbherzig herum, ob der Weg über die Cornelius- oder die Boschbrücke kürzer sei, bis Nesrin sich einmischte und für die Boschbrücke entschied. Lena, die den Streit in ihrem angetrunkenen Zustand ernster nahm, als er eigentlich war, hatte Alex weggeschubst, als er versuchte, ihr den Arm um die Schultern zu legen.

Sie liefen die Kohlstraße hinunter und stießen am Isarufer genau auf die Boschbrücke. Der wolkenverhangene Himmel reflektierte die Lichter der Stadt und warf einen milchig-orangefarbenen Schein über den wuchtigen Klotz des Deutschen Museums am jenseitigen Ufer. Lena, die sich noch immer über Alex’ Besserwisserei ärgerte, lief mit Nesrin voraus. Sie waren ungefähr in der Mitte der Brücke angekommen, als Alex sich von hinten auf Lena stürzte, sie um die Taille packte und zum Brückengeländer zerrte. Er knurrte und schnaubte übertrieben, während er so tat, als wollte er sie ins Wasser werfen. Er hob sie hoch und schob ihren Oberkörper über die Brüstung, sodass sie unter sich das schwarz glänzende Wasser sehen konnte. Sie wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Sie hatte Wasser noch nie gemocht und vermied es, schwimmen zu gehen, aber jetzt erfüllte sie eine namenlose Angst, die ihr die Luft zum Atmen nahm. Sie hörte noch Alex’ Lachen an ihrem Ohr, dann löste sie sich auf. Sie hatte das Gefühl, in Tausende kleiner Kugeln zu zerfallen, die noch einen Herzschlag lang als Ganzes zusammenhielten, ehe sie anfingen auseinanderzustreben. Was von Lena übrig blieb, war reine, körperlose Furcht. Weder hörte noch sah sie, was um sie herum geschah, und sie spürte auch ihren eigenen Körper nicht mehr.

Nesrin hatte wohl als Erste bemerkt, dass etwas mit ihr nicht stimmte, und Alex daran gehindert, den Scherz noch weiterzutreiben. Zumindest kauerte sie neben Lena und streichelte ihre Wange, als diese wieder zu sich kam. Alex stand hinter ihr und machte ein betroffenes Gesicht.

»Hey, du bist umgekippt«, sagte Nesrin sanft und strich ihr das Haar aus der Stirn. »Wie geht’s dir?«

Lena wusste nicht mehr, ob sie geantwortet hatte. Sie erinnerte sich nur noch daran, dass sie so schnell wie möglich von der Brücke und dem bedrohlich schwarzen Wasser weggewollt hatte. Nesrin hatte ihr aufgeholfen. Auch Alex hatte helfen wollen, aber Lena war vor ihm zurückgeschreckt.

»Sorry, Schatz, das sollte echt nur ein Witz sein«, hatte er sich entschuldigt. Doch es war ihm anzusehen, dass er glaubte, sie hätte absichtlich übertrieben. »Komm, war doch halb so wild, jetzt sei nicht sauer wegen so einer Kleinigkeit.« Er hatte die Arme ausgebreitet, doch bevor er Lena umarmen konnte, war sie zwei Schritte zurückgewichen.

»Sie muss sich erst mal beruhigen«, hatte Nesrin gesagt und sie behutsam auf die andere Seite der Brücke geführt. Lena war wieder schwindelig geworden, und ihr Körper hatte erneut zu schwingen begonnen. Als sie endlich auf der anderen Seite angekommen waren, hatte sie angefangen zu weinen.

Seither ertrug sie es nicht mehr, von Alex auch nur berührt zu werden. Sogar mit ihm im selben Zimmer zu sein, war für sie eine Qual. Dabei konnte sie ihm nicht einmal erklären, weshalb. Er reagierte erst mit Ratlosigkeit, dann Unverständnis. Sechs Wochen nach der Nacht auf der Brücke hatte sie ihn gebeten auszuziehen. Lena schämte sich, dass sie erleichtert war, ihn nicht mehr um sich zu haben. Andererseits erinnerte er sie zu sehr an das entsetzliche Gefühl, das sie in jener Nacht empfunden hatte und das sie seitdem jedes Mal überfiel, wenn sie eine Brücke überqueren wollte. Wenn sie nur daran dachte, begann ihr Herz zu rasen, ihre Handflächen wurden feucht, und ihre Kehle schnürte sich zu.

Nesrin war der Ansicht, sie müsse sich dieser Angst stellen, und war noch einmal mit ihr zur Boschbrücke gefahren, aber schon nach wenigen Schritten hatte Lena wieder das Gefühl gehabt, sich aufzulösen. Sie hatte keine Luft mehr bekommen, als schnürte etwas Unsichtbares ihre Lungen ein, und musste sofort umkehren. Seither hielt sie sich nach Möglichkeit von Brücken fern.

»Lena?« Alex’ Stimme drang an ihr Ohr. »Bist du noch dran?«

»Ja, aber mein Bus ist gerade gekommen. Ich muss auflegen.«

»Es war schön, deine Stimme zu hören. Wir könnten doch mal was zusammen…«

»Lieber nicht«, unterbrach sie ihn. »Es tut mir wirklich leid.«

Lena steckte das Telefon in die Manteltasche und stieg ein. Alex war kein schlechter Kerl, auch wenn viele ihn für einen arroganten Angeber hielten. Sie hatten viel miteinander gelacht und besaßen denselben Ehrgeiz, sich etwas aufzubauen, er als Jurist, sie mit der Agentur. Doch so elend Lena sich fühlte, sie hatte keine Wahl: Sie musste Abstand zu Alex wahren, wenn sie nicht mehr ständig an diese Nacht erinnert werden wollte.

Kapitel 2

Venedig 1980


Gabriella kam wieder einmal zu spät zum Abendessen. Sie saßen um den Tisch und warteten, während die Lichtreflexe des Wassers draußen ein zitterndes Netz an die fünf Meter hohe Decke warfen. Die Fenster waren geöffnet und ließen das entfernte Tuten und Dröhnen der Vaporetti sowie die Gesangsfetzen der Gondolieri, die ihre Kunden am Palazzo Orlandi vorbeiruderten, herein. Maria, die neben der Anrichte wartete, scharrte gelegentlich mit den Schuhen über den Terrazzoboden, wenn sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte. Doch ansonsten herrschte im Raum eine ärgerliche Stille, die vor allem von Ermano Orlandi ausging, der mit zusammengezogenen Augenbrauen auf die Tür starrte.

Beatrice senkte den Blick, um ihr Lächeln zu verbergen. Bald würde jemand mächtig Ärger bekommen. Dann lugte sie vorsichtig unter den Lidern hervor: Großmutter Celestina sah gerade auf die Standuhr neben dem Fenster und räusperte sich.

»Wir warten nicht länger. Maria, tragen Sie bitte auf.« Während das neue Dienstmädchen an die wuchtige Anrichte trat und sich von der Köchin die Teller durch die Durchreiche schieben ließ, wandte sich die Großmutter an Beatrices Vater, der am Kopfende des Tisches saß. »Ermano, du lässt dem Mädchen zu viele Freiheiten. Diese Unpünktlichkeit ist schlicht empörend.« Der Hausherr rieb sich den grauen Vollbart und schloss die Augen, als wäre er sehr müde. Dann öffnete er sie wieder und schlug mit der flachen Hand so heftig auf den Tisch, dass das Besteck klirrte.

»Du hast recht, Mutter. Diesmal geht sie zu weit. Das wird Konsequenzen nach sich ziehen.«

Beatrices Herz klopfte schneller, und sie bohrte ihre Fingernägel in die Handflächen, um nicht herauszulachen. Ihr Kopf fuhr hoch, als die Tür aufflog und Gabriella hereinstürmte. Beinahe wäre sie mit Maria zusammengeprallt, die sich, zwei Teller Minestrone in den Händen, zwischen Anrichte und Tisch befand.

»Dio mio!« Gabriella lachte und hielt Maria an den Schultern fest. »Entschuldigung!«

»Entschuldigen solltest du dich wohl eher bei mir, deinem Vater und deiner Schwester«, sagte Großmutter Celestina und gab Maria ein Zeichen, die Teller zurückzustellen.

Gabriella strich sich das Haar aus dem Gesicht, und Beatrice bemerkte, dass es feucht war.

»Ich hab einfach die Zeit vergessen! Es tut mir so furchtbar leid, dass ihr auf mich warten musstet!«, entschuldigte sich Gabriella mit einem Lächeln, das entzückende Grübchen in ihre Wangen zauberte. Schon glättete sich die Stirn des Vaters, und Beatrice spürte einen Stich in der Brust. Wenigstens ihre Großmutter ließ sich nicht mit einem Lächeln besänftigen: »Und wie du aussiehst! Ich weiß nicht, weshalb du ihr erlaubst, in dieser grauenhaften Jeanshose herumzulaufen, Ermano. Sie sollte sich ein Beispiel an ihrer Schwester nehmen: Rock und Bluse sehen immer sauber und ordentlich aus.«

Geschmeichelt richtete sich Beatrice auf und blickte in die Runde, wobei sie bemerkte, wie Gabriella kurz zu ihr herübersah und die Nase rümpfte. Dafür würde sie sich später rächen und das Buch, das Gabriella gerade las, verstecken. Doch jetzt ging das Schauspiel weiter, von dem sie keinen Augenblick versäumen wollte. Dieses Mal würde Gabriella ihr süßes Lächeln nichts nutzen.

»Ermano, du wolltest doch ein Machtwort sprechen, wenn ich dich vorhin richtig verstanden habe«, erinnerte die Großmutter.

Doch Gabriella kam ihm zuvor. »Papà, guck mal, was ich dir mitgebracht habe!«, rief sie und zog etwas aus ihrer Jeanstasche. »Die hab ich im Schilf gefunden.« Sie überreichte ihrem Vater einen kleinen runden Gegenstand, und erst, als er ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hochhielt, erkannte Beatrice, dass es sich um eine alte Münze handelte, stumpf, mit unregelmäßigem Rand. Sie schnaubte leise. Was für ein erbärmliches Geschenk! Doch ihr Vater kniff die Augen zusammen und betrachtete es wohlwollend. Gabriella stellte sich hinter ihn, schlang ihm die Arme um den Hals und legte ihr Kinn auf seine Schulter. »Woher kommt sie? Ist sie kostbar?«

»Das ist ein osmanischer Para«, sagte er. »Eine alte, türkische Silbermünze. Zehntausend Lire wird sie schon wert sein.«

»Nicht mehr?« Gabriella zog einen Schmollmund, und ihr Vater lachte. Beatrice wurde übel. Sollte Gabriella nicht ausgeschimpft werden?

»Ich nehme sie trotzdem gerne an, amore«, sagte ihr Vater. »Und jetzt geh schnell nach oben und zieh dich um, damit wir mit dem Essen anfangen können.«

»Sì, padre.« Gabriella drückte ihm einen Kuss auf den Bart und sauste mit wehenden Haaren hinaus.

»Maria, die Suppe bitte.« Großmutter wedelte mit der Hand.

Das Dienstmädchen nahm die Teller wieder auf und fuhr mit dem Servieren fort. Beatrices Vater und Nonna Celestina bekamen ihre Suppe zuerst, den dritten Teller stellte Maria vor Beatrice auf den Tisch. Die Minestrone sah aus wie Blut, in dem Klumpen von Eingeweiden schwammen und aus dem die Makkaroni wie Knochen herausragten.Wie so oft fehlte Beatrice der Appetit, weshalb sie so tat, als äße sie, während sie in Wirklichkeit bloß mit dem Löffel herumrührte und der sonoren Stimme ihres Vaters lauschte. Der sang wie immer Gabriellas Loblied.

»Dieses Mädchen.« Ermano Orlandi lachte leise. »Schon als sie noch ganz klein war, hat sie immer alle möglichen Schätze herbeigeschleppt.« Es war ihm anzuhören, dass er kein bisschen böse auf Gabriella war. Etwas drückte von innen so fest gegen Beatrices Brustkorb, dass sie glaubte, ihre Rippen würden brechen. Jeder Atemzug tat weh.

»Geht es dir gut?« Ihre Großmutter, die ihr schräg gegenübersaß, blickte sie besorgt an.

»Immer kriegt sie alles, was sie will.« Beatrice sah ihren Vater vorwurfsvoll an.

»Was meinst du damit?« Er war damit beschäftigt, seine Damastserviette auseinanderzufalten, und hörte ihr gar nicht richtig zu.

»Gabriella«, sagte Beatrice eine Spur lauter. »Sie kommt immer mit allem durch. Hast du nicht gesehen? Ihre Haare waren nass, sie war also mal wieder alleine schwimmen. Das hast du uns doch verboten.«

»Sie hat recht«, sagte ihre Großmutter. »Es tut Gabriella nicht gut, dass du ihr immer alles durchgehen lässt.« Beatrice triumphierte innerlich. Zumindest Nonna Celestina war auf ihrer Seite.

»Die feuchten Haare sind mir gar nicht aufgefallen«, sagte ihr Vater. »Ich werde nach dem Essen ein ernstes Wort mit ihr sprechen.« Als wäre in Beatrice eine Feder auseinandergeschnappt, sprang sie auf. Ihr Zorn drückte ihre Kiefer auseinander, und die Worte quollen heraus wie ein Lavastrom. »Immer kriegt sie die ganze Aufmerksamkeit, sogar, wenn sie etwas Verbotenes gemacht hat! Ich strenge mich so sehr an, alles richtig zu machen, aber mich beachtest du nie! Du liebst nur Gabriella, weil sie wie Mamma aussieht! Dabei war sie es, die Mamma umgebracht hat. Wenn es Gabriella nicht gäbe, wäre Mamma nicht bei ihrer Geburt gestorben!«

Ohne es zu merken, hatte sie ihre Finger in das Tischtuch gekrallt und daran gezogen. Sie kreischte auf, als der Suppenteller über die Tischkante rutschte und die heiße Minestrone sich über ihren aprikosenfarbenen Faltenrock ergoss. Sie sah verzweifelt und wütend auf die Schweinerei hinunter, als von der Tür her Gelächter erklang. Gabriella, die sie noch nie so gehasst hatte wie in diesem Augenblick.

Beatrice brach gedemütigt in Tränen aus. »Und daran bist du auch schuld!«, rief sie ihrer Schwester zu, während sie an ihr vorbei zur Tür stürzte, ohne sich um die Spur aus Makkaroni, die sie hinterließ, zu kümmern. Sie stieß Gabriella zur Seite, hastete den Korridor mit seiner langen Fensterreihe entlang, ohne einen Blick auf den Innenhof zu werfen, rannte die Treppe hinauf in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Dort warf sie sich auf das Himmelbett und starrte an den Baldachin mit seinen eingewebten Sternen. Ihre Wut wich einer uferlosen Traurigkeit, die sich wie ein dunkler See in ihrem Inneren ausbreitete. Sie war erst zwei Jahre alt gewesen, als ihre Mutter gestorben war, aber sie erinnerte sich noch genau an ihren süßen Geruch und ihre weiche, liebevolle Stimme. Ihr Gesicht hätte sie wahrscheinlich längst vergessen, wenn es nicht das Foto gegeben hätte, das in einem silbernen Rahmen auf ihrem Nachttisch stand. Beatrice nahm es in die Hand, betrachtete ihre Mutter und murmelte lautlos ihren Namen: Eleonora. Was hätte sie darum gegeben, sie noch einmal sehen zu dürfen. Doch ihre Mutter war seit vierzehn Jahren tot, und statt ihrer war Gabriella gekommen und hatte ihr auch noch den Vater gestohlen. Schon als Kleinkind war sie Eleonoras Abbild gewesen, und Papà hatte sie von Anfang an vergöttert, obwohl sie ständig alles durcheinanderbrachte, nicht gehorchte und immer ihren eigenen Kopf durchsetzen musste. Sie genoss es, im Mittelpunkt zu stehen, sich bewundern zu lassen, und sie wusste genau, wie sie ihren Vater um den Finger wickeln konnte.

Er hat keine Ahnung, wie sie wirklich ist, dachte Beatrice, während sie sich mit einem Zipfel ihrer Bettdecke die Tränen abwischte. Dass sie in Wahrheit nur so freundlich ist, um zu bekommen, was immer sie will. Nur Nonna Celestina durchschaute Gabriella ebenso wie Beatrice und fand, dass Papà ihr zu viel durchgehen ließ. Großmutter bevorzugte Beatrices ordentliche, vernünftige Art und hatte schon immer viel Zeit mit ihr verbracht. Sie hatte ihr von der Herkunft der Orlandis erzählt, die es in Florenz als Seidenhändler zu Reichtum gebracht und ihre Geschäfte im siebzehnten Jahrhundert nach Venedig ausgeweitet hatten. Dort hatten sie die Bank gegründet und den Palazzo erbauen lassen, in dem die Familie bis zu diesem Tag lebte. Ihre Großmutter hatte Beatrice beigebracht, stolz auf die Tradition der Familie zu sein, die zu bewahren die wichtigste Aufgabe aller Familienmitglieder darstellte. »Der Name Orlandi ist immer noch klangvoll in Venedig«, sagte die Großmutter oft, »und wir müssen dafür sorgen, dass es so bleibt. Denn ein Bankier hängt ganz von seinem guten Ruf ab.«

Doch all die Stunden, die ihre Großmutter mit ihr verbrachte, wogen nicht die Tatsache auf, dass ihr Vater sie kaum beachtete. Er schien vorauszusetzen, dass sie keinen Ärger verursachte, und damit hatte er auch noch recht. Anders als Gabriella, die ständig ohne Erlaubnis allein unterwegs war oder Freunde aus der Schule traf, mit denen sie zum Baden an den Lido fuhr oder Partys feierte, blieb Beatrice am liebsten zu Hause. Sie las oder lernte, und Großmutter brachte ihr bei, wie man mit den Hausangestellten umging und das Haushaltsgeld verwaltete. Sie betonte immer wieder, Beatrice werde nach ihrem Tod die Hausherrin sein, weil Gabriella nichts davon verstünde, und das machte Beatrice jedes Mal sehr stolz. Auch in der Schule war sie viel besser als Gabriella, die keine Lust aufs Lernen hatte und häufig ihre Hausaufgaben vergaß. Wenigstens für ihre guten Noten wurde Beatrice von ihrem Vater gelobt, wenn auch eher beiläufig, als seien sie nicht besonders wichtig. Niemand hatte je davon gesprochen, dass sie später einen Beruf ergreifen oder studieren sollte. Die Frauen der Orlandis arbeiteten nicht, auch das war Teil der Familientradition. Beatrice würde einmal, ebenso wie ihre Mutter und Großmutter, ihren Ehemann unterstützen, indem sie sich um die Familie, wohltätige Projekte und das Ausrichten von repräsentativen Festen kümmerte. Bei der Vorstellung, wie sie dabei glänzen würde, vergaß Beatrice beinahe ihren Groll gegen ihre Schwester. Gabriella würde später in der Familie nicht mehr viel zu sagen haben.

Beatrice hob den Kopf, als sich die Zimmertür öffnete. Einen Moment lang hoffte sie, es wäre ihr Vater, aber stattdessen kam Großmutter Celestina herein. Mit ihrem aufrechten, etwas steifen Gang trat sie ans Bett und blieb davor stehen. Ihr Tonfall war sanft. »Was du gesagt hast, hat deinen Vater und deine Schwester sehr verletzt. Du solltest dich bei ihnen entschuldigen.«

»Obwohl es wahr ist?« Beatrice wandte das Gesicht ab.

»Man schadet sich selbst am meisten, wenn man immer alles sagt, was man denkt«, sprach Großmutters kultivierte Stimme weiter, während Beatrice den wurmstichigen Sekretär ansah, an dem sie ihre Hausaufgaben machte.

»Du musst lernen, dich zurückzuhalten, Kind. Du weißt, dass ich auf deiner Seite stehe, aber deine Wutausbrüche sind nicht mehr akzeptabel. Versprich mir, dass du versuchen wirst, dich besser mit deiner Schwester zu verstehen. Ihr seid sehr verschieden, aber das Blut der Orlandis fließt in euch beiden. Sieh mich bitte an.«

Widerwillig wandte Beatrice sich dem hageren Gesicht ihrer Großmutter zu.

»Die Familie geht über alles andere, hörst du? Wenn die Orlandis nicht zusammenhalten, werden sie untergehen und all das hier mit ihnen.« Sie zog mit der Hand einen Halbkreis, der das Zimmer und den gesamten Palazzo umfasste. »Also versprich mir, dass du versuchen wirst, mit deiner Schwester auszukommen. Dein Vater ist bei ihr, um ihr dasselbe zu erklären. Und er wird in Zukunft die Zügel straffer halten, was Gabriella betrifft. Das musste er mir versprechen, denn er lässt ihr zu viel durchgehen – in diesem Punkt gebe ich dir recht.« Eine angenehme Wärme breitete sich in Beatrices Brustkorb aus. Sie setzte sich auf und lächelte ihre Großmutter an. »Ich verspreche es, Nonna.« Und damit befolgte sie den guten Rat ihrer Großmutter, nicht immer alles auszusprechen, was man dachte.

Kapitel 3

München 2014


Nesrin blickte von ihrem Rechner auf, als Lena das etwas heruntergekommene Agenturloft betrat, in dem sie zu dritt arbeiteten. Wie immer sprühte Lenas beste Freundin vor Energie, und ihre Locken standen von ihrem Kopf ab wie Sprungfedern.

»Da bist du ja endlich! Ich knabbere mir schon die Finger ab, weil Clemens sich nicht meldet. Wenn die Leute von der Brauerei nicht anbeißen, können wir nächsten Monat von Katzenfutter leben.«

»Clemens macht das schon«, sagte Lena und bemühte sich, zuversichtlich zu klingen. »Unsere Imagekampagne ist klasse und viel mehr wert, als die Brauerei uns zahlt.« Sie zog den Mantel aus und streichelte dann Molly, Nesrins Mischlingshündin, die wie immer auf dem grünen Flohmarktsofa aus den Sechzigerjahren lag.

»Na ja, Kleinvieh macht auch Mist. Ich versuche gerade, mich mit unserem neuen Webauftritt abzulenken.« Nesrin schob sich die Brille auf die Stirn und rieb sich die Augen. »Da fällt mir ein: Hast du an dein Babyfoto für die neue Website gedacht? Dem von Clemens hab ich schon Piratentuch und Augenklappe verpasst und ihn ins Boot gesetzt.« Sie drehte den Bildschirm so, dass Lena die Grafik auch sehen konnte. »Die Wellen animiere ich noch, das sieht dann aus wie im Marionettentheater.«

»Klasse, das macht ja richtig was her«, sagte Lena. »Aber es gibt wirklich kein Foto von mir als Baby, ich hab meine Mutter extra noch mal gefragt. Die sind alle bei einem Wasserrohrbruch im Keller kaputtgegangen. Ich hab eines aus der vierten Klasse, falls das hilft.« Sie zog das Foto aus ihrer Tasche und gab es Nesrin.

»Das geht auch. Aber ein Babyfoto wäre lustiger. Wer bewahrt denn bitte seine Fotos im Keller auf?«

Lena zuckte die Achseln. »Wir hatten zu der Zeit wohl eine Wanzeninvasion, und meine Mutter hatte alles Wichtige in den Keller geräumt, solange der Kammerjäger in der Wohnung war.«

»So ein Mist. Aber die Erinnerungen bleiben einem ja trotzdem.« Nesrin legte das Bild auf den Scanner und setzte ihn in Gang.

»Wenn man sich erinnern kann, schon«, meinte Lena.

Ihre Freundin runzelte die Stirn. »Was meinst du denn damit?«

»Ich kann mich an absolut nichts erinnern, was vor meinem ersten Schultag passiert ist.«

Nesrin blickte vom Scanner auf. »Das gibt’s doch nicht!«

»Ist aber so. Meine erste Erinnerung sind die Schuhe, die ich zur Einschulung tragen musste. Rote Lederstiefel, die mir ein bisschen zu klein waren. Dabei wollte ich eigentlich lieber meine dunkelblauen Riemchenschuhe anziehen.« Lena grinste. »Die fand meine Mutter aber unpraktisch, weil es regnete. Ich weiß noch, dass ich deshalb einen Tobsuchtsanfall bekommen habe und fast den ersten Schultag verpasst hätte.«

Das Telefon klingelte, und sie zuckten beide zusammen. »Clemens!«, riefen sie gleichzeitig.

Nesrin nahm den Hörer ab und lauschte, während Lena ungeduldig an ihrem Pullover zupfte. »Aha. Ach so. Wieso denn?« Lena zupfte stärker, aber Nesrin winkte ab und presste sich den Hörer ans Ohr. »Das ist ja wohl das Letzte! So ein Mist! Okay, bis später, Clemens.« Sie legte auf, sah Lena an und sagte: »Süße, wir sind am Arsch.«

Lenas Herz jagte ihr in die Kehle, um gleich darauf in ihren Magen zu stürzen wie ein Bleigewicht. »Was ist passiert?«

Nesrin war so wütend, dass ihre Worte abgehackt klangen. »Diese Drecksäcke haben Clemens die ganze Präsentation halten lassen und ihm dann erst gesagt, dass sie sich schon für eine andere Agentur entschieden haben.« Nesrin holte tief Luft. »Die haben außer uns noch jemanden an den Auftrag gesetzt, ohne uns Bescheid zu sagen.«

»Bitter für uns, aber verboten ist das eigentlich nicht.«

»Du findest das auch noch okay?«, fauchte Nesrin. Lena, die ihre Freundin gut kannte, nahm ihr den Ton nicht übel. Nesrin beruhigte sich meistens ebenso schnell, wie sie sich aufregte.

»Wenn wir uns nur von Nudeln mit Ketchup ernähren, können wir gerade noch so die Miete für die nächsten drei Monate bezahlen. Dann ist der Ofen aus.« Nesrin raufte sich dramatisch die Haare.

»Wir finden einen anderen Auftrag. Oder sogar mehrere«, sagte Lena, obwohl sie keine Ahnung hatte, woher diese Aufträge so kurzfristig kommen sollten. Sie schob Mollys Hinterteil zur Seite und setzte sich aufs Sofa. »Aber können wir die Agentur mal kurz vergessen? Ich brauch deinen Rat.«

Nesrin drehte ihre zerwühlten Haare zu einem Knoten und steckte ihn mit einem Bleistift fest. »Bereit. Worum geht’s? Du nimmst doch nicht etwa Alex wieder zurück?«

»Nein, es geht um meine Mutter.« Lena erzählte Nesrin von dem Brief aus Venedig und Gabriellas Weigerung, darauf zu reagieren.

»Die Familie deiner Mutter ist also eine steinreiche Adelsfamilie aus Venedig und hat ihre eigene, verdammte Bank?«

»So ungefähr«, sagte Lena und kraulte Molly hinter den Ohren. »Ob sie steinreich sind, weiß ich allerdings nicht.«

»Dir ist klar, was das bedeutet, oder?« Nesrin sprang auf und begann, hin und her zu laufen. »Wenn diese Bank verkauft wird, kriegt deine Mutter ein Stück vom Kuchen ab und du vielleicht auch.«

»Aber meine Mutter will nach wie vor nichts mit ihrer Familie zu tun haben.«

»Dann hat sie dafür wohl ihre Gründe«, bemerkte Nesrin.

»Ja, aber das betrifft doch auch mich. Weißt du, dass ich dich immer um deine große Familie beneidet habe?«, sagte Lena. »Deine Geschwister, die Tanten und Onkel – ihr unterstützt euch gegenseitig und seid füreinander da, falls irgendwas schiefgeht.«

Nesrin prustete verächtlich. »Und alle mischen sich in deine Angelegenheiten ein. Man kann nicht mal mit dem Zeh wackeln, ohne dass gleich eine Telefonkette in Gang gesetzt wird.«

»Aber ihr wisst alle ganz genau, wohin ihr gehört. Mein Vater hat keine Geschwister, seine Eltern hab ich nie kennengelernt, und Gabriellas Familie war etwas, über das man nicht reden durfte. Es gab immer nur uns drei.«

»Aber du verstehst dich doch ganz gut mit deinen Eltern.«

»Wenn sie da sind«, sagte Lena trocken. »Von meinem Vater hab ich kaum was gesehen, und seit ich achtzehn bin, ist meine Mutter auch mehr in Afrika als hier. Das Schlimme daran ist, dass ich noch nicht mal was dagegen sagen kann, weil es ja für die armen Waisen ist, denen es so viel schlechter geht als uns.« Sie war so laut geworden, dass der Hund den Kopf hob und sie erschrocken anblickte.

»Entschuldige, Molly.« Lena streichelte ihr beruhigend den Hals. »Ich finde ja auch wirklich super, was meine Eltern machen, aber früher hatte ich immer eine unglaubliche Angst, dass ihnen was passiert und ich dann ganz allein bin. Ich hab mir immer gewünscht, da wäre noch jemand, und manchmal hab ich mich gefragt, wie Gabriellas Familie wohl ist und ob sie überhaupt von mir wissen.«

Nesrin pustete sich eine Locke aus dem Gesicht. »So genial ich es für die Agentur fände, wenn du plötzlich einen Haufen Geld hättest – es gibt bestimmt einen Grund, weshalb deine Mutter und ihre Familie seit so langer Zeit keinen Kontakt mehr zueinander haben. Vielleicht sind sie ein Haufen Vollidioten, und du wärst wahnsinnig enttäuscht.«

»Ich weiß.« Lena blickte auf Mollys Ohr, das gelegentlich wohlig zuckte. »Vielleicht hast du recht, und ich lasse das Ganze besser auf sich beruhen.« Sie beugte sich vor und drückte kurz Nesrins Hand. »Danke, Süße, ich glaube, ich sehe jetzt klarer.« Behutsam schob sie Molly von ihren Beinen und stand auf. »Überlegen wir uns lieber, wie wir Neukunden akquirieren. Unseren Laden können wir auch aus eigener Kraft aus dem Dreck ziehen.«

»Genau!« Nesrin strahlte und hieb die Faust in die Handfläche. »An die Arbeit!«

Kapitel 4

München 2014


Am nächsten Tag fuhr Lena in die Wohnung ihrer Eltern zurück, ohne genau zu wissen, was sie dort wollte. Es war, als ließe diese Familie, die so unvermutet in greifbare Nähe gerückt war, sie nicht mehr los. Da gab es eine Vergangenheit, eine Familiengeschichte, Menschen, derer sie sich bislang nicht bewusst gewesen war.

Bei ihren Recherchen im Internet hatte Lena einiges über die Familiengeschichte herausgefunden. Die Bank war nicht groß, hatte aber einen sehr guten Ruf und betreute große Vermögen ebenso wie kleinere Investitionen. Der Oktopus im Familienwappen, das auf der Homepage der Banca Orlandi prangte, wies wohl auf die Ursprünge der Familie als seefahrende Händler hin. Lena fand es seltsam bedrohlich, ohne sagen zu können, weshalb.

Nach alter Tradition wurde das Bankhaus stets vom ältesten Sohn der Familie geleitet. Der derzeitige Direktor hieß allerdings Gualdi mit Nachnamen, und auch wenn die Website der Bank darüber schwieg, nahm Lena an, dass in dieser Generation kein männlicher Nachkomme existierte.

Der Bus hielt an, und Lena stieg aus. Die Novemberkälte schnitt ihr in die Haut, und sie beeilte sich, zum Haus ihrer Eltern zu kommen. Obwohl sie sich auf dem Weg einredete, sie müsse nach der Post sehen, war sie sich bewusst, dass sie eigentlich etwas anderes vorhatte.

Der Weg die Geyerstraße hinunter weckte wie immer Erinnerungen an ihre Kindheit, an Versteckspiele in den Hinterhöfen, an einhändiges Fahrradfahren und aufgeschlagene Knie, an unbeschwerte heiße Sommertage. Doch jetzt wehte ein eisiger Wind, und Lena schlug ihren Mantelkragen hoch. Sie war völlig durchgefroren, als sie den grau verputzten Gründerzeitbau, in dem sie aufgewachsen war, erreichte.

In der Wohnung hing die Stille wie Spinnweben, als wäre Gabriella nicht erst seit gestern fort, sondern schon seit langer Zeit. Deshalb hielt Lena sich hier normalerweise immer nur so kurz wie möglich auf, wenn ihre Eltern in Afrika waren.

Sie zog ihre Stiefel aus und stellte sie unter den zerschrammten Tisch im Flur. Die beiden Masken, die darüber an der Wand hingen, aus dunklem Holz geschnitzte Gesichter mit mandelförmigen Augenlöchern, machten ihr inzwischen keine Angst mehr, aber sie fühlte ihren Blick im Rücken, als sie durch den Flur ins Schlafzimmer ging. Dort stellte sie ihre Tasche neben dem Bett ab und sah sich um, ohne eigentlich zu wissen, wonach sie suchte.

Auch hier gab es überall Bilder vom Waisenhaus, von Kindern und Lehrern vor dem einstöckigen Schulgebäude oder dem knallrot gestrichenen Tor. Auf dem Foto, das bei der Feier zum zehnjährigen Bestehen des Zentrums gemacht worden war, trug ihre Mutter ein buntes, bodenlanges Gewand, die dunklen Haare mit den grauen Strähnen wie immer zu einem nachlässigen Knoten gesteckt. Lenas Vater, verschwitzt, aber breit lächelnd, hatte einen Arm um ihre Taille gelegt. Sie standen so dicht nebeneinander, dass niemand zwischen sie gepasst hätte, und sie sahen aus wie zwei Menschen, die genau dort waren, wo sie sein wollten.

Lena war ein einziges Mal mit nach Burundi gekommen, kurz nach dem Abitur, und sie hatte es schrecklich gefunden. Die Hitze, den Dreck, die Tatsache, dass nichts funktionierte und alles Ewigkeiten dauerte, die Vergeblichkeit, mit der ihre Eltern sich darum bemühten, den Waisen zu helfen. Sie war nie wieder dorthin zurückgekehrt. Frank und Gabriella akzeptierten, dass sie einen anderen Weg ging als sie selbst. Sie hatten nie etwas Bestimmtes von ihr erwartet, außer das, was sie machte, mit Leidenschaft zu tun, und dafür war Lena ihnen aufrichtig dankbar. Dennoch fühlte sie sich manchmal beinahe minderwertig, weil sie niemals so hilfsbereit und aufopferungsvoll sein würde wie ihre Eltern.

Und jetzt war sie auch noch kurz davor, ihr Vertrauen auszunutzen und in ihren Privatsachen zu wühlen. Die Wut darüber, dass Gabriella ihr einen Teil ihrer Geschichte vorenthielt, mischte sich mit dem bitteren Gefühl, ihre Mutter zu hintergehen.

Beschämt wollte Lena nach ihrer Tasche greifen und das Haus wieder verlassen. Doch ihre Neugier war stärker. Zögernd trat sie vor den mehrtürigen Schrank, der die gesamte Längsseite des Zimmers einnahm, atmete einmal tief durch und öffnete ihn. Wonach sollte sie Ausschau halten? Briefe, Fotos, Gegenstände – irgendetwas, das einen Hinweis darauf lieferte, weshalb es zwischen Gabriella und ihrer Familie seit über dreißig Jahren keinen Kontakt mehr gab. Etwas musste es geben, und es musste hier sein.

Der Schrank war fast deckenhoch, und Lena zog sich den Stuhl heran, auf dem ihr Vater immer seine Kleider ablegte. Sie stieg darauf, räumte die oberen Fächer aus, wo sich Kartons, Aktenordner und alte Keksdosen stapelten, und lud alles auf dem Bett ab. Dann setzte sie sich auf den letzten freien Fleck am Kopfende und begann, die Sachen durchzusehen, angetrieben von ihrer Wut, ihrer Enttäuschung und dem Drang, endlich zu erfahren, warum sie nur eine halbe Familie hatte.

Was sie fand, waren ihre Bastelarbeiten aus der Schule, alte Steuerunterlagen, Fahrradflickzeug, Zeitungsberichte über das Waisenhaus und sonstigen Kleinkram. Nachdem sie ungefähr die Hälfte des Berges abgetragen und wieder verstaut hatte, war sie so müde, dass sie sich am liebsten einfach in die Bettdecke gerollt und bis zum nächsten Morgen geschlafen hätte. Ihre Gewissheit, sie würde etwas finden, war verflogen. Kurz dachte sie daran aufzugeben, machte aber dann doch weiter, nur um wirklich alles durchgesehen zu haben.

Sie öffnete eine rechteckige Blechschachtel, die bis zum Rand mit Glückwunschkarten gefüllt war, nahm einen Teil heraus und ging den Stapel oberflächlich durch: Geburtstagswünsche, Weihnachtsgrüße von Kollegen und Freunden ihrer Eltern. Zwischen ihnen lag auch ein Babyfoto, das wohl aus einer der Karten herausgefallen war. Es zeigte ein kleines, von einer rosafarbenen Decke umgebenes Gesicht mit geschlossenen Augen. Der Abzug hatte einen leichten Grünstich, was dem Kind einen kränklichen Ausdruck verlieh. Lena lächelte: Es gab also doch ein Babyfoto von ihr. Aber als sie das Bild umdrehte, stand dort ein fremder Name. In sorgfältiger, fast kindlicher Schreibschrift hatte jemand auf die Rückseite des Fotos Lucia Orlandi – 19051983 geschrieben. Lena zog die Augenbrauen zusammen. Von einer Lucia hatte sie noch nie etwas gehört.

Sie nahm auch die restlichen Karten aus der Schachtel, wobei zwei Gegenstände in ihren Schoß fielen: eine durchsichtige Hülle, die eine dunkle Haarsträhne enthielt, und ein Stück gekrümmtes, längliches Plastik. Als Lena es nahm und genauer betrachtete, wurde ihr klar, dass es eines der winzigen Namensbänder war, die Säuglinge nach der Geburt bekommen, damit sie im Krankenhaus nicht verwechselt werden. Auch darauf hatte jemand in sorgfältiger Schreibschrift Lucia Orlandi – 19051983 geschrieben, und darüber stand in winziger Druckschrift Ospedale SS. Paolo e Giovanni, Venezia.

In Lenas Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus, sie musste schlucken. Ihr eigener Geburtstag war der zwanzigste Mai. Die kleine Lucia war nur einen Tag vor ihr auf die Welt gekommen, und zwar in demselben Krankenhaus, das auch auf Lenas eigener Geburtsurkunde stand. Zu dem Wenigen, was Lenas Mutter ihr über ihre Vergangenheit erzählt hatte, zählte, dass Frank sie beide wenige Tage nach Lenas Geburt abgeholt und nach München gebracht hatte.

Die Haarsträhne, das Armband und das Foto waren Erinnerungsstücke, und dass sie sich in Gabriellas Besitz befanden, ließ nur eine Schlussfolgerung zu.

In Lenas Mund sammelte sich Speichel, als wäre sie kurz davor, sich zu erbrechen. Es kam vor, dass Zwillinge an zwei verschiedenen Tagen geboren wurden, einer vor, einer nach Mitternacht. Doch was war mit Lucia geschehen? Hatte Gabriella sie in Venedig zurückgelassen? Aber weshalb hätte sie das tun sollen?

Sie saß noch lange auf dem Bett, umgeben von all den vergessenen Dingen, die sie aus dem Schrank gezerrt hatte, und versuchte, die über sie hereinbrechenden Fragen zu bändigen. Übrig blieb nur eine einzige Gewissheit: Ihre Mutter hatte sie ihr Leben lang belogen. Niemals hatte sie auch nur den Namen Lucia erwähnt. Hastig sprang Lena auf, lief in die Küche und riss die Tür des Spülschranks auf. Doch der Abfalleimer war leer, anscheinend hatte Gabriella vor ihrer Abreise den Müll weggebracht. Lena wünschte, sie hätte den Brief des Notars kopiert, bevor sie damit zu ihrer Mutter gefahren war, oder sich zumindest die Adresse seiner Kanzlei aufgeschrieben. Sie konnte sich nicht einmal an seinen Namen erinnern. Dann fiel ihr ein, dass sie den Notar gar nicht brauchte. Die Familie ihrer Mutter war schließlich seit über vierhundert Jahren unter derselben Adresse zu finden.