Ebook Edition

Peter Zudeick arbeitet als freier Journalist für fast alle ARD-Rundfunkanstalten. Seine scharfen politischen Analysen, aber auch seine satirischen Rückblicke haben ihn einem größeren Publikum bekannt gemacht. Vom promovierten Philosophen Zudeick erschienen im Westend Verlag »Tschüss, ihr da oben« und »Ich bejahe diese Frage mit Ja«.

Peter Zudeick (Hg.)

Das alles und noch viel mehr

würden wir machen,

wenn wir Kanzler

von Deutschland wär’n

image

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

image

ISBN 978-3-86489-534-0

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2013

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

Inhalt

Peter Zudeick

Ohne Vorbehalt

Bettina Gaus

So nicht! Gegen die weitere Militarisierung der Außenpolitik

Ulrich Schneider

Mindestens das Mindeste

Christoph Butterwegge

Alternativen zur Altersarmut

Wolfgang Nešković

Für eine Änderung des Grundgesetzes: drei Worte und zwei Absätze

Stefan Reinecke

Neue Regeln für Lobbyisten

Hanjo Seißler

Religion ist Privatsache!

Claus-Peter Lieckfeld

Wenn die Krume geht, bleiben Krümel

Klaus Gietinger

Entschleunigung – Der Weg aus der Kfz-Katastrophe

Jürgen Döschner

Für eine radikale Energie-Agenda

Sven Plöger

Klimapolitik: Weniger reden, entschlossener handeln

Rudolf L. Schreiber

Nachhaltiges Deutschland – Visionspolitik für die Welt

Mathias Bröckers

Drogen legalisieren – und zwar subito

Ines Pohl

Unheimliches Selbstbewusstsein

Wolfgang Lieb

Wir leisten uns weniger, als wir leisten könnten

Katrin Rönicke

Starke Kitas – starke Familien

Werner Seidel

Berufsausbildung: Im Prinzip gut, in der Praxis verbesserungswürdig

Claudia Roth

Für eine Politik der Inklusion

Ulrike Winkelmann

Gesundheit für alle von allen bezahlen lassen

Tom Schimmeck

Den freien Fall der Löhne stoppen

Ulrike Herrmann

Europa braucht Eurobonds

Sahra Wagenknecht

Ein erster Schritt – die Finanztransaktionssteuer

Wolfgang Hetzer

Die Deutsche Bank und andere Verdächtige: Plädoyer für ein Unternehmensstrafrecht

Jens Berger

Steuern erhöhen statt Ausgaben kürzen

Brigitte Baetz

Medien: Vielfalt statt Kahlschlag

Peter Zudeick

Unter Vorbehalt

Anmerkungen

Über die Autorinnen und Autoren

Peter Zudeick

Ohne Vorbehalt

Politik steht grundsätzlich unter Vorbehalt. Parteipolitik sowieso, Regierungspolitik geradezu zwangsläufig. Wenn politische Parteien wahlkämpfen, dann versprechen sie, dass alles besser wird. Irgendwie. Was sie selten dazusagen: Ihre Versprechen gelten immer nur »vorbehaltlich«. Zum Beispiel unter dem Vorbehalt, dass in einer künftigen Regierung der Koalitionspartner mitmacht. Franz Müntefering hat dazu den entscheidenden Satz geprägt: »Wir werden als Koalition von manchen gemessen an dem, was in Wahlkämpfen gesagt worden ist. Das ist unfair.« Genauso unfair fand Müntefering das Gelächter der Journalisten über diese bemerkenswerte Einsicht. Das war im Jahr 2006, als in der großen Koalition allerlei Wahlversprechen von SPD und Union den Bach runtergegangen waren. Was einfach daran liegt, dass eben alle Wahlversprechen nur unter Vorbehalt gelten, unter dem Generalvorbehalt: Wenn’s funktioniert. Es funktioniert halt meistens nicht. Weil der Koalitionspartner nicht will, weil kein Geld da ist, weil die Zeit nicht reif ist und überhaupt.

Helmut Schmidt versprach im Bundestagswahlkampf 1976 sichere Renten und wollte nach der Wahl die nächste Rentenanpassung verschieben und absenken. Dazu kam es freilich nicht, weil die SPD-Fraktion den Coup verhinderte. Den Vorwurf »Rentenlüge« hatte Schmidt trotzdem am Hals. Wie viele Jahre später Norbert Blüm, der im Wahljahr 1994 mit dem Slogan »Die Rente ist sicher« durch die Lande zog. Irgendwie kam dann alles ganz anders.

Vier Jahre vorher hatte Helmut Kohl den Wählern »blühende Landschaften« im Osten versprochen. In drei, vier Jahren.

Nicht mal eben so dahergesagt, sondern zig-fach wiederholt. Möglicherweise nicht einmal in böser Absicht. Norbert Blüm hat 1994 an die sichere Rente geglaubt wie Helmut Kohl 1990 an die blühenden Landschaften. Die glauben da heute noch dran. Kohl hat vielleicht sogar daran geglaubt, dass die deutsche Einheit »aus der Portokasse« zu finanzieren sei. Das hat er nämlich den Westdeutschen versprochen. Ebenfalls 1990, im Wahlkampf der »blühenden Landschaften«. Das ging als »Steuerlüge« in die politische Geschichte ein. Und es war die ansonsten höchst kohlfreundliche Bild- Zeitung, die Kohl auf der Titelseite flachlegte. Als Umfaller, weil er 1991 dann doch die Steuern erhöhte. Immerhin holte die Union mit »blühenden Landschaften« und »Steuerlüge« 43,8 Prozent der Stimmen. Das war die Sache wohl wert.

Nur: Irgendwie können sie nie so richtig was dafür, die Damen und Herren Politiker, weil eben alles, was sie sagen und tun, unter Vorbehalt steht. Am allerliebsten unter Finanzierungsvorbehalt. Jedes Gesetz, dessen Durchführung etwas kostet, steht unter Finanzierungsvorbehalt. Wie Politik insgesamt. Die FDP ist in der schwarz-gelben Koalition vor allem deshalb so grandios gescheitert, weil ihr einzig relevantes Wahlversprechen, nämlich eine spürbare Steuersenkung, das Vorbehaltsschicksal erlitt. Die CDU ließ sich zwar breitschlagen, Steuersenkungen in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Aber auf Druck von Wolfgang Schäuble nur unter Finanzierungsvorbehalt. Damit hat er die Blau-Gelben eine Legislaturperiode lang am Nasenring durch die Regierungsmanege gezogen.

Will sagen: Was Politiker im Wahlkampf versprechen, was sie sich vornehmen, ist selbstredend nicht ernst zu nehmen. Das tun die Bundesbürger in ihrer großen Mehrheit übrigens auch nicht. Müntefering hat recht: Man darf Politiker nur an dem messen, was sie tatsächlich können, nicht an dem, was sie sich wünschen oder uns versprechen. So erspart man sich Enttäuschungen und vor allen Dingen die Aufregung über das, was in Wahlkampfzeiten mal wieder so alles versprochen wird.

Wobei ja ohnehin eher das andere vorherrscht: ein allgemeines Larifari statt konkreter Aussagen, an denen man Politik messen könnte, ein weichgespültes Wenn und Aber und Hättekönntedürftemüsste, ein grauschleieriges Nichts, ein Gaukeln im Ungefähren – alles wie in Watte gebissen. Weil die Sprache des Vorbehalts gilt, wird nur noch rumgeeiert. Und das nicht nur sprachlich, sondern auch gedanklich. Der Vorbehalt ist in die Köpfe eingewachsen wie ein Nagel in den Zeh. Ins politische Handeln sowieso.

Wir Bürger haben mit dem Ritual des grundsätzlichen Vorbehalts nichts am Hut. Wir können sagen: So geht’s, und zwar subito, kommt mir nicht mit Vorbehalten und Ausflüchten, macht Politik so, wie ich das will. Mal ganz apodiktisch, mal eher abwägend, mal mehr, mal weniger radikal. Auf die Politikerantwort »Das kann man so nicht machen« antworten wir mit der Frage: »Warum nicht, zum Teufel?« Auf den Einwand »Das kann man nicht finanzieren« antworten wir höchst ungnädig: »Hört auf mit der permanenten Verschwendung öffentlicher Gelder.« Wer ohne Vorbehalt denkt und argumentiert, geht den Dingen auf den Grund, stellt Fragen ohne Vor- und Rücksichten, ohne hundert Fußnoten im Kopf. Das wollten wir mit diesem Buch einmal versuchen: Gleichsam »politisch naiv« den Berufspolitikern sagen, wo’s langgehen soll auf den politischen Feldern, die wir für zentral halten.

Natürlich haben wir nicht alle Politikbereiche abgedeckt. Wie in jedem Buch, so fehlt auch hier mehr, als drinsteht. Aber wir wollten die Beliebigkeit vermeiden, die politische Programme üblicherweise »auszeichnet«, zugunsten von dem, was wir für exemplarisch halten. Deshalb das schöne geklaute, ausgeliehene Motto: »Das alles und noch viel mehr würden wir machen, wenn wir König von Deutschland wär’n«.

Bettina Gaus

So nicht! Gegen die weitere Militarisierung der Außenpolitik

Wenn aus Umfragen verschiedener Institute hervorgeht, dass eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung bei einem bestimmten Thema die »ganze Richtung« konstant für falsch hält, dann steht eine Regierung das selten lange durch – ob es sich nun um die Frage des Mindestlohns, um Familienpolitik oder um die Veröffentlichung von Nebeneinkünften der Abgeordneten handelt. Ausnahme: die Sicherheitspolitik.

Seit Jahren glauben bis zu 75 Prozent der Deutschen nicht mehr an einen Erfolg der ausländischen Militärintervention in Afghanistan, fast ebenso viele lehnen den Export von Rüstungsgütern ab. Aber aus dem Gegensatz zwischen staatlichem Handeln und Mehrheitsmeinung entsteht derzeit keine Dynamik.

Die Friedensbewegung hat jeden Einfluss verloren, es gibt keine Kraft mehr, die stark genug wäre, um in diesem Bereich eine Diskussion über Alternativen zum derzeitigen Kurs zu erzwingen.

Nicht einmal die Linkspartei, die einzige prinzipiell militärkritische Fraktion im Bundestag, schafft das heute noch – möglicherweise deshalb, weil sie seit Jahren auf alle neuen Fragen die stets gleichen Antworten gibt. Dahinter steht die Sorge, ihre Stammwählerschaft könne der Partei andernfalls eine ähnlich opportunistische Haltung unterstellen, wie sie die Grünen 1998 nach der Regierungsbeteiligung im Bund eingenommen haben.

Eine verständliche Furcht, die allerdings zu Erstarrung geführt hat. Vorhersehbare Positionen sind ungeeignet, eine lebendige Diskussion in Gang zu setzen.

Ohne öffentlichen Druck fiele es jedoch jeder neuen Regierung schwer, einen Kurswechsel einzuleiten. Nur das pragmatische Hilfsargument der öffentlichen Meinung ist erfahrungsgemäß ein probates Mittel, um dem erwartbaren Widerstand internationaler Verbündeter oder der Wirtschaft zu begegnen. Die erste Frage im Zusammenhang mit Sicherheitspolitik nach einer gewonnenen Wahl muss deshalb lauten: Warum gibt es keine breite Debatte mehr darüber – und wie lässt sich das ändern?

Auf den ersten Blick wirkt es wie ein seltsamer Widerspruch, dass ausgerechnet die Grundsätze der Militärpolitik nicht mehr Gegenstand öffentlicher Kontroversen sind, hat doch kaum ein anderes Thema seit Gründung der Bundesrepublik die Öffentlichkeit so sehr polarisiert wie dieses. Wiederbewaffnung, NATO-Beitritt, Nachrüstung und die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr: Über alles wurde erbittert gestritten, stets entlang der damals noch klar definierten Linien der politischen Lager. Die Sachkenntnis war hoch, auch in großen Teilen der Bevölkerung, die sich nicht beruflich mit Politik beschäftigten. Heute klingt all das, als läge es nicht nur einige Jahre zurück, sondern stamme aus einer fernen, fast vergessenen Zeit.

Eingesetzt hat der Wandel mit dem Ende der bipolaren Welt. Der gewaltfreie Zerfall der Sowjetunion, den vor 1989 nur wenige Fachleute für möglich gehalten hatten, führte in den NATO-Staaten zunächst zu einer hochmütigen Fehleinschätzung der Möglichkeit, Diplomatie durch militärischen Zwang zu ersetzen.

Das beste Beispiel dafür ist der gescheiterte Einsatz in Somalia zu Beginn der 1990er Jahre. Die naive Überzeugung, eine komplizierte Gemengelage ließe sich durch überlegene Waffengewalt von außen regeln, wurde damals binnen weniger Monate widerlegt. In der Folgezeit wiederholte sich regelmäßig die Erfahrung, dass die schnelle Eroberung einer Hauptstadt nicht gleichbedeutend ist mit der Kontrolle über ein Land: in Afghanistan, im Irak, in jüngerer Zeit in Libyen.

Aus dieser Erfahrung scheint nichts gelernt worden zu sein. Warum nicht? Offenbar wirken verschiedene Faktoren zusammen. Der Einsatz in Somalia hatte ein Mandat der Vereinten Nationen. Versagt hat in dem ostafrikanischen Land nicht nur die führende Militärmacht USA, sondern auch die UNO. Das schwächte die Position derjenigen, die der Ansicht waren, lediglich eine weltweite Legitimierung jeder Intervention könne erfolgreich friedensstiftend wirken.

Der völkerrechtswidrige Kosovo-Krieg, der ohne UN-Mandat geführt wurde, gilt bis heute als geglückte Mission – obwohl es gute Gründe gäbe, dieser Analyse zu widersprechen. Schwer bestreiten lässt sich allerdings, dass der Angriff auf das ehemalige Jugoslawien erfolgreicher war als die Operation in Somalia; zumindest herrscht dort inzwischen kein offener Krieg mehr. Das und die Tatsache, dass ausgerechnet eine rot-grüne Bundesregierung einer Beteiligung an diesem Einsatz zugestimmt hat – also das Lager, das ursprünglich mit dem behaupteten Ziel angetreten war, sich einer Militarisierung der Außenpolitik entgegenstemmen zu wollen – haben zu einer tiefen Verunsicherung der ursprünglich militärkritischen Teile der Bevölkerung geführt.

Hinzu kam schließlich der Schock über die terroristischen Attentate vom 11. September 2001 auf Ziele in den USA. Und die Ratlosigkeit hinsichtlich dessen, wie auf derartige Anschläge reagiert werden kann und soll.

All das führte dazu, dass eine einst zumindest im Hinblick auf Grundsatzfragen einige Bewegung heute zersplittert ist – und sich offenbar mehrheitlich lieber in einen resignierten, verbitterten Privatraum zurückzieht, als für gemeinsame Ziele zu streiten.

Besonders deutlich wird das beim Thema Rüstungsexporte. Theoretisch dürfen nach wie vor keine Waffen in Spannungsgebiete geliefert werden. Und auch nicht an Staaten, in denen Menschenrechte missachtet werden. Deutschland verkauft Waffen an Pakistan, in den Irak, nach Saudi-Arabien. Wenn in diesen Ländern keine Gefahr des Missbrauchs der erworbenen Güter besteht – wo dann?

Nach den USA und Russland ist Deutschland inzwischen der weltweit drittgrößte Waffenexporteur. Das Volumen der Rüstungsexporte hat sich zwischen 2005 und 2009 verdoppelt, allerdings muss gerechtigkeitshalber gesagt werden: Die heute in dieser Hinsicht überaus kritische rot-grüne Opposition hat ebenfalls Waffen in großer Zahl in Krisengebiete geliefert. Auch in Länder, in denen die Gefahr bestand und besteht, dass diese Waffen eingesetzt werden, um demokratische Protestbewegungen zu unterdrücken.

Der Bundestag wird bei derlei Entscheidungen nicht befasst. Der Bundessicherheitsrat – ein in der Verfassung nicht verankerter Kabinettsausschuss – entscheidet. Kein Wunder, dass die Bevölkerung das Gefühl hat, nicht mitreden zu können. Wenn nicht einmal das Parlament ein Mitspracherecht hat, mehr noch: wenn es nicht einmal informiert werden muss – welche Chance auf Gehör haben dann Bürgerinnen und Bürger ohne offizielle Funktion?

Keine. Als Folge dessen nimmt die Öffentlichkeit, die einst besonders sensibel auf Veränderungen militärpolitischer Richtlinien reagierte, inzwischen selbst dramatische Neuerungen achselzuckend hin. Sogar solche, die früher allenfalls als polemische Zuspitzungen einer als radikal geltenden Minderheit betrachtet wurden.

Beispiel: Das Weißbuch der Bundeswehr aus dem Jahr 2006. Darin wurde festgeschrieben, dass die Aufgabe der Streitkräfte auch die Sicherung wirtschaftlicher Interessen umfasst. »Blut für Öl«: Was früher als unsachlicher Angriff bezeichnet werden konnte, ist heute keine Parole mehr. Sondern Bestandteil der offiziellen Politik.

Bloß reden darf man darüber offenbar nicht. Als der damalige Bundespräsident Horst Köhler im Mai 2010 diese Aspekte der deutschen Sicherheitspolitik in einem Hörfunkinterview beleuchtete – und zwar keineswegs kritisch, sondern sachlich referierend –, da stieß er auf wütenden Protest. Seine Äußerungen wurden als »brandgefährlich« und als »extreme Position« bezeichnet, der Berliner Verfassungsrechtler Ulrich Preuß meinte, es handele sich um eine »durch das Grundgesetz schwerlich gedeckte Erweiterung der zulässigen Gründe für einen Bundeswehreinsatz«.

Man versteht, dass der Bundespräsident, der wenige Tage später zurücktrat, angesichts der Kritik nicht wusste, wie ihm geschah. Schließlich hatte er nichts anderes getan, als die offizielle Linie der deutschen Sicherheitspolitik zusammenzufassen – die übrigens mit der NATO-Doktrin übereinstimmt. Der Europäische Rat hatte bereits 2003 in seiner Europäischen Sicherheitsstrategie erklärt, die Energieabhängigkeit Europas gebe in besonderem Maße Anlass zur Besorgnis.

Angesichts der Verflechtungen zwischen Bündnispartnern – die ja durchaus auch in friedenspolitischer Hinsicht erfreuliche Konsequenzen nach sich ziehen – und angesichts der Tatsache, dass Europa im wirtschafts-und gesellschaftspolitischen Bereich mittlerweile eng verzahnt ist, kann es nicht einmal mehr in Fragen der Militärpolitik darum gehen, sich im nationalen Alleingang von all dem zu entfernen, worauf sich die Europäer inzwischen mehrheitlich verständigt haben.

Wenn man sich also von Europa nicht verabschieden möchte, aber dennoch den Weg zur Militarisierung der Außenpolitik nicht weiter beschreiten will, dann muss eine neue Regierung sich darauf beschränken, jene Weichen auf nationaler Ebene zu stellen, die nach wie vor auf dieser Ebene gestellt werden können. Das sind nicht mehr so sehr viele. Aber es gibt sie, immerhin.

Zum Beispiel: Im Hinblick auf Rüstungsexporte muss endlich Transparenz geschaffen werden – das entscheidende Gremium darf künftig nicht mehr der Bundessicherheitsrat, sondern muss das gewählte Parlament sein. Das Weißbuch der Bundeswehr gehört auf den Prüfstand, auch und gerade im Hinblick darauf, dass laut Verfassung der einzige Auftrag der Streitkräfte in der Verteidigung besteht.

Eine Debatte über all das würde nicht alle juristischen und gesellschaftlichen Probleme im Zusammenhang mit Militärpolitik lösen können. Eine solche Diskussion wäre jedoch immerhin ein Anfang auf dem Weg der Abkehr von der Militarisierung der Außenpolitik. Zugegeben: ein bescheidender Anfang. Aber es wäre besser als nichts.

Ulrich Schneider

Mindestens das Mindeste

Die Armut in Deutschland befindet sich auf einem traurigen Rekordhoch. Über 15 Prozent – über zwölf Millionen Menschen – werden nach EU-Definition als arm oder zumindest armutsnah gezählt.1 Über sechs Millionen von ihnen leben von Hartz IV, weitere rund 900 000 von Sozialhilfe und Altersgrundsicherung. Noch nie war die soziale Spaltung in Deutschland so tief wie heute, noch nie ging die Schere zwischen Arm und Reich so weit auf.2 Neu ist dabei nicht nur das Ausmaß der sozialen und regionalen Zerrissenheit. Neu ist vor allem, dass der Trend bundesweit seit langem zum ersten Mal wieder gefährlich nach oben zeigt. Vor allem Regionen wie Berlin oder das Ruhrgebiet bieten Anlass zu allergrößter Sorge. In Berlin ist die Armutsgefährdungsquote seit 2006 kontinuierlich von 17 auf zuletzt 21 Prozent gestiegen, im Ruhrgebiet von 16 auf 19 Prozent.3

Neu ist im Vergleich zu früheren Jahrzehnten auch, dass sich Armut immer mehr zu verfestigen scheint und für immer mehr Menschen mit Perspektivlosigkeit einhergeht. Hartz IV, von Kanzler Gerhard Schröder und seinem Superminister Wolfgang Clement weiland noch als »Sprungbrett« auf den ersten Arbeitsmarkt verkauft, hat sich zwischenzeitlich als Armutsfalle entpuppt, aus der es kaum einen echten Ausweg gibt. Über drei der 4,3 Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Bezieher gelten in der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit als Langzeitbezieher. Und auch bei denen, die neu in den Hartz-IV-Bezug hineingeraten, war jeder Zweite schon vorher einmal auf diese Leistung angewiesen.4

Neu ist schließlich auch, dass sich Armuts- und Arbeitslosenstatistiken mittlerweile deutlich voneinander abgekoppelt haben. Die steigenden Armutsgefährdungsquoten gehen mit sinkenden Arbeitslosenquoten und sogar leicht sinkenden Hartz-IV-Quoten einher,5 ein deutlicher Fingerzeig auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Niedriglöhne. Working Poor, Armut trotz Arbeit, hat auch in Deutschland Einzug gehalten. Arbeitsmarktstatistische Erfolge werden mit einer zunehmenden Amerikanisierung des Arbeitsmarktes erkauft.

Es gibt im politischen Diskurs so gut wie keinen, der die langfristig gesellschaftsbedrohlichen Konsequenzen dieser immer tieferen sozialen Spaltung leugnen würde, begonnen bei der Erosion unserer sozialen Sicherungssysteme über den Verlust gemeinsamer Leitbilder einer Arbeits- und Leistungsgesellschaft bis hin zum Auseinanderdriften dieser Gesellschaft in ausgesprochene Sub- und Nebenkulturen. Um die großen Antworten ist denn auch kaum jemand verlegen. Wir brauchen mehr Bildungsgerechtigkeit und bessere Bildungsmöglichkeiten für alle, wir brauchen Kinderbetreuung und Arbeitsplätze, wir brauchen wirtschaftliche Erfolge, wir brauchen regionale Strukturpolitik und so weiter. Alles richtig, alles gut.

Doch handelt es sich bei solchen an sich ja richtigen Verweisen auf notwendige mittel- und langfristige Maßnahmen leider nur allzu oft lediglich um rhetorische Finesse. Gemäß dem Motto »das Bessere ist der Feind des Guten« dienen sie zu nichts anderem, als berechtigte monetäre Forderungen – von einer Hartz-IV-Regelsatzerhöhung über das Wohngeld bis hin zu einem verbesserten Familienlastenausgleich für einkommensschwache Familien – unverfänglich zurückzuweisen oder einfach ins Leere laufen zu lassen. Es ist, als würde man sich bei einem Wasserrohrbruch unter Verweis auf eine notwendige Sanierung des Rohrsystems weigern, erst einmal das Leck zu stopfen, um dem Wasser Einhalt zu gebieten und den Schaden zu begrenzen.

Die aktuelle Armutsentwicklung kommt einem solchen Rohrbruch gleich. Jeder Tag, der tatenlos verlorengeht, lässt den Schaden größer und zum Teil sogar irreversibel werden, und doch findet sich keiner, der die notwendigen Sofortmaßnahmen ergreift.

Es mag banal klingen: Aber gegen Armut hilft Geld. Völlig unbeschadet der komplexen bildungs-, arbeitsmarkt-, familien-, jugend-, struktur-, wirtschafts-, städtebau- oder sogar gesundheitspolitischen Erfordernisse einer nachhaltigen und ursachenorientierten Armutsbekämpfung muss das Abdriften von immer mehr arbeitslosen und auch erwerbstätigen Menschen in die Einkommensarmut erst einmal gestoppt werden, muss diesem Risiko ein Riegel vorgeschoben werden. Praktisch geht es ganz konkret und jetzt um die Definition des Existenzminimums und um dessen Durchsetzung als Mindestniveau sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch bei den Sozialtransfers.

Es geht um Mindestlöhne, Mindestrenten und sogar ein Mindestarbeitslosengeld als Sofortmaßnahmen im Kampf gegen die wachsende Einkommensarmut, gegen die Spaltung dieser Gesellschaft und gegen den Niedergang unserer sozialen Sicherungssysteme.

Maßnahme 1: Existenzminimum

Die Höhe der Regelsätze in Hartz IV manifestiert derzeit nichts anderes als Einkommensarmut: 382 Euro für einen Single, für Kinder je nach Alter zwischen 224 und 255 Euro und für Jugendliche 289 Euro sind Beträge, mit denen man so gut wie keine Chance hat, über den Monat zu kommen. Gesellschaftliche Teilhabe, deren Ermöglichung das Bundesverfassungsgericht zuletzt mit seinem Regelsatzurteil vom 9. Februar 2010 noch einmal ausdrücklich eingefordert hat, ist mit diesen Beträgen schlechterdings nicht zu gewährleisten. Daran ändert auch das im Frühjahr 2011 für Kinder in Hartz IV beschlossene sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket mit seinen monatlichen Zehn-Euro-Gutscheinen für Klavierunterricht oder den Sportverein und seinem Nachhilfeunterricht, den so gut wie keiner bewilligt bekommt, nichts.

Nach Berechnungen des Paritätischen Gesamtverbands ist der Regelsatz auf mindestens 420 Euro im Monat anzuheben, um wenigstens auf bescheidenstem Niveau Teilhabe zu ermöglichen. Sogenannte einmalige Leistungen – vom gebrauchten Kinderfahrrad bis zum Ersatz für den kaputten Kühlschrank – sind gesondert zu übernehmen. Für Kinder und Jugendliche bedarf es sogar eines völlig neuen Systems der Bedarfsberechnung. Die jetzigen Festlegungen haben weder etwas mit der Lebenswirklichkeit noch mit seriöser Empirie und Statistik zu tun. Knapp sieben Euro für Windeln und andere Säuglingspflegeartikel im Monat sind genauso realitätsfern wie 70 Euro im Jahr für das gesamte Schuhwerk eines Jugendlichen im Wachstumsalter.6 Wir brauchen dringend und schnellstens Regelsatzbemessungen, wie sie auch das Bundesverfassungsgericht einfordert: transparent, sach- und realitätsgerecht sowie nachvollziehbar.7

Maßnahme 2: Mindestlöhne

Nach Studien des Instituts »Arbeit und Qualifikation« der Universität Duisburg/Essen arbeiteten 2010 rund 23 Prozent aller abhängig Beschäftigten im Niedriglohnsektor, sprich für einen Stundenlohn von unter 9,15 Euro.8 Das sind 7,9 Millionen Erwerbstätige – Tendenz steigend. Der tatsächliche durchschnittliche Niedriglohn in diesem Sektor lag bei nur 6,52 Euro im Osten und 6,68 Euro im Westen – Tendenz fallend.9 4,1 Millionen Beschäftigte verdienten sogar nur unter sieben Euro die Stunde und 1,4 Millionen unter fünf Euro.

Mit dem von den Gewerkschaften geforderten Mindestlohn von 8,50 Euro könnte rund 6,8 Millionen Beschäftigten geholfen werden. Es ist ein Mindestlohn, der wenigstens alleinlebende Vollbeschäftigte über die Hartz-IV-Schwelle von derzeit 690 Euro heben könnte. Um der weiteren Amerikanisierung des Arbeitsmarktes Einhalt zu gebieten, hat ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn oberste Priorität.

Maßnahme 3: Mindestarbeitslosengeld

Niedriglöhne halten nicht nur Menschen trotz Arbeit in Einkommensarmut, sie lassen auch unsere sozialen Sicherungssysteme ins Leere laufen. Arbeitslosen- und Rentenversicherung sind, sollen sie vor Armut, vor Hartz IV und Altersgrundsicherung schützen, auf Löhne deutlich außerhalb des Niedriglohnsektors angewiesen. Soll das Arbeitslosengeld I mit seinen 60 Prozent Lohnersatz über der Hartz-IV-Schwelle liegen, braucht es schon bei Alleinlebenden ein monatliches Bruttoerwerbseinkommen von über 1 700 Euro. Auch aus diesem Grunde erreichen über 40 Prozent der Leistungsbezieher nicht einmal ein Arbeitslosengeld I von 700 Euro.10 Fließen keine weiteren Einkommen in den Haushalt ein, bleibt trotz vielleicht langjähriger Beitragsleistungen in die Arbeitslosenversicherung nur Hartz IV.

Hinzu kommt, dass mittlerweile gerade noch 30 Prozent der registrierten Arbeitslosen überhaupt Anspruch auf Arbeitslosengeld I haben. Arbeitslosengeld I bekommt, wer in den letzten zwei Jahren vor der Arbeitslosigkeit mindestens zwölf Monate beschäftigt war und Beiträge eingezahlt hat. Die Bezugsdauer beträgt bis zum 50. Lebensjahr ebenfalls maximal 12 Monate. Beides – Rahmenfrist und Bezugsdauer – wurde im Zuge der Agenda-2010-Gesetzgebung deutlich eingeschränkt. Die große Zahl der Niedrigverdiener fällt damit genauso durch den Rost wie Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiographien, die sich auf einem immer härter werdenden Arbeitsmarkt von Job zu Job hangeln. Soll das Arbeitslosengeld I überhaupt noch für eine nennenswerte Zahl von Arbeitslosen sozialen Schutz vor dem Absturz in die Armut bieten, bedarf es daher vordringlich der Verlängerung der Rahmenfrist auf drei Jahre sowie eines garantierten Mindestarbeitslosengeldes oberhalb des Hartz-IV-Niveaus.

Maßnahme 4: Mindestrente

Wenn auch der Anteil älterer Menschen, die auf das Sozialamt angewiesen sind, mit »nur« 2,6 Prozent aktuell sehr moderat ausschaut, darf man sich davon nicht täuschen lassen. Noch haben wir es mit Rentnern zu tun, die in aller Regel auf ein Berufsleben mit recht gutem Einkommen und ungebrochenem Erwerbsverlauf zurückblicken können. Noch liegt das Rentenniveau bei knapp über 50 Prozent des Nettolohns. Ab Mitte der 2020er Jahre werden jedoch zunehmend auch ehemals Langzeitarbeitslose, Mehrfacharbeitslose und vor allem auch Beschäftigte aus dem Niedriglohnsektor in Rente gehen. Das Rentenniveau wird nach den Rentenbeschlüssen unter Rot-Grün bis 2030 aller Voraussicht nach auf 43 Prozent fallen.

Ein Anstieg der Altersgrundsicherungsquote in den zweistelligen Bereich wird unausweichlich sein, wenn nicht jetzt politisch gegengesteuert wird. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen selbst schlug Anfang September 2012 Alarm: Nur wer konstant über 2 500 Euro im Monat verdient und mindestens 35 Jahre eingezahlt hat, wird im Jahre 2030 überhaupt eine gesetzliche Rente über Grundsicherungsniveau erhalten. 36 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten liegen derzeit unter 2 500 Euro Bruttomonatseinkommen. Der ohnehin untaugliche Versuch, das Alterssicherungsrisiko über die Riester-Rente zu privatisieren, kann und muss angesichts der Tatsache, dass auch zwölf Jahre nach ihrer Einführung nicht einmal jeder dritte Abschlussberechtigte und nur jeder vierte Geringverdiener über einen aktiven Riester-Vertrag verfügen, als Flop betrachtet werden. Soll dieses Rentensystem also auch in Zukunft noch irgendeinen Sinn behalten und soll die auf uns zurollende Lawine der Altersarmut gestoppt werden, bedarf es nicht nur der Festschreibung des Rentenniveaus auf mindestens dem jetzigen Stand, sondern einer durchgreifenden Reform in Richtung Mindestrente: Wer langjährig vollerwerbstätig war und eingezahlt hat oder wegen Kindererziehung oder der Pflege Angehöriger dies nicht konnte, muss am Ende eine Rente erhalten, die ihn vor dem Gang zum Sozialamt schützt – ohne Wenn und Aber. Ohne »geriestert« haben zu müssen, ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne Heranziehung der Einkommen von Ehepartnern.

Mindestens das Mindeste: armutsfeste Renten, ein armutsfestes Arbeitslosengeld, ein würdiger Mindestlohn. Es hört sich fast zu selbstverständlich an angesichts der beängstigend zunehmenden Armut in diesem Lande, angesichts eines sich vehement ausbreitenden Niedriglohnsektors und einer zunehmenden Erosion von Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Und dennoch: Schaffen werden wir es nur, wenn wir den Leistungsgedanken auf dem Arbeitsmarkt wieder ernstnehmen und den Wert von Arbeit wieder würdigen. Und wenn wir umgekehrt das sozial blinde sogenannte Leistungsprinzip, das unsere Arbeitslosen- und Rentenversicherung prägt und wonach der, der mehr eingezahlt hat, auf jeden Fall auch immer mehr herausbekommen muss, wenigstens ansatzweise überwinden. Wenigstens für die Ärmsten, für die, die schon während ihrer Erwerbsphase mit Niedriglöhnen um ihr gerechtes Entgelt geprellt wurden. Wenigstens für diese sollten wir statt Mathematik mal Barmherzigkeit walten lassen.

Christoph Butterwegge

Alternativen zur Altersarmut

Altersarmut droht keineswegs erst im fernen Jahr 2030, wie Ursula von der Leyen mit ihrer »Renten-Schock-Tabelle« suggeriert hat. Sie existiert vielmehr längst und droht, schon bald ein Massenphänomen zu werden. Seit am 1. Januar 2003 die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung eingeführt wurde, hat sich die Zahl der älteren Menschen, die auf sie angewiesen sind, um rund zwei Drittel erhöht. Am 31. Dezember 2011 waren es bereits über 436 000 Ältere, die Leistungen auf dem Hartz-IV-Niveau (durchschnittlich 707 Euro pro Monat) erhielten, ohne dadurch vor Armut geschützt zu sein.