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Sabine Scholl

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Wir sind die

Früchte des Zorns

Sabine Scholl
Roman

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I have been to hell and back. And let me tell you, it was wonderful. (Louise Bourgeois)

ODETTE (SCHWIEGERMUTTER)

1

Odette trippelt vorsichtig, die Sandalen mit stadtglatten Sohlen geben wenig Halt. Sie gerät ab vom morgennassen Pfad, rutscht und fällt. Au secours! Vergebens greift sie nach der Hand der Freundin. Die Alpen entgleiten ihrem Blick, das taufeucht duftende Gras beschleunigt ihren Fall. Odette schlittert den steilen Hang hinab, kreischt. Kurz denkt sie an den hellen Stoff ihrer Bluse und die Gefahr von Flecken, grünen Streifspuren, dann lässt sie sich gehen, schließt fast die Augen, die schrillen Rufe der Freundin schwächer im Hintergrund, klammert sich fest an ihre Handtasche. Hauptsache, die geht nicht verloren. Aber ihr Strumpf ratscht auf, die dichten Maschen laufen, die weit geschnittenen Stoffbahnen ihres Rocks schieben sich hoch, es ist ein Spiel. Und mit einem Ruck kommt ihr Körper zu einem Halt, gepackt von zwei Armen: Good morning! Odette blinzelt, ein unbekannter Mann ganz nah,

I am sorry, nimmt seine ausgestreckte Hand. Er zieht sie an seine Seite, führt sie zurück auf den schmalen Weg.

Die Serpentinen, sagt er, lächelnd, lacht sie nicht aus.

Die Freundin kommt gerannt, Odette streicht den weiten Rock glatt, inspiziert ihre grün gestriemte Bluse, fährt sich verlegen übers kurz geschnittene Haar.

Thonk you very moch.

Welcome. May I introduce myself. Der groß gewachsene blonde Mann mit schwarz gerahmter Brille sagt Chübeer Chrlo, Konsonanten, die Odette nicht nachbilden kann.

Verlegen nennt sie ihren Namen und er betrachtet sie genau, faltenloses Gesicht, dunkle Augen, braunes Haar. Sie ist weit über das Heiratsalter hinaus, im Familienplan bereits für die Rolle der sorgenden Tochter vorgesehen, die bei der Mutter bleibt, um ihr zur Hand zu gehen, das Haus zu halten, Gäste zu empfangen, sich für höhere Zwecke zu verwenden.

Der Unbekannte will wissen, woher sie kommt.

Paris, sagt sie.

Paris, I was there, during the war.

Ein Feind also, damals. Chübeer zieht eine Packung Zigaretten aus seiner Jacke, bietet ihr eine an. Sie lehnt ab, er entzündet seine, bietet ihr den Arm, den sie nimmt. Die Freundin trottet hintennach. Der Weg ist zu schmal für drei, Odette bleibt an Chübeers Seite.

I am chier for de peace, stottert sie.

Er nickt, me too, me too.

2

1927 fliegt Charles Lindbergh von New York aus über den Atlantik nach Paris. Josephine Baker tanzt La Revue Nègre. Hitler darf erneut öffentlich sprechen. Sven Hedin bricht zu einer Expedition nach Mandschurien auf. Am Schwarzen Freitag stürzen die Kurse der Börse in Berlin. Ein schwieriges Jahr, um geboren zu werden. Am 1. September ist es so weit. Odette tritt in die Welt. Mit ihrem Vornamen aus Prousts Erinnerungen wird sie Zeit ihres Lebens nie zufrieden sein. Bereits als Kind liebt sie es, Bücher zu lesen, Briefe zu schreiben, ihren Vater deklamieren zu hören. An Sonntagen lauscht sie mit ihren Geschwistern den Schallplatten, auf denen Papa inmitten von Knarren und Kratzen selbst verfasste Gedichte spricht. Sein dunkler Bass malt mit Vokalen, dirigiert den Rhythmus der abgezählten Silben. Still sitzen sie vor den Tonaufnahmen, während die Eltern unterwegs sind. Als sie älter sind, dürfen die Kinder ihren Vater zum Mittagessen manchmal sehen. Solange sie aber nicht sauber essen, bleiben sie in der Küche. Papas tiefe Stimme und Mamas Zwitschern ertönen von Weitem durch die Räume.

Anfangs lebt die Familie in Paris. Odette ist das älteste Kind, wacht über ihre Geschwister. Die Mutter liebt es auszugehen, auf Gesellschaften zu glänzen. Die schöne Tochter eines erfolgreichen Industriellen, der ihr die Heirat mit einem Künstler erlaubt. Ein Bonvivant, der sich weigert, Kartoffeln zu essen und Wasser zu trinken während des Kriegs. Verlangt nach Fleisch und Wein. Lieber hungert er, als sich gemein zu machen mit den Bauern.

Odette sorgt für die Geschwister, während sich ihre Mutter in Liebesgeschichten verliert. Eines Tages muss die Familie Paris verlassen, sie werden vom Vater in einem Haus in Versailles einquartiert. Die Mutter weigert sich vorerst. Wie soll sie die abendlichen Einladungen in Paris von hier aus wahrnehmen? Der Weg ist weit. Sie stimmt dem Umzug erst zu, als ihr Mann verspricht, eine kleine Wohnung in Paris zu mieten, als Übernachtungsgelegenheit. Doch einmal angekommen in Versailles, ist alles vorbei. Sie wird nicht mehr zurückkehren in die Pariser Salons, für immer abgeschnitten sein. Kurz danach gebiert sie erneut ein Kind. Übergibt das Baby an Odette, die nicht einmal nachts aufhört, die Kinder ihrer Mutter zu erziehen. Odette schlafwandelt, tappt durchs Haus in die Zimmer der Kleinen, teilt dort Ohrfeigen aus, ohne zu wissen, was sie tut, und legt sich wieder hin. Die Geschwister wagen nicht, sich zu wehren, wecken die große Schwester nie. Anerkennen Odettes Strafgericht, weil sie währenddessen schläft.

3

Odette liest. Ihre Favoritin heißt Bécassine, ein mutiges Dienstmädchen aus der Bretagne. Das lange, grüne Kleid mit weißer Schürze, die gestreiften Wollstrümpfe, die Holzschuhe und die weiße Haube trägt Bécassine sogar in der Großstadt Paris. Odette nimmt den großen blauen Band zur Hand, gezeichnete Bilder. Weil die Magd nur die Bräuche des Landlebens kennt, begeht sie in der Stadt viele Fehler. Im Lesen kann Odette darüber lachen.

Während des Kriegs bricht Bécassine nach Paris auf, um einem Professor zu Diensten zu sein. Sie reist mit frischen Vorräten, verpackt in riesigen Körben: Butter, Eier, Kartoffeln, Äpfel, Speck. Transportiert sogar lebende Tiere: ein Huhn, zwei Hasen, von denen sie einen schon in der Eisenbahn verliert. In der Wohnung des Professors ist es eiskalt. Da Heizmaterial fehlt, hat er eine kleine Kabine gebaut, in der er sich tagsüber aufhält, in dicke Pelze gekleidet. Der Professor arbeitet im Widerstand, setzt die unbedarfte Bécassine als Botin ein. Erst als alle Gefahr vorüber ist, wird sie aufgeklärt. Sie hatte mitgeholfen, gegen die deutschen Besatzer zu kämpfen. Eine harmlose Frau, ihr Gesicht ein freundliches Oval, ihre Augen Punkte, die Halbmonde der Brauen hochgezogen, ständig erstaunt, winzige Stupsnase. Sie hat keinen Mund. Hände und Beine sind die wichtigsten Teile ihres Körpers, sie verrichtet Haushaltsarbeiten und läuft. Jeden Morgen schaut Bécassine mich an und schweigt. Ich nehme meine Zahnbürste aus dem Plastikbecher, ein Stück Puppengeschirr, bedruckt mit der bretonischen Figur, Geschenk von Odette an meine Tochter Lila.

4

Odette wird Mittlerin zwischen Frankreich und Österreich. Sogar während sie in Chübeers Heimat lebt, bleibt Frankreich das ›Wir‹, ihr Mittelpunkt, mit dem sie andere Orte vergleicht. Niemals halten Salzburg oder Wien diesem Anspruch stand. Selbst die Müllbeutel sind praktischer in Paris.

Bei uns hängt gleich ein Faden dran, mit dem man den Müll verschließt.

Klärt sie mich auf, abends, auf der Terrasse des Sommerhauses, nach dem Essen, als wir aufräumen.

Mit ungeschickten Fingern versucht sie die Ränder des österreichischen Plastiksacks zu verknüpfen. Ihre goldgeschmückten Finger zittern.

Ich greife nach dem Sack, schüttle ihn, ziehe zwei Enden hoch, die ich zusammenbinde.

Das ist gar nicht praktisch.

Schimpft Odette.

Zu Anfang ihrer Romanze mit Chübeer war sie die Mutige gewesen. Sie war gerutscht, hatte sich fallen lassen und seine Arme fingen sie auf.

Von nun an sprechen sie eine dritte Sprache, um sich zumindest in Bruchstücken zu verstehen. Ihr Schulenglisch vermengt sich mit seinem studierten Englisch. Ihre Spaziergänge setzen sie fort. Nach den Diskussionen in den Festsälen der Gasthäuser, in denen wichtige Männer sprechen und hübsche Frauen zuhören, verabredet Odette sich mit dem blonden Lehrer. Obwohl das Sommerabendlicht lange hält, kommt sie im Dunkeln zurück zur Pension. Aufgeregt. Sie ist seine erste Französin.

Um zu sparen, teilt sie mit der Freundin ein Bett. Die Kirche hat ihre Reise organisiert: Katholikinnen für den Frieden in Europa. Versöhnung nach dem Krieg. Odette isst ihre erste Semmel, ihre erste Frittatensuppe, ihren ersten Knödel und vermisst französisches Brot. Sie küsst ihren ersten Kuss. Chübeers Zunge schmeckt nach Tabak, schmeckt süß. Sie erschrickt über den Speichel, der ihr um die Lippen klebt, langsam trocknet, während sie ihm in die Augen schaut, danach. Außer Atem. Verwischte Spuren von Rouge auf seiner glänzenden rechten Wange. Jeden Tag trägt er denselben Anzug, winziges Karo, schwarz-weiß-grau, Pepita. Wenn er die Hornbrille abnimmt, werden seine kleinen Augen wärmer. Sie ekelt sich ein wenig vor seinen wilden, ungekämmten Brauen, seinem Körperhaar. Und versagt sich diesen Gedanken.

Tagsüber finden Vorträge statt: Die Freiheit des Christen. Die Begründung der Freiheit in der göttlichen Offenbarung. Freiheit als Freiheit vor der Sünde. Odettes Deutsch sprechende Freundin versucht zu übersetzen. Flüsternd sitzen sie in der letzten Reihe auf harten, hölzernen Stühlen, in deren Rückenlehnen Herzen geschnitzt sind. Je heftiger die jungen Männer diskutieren, desto eher ziehen sie ihre Anzugsjacken aus. Blendendes Weiß der von Pensionswirtinnen gebügelten Hemden. Je länger die Gespräche dauern, desto lockerer werden ihre Krawatten. Die Ärmel krempeln sie nur im Freien auf. Obwohl es heiß ist im August.

In der Pause steht Odette am Fenster, fächelt sich Luft zu mit dem Programm. Sie schwitzt, wagt nicht, auf die Toilette zu verschwinden, um erneut Duft aufzusprühen, da sie Chübeer näher kommen sieht. Dunkelblondes, leicht gewelltes Haar klebt an seinen Schläfen, er holt ein kariertes Taschentuch aus der Hose, wischt sich die Stirn. Nun steht er dicht vor ihr. Sie atmet seinen Geruch.

May I?

Odette nickt, bevor sie weiß, was er will. Ihr Herz pumpt beschleunigt Blut in ihren Kopf, sie kann kaum schlucken, keinen Atem holen, sie fächelt stärker, als Chübeers Hand vorwärtsrückt. Das ist unmöglich. Er darf sie nicht vor den anderen, vor versammelter Gesellschaft, vor allen französischen Katholikinnen, mit denen sie hierherkam, berühren. Mit letzter Kraft weicht sie zurück. Er schnappt sich das Programm. Schlägt auf. Liest vor. Seine dunkle, kräftige Stimme. Er singt nicht, sie hat ihn gefragt, aber er spielt Klavier, schreibt Gedichte.

Like my father. Auch das hat sie ihm bereits verraten.

Chübeers Augen, seine Stirn, seine Brauen deuten eine Frage an.

I would be honored if you would come to the concert tonight.

Mozart?

No, Debussy. Stockhausen. Hindemith.

Von Letzteren hat Odette nie gehört.

Debussy. Yes. I would be pleased.

I will come to your hotel and pick you up.

Pension Barbara.

Thank you.

5

Eilig springt Odette auf, läuft ins Freie und setzt sich auf die Holzbank vorm Haus. Sie kann nun nicht mehr zuhören. Die Freiheit des Menschen und die internationalen Aufgaben der Kirche sind ihr plötzlich egal.

Sie will für sich sein, sich vorbereiten, aber worauf? Nie ist sie allein. Sie ist Teil eines Gruppenprogramms. Sie ist Familie. Sie weiß nicht, ob sie sich traut. Die Freundin rät ihr, sich zurückzuhalten, zu warten. Wenn Chübeer es ernst meint, wird er nicht aufgeben. Doch gewartet hat Odette schon so lange. Und was könnte sie gewinnen? Einen Österreicher, ein Boche, wird ihr Vater sagen. Das ist so gut wie ein Deutscher. Soldaten sind alle gleich.

Trotzdem, Chübeer gefällt ihr zu sehr. Und Österreich ist nicht Paris. Und Frieden wichtiger als Papa. Und hier in den Bergen ist Odette Europa, nicht nur Paris. Auch Chübeer ist Europa. Odette beschließt, ein paar Schritte zu gehen, steigt neben der Kirche die Stufen zum Friedhof hoch, um ihre Gedanken zu beruhigen und zu beten. Die Gräber ragen wie Festungen aus gedrehtem, schwarz lackiertem Schmiedeeisen auf. Wie bäuerliche Betten mit einem Haupt aus schwarz poliertem Stein. Alles ist gerahmt. Den Stein umrankt eine Bordüre, die Namensplakette umschließt ein Blätterornament, das braun schimmernde Emailplättchen mit dem Porträt des Toten ist gesäumt. Odette schaudert kurz, Gänsehaut kriecht ihr über den schweißverklebten Rücken, ihre Zehen pochen in den hellbraunen Pumps. Was tut sie hier?

Zurück im Gasthaus sinkt sie matt auf die Holzbank, ein dunkelhäutiger Mann mit weißem Turban und Ledersandalen grüßt, sie wendet die Augen ab von seinen nackten Zehen, die sie neugierig anstarren. Er unterhält sich mit einer jungen Frau, deren kurz geschorenes Haar und aufgekrempelte Männerhosen Odette empfindlich stören, quälende Blitze hinter ihrer Stirn, die Beine der jungen Frau sind nicht rasiert. Odette atmet schwer. Das Gewitter naht.

Abends auf dem Dorfplatz schmerzt ihr Rücken. Die Zuhörer des Konzerts lungern auf Heurigenbänken ohne Lehnen, Odette bemüht, die Musik zu verstehen, Töne, die einander behindern, was sie verwirrt. Chübeers Anzugbein gegen ihren Rockstoff gepresst, sie ist eingezwängt. Odette wünscht sich eine Welt aus Mozart. Konzentriert ihren Blick auf Chübeers rechte Hand, deren Finger er zappelnd auf und ab bewegt, im Takt, während seine linke ruht. Wie versprochen hatte er sie abgeholt von der Pension und sie bietet ihm das erste Mal ihre Wange, faire la bise, eine Sitte, die er nicht kennt und missversteht: das Gesicht nach vorne gereckt, den Hals nach links gebogen, einen Kuss erwartend zur Begrüßung, dann nach rechts, dann erneut nach links, je nachdem. Chübeer jedoch, ihre Wangen meidend, ergreift die Gelegenheit, legt seinen Arm um ihre Schultern und Odette weicht zurück, verrutschte Geste des Willkommens, soll sie ihm den Brauch erklären? Chez nous we kiss for saying hello.

Ihre Stimme bricht.

Yes, the women of Paris. Antwortet er erfreut und hat keine Ahnung, war in ihrer Stadt bloß als Feind, als Jugendlicher, rechtzeitig geflohen, vor der Invasion, wie er sagt.

Vor der Befreiung, wie sie sagt.

Er bietet ihr den Arm, Odette hakt sich ein, mit brennenden Wangen, und nun, neben ihm, dicht an dicht, hofft sie darauf, dass die Finger seiner linken Hand sich rühren und den ihren nähern. Nichts geschieht. Er sitzt, in die Musik gesaugt, und in der Pause, als er aufsteht, eine Zigarette zu rauchen, tritt die junge Frau in Männerhosen an ihn heran, bittet um Feuer. Chübeer stellt sie einander vor, Erta, eine Dichterin, gerade war sie in Paris und schwärmt vom Jazz, schwarzen Musikern, Spaziergängen am frühen Morgen entlang der Seine. Odette kennt die Stadt nicht, von der die Dichterin spricht, das ist nicht ihr Paris. Sie schweigt, rückt dichter an Chübeer, sodass ihr sommerlicher, von einem dünnen Seidenschal bedeckter Oberarm den grau-weiß-schwarz karierten Anzug ihres Verehrers streift. Odette überträgt ihre Elektrizität durch den Stoff auf die Muskeln Chübeers, der reflexhaft seinen Arm um sie legt, und damit hat sie gesiegt. Die Dichterin löst sich in Luft auf. Chübeers Gesicht wendet sich ihr zu. Odette will Hauptperson sein in diesem Spiel. Sie ist selbst Dichterin mit einem Mal, eine Zeile von Verlaine kommt ihr in den Sinn, spricht sie vor ihm aus, bedeutsam, stark betont, wie Papa. Und es wirkt. Der Himmel wölbt sich über der erneut einsetzenden Musik, und gemeinsam heben sie den Kopf, die Milchstraße schwebt, sachte schiebt Chübeer sie aus dem Lichtkreis des Konzerts in die frische Kühle eines Abends in den Bergen im August.

6

Es ist tiefer Winter, als Odette von Neuem erwacht und keucht. Sie trägt schwarze Keilhosen, dicke Wollsocken, einen Pelz aus Bisamfell, ein Umschlagtuch um Kopf und Hals. Sie zieht einen Holzschlitten durch den Schnee, darauf ihr erstes Kind verpackt in karierte Decken. Odettes Magen schmerzt, sie muss sich setzen, ihr ist schwindlig. Tief durchatmen hat sie nie gelernt. Die Luft ist zu kalt, schneidend in den Lungen. Sorgfältig beugt sie sich vornüber und entleert sich in den Schnee. Frühstücksbrocken, Kaffee, Semmeln, Milch, die sofort gefrieren. Sie wischt sich den Mund, vernimmt ein Wimmern, das Baby, das sich rührt und trinken will. Im Dorfladen ist sie längst bekannt. Die erste Ausländerin nach dem Krieg.

Griassgott.

Kriassdi. Odette bemüht sich, die sperrigen Laute weich zu machen in ihrem Mund.

Ein Lita Milli bittäschön.

Bitte danke. Bitte sehr.

Und Kas.

Bitte danke. Bitte schön.

Und Erdöpfell.

Bitte danke. Bitte schön.

Es gibt keine frischen Sachen im Dorf im Winter. Keinen Salat, nur Kraut und Essiggurken. Europa und die Zukunft hatte Odette sich anders, mit mehr Käsesorten, vorgestellt. Im Dorf kann sie nur Graubrot mit glatt glänzend brauner Kruste kaufen. Odette wird schlecht davon.

Das Baby taut auf im Geschäft, wird bestaunt.

Ganz der Papa.

Odette ist stolz, packt das Kind wieder ein, sobald es zu greinen beginnt.

Wiedaschaun.

Dankeschön.

Zu Hause kocht sie Tee, stillt das Baby, ihre Tochter, bereitet Kartoffelgratin und Würste, wartet bis Chübeer nach Hause kommt. Er lobt ihren Auflauf, von dem sie kaum einen Bissen nimmt, kaum geschluckt, rennt sie zur Toilette und übergibt sich. Ein nächstes Kind meldet sich an, die ersten Zeichen ihres Sohnes. Und je größer die Familie wird, desto weniger findet Chübeer zum Dichten Zeit. Und je länger die dunklen Monate dauern, desto mehr träumt Odette von Camembert, Baguette und dem Traiteur in Versailles. Sie hasst den Schnee im Winter, der nach festen Schuhen mit dickem Profil verlangt. Sie hasst den Regen im Sommer, die Gummistiefel und Holzpantoffeln. Aber sie stillt und traumwandelt nachts ins Arbeitszimmer von Chübeer, setzt sich auf seinen Schoß, wartet, bis er ihr das Nachthemd aus Batist hochschiebt, nimmt sich die Freiheit, während sie schläft.

7

Und Odettes Traum geht in Erfüllung. Chübeer spricht bald Französisch, geht in Straßburg ins Büro. Odette lebt neuerlich in Frankreich, ist Mutter und Gattin eines Beamten im Europarat, der endlich genügend verdient. Alles wäre gut. Chübeer jedoch hält nicht still, er reist. Sie blättert in seinem Pass, prüft die Stempel: Barajas: Entrada 21. Oct 1963, Orly: Depart 13. Mai 1964, Zürich: 27. Okt 1963, Orly: 12. Nov 1966, London: 13. May 1964, Athen: 8. Sep 1964, Zürich: 13. Sep 1964, London: 12. Nov 1966, Zürich: 23. Mai 1965, Heathrow: 26. Jul 1973, Arlanda Sverige: 19. Jan 1969, London: 4. Aug 1969, Kastrup Danmark: 2. Okt 1969, Barcelona: Entrada 16. Mayo 1965, London: 1. Oct 1968, Fornebu: 25. Jul 1965, London: 16. Jul 1969, Arlanda Sverige: 19. Okt 1969, Kastrup Danmark: 26. Mai 1971, Malmö Bulltofta: 29. Nov 1972, Arlanda Sverige: 7. Dec 1972, London: 29. Jan 1973.

Odettes Diplomatenpass zeigt im gleichen Zeitraum keinen einzigen Eintrag. Sie bleibt dem Weißbrot treu, verlangt Perlen, Goldketten, Ringe, Pelze als Tribut, lässt ihr dunkelbraunes Haar wachsen, besucht ständig den Friseur, der den Chignon für sie erfindet, ihr Markenzeichen. Das toupierte Haar am Hinterkopf kunstvoll mit zahllosen Haarnadeln hochgesteckt, die sie unablässig verliert. Odette zieht rieselnde Spuren von Nadeln durch die Wohnung. Blickt aus dem Passfoto mit betoniertem Lächeln, den Kopf leicht geneigt, fragenden Augen: Bin ich gut so, ist es das, was Freiheit bedeutet? Mache ich alles richtig?

8

Statt mit dem Flugzeug wird Odette auf dem Beifahrersitz fortbewegt. Chübeers VW Käfer frisst nachts Hunderte von Kilometern. Die Familie rast von Straßburg in Richtung Österreich. Chübeer will nicht nur durch Europa reisen, er will auch ein Sommerhaus, ein Stück Erde seiner Heimat. Die Kinder auf dem Rücksitz sollen stillhalten. Odette ist wegen Chübeers überhöhter Geschwindigkeit besorgt, doch Diplomaten zahlen keine Strafen. Sie schläft ein und erwacht frühmorgens, als er einparkt. Endlich in Salzburg angelangt.

Komm, lass uns den Dom anschauen, chérie.

Das hat er länger nicht gesagt. Sie zögert. Die Kinder, ein Mädchen, ein Junge, liegen tief schlafend übereinander.

Nein, wir wecken sie nicht auf.

Und weil Odette sich sorgt, packt er die zwei in den Kofferraum, damit niemand sie bemerkt und stiehlt.

Chübeer reicht Odette den Arm, auch das ist lange nicht geschehen. Verträumt stolpert sie über die Schwelle in den Dom, schmiegt sich an ihn, taucht ihre Finger in eiskaltes Weihwasser und schickt ein Gebet an Gott, Dankschön für die gute Fahrt.

Kein Geräusch dringt aus dem Kofferraum, als sie zurückkehren zum Auto. Ein Kind nach dem anderen heben sie aus dem Bauch des Wagens heraus und fahren das letzte Stück zu ihrem neuen Haus. Chübeer macht es Spaß zu überholen, scharf zu bremsen vor der Einfahrt ins Dorf. Das Dorf ist keine Heimat, aber den Besuch wert, weil Chübeer eine Bleibe haben will zum Speckessen und Kartoffelkochen und Schifahren und Täglichschwimmen und Gartenarbeiten und um all das zu tun, was er aus seiner Kindheit kennt. Das Sommerhaus ist nicht Odettes Wunsch. Für Odette und die Kinder hat die Mietwohnung in einem Neubauviertel in Straßburg gereicht. Chübeer hingegen besitzt ein ganzes Haus im Dorf bei Salzburg und ist stolz auf seine Konstruktion. Alles selbst erfunden, selbst gezeichnet und selbst gebaut. Anstatt in Straßburg in Saus und Braus zu leben, wird alles Geld gespart, nach Österreich verlagert, werden Tischler beschäftigt und Maurer. Die Steinmetze, die Installateure und die Heiztechniker kriegen das Geld, das Chübeer in Frankreich verdient.

9

Solange gebaut wird, wohnt die Familie in zwei Räumen. Jedes Wochenende fünfhundert Kilometer Fahrt, um dann mit zwei Kleinkindern auf vierzig Quadratmetern zu leben. Eine Herdplatte zum Kochen, eine Spüle, der Garten eine Wüste, die Matratze für die Kinder zu eng. Aber eng ist gemütlich, ist vertraut. Chübeer will die Zimmer klein. Er überträgt die Kammern seines Gehirns auf den Bauplan, sorgfältig voneinander abgegrenzte Bereiche, durch Unmengen von Türen voneinander getrennt. Er stapelt drei Wohnungen mit Küche, Zimmer, Bad übereinander. Das wird ihre Zukunft sein. Eine Wohnung für die Eltern, eine Wohnung pro erwachsenes Kind, um die Ferien in diesem Sommerhaus zu verbringen. Ob Vision oder Irrsinn wird sich erweisen. Die Kinder werden für leichte Arbeiten eingespannt. Sie graben im Garten, pflanzen Büsche, legen Wurstblätter auf Porzellan für die Handwerker, müssen zum Laden, um Getränke, Zigaretten und Bier zu kaufen. Sie kleben das Mosaik im Schwimmbad, polieren die Steine, rühren den Mörtel, heben Fundamente aus für die Terrasse, schieben die Schubkarren, damit das Haus wächst, so wie vom Vater geplant. Eine Basis in der Heimat, ein Traum. Für Spiele ist keine Zeit. Nach den Ferien werden sie auf dem Rücksitz wieder nach Straßburg gebracht, in den Alltag, in die Schule. Jahr für Jahr, bald hassen sie das Sommerhaus.

Erst als der Bau vollendet ist, ist auch Odette zufrieden und verbringt ihre Sommer gerne auf dem Land, trägt Loden. Karierte Blusen. Kauft Trachtenstoffe, lässt sie in Frankreich zu Ensembles nähen nach ihrem Entwurf. In Österreich ist sie umgeben von Frauen in gesunden Schuhen und schlecht gefärbten, künstlich gekrausten Haaren. Ihr wird übel vor solcher Nachlässigkeit. Niemals will sie so hässlich sein. Als Chübeer nach seiner Pensionierung beschließt, zurück nach Österreich zu gehen, gibt sie nach. Erneut. Sie wohnen in Wien. Wegen des Sohnes, der dort lebt. Frühmorgens versperrt Chübeer die Tür zu seinem Zimmer und schreibt erneut Gedichte. Odette lebt sich ein, gewinnt Freundinnen, geht aus, überredet Chübeer, sich anzukleiden, sie zu Konzerten, Theater, Oper zu begleiten, was ihr nur manches Mal gelingt.

10

Odette lässt sich auf Wien ein, sitzt im Obergeschoss eines weiß gestrichenen Lofts. Eine Vernissage der Bilder ihres Sohnes. Er malt hautfarbene Würstchen auf schwarz grundierten Leinwänden in klassisch spanischer Manier. Draußen im Hof erhitzen Flammen den Boden einer Pfanne. Hühnchen und Meeresfrüchte umgeben von Reis. Odette beobachtet ihren Sohn durchs Fenster, folgt seinem Gang zurück in die Räume der Galerie. Seine Haare sind zu lang. Unruhig greift er sich in die Locken. Das Hin und Her seiner an der Kopfhaut kratzenden Fingernägel versprüht Schuppen auf dem eleganten nachtblauen Hemd. Sie hat es aus Paris mitgebracht. Wenn sie seine Hemden aussucht, wählt sie meistens kariert. Ein Sohn, unverheiratet und nicht in einem Büro arbeitend, sollte Karos tragen, in jeder Variation. Künstlerkaros, Freizeitkaros, Lockerheitskaros. Ein karierter Sohn, der Bilder malt im Rechteck und Quadrat. Odette sieht in den Karos sogar Österreich und Frankreich verbunden: Vichy. Mit einem Wort: ihr Hintergrund. Odettes jung aussehende, obwohl entkräftete Beine scheinen durch die Balustrade. Sie kann nicht lange aufrecht stehen, lässt sich Kaffee servieren. Sie wirkt frisch, ist dennoch müde in ihrem Inneren, plaudert französisch mit der Botschaftergattin, auch sie leger in weißem Kostüm und Kaschmirschal. Odette ist froh, denn die Kunst da unten stammt von ihrem Sohn. Also von ihr. Irgendwie.

Odette nippt an ihrer Tasse, wippt mit schlanken, glänzenden Beinen in damenhaften Pumps, wirft einen Blick über das Geländer von Zeit zu Zeit. Wie in einem Cockpit sieht sie alle und kaum einer sieht sie. Erleichtert seufzt sie auf, entdeckt ihren Sohn im Gespräch mit einem Anzugträger, seriös. Der Künstler hat sein vom Vater geborgtes Sakko gleich nach der Begrüßung abgelegt. Der Galerist schleppt Bilder aus dem Lager, Leberkäse, Schinken, auf schwarzem Grund, stellt sie dem Interessenten vor. Er wirbt. Hat gute Manieren. Wer weiß, vielleicht wird bald ein Bild verkauft. Odette wünscht ihm Erfolg, bespricht mit der Freundin das nächste Leseprogramm. Die Damen treffen sich wöchentlich im Club diplomatischer Frauen, um ihre Lektüre zu diskutieren: Musset oder Auster? Musset, der Lieblingsdichter ihrer Mutter, Auster ist vielleicht etwas zu modern. Odette streicht unauffällig über ihre Frisur aus dichten, kastanienbraunen Haaren, nunmehr gefärbt und kunstvoll hochgekämmt zu einem Chignon. Wie immer. Kastanienbraunes Haar in der Farbe ihrer Augen. Schon ihre Mutter war eine Schönheit als Kind. Die ersten Fotografien dienen als Beweis. In Sepia. Jedes ihrer Geschwister hat einen Abzug davon im Salon. Das ist die Tradition.

Erleichtert sieht Odette den Handschlag zwischen Galeristen und Anzugträger. Ein Verkauf?

HANNA (GROSSMUTTER I)

11

Hanna öffnet den Knoten des Leintuchs, in das sie ihre Kleider geschichtet hat. Sonntagsdirndl, Bluse, zwei Arbeitsschürzen aus dunklem Blaudruck mit winzigen Blüten in Weiß, zwei Paar Wollstrümpfe, die alte marineblaue Winterjacke ihres Vaters, die ihr viel zu groß ist, aber wärmt. Im Winter kann sie die dicke Weste drunter tragen, selbst gestrickt, bevor sie fortging, aus grauer Wolle. Sie streicht mit der Hand über das Relief des komplizierten Zopfmusters, hält inne, als sie Rufe von unten hört. Packt die Habe rasch in die Kleidertruhe, steckt ihr Haar fest, wirft einen letzten Blick auf die Bettstatt. Eine Matratze nur für sie allein im Raum unterm Heuboden. Doch nur so lange, bis die zweite Magd eintrifft, hatte die Bäuerin bei der Ankunft gesagt und Hannas Oberarme geprüft, den Rocksaum gehoben, kräftige Schenkel.

Sehr gut. Die brauchst du für die viele Arbeit hier.

Hannas Magen knurrt, Essen gibt es erst am Abend. Das Vieh kommt immer zuerst.

Sie ist fünf Stunden mit bloßen Füßen über die Hügel marschiert. Die Mutter schickte Hanna fort. An ihrem 13. Geburtstag. Es ist das Jahr 1922.

Jetzt bist du groß genug. Wenn du essen willst, musst du auch arbeiten dafür.

1922, auf dem Höhepunkt der Inflation, kosten zwei Kilo Butter so viel wie zehn Jahre zuvor ein ansehnlicher Bauernhof.

Ein Kalb kostet zwei Millionen, fünf Kilo Korn eineinhalb Millionen, zwei Klafter Holz eine Million, eine Kuh sechs Millionen, sechs Meter Stoff 680 000 Kronen. Schließlich die Reform: 10 000 Kronen wurden für einen Schilling eingewechselt.

Seit sie denken kann, kennt Hanna die Regeln:

Früh auf und spät nieder, iss schnell und geh wieder. Kochen, Küche aufräumen, Boden kehren, die jüngeren Geschwister versorgen, Eier abnehmen, Heu vom Heuboden hinunter in den Stall schütteln, mit der Heugabel verteilen. Vorher den Kuhmist auf den Haufen schaufeln. Danach darf Hanna morgens ein wenig Milch trinken, mit ein paar Brocken trockenen Brots darin. Am Vormittag Wasser, Most und Jause zu den Arbeitern auf dem Feld bringen. Die Bäuerin sagt:

Hast Glück, dass du im Herbst kommst. Das Heu ist unterm Dach, das Korn gedroschen. Im Winter ist weniger zu tun, du musst dir dein Brot trotzdem verdienen. Kannst du gut stricken? Nähen?

Flicken?

Hanna nickt.

Wo ist dein Kopftuch?

Hanna zieht das frisch gewaschene, karierte Stück Stoff aus ihrer Schürzentasche, bindet es sich übers Haar.

Ab in den Hofgarten. Kartoffeln graben.

Hanna trottet hinaus, wo die anderen Mägde sie erwarten.

Na, wo kommst denn du her?

Sie geben ihr die schmutzigste Arbeit. Fragen sie aus.

Hast Heimweh?

Hanna schüttelt den Kopf, lockert die Erde mit einer Kralle, fährt mit den Fingern hinein, zieht die Knollen heraus.

Montag Knödeltag

Dienstag Strudeltag

Mittwoch Sterz

Donnerstag Schöberl

Freitag Fasten

Samstag Schmalz

Sonntag Fleisch.

Das ist das Einzige, worauf sich Hanna freut. Nachdem sie genug Kartoffeln gezogen hat, sammelt sie Unkraut: junge Brennnessel, jungen Giersch, etwas Löwenzahn, nicht zu viel, die Pflanze ist bitter, Sauerampfer, Bärlauch, Vogelmiere, Wegerich. In der Küche schneidet sie die Pflanzen klein, brät Zwiebeln und Knoblauch an, Kartoffelwürfel dazu, kocht sie weich, versenkt den Stampfer in den Topf, zerkleinert die Kartoffeln zu Brei, mischt das Unkraut dazu. Suppe fertig.

Zum Abendessen muss das genügen. Kein Rahm, kein Brot.

12

Hanna, meine Großmutter, Mutter meines Vaters, kennt den Hunger, seit sie lebt. Erst nachdem das Vieh, die schwarzen Käfer, die weißen Würmer, die Kinder, die Männer gegessen haben, kommt sie dran.

Sie ist 1909, fünf Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs, geboren. Im selben Jahr fordert Emmeline Pankhurst in London das Stimmrecht für Frauen. Marinetti ruft das Manifest des Futurismus aus. Gertrude Stein veröffentlicht Drei Leben. Selma Lagerlöf erhält als erste Frau den Nobelpreis für Literatur. Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wird Hanna von ihrem Wanderdasein erlöst. Gemeinsam mit ihrem Mann erwirbt sie einen Bauernhof.

Auch die Mutter meiner Mutter wurde früh von ihrer Familie getrennt. Früher als Hanna, weil es zu Hause noch weniger zu essen gab. Martha wurde als Mädchen von einer kinderlosen Frau adoptiert und geriet in ein besseres Leben danach. In ihrer neuen Familie war sie die Einzige.

Weder Hanna noch Martha haben je von ihrer Zeit bevor sie Großmütter wurden, erzählt. Sie trugen keine anderen Namen als die Bezeichnung ihrer Funktion im Gefüge der Familie. Vornamen stehen ihnen nicht zu, nur Kinder haben Vornamen. Erwachsene heißen Onkel, Tante, Papa, Mama, Oma, Opa.

Nenne niemals einen Erwachsenen bei seinem Vornamen! Das zeugt von wenig Respekt.

Hanna schimpft, verteilt Ohrfeigen, zieht an den Haaren, kommt mit dem Pracker, so nennt sie den aus Weiden gebogenen Teppichklopfer, mit dem sie ungezogenen Enkeln auf den Hintern schlägt. Sie hat immer recht, Haare wachsen an ihrem spitzen Kinn, die wackeln, wenn sie spricht. Ihre Frisur eine graue Dauerwelle. Als Kind schwöre ich mir, dass ich nie so aussehen will wie sie, obwohl wegen des Kinns Gefahr besteht.

Sonntagvormittags versammeln sich Hannas erwachsene Söhne in der heißen Küche um den Sparherd. Mit seiner Hilfe hat sie Tiere und Kinder ernährt. Morgens, nachdem sie aufgestanden ist, wird mit ausgelesenen Zeitungen, trockenen Zweigen, kleinen Holzsprießeln Feuer gemacht. Ein Emailkübel voller Brennholz steht vorm Feuerloch, das meist noch Glut vom Vortag enthält. Die riesige eiserne Herdplatte bildet eine einzige Kochfläche. Mit einem Haken lassen sich runde, glühende Scheiben herausheben, darunter lodern Flammen. Von oben legt Hanna Scheite nach bei Bedarf. Warmwasser wird im Wasserschiff bereitet, ein tiefes, rechteckiges Becken, das immer gefüllt bleibt. Die Temperatur beim Kochen lässt sich nur übers Verschieben von Töpfen regulieren. Höchste Stufe direkt über dem Feuer, niedrigste Stufe am Rand. Hanna hat ein sauberes Tuch über den Esstisch gebreitet, Mehl darüber-gestreut. Sie hebt die ölige Kugel Teig aus der Schüssel, beginnt mit beiden Händen daran zu ziehen. Von der Mitte ausgehend zupft sie an den dickeren Rändern, nützt die Schwerkraft, lässt das Teigrund bis hinunter über ihre Ellbogen gleiten, zieht und dreht den Kreis, bis sie ihn nicht mehr halten kann und auf den Tisch breitet. Nun kreist sie um die Platte, zupft vorsichtig; je dünner der Teig wird, desto größer die Gefahr, dass er reißt. Sie zieht und zieht, so lange, bis die Enden des Teigs über den Rand der Tischplatte reichen und die gewebte Struktur des darunterliegenden Tuchs durchscheint. Sie greift nach der weißen Porzellanschüssel und streut mit kräftigen Bewegungen die in Spalten geschnittenen Äpfel drauf, verteilt sie behutsam, muss schnell arbeiten, denn verbindet sich die Feuchtigkeit der Obststücke mit dem Klebrigen des Teigs, wird er reißen. Rasch Zucker, rasch ein paar Rosinen, und dann rollt sie, indem sie das Tuch hochhebt, die Teigfläche von den Tischseiten her auf, hebt den schweren Strudel in die gefettete Backform, bildet ein U, schiebt sie in die Röhre.

Die Söhne applaudieren. Niemand kocht so gut wie Hanna. Sie packt den gigantischen Kübel voller Speisereste, mischt ihn mit dem stinkenden Trank, der seit dem Morgen auf der Platte köchelt für die Schweine, schleppt ihn nach hinten in den Stall. Danach stellt sie die schwere, eiserne Pfanne auf den Herd, erhitzt Schweineschmalz. Die geklopften, gemehlten, geeierten und bebröselten Fleischstücke gleiten hinein, beginnen zu brutzeln, verbreiten den Geruch von Sonntag.

Gierig schnuppern die Söhne, während ihre Frauen zu Hause mit Schnitzeln warten, die ihnen kalt und hart werden, weil ihre Männer bei der Mutter sind. Die Kinder dürfen keinen Bissen verspeisen, bevor ihre Väter nicht zurückgefunden haben in die Küchen, die sie zusammenbauten für ihre Frauen. Nach einiger Zeit vergeblichen Wartens verlassen die Gattinnen die mühevoll gekochten Sonntagsgerichte, gießen sich Schnaps ein, während ihre Männer die Zeit vergessen und damit ihre Familien, sonntags, in Gegenwart der Mutter. Lassen ihre Frauen im Stich dafür.

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Hanna hat ihre Söhne fest an sich gebunden. Während ihr Mann als vermisst gemeldet war, musste sie allein zurechtkommen. Ihre sechs Kinder wachsen ohne Vater auf, helfen mit, den Bauernhof zu erhalten. Und weil Hanna so früh schon hart wurde, blieb nie ein gutes Wort für uns.

Na warte, ich komm gleich, ich werd’s dir zeigen.

Nur Drohungen teilt sie aus. Ich bin zu groß, zu vorlaut, habe Flausen im Kopf, ich kann nicht stricken, bin nicht bescheiden, will mit vierzehn weiter zur Schule gehen, als sei das nicht genug gewesen, was sie, Hanna, für ihre Kinder geleistet habe. Verdächtig außerdem, dass meine Mutter Bücher liest, Bikini tragend die Gemüsebeete harkt und ihre Kinder zu Nichtsnutzen erzieht.

Ich meide Hanna, gehe ihr aus dem Weg, vertiefe mich in den verbotenen Roman über Schuld und Sühne, den ich hinter einem Holzstoß in der Hütte verstecke. Und täglich frage ich meine Mutter um Erlaubnis, ob ich in einem in Leinen gebundenen, großformatigen Buch blättern darf. Der Bildband erklärt mir die Welt: Höhlenzeichnungen, Alltag der Römer, chinesisches Glas, mittelalterliche Schwerter, indische Slums, schwimmende Restaurants in Thailand. Das Buch gibt mir eine Idee, was ich machen werde in der Zukunft. Dass es von Hanna stammt, habe ich erst viel später erfahren.

Es war ein Versehen. Eine Unaufmerksamkeit, die Hanna eines Tages einem Fremden die Tür öffnen, ihm Saft anbieten lässt. Weil er einen Anzug trägt, muss er wichtig sein. Der Mann beschwatzt die Großmutter, die sich anfangs wehrt.

Aber ich habe zum Lesen gar keine Zeit. Ich brauche das nicht.

Sie haben sicher Kinder. Denken Sie daran, das Buch wäre ein wunderbares Geschenk.

Sie schüttelt den Kopf, murmelt.

Der Bertl, der liest gern.

Und unterschreibt den Vertrag, schenkt dem Bertl, meinem Vater, das Buch, obwohl das Geld dafür fehlt.

Erst als die Mahnung für die erste Rate kommt, begreift sie. Wo sie doch immer aufpasst sonst.

Sie versucht, den Vertrag zu stornieren, sich zu wehren, vergebens. Erträgt das Geschimpfe des Großvaters über ihre Dummheit. Stottert den Betrag ab über zwei Jahre.

Hanna hatte einen Blick in die Welt gekauft, der mir als Kind bewies, dass das Leben weiter reichte, als die Erwachsenen um mich herum zugaben. Die Fotos und Geschichten dieses teuren Buches verschaffen mir einen Raum, in dem ich mich lieber aufhalte als in Hannas Nähe. Die gedruckten Wunder trösten darüber hinweg, dass Hanna die anderen Enkel mir vorzieht, weil ich mich vor Ziegen fürchte, im Kuhstall die Nase rümpfe, ihre Hühner nicht liebe und heimlich Zwetschken vom Baum stehle. Ich mag nicht frisiert werden von ihr, denn sie flicht die Zöpfe straff, sodass die Haut um Stirn und Ohren schmerzend spannt. Wann ich nur kann, laufe ich davon.

Manchmal befiehlt Hanna mir, die Ziegen auf der Weide neben der Eisenbahn umzustielen und abends zurück in den Stall zu holen. Die Tiere gehorchen nicht, springen davon, bringen mich zum Heulen. Sture, längliche Pupillen in den starren, schwarz-weißbraun gestreiften Gesichtern machen sich lustig über mich. Ihre sehnigen Körper tun, was sie wollen, ziehen mich an der Kette mit sich fort. Ich bin Hanna keine Hilfe. Und wozu dient ein Kind, wenn nicht zur Mitarbeit auf dem Hof?

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Später, als Hannas Kinder Häuser rund um den Bauernhof gebaut haben, als sie verheiratet sind, als Hanna auch tagsüber auf der Bank vorm Haus sitzen darf, geht es allen gut. Die Frauen, Mütter, Tanten, sogar Hanna, dürfen Hosen tragen mit einem Mal. Und müssen nicht mehr zum Friseur. Alle Frauen bestellen nun Kunsthaarperücken aus dem Katalog. Und sonntags trägt Hanna Hut über künstlichen Haaren, sonntags geht sie sorgfältig gekleidet vorbei an unserem Fenster, führt ihre besten Sachen aus, stellt sich an den Straßenrand, wartet auf den Bus und fährt zur Kirche. Nicht nur um zu beten, sondern um zu tratschen, Bekannte zu treffen. Denn Besuche sind ohne nützliche Anliegen nicht möglich. Vor der Kirche aber, bevor die Glocken läuten, bleibt Zeit, um sich zu unterhalten. In der Kirche bleibt Raum, um sich gegenseitig zu beobachten, sich sehen zu lassen, und nach der Kirche gehen die Frauen auf einen Sprung in die Konditorei. Doch nur die Schlampen bleiben dort sitzen auf gepolsterten Bänken, die Respektablen kaufen bloß ein, Schaumrollen, Cremeschnitten, nehmen schnell den Bus nach Hause, um Mittagessen zu kochen, die Söhne zu empfangen in der heißen Küche.

Erst als Hanna älter ist und die Kinder längst erwachsen, betritt sie nach der Heiligen Messe die Gaststube voller Bier trinkender Männer. Sie wird eingeladen zum Schnaps, der sie kichern, rot anlaufen lässt und rascher schnaufen. Ihr Mann kommt sonntags kaum mehr heim: Feuerwehr, Kameradschaftsbund, geselliges Beisammensein. Nie nennt Hanna den Großvater beim Vornamen, wenn sie von ihm spricht. Sie sagt ›Vater‹ und meint damit nicht ihren eigenen, sondern den ihrer Kinder, spricht das Wort als ›Fatta‹ aus. Vor Bekannten ist Großvater ›mein Mann‹ oder öfter ›der Mann‹, wie ein Gegenstand, der zur Einrichtung eines Frauenlebens gehört. Einen Vornamen hat mein Großvater nur für seine Kameraden.

Der Fatta ist ständig unterwegs, wie Hanna bereitwillig erzählt: Er ist leischen, er treibt sich herum, er ist unzuverlässig, ein Kindskopf, ein Kasperl, lässt seine Frau, seine Familie allein. Sie hatte zu lange warten müssen auf ihn, nach dem Krieg. Konnte nicht verzeihen. Hatte zu lange hoffen müssen, dass er noch lebte. Der Einsatz war hoch. Sechs Kinder zu ernähren, während der Mann in einem Lager saß, Pläne zeichnete, fliehen wollte. Das reichte nicht, das machte Hanna hart.

Männer sind überflüssig, sind Ornamente in den Häusern ihrer Frauen, habe ich von meinen Großmüttern gelernt, und wenn man sie braucht, sind sie verschwunden.

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Mutter zu werden, erscheint mir deshalb riskant. Als Mädchen kommen mir Väter wie unnütze Beigaben vor. Der Schwester meiner Mutter fühle ich mich näher. Ich zähle auf: Am nächsten verwandt bin ich zur Mama, dann zum Bruder, dann zur Tante und danach erst Papa. Eigentlich bin ich mit ihm überhaupt nicht verwandt. Mutter lächelt und schweigt. Ich ordne meine Umgebung, die Gegenstände nach Geschlechtern. Dunkle Buntstifte sind männlich, die frischen Farben weiblich. Gabel und Löffel weiblich, die Messer männlich. Die Töpfe und Pfannen weiblich, die Bohrer und Schraubenzieher männlich. Keiner widerspricht.

Jeden Sommer, sobald es warm wird, sitzen die Frauen der Familie auf der Bank unter dem Kirschenbaum, die an die schlechte Seite des Hauses grenzt, vergleichen Stärke, Schnelligkeit, Rutschfestigkeit ihrer Stricknadeln. Sie übertrumpfen sich mit immer mehr gestrickten Reihen.

Manchmal lädt Hanna mich in ihr Zimmer ein, ich soll die krausen Fäden eines aufgetrennten Pullovers für sie zu einem Knäuel wickeln, während ihre Stricknadeln klappern in dem stillen Raum. Wollgespräche führe ich mit ihr, bin die Strickliesel, spanne Fäden straff über Plastikstifte, produziere Rosetten, die sie auf bestickte Kissen näht. Nachdem sie die Tiere nicht mehr füttern muss, schlingt sie Fäden um ihre Finger und Nadeln, knäuelt die gewonnene freie Zeit, zeigt mir das Anschlagen, so wird der Beginn einer Strickarbeit genannt. Sie zählt mit lautloser Stimme, nur ihr seufzendes Atemholen zwischen den einzelnen Zahlen ist zu hören. Ich soll ihre Bewegungen nachmachen, sie zeigt mir Doppelstäbchen, feste Maschen, gekreuzte Zöpfe, Sockenfersen. Sie sieht mich an, nicht die Strickarbeit. Ihre Hände wissen von allein. Die Wollkataloge, die jeden Herbst mit der Post eintreffen, betrachte ich mit Fingerspitzen, erfasse jede einzelne Strähne, bewundere die Auswahl an Farben, lamentiere mit Hanna über den viel zu hohen Preis. Zwischen den haarigen Knäueln in ihrem Schrank versteckt Hanna Geldscheine, die sie nur hervorholt, wenn ich gegangen bin. Immer werden die anderen Enkel von ihr beschenkt.

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Während Hannas Socken wachsen, verliere ich Maschen und trenne das über Stunden mühsam Erreichte Zentimeter für Zentimeter wieder auf, Neuanfang.

Du wirst es schon lernen.