Copyright: © der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 2013

Copyright: © der Originalausgabe: Robert A. Neimeyer, 2009

Originalausgabe Constructivist Psychotherapy. Distinctive Features, Routledge 2009. All rights reserved.
Authorised translation from the English language edition published by Routledge, a member of the Taylor & Francis Group.

Übersetzung: Guido Plata, Bremen

Coverfoto: © Laurin Rinder – Fotolia.com

Coverentwurf / Reihengestaltung: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2013

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe 978-3-87387-837-2
ISBN dieses eBooks: 978-3-87387-908-9

Einleitung

Wenn man darum gebeten wird, ein Buch über die distinktiven Merkmale der konstruktivistischen Psychotherapie (KPT) zu schreiben, so ist dies gleichzeitig Fluch und Segen. Einerseits ist es ein Segen, denn selten genug kann die Praxis dieser interessanten postmodernen Perspektive ausführlich dargestellt werden: Anstatt mich auf eine Zusammenfassung im Umfang von maximal einem Kapitel mit oftmals vorgegebener Struktur beschränken zu müssen, wurde mir hier Gelegenheit gegeben, eingehend darzulegen, was mir am Konstruktivismus wichtig ist und weshalb er mir in den vergangenen 30 Jahren meiner Arbeit als Psychotherapeut ein wertvoller Begleiter war. Andererseits drängen sich aber auch zahlreiche Fragen auf. Wie kann ich in angemessene Worte fassen, auf welch zutiefst persönliche Art diese philosophische Position meine praktische Tätigkeit mit so vielen Patienten beeinflusst oder mein Denken inspiriert hat, ganz zu schweigen von den zahllosen Menschen, die sich als geneigte oder auch leidenschaftliche Anhänger dieser klinischen Tradition bezeichnen würden?

Mein Versuch, dieser Herausforderung zu begegnen, folgt vier Prinzipien. Erstens habe ich versucht, allgemeinverständlich zu schreiben. Mein Anliegen war die Entmystifizierung einer Perspektive, die gelegentlich als philosophisch schwer verständlich und im Hinblick auf die praktische Vorgehensweise als obskur bezeichnet wird, da meiner tiefsten Überzeugung nach keines dieser Urteile zutrifft. Hierbei sei der Leser gewarnt, dass der vorliegende Band nicht für „Insider“ gedacht ist; wer nach (zugegebenermaßen faszinierenden) tiefen epistemologischen Abhandlungen über konstruktivistische Philosophie sucht, wird schlicht und ergreifend an anderer Stelle danach suchen müssen. Vielmehr habe ich dieses Buch für diejenigen Interessierten geschrieben, die ich jedes Jahr in Dutzenden von Workshops, Konferenzen und Vorlesungsreihen trainiere und die größtenteils Neulinge in Bezug auf diesen Ansatz sind. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, den Inhalt für diese Gruppe verständlich darzulegen!

Zweitens habe ich den Schwerpunkt auf die distinktiven Merkmale des Konstruktivismus gelegt. Dies war selbstredend das Hauptanliegen der Herausgeberin dieser Reihe, Windy Dryden, die mich bat, mich auf 30 Schlüsselaspekte des Konstruktivismus zu konzentrieren, die ihn vom ganzen Spektrum der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Perspektiven abgrenzen, auch wenn er ihnen gelegentlich zugeordnet wird. Glücklicherweise ist dies eine leichte Aufgabe gewesen, da das postmoderne Potpourri, an dem auch der Konstruktivismus teilhat, in hohem Maße diversifiziert ist und Bereiche von zutiefst persönlichen bis zu übergeordneten sozialen Zusammenhängen überspannt, was sich fundamental von den zentralen Tendenzen der kognitiv orientierten Kollegen aus anderen Traditionen unterscheidet.

Drittens habe ich dieses Buch sowohl mit Herz als auch mit Verstand geschrieben. Die ganzheitliche Eigenschaft der konstruktivistischen Therapie mit ihrer starken Betonung von Emotion wie auch von Bedeutung und Handlung unterstützte die Entscheidung, in diesem Band gleichermaßen meine persönlichen Vorlieben kundzutun wie auch vom Standpunkt eines konstruktivistischen Gelehrten aus zu sprechen. Dies impliziert weiterhin, dass die hier von mir dargelegten und veranschaulichten Prinzipien und Prozeduren solche sind, die für mich große Bedeutung haben; und ich möchte gleich zu Anfang klarstellen, dass ein anderer Konstruktivist möglicherweise eine völlig andere Einführung in sein Fachgebiet geschrieben hätte. Trotz meiner sehr persönlichen Perspektive auf den Konstruktivismus hoffe ich, dass das vorliegende Buch dem interessierten Leser auch einen Weg zu den Arbeiten anderer Wissenschaftler ebnet.

Viertens habe ich versucht, abstrakte Prinzipien auf der konkreten Praxis zu begründen. Buchstäblich von der ersten bis zur letzten Seite wird der Leser vielen Personen begegnen, die ihre Probleme und Erfolge im Rahmen jener intimen Partnerschaft, die man Psychotherapie nennt, mit mir geteilt haben. Ich hoffe, dass diese zur angemessenen Wahrung der Vertraulichkeit abgewandelten Geschichten dem interessierten Praktiker oder Studenten vor Augen führen, wie die konstruktivistischen Prinzipien aussehen, wenn es in der klinischen Praxis „zur Sache geht“.

Auch wenn ich mich als allein verantwortlich für die nun folgende Darstellung des Konstruktivismus bezeichnen würde, ist das vorliegende Buch unter Mitwirkung zahlreicher anderer Personen entstanden. Ebenso wie im Konstruktivismus die „Konstruktion der Realität“ im Sinne der Zuweisung von Bedeutungen nicht als Projekt einer isolierten Subjektivität betrachtet wird, sondern vielmehr ein zutiefst relationales, soziales und kulturelles Unterfangen ist, wurde auch der Konstruktivismus selbst von den Diskursen einer vielfältigen globalen Gemeinschaft von Gelehrten, Wissenschaftlern und Praktikern geformt, die Freunde zu nennen ich in vielen Fällen das Privileg habe. Unter den vielen anderen, deren Stimmen durch mich in diesem Band zu sprechen beginnen, sind meine Kollegen Bruce Ecker, Ken Gergen, David Epston, Hubert Hermans, David Winter, Heidi Levitt, Ze’ev Frankel, Les Greenberg, Art Bohart, Larry Leitner, Jon Raskin, Sara Bridges, Guillem Feixas, Harry Procter, Laura Brown, mein Bruder Greg Neimeyer und vielleicht sogar der Geist von George Kelly persönlich! Auch schulde ich nicht nur Freunden und Vorgängern Dank, da auch die Arbeit meiner Protegés in diesem Buch Ausdruck findet, und zwar insbesondere die meiner jungen Kollegen Joe Currier, Jason Holland, James Gillies und Jessica van Dyke, von denen die Letztgenannte das Manuskript in unermüdlicher Weise auf Fehler durchgesehen hat, die so subtil waren, dass sie sogar die Rechtschreib- und Grammatikprüfungen von Microsoft® Word verwirren konnten.

Und schließlich fühle ich mich besonders verpflichtet, die impliziten Beiträge nicht nur zu diesem Buch, sondern auch zu dem übergeordneten Narrativ meines Lebens herauszustellen, die von meinen Kollegen Vittorio Guidano, Michael Mahoney und Michael White geleistet wurden. Ihr verfrühtes Ableben in den Jahren 1999, 2006 und 2008 hat nicht allein den Konstruktivismus dreier seiner herausragendsten und einflussreichsten Persönlichkeiten beraubt. Es scheint mir daher angemessen, diese Einleitung mit einem Gedicht zu beenden, das ich im Gedenken an diese Kollegen verfasste, deren Wirken in jenem von ihnen in weiten Teilen errichteten Denkgebäude nach wie vor spürbar ist. Der Konstruktivismus wurde durch sie in außergewöhnlicher Weise bereichert.

Robert A. Neimeyer
Memphis, TN, USA, Juni 2008

Raum

Der Sessel beschreibt dich

durch deine Abwesenheit.

Er hebt seine Arme,

um deine zu empfangen, öffnet seinen Schoß,

um dich in seiner weichen Form zu umschließen.

Ohne dich

ist er eine leere Hand.

Auf dem Schemel streifen die Bücher

ohne Ziel umher, vergessen ihr Sinn,

vergessen ihr Zweck.

Die Feder auf deinem Pult

hat alle Worte vergossen.

Das Papier ein Grabstein

ohne Inschrift.

So stehen wir da

im uralten Lichte deines Schattens,

erstarrt in kalter Bedeutungslosigkeit.

Die Perlen auf dem zerbrechlichen Strang der Zeit,

einst aufgereiht, nun verloren

wie die Fäden der Erinnerung, der Absicht,

die unser Streben leiteten.

Der Pulsschlag der Uhr

eine Vermessung der Stille

ein zinnenes Herz, zählend

die Stunden seit, doch niemals bis.

Langsam höhlen wir uns aus

im Rückblick unserer Gram,

Felsen gleich, vom Sand geschliffen

im rauhen Wind.

Wenn genug von dem, was wir einst waren,

verloren ist,

und wir im Nichts vollendet sind,

wird unsere Sehnsucht enden,

und endlich öffnen wir

den Raum für dich.

Eine illustrative Therapie

Joanne W.’s Entscheidung zu einer Therapie war eine Reihe von zwar erst kurze Zeit währenden, aber besorgniserregenden Symptomen vorausgegangen, darunter Schwindelgefühle und Herzrasen, begleitet von scheinbar unerklärlichen Phasen sich aufschaukelnder „Nervosität“. Nachdem gründliche medizinische Untersuchungen keine organische Ursache dieser Reaktionen aufdecken konnten, wurde sie mit der Diagnose von „Panikattacken psychogenen Ursprungs“ zur Psychotherapie überwiesen, obwohl Joanne große Schwierigkeiten damit hatte, die Gründe für ihre lähmende Angst in einer für sie selbst oder andere überzeugenden Weise darzulegen. Bei ihrer ersten Sitzung, zu der sie gut gekleidet in einem konservativen, aber gut geschnittenen Anzug erschien, erklärte Joanne, dass ihre Symptome erstmals aufgetreten waren, als sie sich fünf Monate zuvor auf den Wegzug aus der Stadt an der US-Ostküste vorbereitet hatte (ihr „einziges Zuhause“), um dem „Ruf“ ihres Mannes auf eine Position als Pastor einer mehr als 1000 Meilen entfernten afroamerikanischen Baptistengemeinde in den Südstaaten zu folgen. Nun, da sie von ihrer Mutter, ihren Schwestern und ihren Freunden in der Gemeinde getrennt war, die ihr Leben geformt und sie unterstützt hatten, zog sie sich immer mehr zurück, damit die Mitglieder der neuen Kirchengemeinde ihre „emotionalen Probleme“ nicht bemerkten und sie letztlich als „verrückt“ abstempelten. Joanne räumte weiterhin ein, im Verlauf der letzten Wochen zu ihrem Ehemann George und ihrer zwölfjährigen Tochter Leitha „auf Distanz gegangen“ zu sein, was ihre Sorgen vergrößerte, nicht nur als „First Lady“ ihrer Kirche zu versagen, sondern neben ihrer geliebten Familie auch „sich selbst zu verlieren“.

Nachdem ich Joannes eigenes Verständnis ihres Problems einige Minuten lang genauer erkundet hatte, fragte ich sie, ob sie bereits Therapieerfahrungen gesammelt hatte, um gegebenenfalls mit ihrer Unterstützung herauszufinden, welche therapeutischen Stile oder Methoden für sie besonders gut – oder schlecht – funktionierten. Joanne gab an, dass sie im Rahmen ihrer „spirituellen Ausbildung“ vor einigen Jahren zum ersten Mal mit Therapie überhaupt in Berührung gekommen sei und sich dabei mit ihren psychologischen Problemen und Bedürfnissen befasst habe. Weiterhin berichtete sie in einer kontrollierten Art und Weise, dass seinerzeit ihr größtes Problem der Tod ihres Vaters sechs Jahre zuvor gewesen sei. Die Belastung war für sie umso größer gewesen, da ihr Vater nach einer langen Krankheitsphase verstorben war, in der sich hauptsächlich Joanne und ihre Mutter um die Pflege gekümmert hatten. Nachdem ich Joanne empathisch auf das Beben ihrer Lippen angesprochen hatte, rollten Tränen ihre Wangen hinab, während sie sich an den Tod ihres Vaters erinnerte. Die „Gemeinheit“ des Vaters, die eigentlich untypisch für ihn war, aber während seiner langen Krankheit dominierte, hatte dazu geführt, dass sie direkt nach dem Ableben eher benommen und erleichtert reagierte und erst im letzten Jahr zu trauern begann. Nun erkannte sie, dass sie ihn wirklich vermisste, und fügte mit leiser, aber zitternder Stimme hinzu: „Er hätte mir einen Rat wegen des Umzugs geben können, wenn er doch nur hier wäre.“

Ich war von der emotionalen Lebhaftigkeit, die diese Erinnerungen bei Joanne auch sechs Jahre nach dem Tod ihres Vaters noch hervorriefen, beeindruckt und verblüfft von ihrer spontanen Verknüpfung der Abwesenheit ihres Vaters und ihren – den Angstattacken vorausgegangenen – Problemen im Kontext des Umzugs. So fragte ich Joanne vorsichtig, ob sie ihren Vater vielleicht dazu einladen wolle, uns im Therapiezimmer Gesellschaft zu leisten, um ihre Beziehung zu ihm, die durch Krankheit und Tod unterbrochen wurde, wieder aufleben zu lassen. Fasziniert von dieser Idee akzeptierte sie meinen Vorschlag und begann unter meiner Anleitung ein Gespräch mit ihrem Vater, dem wir symbolisch einen leeren Stuhl gegenüber seiner Tochter anboten. Schluchzend beschrieb sie ihrem Vater zunächst die Grundzüge der aktuellen Probleme, bis sie nach einigen Sekunden des Schweigens ihre Selbstenthüllung vertiefte. Nun erwähnte sie auch die Schuldgefühle, die sie plagten, weil sie ihren Vater in der Stadt, die sein gesamtes Erwachsenenleben geprägt habe, „zurückgelassen“ hatte und in die Südstaaten zurückgekehrt war, die er nur aus seiner Kindheit kannte.

Ich schlug vor, dass Joanne den Platz ihres Vaters einnehmen und auf ihre Äußerungen antworten sollte. Joanne akzeptierte, setzte sich auf den anderen Stuhl, trocknete ihre Tränen und antwortete beschwichtigend: „Keine Angst, Schatz. Ich komme dich besuchen“ (was angesichts des Gefühls von schmerzlichem Verlust, das Joanne nur wenige Momente zuvor äußerte, seltsam hohl klang). Auf meinen Wink hin setzte Joanne sich wieder auf ihren eigenen Platz und wiederholte die Worte, die ich ihr probeweise vorgab: „Du kannst mich nicht besuchen kommen, Dad. Du bist tot.“ Daraufhin versank sie wieder in Trauer und Selbstzweifeln, unterbrochen von wildem Schluchzen. Als sie still wurde, wies ich sie erneut auf den Platz ihres Vaters, woraufhin sie ohne entsprechende Aufforderung liebevolle und aufrichtige Rückversicherung bot, indem sie betonte, dass er trotz seines Todes immer bei ihr sein und stets an sie glauben würde. Diese Interaktion führte Joanne zu einer aufrüttelnden Erkenntnis, die sie in ihren eigenen Worten folgendermaßen ausdrückte: „Ich erkenne jetzt, dass ich ihn behalten kann, dass er bei mir bleiben kann und dass ich ihn sogar über die Südstaaten, die er geliebt hat, besser kennenlernen kann.“ Getragen von dieser wiederentdeckten Verbindung zu ihrem Vater begann Joanne, ihre Gefühle von Entwurzelung und Illoyalität in den Kontext ihrer Beziehung zu den noch lebenden Mitgliedern ihrer Herkunftsfamilie zu setzen, die ebenso wie sie selbst „alle darum kämpften, sich über den Sinn dieser Übergangsphase klar zu werden“. Als die erste Sitzung zu Ende ging, äußerte Joanne leicht verlegen den Wunsch, trotz ihres Status als „First Lady“ einen weiterführenden Universitätsabschluss zu erlangen. Dabei beschrieb sie in der Rolle einer Art „Kulturdolmetscherin“ für ihren kaukasischen Therapeuten die ihm unbekannten impliziten sozialen Erwartungen, die in ihrer afroamerikanischen Glaubensgemeinschaft an sie gerichtet wurden und ihrem potenziell „selbstsüchtigen“ Ziel entgegenstanden. Begierig auf eine Weiterverfolgung der „neuen Ideen“, die ihr im Verlauf der Sitzung gekommen waren, schloss Joanne mit der Bitte um einen neuen Termin.

In ihren drei verbleibenden zweiwöchentlich stattfindenden Sitzungen vertiefte Joanne die Erkundungen hinsichtlich ihrer Geschichte von Verlusten – wobei sie sich den Tod ihres Sohnes im Kleinkindalter ganz am Anfang ihrer Ehe nochmals ins Bewusstsein rief – als auch im Hinblick auf ihre neu erwachten Bestrebungen, als eigenständige erwachsene Frau in Familie und Gemeinde „ihre Stimme zu finden“. Währenddessen bemerkte sie mit einiger Verblüffung, dass ihr Leben ihr auf irgendeine Weise „realer“ vorkam, und berichtete mit Stolz von mehreren konkreten Gelegenheiten, bei denen sie wichtige familiäre Entscheidungen mit ihrem Ehemann ausgehandelt hatte, eine aktivere Rolle als Mutter für ihre Tochter im Vor-Teenageralter gespielt hatte und in der Kirche für innovative Programme, die ihr am Herzen lagen, eingetreten war. Bei all diesen Dingen spürte sie nach wie vor ein starkes Gefühl der Gegenwart ihres Vaters und seines Stolzes und hatte fortwährend den Eindruck, dass sich während der Schlüsselkonversation mit ihm in der ersten Sitzung etwas für sie „gelöst“ habe. Sie selbst formulierte es so, dass sie sich nicht länger „zurückgehalten“ fühle und durch Georges Unterstützung in ihrer neuen, „forschen“ Art bestärkt werde, selbst dann noch, wenn sie sowohl zu Sitzungen des Kirchenkomitees als auch zu Therapiesitzungen in normaler Freizeitkleidung erschien. Am bemerkenswertesten war jedoch, dass sie seit ihrem „Gespräch“ mit dem Vater frei von jeglichen Paniksymptomen geblieben war, obwohl diese Symptome niemals das ausdrückliche Ziel einer therapeutischen Intervention gewesen sind. Die Therapie schloss mit einer Reflexion über das „veränderte Narrativ“ ihres Lebens, das ihr ein Gefühl der Kontinuität mit ihrem früheren Selbst (das von einer ununterbrochenen Beziehung zu ihrem sie unterstützenden Vater geprägt war) vermittelte und zugleich eine „Umschreibung“ von Aspekten ihrer Identität in kritischen Lebenszusammenhängen gestattete.

Wie diese eröffnende Fallvignette nahelegt, entlehnt die konstruktivistische Psychotherapie (KPT) Elemente aus mehreren therapeutischen Traditionen – in diesem Fall insbesondere die humanistische, systemische und feministische –, während sie eben diese Traditionen gleichzeitig vor dem Hintergrund charakteristischer postmoderner Themen neu interpretiert und erweitert, die insbesondere mit der Vorrangstellung der persönlichen Bedeutung, der Konstruktion von Identität in einem sozialen Umfeld und der Revision von inkohärenten oder restriktiven Lebensnarrativen zu tun haben. Obwohl die Vielfalt der postmodernen Ansätze jeden Versuch einer allgemeingültigen Definition zunichte macht, tendieren sie im Allgemeinen dazu, eher kollaborativ denn autoritativ zu sein, ebenso eher entwicklungsbezogen denn symptomorientiert, eher prozessleitend denn inhaltsfokussiert und eher reflexiv denn psychoedukational. Ziel meines schmalen Buches ist die Entmystifizierung vieler Konzepte und Praktiken, die mit dem Zusammenschluss zeitgenössischer Ansätze assoziiert sind, um den interessierten Laien und Experten eine sichere Passage durch das gelegentlich beängstigende postmoderne Terrain zu ermöglichen. Wir werden mit einer Erörterung des theoretischen und historischen Hintergrundes beginnen, der den Konstruktivismus durchdringt und seine distinktiven Ansätze zur Konzeptualisierung und Behandlung psychosozialer Probleme verdeutlicht.

9. Die Kontextualisierung von Störungen

Im Allgemeinen scheuen postmoderne Psychotherapeuten vor traditionellen Diagnosen zurück, obwohl sie wissen, dass sie notwendig sind, um die Anforderungen der Krankenkassen zu erfüllen. Diese Zurückhaltung bezüglich formeller Diagnosen ist eine Reaktion auf die objektivistische, reduktionistische und modernistische Art, Menschen über ihre Diagnosen zu beurteilen, anstatt durch ihren einzigartigen Weg, wie sie mit Schwierigkeiten umgehen. Obwohl es sprachlich bequem sein mag, einen Klienten mit extremen Schwierigkeiten in interpersonellen Beziehungen, mit Angstschüben wegen realem oder nur imaginiertem Verlassenwerden und mit selbstschädigenden Tendenzen als „Borderliner“ zu bezeichnen, ist dies wenig hilfreich im Sinne einer Erweiterung des Spektrums an Optionen, die dem Klienten oder seinem Therapeuten zur Verfügung stehen (Harter, 1995). Aus diesem Grund beziehen postmoderne Therapeuten die formellen Diagnosen in ihre therapeutische Praxis ein, lassen sich hierdurch jedoch nicht in ihrem Handlungsspielraum einschränken.

Ungeachtet dieser Ambivalenz gegenüber traditionellen Diagnosen nutzen postmoderne Psychotherapeuten eine Reihe distinktiver Problemformulierungen auf unterschiedlichen Ebenen der epigenetischen Hierarchie, von der biogenetischen bis zur kulturell-linguistischen. Hierbei sind sie sich jedoch bewusst, dass es sich bei diesen Diagnosen an sich ebenfalls um menschliche Konstruktionen handelt (Raskin & Lewandowski, 2000), die für manche Klienten oder Therapeuten hilfreich sind, für andere hingegen nicht. So war im einleitenden Fallbeispiel etwa Joannes Diagnose „Panikattacken psychogenen Ursprungs“ für sie nicht hilfreich dabei, ihre lähmende Angst zu verstehen, obwohl dieselbe Diagnose einem anderen Klienten ein hinreichendes Verständnis der erlebten Angstgefühle gestatten und ihm einen Bezugsrahmen für die Arbeit an der daraus resultierenden Symptomatik hätte bieten können. Dessen ungeachtet ist es stets das Wechselspiel zwischen Klient und Therapeut, das für die Sinnhaftigkeit einer formellen Diagnose für einen bestimmten Klienten ausschlaggebend ist, ebenso wie das Wechselspiel zwischen den unterschiedlichen Ebenen der Hierarchie den diagnostischen Prozess beeinflusst. Die Tendenz, die Interaktion zwischen den Ebenen zu berücksichtigen, unterscheidet die postmoderne Psychotherapie von anderen psychiatrischen und psychotherapeutischen Ansätzen, die sich lediglich auf das untere Ende des Spektrums konzentrieren – die biogenetischen und persönlich-agentischen Ebenen –, wie es traditionellere kognitive Therapien in der Regel tun. Die Einsicht, dass ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren zu persönlichen Schwierigkeiten führen kann, eröffnet Therapeuten multiple Zugänge zur Erkundung von Problemen. Aus diesem Grund werde ich in diesem Kapitel einen allgemeinen Ansatz zum Verständnis von „Störungen“ auf allen vier Ebenen beschreiben, wobei ich die Erörterung spezifischer Problemkonzeptualisierungen im Rahmen diverser konstruktivistischer, sozialkonstruktionistischer und narrativer Perspektiven auf spätere Abschnitte dieses Buches verschiebe, wo sie in detaillierten Fallbeispielen verankert werden können.

Bei der Betrachtung auf der biogenetischen Ebene erkennen konstruktivistische Psychotherapeuten an, dass manche persönlichen Schwierigkeiten physiologische Ursachen haben können. Wie es für die besten Methoden in der Psychotherapie wichtig ist, so ist es auch für den praktischen Arzt wichtig, die physiologische Ursachen von Leid zu identifizieren (Schilddrüsenerkrankungen bei affektiven Störungen, Kreislauferkrankungen bei erektiler Dysfunktion etc.). Aus diesem Grund sind Überweisungen oder Empfehlungen einer medizinischen Untersuchung nicht prinzipiell problematisch, auch wenn ein rein pharmakologischer Therapieansatz selten als ausreichend angesehen werden kann. In Joannes Fall war bereits eine medizinische Untersuchung durchgeführt worden, und da es keine biogenetische kausale Erklärung für ihre Symptome gab, hatte sie sich für eine Therapie entschieden. Tatsächlich war es in diesem Fall nicht erforderlich, allzu viel therapeutische Aufmerksamkeit auf ihre physischen Beschwerden zu richten, da die Ursache ihrer Symptome in den persönlich-agentischen und dyadisch-relationalen Bereichen ausgemacht wurde.

Auf der persönlich-agentischen Ebene konzentrieren sich die diagnostischen Bemühungen auf jene individuellen Arten der Bedeutungskonstruktion, die nicht revidiert wurden, um sich den veränderten Anforderungen erlebter Erfahrungen anzupassen. Tatsächlich beschrieb der Begründer des klinischen Konstruktivismus, George Kelly (1986), eine Störung als jede Art von Konstruktion, die weiterhin verwendet wird, obwohl sie sich wiederholt als Fehlkonstruktion erwiesen hat. Oft sind persönliche Konzepte darüber, „wie die Dinge in der Welt laufen“, in der Frühphase individueller Bedeutungskonstruktion entstanden und haben, obwohl sie seinerzeit angemessene Orientierungshilfen darstellten, mittlerweile jeglichen Nutzen für gegenwärtige Lebenssituationen verloren. So könnte ein Kind beispielsweise lernen, dass es, wenn es andere verägert, auch Liebesentzug und Aufmerksamkeitsverlust ertragen muss, und folgerichtig daran arbeiten, immer „brav“ und artig zu sein. Im Erwachsenenalter führt eine solche Vermeidungsstrategie aber oft zu einem durchsetzungsschwachen Verhalten, niedrigem Selbstwertgefühl und zu Schwierigkeiten in interpersonellen Beziehungen. Eine Revision der ursprünglichen Konstruktion „Verärgerung bedeutet Verlust“ wäre daher möglicherweise ein sinnvollerer Weg, den Dingen des Lebens Bedeutung zu verleihen. Beachten Sie, dass eine derartige Revision der Sinngebung ein co-konstruktiver Prozess zwischen Klient und Therapeut ist, wobei die Entscheidung zu einer Revision (und die Auswahl der Richtung, in der diese erfolgt) ausschließlich dem Klienten obliegt. Im Fall von Joanne resultierten die Gefühle von Schuld und Illoyalität – die sie empfand, weil sie einerseits ihre eigenen Ziele verfolgte und andererseits ihre angestammte Gemeinde verlassen hatte – aus den Kernkonstrukten, die ihre Rollen bezüglich ihrer Herkunftsfamilie ebenso betrafen wie ihrer gegenwärtigen Familie und der afroamerikanischen Kirchengemeinde. Sich ein breiteres Spektrum an Optionen für ihre Rollenkonstruktion hinsichtlich der ihr am nächsten stehenden Personen zu gestatten linderte sowohl ihre Schuldgefühle als auch die daraus entstandene panikartige Symptomatik.

Ebenso wie die persönlich-agentische Ebene bezieht sich auch die dyadisch-relationale auf Prozesse der Bedeutungskonstruktion. Jedoch wird die diagnostische Aufmerksamkeit hier auf die Interaktion zwischen Klient und den für ihn wichtigsten Personen in Vergangenheit oder Gegenwart gelenkt. Gegenstand der Betrachtung ist hierbei insbesondere die Fähigkeit (oder Unfähigkeit) des Klienten, authentische Rollenbeziehungen einzugehen (Leitner, Faidley & Celantana, 2000), welche die Pflege tiefer und bedeutsamer Intimität mit anderen Menschen ermöglichen. Darüber hinaus können bei der Suche nach problematischen Mustern in Paarbeziehungen die Arten, auf die jeder Partner die Bedeutungskonstruktionsprozesse aufseiten des anderen validiert oder invalidiert, diagnostisch reichhaltige Informationen liefern, wie im später folgenden Abschnitt zur Diagnostik noch ausgeführt wird. Zu beachten ist jedoch, dass relationale Schwierigkeiten sich nicht allein auf jene Personen beziehen müssen, die aktuell am Leben des Klienten partizipieren. Wie sich besonders im Fall von Joanne zeigte, berücksichtigen postmoderne Therapeuten die Möglichkeit, dass eine problematische Beziehung auch zu einer bereits verstorbenen Person existieren und Auswirkungen auf die Anpassungsfähigkeit an aktuelle Situationen haben kann. Für Joanne hatte der Tod des Vaters Anteil an ihrer Schwierigkeit, sich an den neuen Wohnort anzupassen, und nachdem in der Therapie mithilfe der „Zwei-Stuhl-Arbeit“ wieder eine Verbindung zu ihrem Vater hergestellt werden konnte, war sie frei für ein „realeres“ Leben mit den Menschen in ihrem Umfeld. Obwohl sich auch einige andere Formen kognitiver Therapie mit interpersonellen Beziehungen befassen, hebt sich der Konstruktivismus von diesen dadurch ab, dass er die relationale Co-Konstruktion von Bedeutung in seinen elementarsten Konzepten stark betont. Ein sehr wichtiger Aspekt des Konstruktivismus ist die Annahme, dass nicht Menschen Beziehungen konstruieren, sondern dass Beziehungen Menschen konstruieren – ob nun zum Guten oder zum Schlechten.

Auf der kulturell-linguistischen