Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2013

Coverbild: © Johann Schneider

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2013

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe 978-3-87387-941-6
ISBN dieses eBooks: 978-3-87387-942-3

Vorwort

Auch wenn das Thema Burnout zurzeit Konjunktur hat wie nie zuvor: Mit dem Risiko des Ausbrennens haben sich die Menschen schon immer auseinandergesetzt. Leistungsfähigkeit aufbauen, sie erhalten, ihre Grenzen ausloten und diese achten – dies ist und bleibt eine zentrale menschliche Herausforderung. Ohne Augenmaß für ihre Tatkraft müssen auch noch so intelligente und einfühlsame Menschen, noch so ausgeklügelte Organisationen scheitern.

Als Coach bin ich dem Thema Burnout ohne bewusste Absicht begegnet und wurde in den letzten Jahren durch meinen Hintergrund als Arzt und Psychotherapeut immer häufiger von einzelnen Personen und Unternehmen in Anspruch genommen, die sich ihm stellten. Mir lag dieses Thema, und so fing ich an aufzuschreiben, was ich für die Betroffenen, für ihr Umfeld und ebenso für Berater und Psychotherapeuten wichtig fand. Herausgekommen ist der vorliegende Ratgeber. Er ist für Menschen gedacht, die sich mit Burnout auseinandersetzten, für direkt Betroffene und deren Umfeld. Interessierten Kolleginnen und Kollegen mag mein Buch Anregung bieten, da es nicht nur die Beratung und Behandlung von Burnout zum Thema hat, sondern an diesem Beispiel die wesentlichen Grundlagen von Beratung und Psychotherapie beschreibt. Anders formuliert: Bezieht man in der Beratung oder Psychotherapie das bewusste Wahrnehmen und Stillen der Grundbedürfnisse nicht mit ein, dann scheitern naturgemäß solche Klienten, die genau damit Probleme haben, selbst wenn sie zu Erkenntnissen und Veränderungen gekommen sind, die im Modell der Bedürfnispyramide auf einer höheren Ebene liegen. Bei Bedürfnisdefiziten fallen sie in die alten Schwierigkeiten und Verhaltensmuster zurück.

Danken möchte ich an dieser Stelle all den Klientinnen und Klienten, die ich beraten und behandeln durfte und dass ich auf diese Weise meine Fähigkeiten „zur Blüte“ bringen konnte.

Danken möchte ich allen, die sich zu Interviews bereit erklärt haben, auch denjenigen, deren Beiträge ich leider in diesem Buch nicht berücksichtigen konnte. Sie haben mir in unseren Gesprächen wieder und wieder den Blick für das Wesentliche geschärft.

Vielen Dank an Dr. Dietmar Peikert, meinem Freund und Kollegen, mit dem ich 20 Jahre lang in seiner Eigenschaft als niedergelassener Kollege für Allgemeinmedizin – mit großer Freude und innerer Zufriedenheit, immer wieder Fachgrenzen überschreitend – zusammenarbeiten durfte; er gab mir wertvolle Rückmeldungen zum Manuskript. Rückmeldungen bekam ich auch von Klienten, die ich namentlich hier nicht nenne. Herzlichen Dank dafür.

Danken möchte ich auch meinen Ausbildungskandidatinnen und Ausbildungskandidaten, mit denen ich viele der im Buch dargestellten Themen diskutiert habe. Sie haben mir durch ihre interessierten Fragen und Kommentare geholfen, das Thema tiefer zu durchdringen und in Sprache zu fassen.

Ein besonderer Dank geht an die Leiterin Veränderungsmanagement und die Führungskräfte einer Firma, der ich jetzt schon seit sechs Jahren als Coach zur Seite stehe und sie darin unterstütze, nachhaltig Stresskompetenz zu erlangen. Mit ihnen konnte ich viele der hier im Buch beschriebenen Modelle erproben und weiterentwickeln.

Ein ganz herzlicher Dank geht an Heidi Behrens, die einen Großteil des Textes redigiert hat. Sie ist so einfühlsam und klar vorgegangen, dass sich der Text nach ihrer Überarbeitung noch näher bei mir anfühlte.

Herzlichen Dank an Kester Kleinert für seinen engagierten Einsatz, mit dem er den Abbildungen trotz Schwarz-Weiß-Vorgabe ein klares und freundliches Gesicht gab.

Herzlichen Dank an Heike Carstensen vom Junfermann Verlag, die mit großer Sorgfalt das Manuskript gelesen und wertvolle Anregungen gegeben hat.

Ein ganz besonderes Dankeschön geht an meine Frau, die mich bedingungslos begleitet hat, und an meinen Sohn, der mich unvoreingenommen ermutigte und zusätzlich mit tatkräftiger EDV-Hilfe unterstützte.

Vielen Dank an Sie, liebe Leserin, lieber Leser, die und der Sie das Buch in die Hand genommen haben, für Ihr Interesse. Ich wünsche Ihnen eine aufschlussreiche und wohltuende Lektüre.

Dr. Johann Schneider

1. Einleitung

Wir leben in einer Zeit, in der sich die Arbeits- und Lebensbedingungen in den letzten 20 Jahren drastisch gewandelt haben. In vielen Betrieben verbringen immer weniger Menschen immer mehr Zeit bei der Arbeit. Gleichzeitig finden immer mehr Menschen keine Arbeit. Diejenigen, die Arbeit haben, erleben erhöhte Arbeits-, Zeit- und Leistungsanforderungen zu niedrigeren Löhnen und geraten oft an ihre körperlichen, geistigen und seelischen Grenzen.

Viele lassen ihre natürliche Erschöpfung nicht zu, verdrängen sie, erholen sich nicht und entwickeln extreme Erschöpfungszustände, das sogenannte Burnout-Syndrom. Viele von denen, die keine klassische Erwerbsarbeit haben, erleben sozialen Druck und fühlen sich gesellschaftlich beschämt und gelangweilt und entwickeln die gleichen Beschwerden wie beim Burnout-Syndrom (Erschöpfung, innere Leere, Ausgebrannt-Sein). Weil diese jedoch aus einer ungesunden Langeweile heraus entstehen, spricht man hier von einem Boreout-Syndrom.

Burnout ist wegen der Häufigkeit des Vorkommens zu einem umgangssprachlichen Begriff geworden. Immer mehr Menschen kommen zu mir in meiner Eigenschaft als Berater, Coach und ärztlicher Psychotherapeut, weil sie an ihre Grenzen stoßen, sich erschöpft, ausgelaugt und innerlich leer fühlen. Sie haben sich zuvor im „täglichen Kampf“ in der Arbeit, in der Familie oder überhaupt in der täglichen „Auseinandersetzung mit dem Leben“ aufgerieben. Meist kommen sie erst dann zu mir, wenn sie bereits „körperliche und seelische Beschwerden dazu gezwungen haben“. Sie sind so mit ihrem Leben nicht mehr einverstanden, sie sind an Grenzen geraten, „können so nicht mehr weiter“, „müssen“ oder wünschen andere Wege zu gehen. Sie möchten wieder „sie selbst sein“, „das Leben wieder genießen“.

Wie kommt es zum Burnout?

Menschen bringen sich in Gefahr, in Burnout-Zustände zu geraten, wenn sie „zu sehr in ihrer Arbeit aufgehen“, „zu begeistert“ sind, „zu engagiert“, sich „vor Leidenschaft verbrennen“, es ihnen nicht gelingt, ihr Feuer zu hüten oder ihre Begeisterung und Tatkraft besonnen in ihrem Leben einzusetzen: „Wenn ich an etwas dran bin, dann arbeite ich sieben Stunden, oder auch einen ganzen Tag, ohne zu essen, oder Pause zu machen.“

Wenn die Begeisterung, das Engagement, die Leidenschaft zum eigenen inneren Zwang und überzogene Anforderungen von außen unbedacht übernommen wer-den, verbrennen sich Menschen im wahrsten Sinne des Wortes und fühlen sich schließlich massiv erschöpft und innerlich leer.

Definition Burnout-Syndrom

Als Burnout-Syndrom bezeichnet man einen Zustand

  • totaler körperlicher, seelischer und geistiger Erschöpfung
  • mit verringerter Leistungsfähigkeit und dem Gefühl
    – extremer Erschöpfung,
    – innerlicher Leere,
    – und des Ausgebrannt-Seins.

Erschöpfungszustände haben biologische, physikalische, lebensgeschichtliche, geistige, seelische, soziale, politische und wirtschaftspolitische Hintergründe. Ohne diese Hintergründe gibt es kein Burnout-Syndrom und auch keine anderen „krankhaften“ Erschöpfungszustände.

Ein Burnout-Syndrom entwickeln Menschen in der Regel über einen längeren Zeitraum, über Wochen, Monate, ein Jahr, häufig über einen Zeitraum von drei und mehr Jahren; dies nennt man den Burnout-Vorgang oder -Prozess. Gar nicht selten habe ich Entwicklungen beobachten können, die bis zur totalen Erschöpfung, also dem vollen Ausbruch des Burnout-Syndroms, einen Verlauf von sieben bis zwölf Jahren nahmen. Die betroffenen Menschen bewegen sich von anfänglicher Begeisterung, Motivation und Überengagement langsam hin zu Resignation und sozialem Rückzug. Schließlich entwickeln sie starke seelische und körperliche Beschwerden, mit denen sie schließlich zum Arzt kommen.

„Ich habe jahrelang über meine Grenzen hinausgehend gearbeitet und mich verausgabt. Irgendwann ging es nicht mehr und ich bin ineffektiv geworden. Ich habe mich – im Nachhinein gesehen – immer mehr zurückgezogen. Ich habe meiner Frau nicht mehr gesagt, wie es mir wirklich geht, auch nicht meinen Freunden, niemandem. Ich glaube dieser Rückzug war ein Schutz. Ich habe mich davor geschützt, als schwach dazustehen, ausgelacht, beschämt zu werden. Lange habe ich gar nicht mehr gespürt, was eigentlich los ist mit mir. Manchmal habe ich etwas über Burnout gehört; ich war sogar in einem Seminar, doch ich dachte, das hat mit mir doch nichts zu tun. Jetzt erst, wo es mir wieder gut geht, erkenne ich, dass ich schon damals ausgelaugt war; ich konnte es aber nicht zulassen. Erst als nichts mehr ging und mein Arzt sehr einfühlsam und klar mit mir gesprochen hat, konnte ich loslassen. Dann war ich aber erst einmal drei Monate nicht mehr in der Lage zu arbeiten. Gott sei Dank hat er mich an einen guten Coach überwiesen.“

Wer ist von Burnout betroffen?

Betroffen sind Männer und Frauen aus allen Berufen, genauso aber auch Frauen und Männer, die voll zu Hause arbeiten, den Haushalt machen, Kinder großziehen und alte Menschen versorgen. Solche, die sowohl erwerbstätig als auch zu Hause und in einem Ehrenamt arbeiten, sind besonders gefährdet.

Menschen mit Burnout-Erscheinungen haben das Gleichgewicht von Energie-Aufnehmen und Energie-Abgeben verloren. In der Regel verwechseln sie nach meinen Beobachtungen im ersten Stadium von Burnout seelische Energie und Kraft als Ausdruck und Empfinden einer eigenen inneren Bestätigung mit physikalischer Energie und Kraft. Sie spüren und wissen in dieser Verfassung nicht (mehr), wann und wie sie ihre Energie aufnehmen und wann oder wie sie sie verbrauchen. Wenn sie sich in ihrer Leidenschaft und in der Umsetzung ihrer Kraft intensiv spüren, so meinen sie, bekämen sie in diesem Moment Energie und Kraft. Meist sagen sie dann: „Meine Arbeit gibt mir so viel Kraft.“

Aus meiner Sicht spüren sie in diesem Moment, wie ihre Kraft fließt – und ziehen daraus eine momentane Anerkennung oder Bestätigung ihres Tuns und Fühlens. Doch anders, als sie annehmen, erhalten sie keine Energie im physikalischen Sinne, sondern sie verbrauchen sie. Das Spüren und Fließen der physikalischen Energie verwechseln sie mit der seelischen Energie des Sich-Spürens und des Sich-kraftvoll-Fühlens. Arbeit, auch solche, die begeistert, die Spaß, Freude und Lust macht, braucht physikalische Energie und führt zu einem natürlichen Erschöpfungsgefühl.

Es wäre auch natürlich, diese Erschöpfung zuzulassen, indem man Pausen einlegt, ausruht, schläft und sich dadurch erholt. In den Erholungsphasen schöpft man Energie, tankt wieder auf. Wenn Menschen sich jedoch nicht mehr genügend erholen, geraten sie in Disstress; sie wirken gereizt, entwickeln körperliche und seelische Beschwerden. Wenn sie schließlich ihre Ziele nicht mehr erreichen, keine Wertschätzung mehr spüren und sich unfrei und fremdbestimmt fühlen, entwickeln sie ein Gefühl des Ausgebrannt-Seins und der inneren Leere. Wie es um sie bestellt ist, spüren sie häufig erst, wenn es zu einem „Zusammenbruch“ kommt, sie „einfach nicht mehr können“ und „alles versagt“:

„Ich stand morgens im Bad vor dem Spiegel und plötzlich konnte ich nicht mehr. Alles versagte. Mir wurde schwindelig, die Beine hielten mich nicht mehr, ich bekam Panik und rief meine Eltern an. Sie kamen und brachten mich zum Arzt.“

„Ich bin beim Telefonat mit einem Kunden ausgerastet. Ich habe gebrüllt und dann bin ich weggelaufen; ich musste einfach raus. Ich wollte weit weg. Ich bin zum Bahnhof gelaufen, der Zug fuhr vor meiner Nase weg. Dann bin ich durch die Stadt geirrt, ziellos. Erst als mich meine Familie fand, kam ich wieder richtig zu mir. Ich habe ihnen alles erzählt und es fiel eine schwere Last von mir ab. Dann habe ich erst einmal drei Tage geschlafen.“

„Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, habe ich Herzrasen bekommen und es ging nicht mehr weg. Ich habe Angst bekommen und mein Chef hat meine Familie angerufen. Sie haben mich abgeholt und sind mit mir zum Arzt gefahren, aber der konnte nichts Körperliches feststellen. Er hat mich aber trotzdem erst einmal aus dem Verkehr gezogen. Erst dann habe ich ganz allmählich gemerkt, wie fertig ich war. Die ganzen letzten Jahre war ich eigentlich schon fertig, nicht mal mehr im Urlaub konnte ich mich erholen.“

„Ich hatte plötzlich massivste Rückenschmerzen. Ich konnte nichts mehr machen. Ich wurde medizinisch nach den neuesten Regeln der Kunst auf den Kopf gestellt. Man fand nach allen Untersuchungen nichts Körperliches. Und als mein Hausarzt mir die Diagnose Burnout mitteilte – er hatte sie mir schon die Jahre zuvor häufiger angeboten –, konnte ich es endlich zulassen, erschöpft und am Ende zu sein. Aber dann ging erst einmal nichts mehr, ich konnte nicht mehr arbeiten, bin drei Monate ausgefallen.“

„Eines Tages konnte ich einfach nicht mehr: Ich bin zur Arbeit losgefahren, aber nicht mehr Richtung Betrieb. Ich bin einfach andere Straßen gefahren und habe überlegt, wie ich das meiner Frau erklären soll. Sie rackert sich ja auch ab, dann kann ich doch nicht einfach schlapp machen. Ich habe an einem Fluss angehalten, bin ausgestiegen. Ich habe der Fähre nachgeschaut und aufs Wasser geblickt. Plötzlich konnte ich nicht mehr an mich halten, es ist alles aus mir herausgebrochen. Ich habe geheult wie ein Schlosshund, dann war ich einfach nur fertig und konnte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr fahren, ich hatte keine Kraft mehr. Schließlich, nach langem innerem Ringen, habe ich meine Frau angerufen und sie hat mich abgeholt. Ich habe mich geschämt. Doch sie war so liebevoll mit mir und ich konnte nicht anders, als noch einmal zu weinen. Diesmal noch viel tiefer. Irgendwie war ich dann fix und fertig, am Boden zerstört, aber irgendwie auch ein Stück ruhig und erlöst. Ich habe mich krankschreiben lassen und jetzt muss ich erst mal einen neuen Weg für mich finden.“

Wie wird Burnout behandelt?

Über Angehörige, Mitarbeiter, Freunde oder auch Vorgesetzte kommen Menschen mit einem Burnout-Syndrom zum Arzt, der dann meistens feststellt, dass alle Körperfunktionen in Ordnung sind, dass allerdings dennoch Körperbeschwerden vorliegen, sogenannte funktionelle Beschwerden. Manchmal bestehen aber auch nachweisbare körperliche Krankheiten wie z. B. Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, Magenschleimhautentzündungen, Zwölffingerdarmgeschwüre, Verengungen der Herzkranzgefäße, Wirbelsäulenprobleme, Muskelverspannungen, Kopfschmerzen, verstärkte Migräne, Gleichgewichtsstörungen oder Hörsturz. Wenn der Arzt aufmerksam ist, fragt er die „Patienten“ auch nach ihrem Leid[1], ihren inneren Empfinden, ihren Lebensbedingungen und wie es ihnen mit diesen geht. Und wenn er dann die Diagnose Burnout-Syndrom stellt, stellt er optimalerweise auch die Weichen für eine effektive Hilfe, die neben der körperlichen Behandlung die seelische und soziale Behandlung ermöglicht.

Was dieses Buch für Sie tun kann

Mit diesem Ratgeber und Sachbuch möchte ich Ihnen im täglichen Spannungsfeld zwischen Ihren eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Erwartungen und denen ihrer Umgebung eine Orientierung geben. Ich möchte Sie dabei unterstützen, einen Weg zu finden, wie Sie in Ihrem Leben beruflich und privat erfüllt und erfolgreich leben, wie Sie Schaffenskraft und Wohlergehen miteinander verbinden können. Ich möchte Ihnen helfen Ihr Feuer, Ihre Leidenschaft und Ihre Begeisterung zu leben und sich dabei gleichzeitig wohlzufühlen und gesund zu sein. Allerdings beschränkt sich dieses Buch auf das, was Sie als Person für sich bewusst tun können, um Burnout vorzubeugen oder zu heilen. Wie familiäre, gesellschaftliche, betriebliche und politische Bedingungen, die Burnout auslösen, verändert werden könnten, wird nur indirekt aufgegriffen.

Grundannahme

Diesem Text liegt folgende übergeordnete Annahme zugrunde: Menschen leben gesund, fühlen sich wohl und sind erfolgreich, wenn sie ...

Grundvoraussetzungen dafür sind, dass sie

Ich beschreibe deshalb in diesem Ratgeber

Ich stelle Ihnen von mir selbst geführte Interviews mit Betroffenen vor, die ich als Berater, Coach oder ärztlicher Psychotherapeut begleitet habe. Im Anhang finden Sie Fragebögen (zur Balance der Lebensbereiche, zur Befriedigung von Grundbedürfnissen, zum Antreiberverhalten) und „Erlaubnissätze“, die Sie gerne als Anregung verwenden können.

Noch ein paar Worte zum Gebrauch des Buches:

Das Buch ist so aufgebaut, dass Sie beim Lesen zwischen den Kapiteln hin und her springen können, wenn Sie die theoretischen Hintergründe interessieren. Wenn Sie sich vom Abstrakten ausgehend zum Praktischen vorarbeiten möchten, können Sie mit Teil 3 beginnen. Sie können aber auch zuerst die Interviews lesen oder sich zunächst mit den Fragebögen im Anhang beschäftigen. Nähern Sie sich entsprechend Ihrer ganz persönlichen Vorlieben diesem Buch, lesen Sie und denken und spüren Sie dann nach.

Klienten, denen ich das Manuskript zum Lesen gegeben habe, haben mich alle nachdrücklich darauf hingewiesen, dass das Lesen eines Buches für sie nicht ausgereicht habe, ihre Probleme zu lösen. Darauf solle ich Sie als Leser unbedingt hinweisen. Genauso solle ich Sie ermutigen, sich mit einem professionellen Gesprächspartner zu unterhalten. Für sie sei es zwar zunächst eine Überwindung gewesen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Doch schließlich sei sich mitzuteilen, auszusprechen und über einen längeren Zeitraum sich immer wieder bei der eigenständigen Lösung ihrer Themen kompetent begleiten zu lassen zu einer sehr angenehmen Lernerfahrung geworden. Die Resonanz eines Menschen könne ein noch so gutes Buch nicht ersetzen.

Wenn Sie ein Selbsttest interessiert, so finden Sie im Internet das Hamburger Burnout-Inventar (HBI40), das von Professor Burisch[2] entwickelt wurde. Diesen Test halte ich für den aussagekräftigsten. Er ist kostenlos unter http://www.swissburnout.ch abrufbar.

2. Die Balance der Lebensbereiche

2.1 Wie sich die „Lebensblume“ zusammensetzt

Beginnen wir mit einer kleinen Übung:

 Übung

Was ist in Ihrem Leben wichtig?

Wenn Sie möchten, nehmen Sie sich etwa drei Minuten Zeit und spüren dem nach, was für Sie in Ihrem Leben wichtig ist. Was brauchen Sie unbedingt? Auf was würden Sie auf keinen Fall verzichten wollen?

Schreiben Sie, was Ihnen dazu einfällt, in den unten dafür vorgesehenen Raum. Fühlen Sie sich frei, auch zu malen und Skizzen zu machen, wenn Sie dies möchten.

 

 

 

 

 

 

Nun zeige ich Ihnen (m)eine Systematik zu dem, was Ihnen eingefallen ist. So wie wir in unserem Wohnraum, unserem Haus verschiedene Bereiche und Räume für verschiedene Tätigkeiten einrichten, lassen sich auch in unserem Leben verschiedene Lebensräume oder -bereiche beschreiben, voneinander unterscheiden und trennen.

Ich habe für die unterschiedlichen Lebensbereiche das Bild einer Blume, der Lebensblume, entworfen (Schneider 2003, S. 50). Sie entstand in einer Beratungssituation, als ich auf dem Flipchart die Lebensbereiche eines Ausbildungskandidaten aufzeichnete. Aus Skizzen und Strichen ergaben sich Blätter, dann die Blume. Obwohl ich mir manchmal auch einen Baum mit den Ästen für die verschiedenen Lebensbereiche vorstellen konnte, bin ich bei der Blume als Bild geblieben.

2-1sw.tif

Abbildung 2-1: Lebensblume, die Balance der Lebensbereiche (© Schneider 2013)
(modifiziert nach Schneider 2003, S. 50)

Sie steht in meiner Vorstellung für einen lebendigen Organismus, der sich entwickelt und wächst. Blätter welken und fallen ab. Knospen sind angelegt und entfalten sich zu neuen Blütenblättern. Auch in unserem Leben erfahren wir ständige innere und äußere Entwicklungen. Das Leben ereignet sich aus uns heraus und um uns herum. Selbstgestaltend und steuernd greifen wir in unser Schicksal ein. In verschiedenen Lebensphasen wechselt die Blume ihre Gestalt, manche Bereiche sind mehr, manche weniger ausgeprägt, manche nur als Knospen angelegt und noch nicht oder nicht mehr entfaltet.

Folgende Lebensbereiche unterscheide ich voneinander: Beruf, Paarbeziehung, Kinder, „Familie“, Freundschaft und Bekannte, Alleinsein, Hobbys, Körper, Haushalt, Weiterbildung, Gesellschaft und Spiritualität. Als für alle Menschen in ihrem Zusammenleben wichtigen Bereiche hebe ich die Gesellschaft und die Spiritualität etwas hervor.

Im Anhang finden sie einen Fragebogen zu diesem Kapitel. Wenn Sie damit arbeiten möchten, könnten Sie das jetzt tun.

2.2 Beruf / Erwerbstätigkeit

Beginnen wir mit dem Lebensbereich, für den in der Regel Erwachsene neben dem Schlafen (immerhin brauchen wir zwischen sechs und zwölf Stunden Schlaf am Tag) die meiste Zeit verwenden: dem Beruf bzw. der Erwerbstätigkeit.

In diesem wie in anderen Lebensbereichen arbeiten Menschen. Sie gestalten, nehmen Einfluss, üben Macht aus und erhalten in der Regel dafür Geld und andere Formen der Anerkennung. Für das Geld, das sie mit ihrer Arbeit verdienen, bestreiten sie ihren Lebensunterhalt und „leisten sich etwas“. Menschen arbeiten gerne, denn die Arbeit stellt ihnen das Feld zur Verfügung, auf dem sie Fähigkeiten und ihr Gestaltungsbedürfnis ausleben können.

Eine Versuchung, der in verstärktem Maß vor allem auch freiberuflich Selbstständige, Unternehmer und Mitarbeiter mit Führungsaufgaben oder Experten erliegen, besteht darin, sich durch mehr Arbeit mehr Anerkennung und mehr Geld zu versprechen. Doch je mehr jemand arbeitet, umso weniger hat er Zeit für die anderen, die privaten Lebensbereiche. Je weniger er dort Zeit gestaltet oder einfach auch (nur) sein kann, desto weniger ist er im Kontakt mit sich selbst, mit seinen alltäglichen natürlichen Bedürfnissen und Wünschen. Schließlich achtet er – wie bei sich selbst – auch immer weniger die Bedürfnisse seiner Mitmenschen: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Familienmitglieder und Freunde. Im Umgang mit sich und anderen wird er leicht unsensibel und harsch.

Wer kennt nicht die folgende Situation? Man kommt überarbeitet nach Hause und herrscht dann völlig unpassend die Kinder an, die „faul auf dem Sofa herumliegen“ und „besser etwas Vernünftiges täten“. Wer den Kindern in dieser Stimmung seine momentane eigene Arbeitsauffassung und Überforderung überstülpt, wird von diesen zu Recht gefürchtet, abgelehnt und nicht für ernst genommen.

Wenn Sie sich so verhalten, ist es Zeit, innezuhalten und Ihr Berufsleben von Ihrem Privatleben zu unterscheiden, abzuwägen, wie viel an Zeit und Intensität Sie in den beiden Bereichen leben. Es ist nützlich, sich über Ihre verschiedenen Rollen klar zu werden und die Rollenübergänge bewusst zu gestalten.

Eine Falle im Beruf ist es, sich von der Begeisterung für oder von den Ansprüchen an die Arbeit davontragen zu lassen, sich keine passenden Pausen mehr zu gönnen und sich schließlich weder zu Hause noch im Urlaub wirklich zu erholen und so in ein Burnout-Syndrom zu schlittern. – Viele Menschen sind dann überrascht, wenn ihnen die Tatsache, dass sie nach ihrem übergroßen Engagement jetzt völlig ausgebrannt sind, im Betrieb auch noch als persönliche Schwäche ausgelegt wird. In ihrem Einsatz und Engagement dachten sie, „stark sein“ zu müssen, um für sich und den Betrieb etwas Gutes zu tun. Dass sie in ihrem überbordenden Arbeitsanspruch ihre natürlichen Erholungs- und Zuwendungsbedürfnisse nicht mehr wahrgenommen und ihre Bedürfnisse missachtet haben, genauso wie die der anderen: Dafür waren sie blind.

In meinen Augen ist es tatsächlich ein Zeichen von Schwäche: schwach darin zu sein, seine Erschöpfung wahrzunehmen, und nicht einem Bedürfnis nach Erholung und Ausgleich im Privatleben nachzugehen. Es wäre hingegen stark gewesen, wenn sie ihre vermeintliche Schwäche als Bedürfnis erkannt und für sich gesorgt hätten. Ebenso stark wäre es, wenn in Unternehmen Bedürfnisse, wie das nach Erholung, als natürlich angesehen würden. Doch in einer Kultur der Ausbeutung wartet man darauf vermutlich vergeblich.

Es ist eher nicht zu erwarten, dass es in einer Kultur, in der Menschen im Arbeitsleben immer mehr abverlangt wird, in der sie ausgebeutet werden, Achtung für ihre Bedürfnisse gibt. Wenn Ihre berufliche Realität so aussieht, tun Sie gut daran, achtsam, selbstbewusst und in aller Ruhe und Unauffälligkeit mit Ihren eigenen Bedürfnissen Haus zu halten. Warum sollten Sie unauffällig vorgehen? Sie dürfen nicht unbedingt auf Verständnis für Ihre Bedürfnisse von Menschen hoffen, die (selbst-)ausbeuterisch unterwegs sind. Die werden Ihnen möglicherweise noch mehr Arbeit aufbürden wollen oder Sie gar mobben.

Rolando Villazón, einer der besten Tenöre der Welt, beschreibt das Dilemma, sich in einer überstarken Leistungskultur wie der unseren mit seinen Bedürfnissen zu zeigen, in einem Interview[3] treffend mit dem Satz: „Ich frage mich, ob ich zu offen war, meine Erschöpfung zuzugeben.“ Er hatte sich eine Auszeit gegönnt, woraufhin ihm ein Burnout zugeschrieben wurde. Vor allem Kritiker waren schnell dabei, die Frage zu stellen: „Oje, ist es jetzt vorbei?“

Über die Zeit vor der Erschöpfung sagt Villazón: „Bis dahin war mir alles zugeflogen, auf eine wunderbare unschuldige Weise. Aber ich reagierte immer mehr, als dass ich agierte. Wie ein Kind, das gefragt wird: Hey, kannst du diesen Ball mal eben fangen? Und ihn dribbeln und dann ganz schnell weiterwerfen, denn dann kommt auch schon der nächste? Das Kind gibt alles, mit ganzer Energie, aber am Ende des Tages spürt es plötzlich mit einem Schlag: Jetzt kann ich nicht mehr! So ging es mir nach zehn Jahren Karriere. Also gönnte ich mir eine Auszeit.“

Er tat etwas sehr Natürliches, was viele als Kind noch kennen, es aber als Erwachsene nicht mehr tun. Er nahm seine Erschöpfung wahr und sorgte für sich. Doch diese natürliche Reaktion wird in unserer Gesellschaft als unnatürlich wahrgenommen. So reagieren Vorgesetzte und Mitarbeiter mit Unverständnis und meinen, man sei krank, wenn man sich einfach nur erholt. Als sich der Fußballtrainer Ralf Rangnick wegen seiner Erschöpfung eine Auszeit nahm, wurde auch ihm gleich ein Burnout-Syndrom zugeschrieben.

Tipps

2.3 Haushalt

Es gibt einen Lebensbereich, der im öffentlichen Bewusstsein stark unterschätzt und von uns selbst und der Gesellschaft wenig oder gar nicht geachtet wird: der Haushalt. Ihn möchte ich jetzt beschreiben.

Der Lebensbereich Haushalt beinhaltet

In diesem Lebensbereich arbeiten insbesondere Frauen als Hausfrauen, aber auch Männer als Hausmänner. Sie werden nicht direkt bezahlt und sind im öffentlichen Ansehen wenig geachtet, werden oft sogar missachtet. Mit nicht direkt bezahlt meine ich, dass vielen erst im Falle einer Scheidung klar wird, dass sich diese Tätigkeit in Geld aufrechnen lässt und dass dies gesetzlich und rechtlich im Ehevertrag geregelt ist. Ich hielte es für günstig, wenn der erwerbstätige Teil eines Paares das Gehalt halbieren und auf zwei Konten, eines für jeden Partner, einzahlen würde. Damit würde sichtbar dokumentiert, dass es vordergründig bezahlte und unbezahlte Berufe gibt, dass es eine Arbeitsteilung gibt und diese ein klares Geschäft ist. Ich verfahre in meiner Ausbildungs-, Beratungs- und Therapiepraxis seit 1990 so, dass ich die Tätigkeit im Haushalt auch als Beruf bezeichne und sie deutlich als einen solchen hervorhebe.

Vielleicht kennen Sie den Werbespot, in dem sich eine (Haus-)Frau als „erfolgreiche Managerin eines kleinen Familienunternehmens“ vorstellt. Dieser Werbespot spricht vielen aus dem Herzen, die sich in diesem Lebensbereich, dieser Rolle, nicht gesehen, nicht geachtet und manchmal auch entwürdigt und beschämt fühlen. Das Bedürfnis, in dieser Tätigkeit geachtet und wert-geschätzt zu werden, bringt der Spot elegant auf den Punkt.

In der öffentlichen Meinung gibt es jedoch eine starke Tendenz, diesen Bereich hintan zu stellen und stattdessen der Erwerbsarbeit (der bezahlten Arbeit[4]) eine größere Bedeutung zuzumessen. Mit welchem Ergebnis? Immer weniger Menschen fühlen sich mit dieser Tätigkeit wohl und es wird immer weniger Zeit auf Arbeit im Haushalt verwendet. Das Wissen und die Fertigkeiten einer Wohn-, Ess-, und Lebenskultur gehen verloren und die Menschen lassen sich zunehmend in ihrer Selbstständigkeit und Eigenständigkeit darin, sich selbst zu versorgen, durch die Nahrungsmittelindustrie und andere „Versorgungsunternehmen“ einschränken – und krank machen[5].Wir werden somit Abhängige der Industrie und des Staates. Wer kann heute noch selbst

Der Lebensbereich Haushalt ist für das Wohlergehen wichtig und braucht Zeit. Ich erlebe in Gesprächen immer wieder, wie „das bisschen Haushalt“ abgewertet wird, wie Frauen und Männer selbst gering schätzen, was sie hier Wertvolles für sich und andere tun.

Tipps

2.4 Paarbeziehung – Liebesbeziehung und Partnerschaft

Wir leben als Menschen in Gemeinschaft mit anderen Menschen. Wir sind aufeinander bezogene Wesen und brauchen die Liebe und die Zuwendung anderer, um uns zu entwickeln und zu entfalten. Wir sehnen uns danach, von anderen verstanden zu werden, mit anderen etwas zu tun, Zeit zu verbringen, zu lachen und zu weinen, Gefühle und Gedanken auszutauschen. Für Erwachsene ist die Beziehung zu einem anderen Menschen in Form einer Liebesbeziehung und einer Partnerschaft[6] von zentraler Bedeutung für das eigene Wohlbefinden.

Eine Liebesbeziehung ist die Form der Beziehung, in der wir uns deutlich für den anderen interessieren, ihn mögen, von ihm enttäuscht sind, uns ärgern, mit ihm reden, schmusen, Sexualität erleben. Von Partnerschaft sprechen wir, wenn wir mit einem oder einer anderen gemeinsame Projekte ins Leben rufen, zum Beispiel eine Wohnung mieten, ein Haus bauen, Kinder bekommen, eine Reise machen usw. Ich unterscheide diese beiden Beziehungsformen, weil sie einer unterschiedlichen Handlungslogik folgen. Wenn Paare beide Handlungslogiken bewusst oder auch unbewusst unterscheiden und sie entsprechend leben, fühlen sie sich als Paar lebendig und erfüllt; wenn sie die Logiken verwechseln, wird es ungemütlich.

Auf Dauer ist eine Liebesbeziehung geprägt durch die Handlungslogik der bedingungslosen Hingabe. Bildlich gesprochen ist sie ein Geschenk. Ein Geschenk wird ohne Bedingungen gegeben und kann ohne Bedingungen angenommen oder abgelehnt werden. Liebe erblüht nur dann, wenn sie bedingungslos gegeben, gewünscht oder erbeten wird. Wird sie verlangt, gefordert oder aufgerechnet, kann sie nicht leben. „Die Liebe ist das Kind der Freiheit“, heißt es sehr passend in einem alten französischen Sprichwort, das auch ein Buchtitel des Paartherapeuten Michael Lukas Moeller (1986) ist.

In der Liebesbeziehung erfahren wir Zuneigung, tauschen in tiefen Gesprächen unsere innersten Gefühle und Gedanken aus, unsere Träume. Es macht uns glücklich, wenn wir das Interesse einer anderen Person spüren, Interesse an unserem „Einfach-so-Sein“. Die Liebe gibt uns die Möglichkeit, uns aus unserer Geschichte heraus zu entwickeln, uns voll zu entfalten, unsere Möglichkeiten und Potenziale zu leben.

Die Partnerschaft hingegen folgt der Logik der Gerechtigkeit, der eines Tauschhandels, eines Tauschgeschäftes, eines Kontos. Beide an dem Projekt Beteiligten bringen ihren Teil ein, auch wenn er in unterschiedlicher Währung wie Arbeit, Geld usw. eingezahlt werden kann. Langfristig funktioniert eine Partnerschaft dann, wenn ein Ausgleich von Geben und Nehmen besteht, wenn jeder auf das Konto seinen Betrag eingezahlt hat. Hat einer von beiden dies versäumt, kann er es nachholen, und damit ist das Konto wieder ausgeglichen.

In der Liebesbeziehung funktioniert dies nicht. Hat einer den anderen verletzt, so kann er dies durch Taten nicht wiedergutmachen. Die Liebesbeziehung kann nur dann stabilisiert werden, wenn der oder die Verletzte verzeiht und der andere sich künftig anders verhält. Wird die Logik der Partnerschaft auf die Liebesbeziehung angewandt, stirbt die Liebesbeziehung; wird die Logik der Liebesbeziehung auf die Partnerschaft angewandt, kann keine tragfähige Partnerschaft entstehen. Beide, Liebesbeziehung und Partnerschaft, sind für eine langfristige Paarbeziehung wichtig. Beide sind geprägt vom wechselseitigen Austausch, folgen aber verschiedenen Handlungslogiken

In Mangelsituationen verwechseln Menschen die oben beschriebenen Logiken häufig. Sie wenden in der Liebesbeziehung die Handlungslogik der Partnerschaft an: Sie verlangen Liebe, fordern sie und rechnen sie auf. Und in der Partnerschaft die Logik der Liebesbeziehung. Dies zeigen sie in Überzeugungen wie: „Wenn du mich liebst, musst du mich versorgen. Wenn du mich liebst, musst du mir, was die Geschäfte, das Finanzielle angeht, blind vertrauen.“

Ein Beispiel[7]:

Ein Ehepaar fährt zur Geburtstagsfeier des Vaters der Frau. Als das Paar nach der Feier ins Bett geht, sagt der Mann: „Ich fahre nie mehr auf eine Feier deines Vaters. Das war grässlicher denn je. Dein Vater sieht nur immer sich, alles dreht sich nur um ihn und andere werden abgewertet und sind Luft für ihn.“ Die Frau entgegnet: „Das kannst du doch nicht machen. Ich fahre schließlich auch mit dir zu den Geburtstagen deiner Eltern.“ Der Mann: „Doch, ich kann es machen, ich lasse mich doch von dir nicht bestimmen, ich bin schließlich 50 Jahre alt und ein selbstständiger Mann.“ In diesem Stil streiten sie sich weiter und schlafen schließlich völlig unzufrieden nebeneinander ein. Als sie dann im Paargespräch mit dem Eheberater die Situation genau anschauen und sich fragen, wie es zu diesem unerquicklichen Streit gekommen war, wird der Frau bewusst, dass es ihr schon als Kind mit ihrem Vater genauso ging wie jetzt ihrem Mann bei der Geburtstagsfeier und dass es ihr mit ihm auch heute noch so geht. Ihr wird klar, dass sie an dem Abend im Streit nur wollte, dass ihr Mann sie zum Geburtstag weiter begleitet, damit sie jemanden bei sich hat, der sich für sie interessiert und von dem sie spürt, dass er sie mag. Der Mann konnte sich ohne Schwierigkeiten auf diesen Wunsch seiner Frau einlassen. Auf die Forderung und die Aufrechnung, die sie ihm auf dem Geburtstag gemacht hatte, konnte er nur mit Ablehnung reagieren. Sie hatte mit der Handlungslogik der Partnerschaft etwas für ihre Liebesbeziehung eingefordert, darauf hatte er mit Zurückweisung reagiert. Hätte sie einfach nur ihr inneres Bedürfnis nach Unterstützung für sich selbst ausgedrückt und damit in der Logik der Liebesbeziehung gehandelt, wäre es zu dem unerquicklichen Streit nicht gekommen und beide hätten sich wohlgefühlt und wären miteinander glücklich eingeschlafen.

2-2sw.tif

Abbildung 2-2: Handlungslogiken in der Paarbeziehung (© Schneider 2013)

Durch die Vermischung der Handlungslogiken kommt es zu Schwierigkeiten in der Paarbeziehung, die manche zu früh durch Liebesaffären, Trennung oder Scheidung zu lösen versuchen. Ohne individuelle Weiterentwicklung in einer Paarbeziehung tauchen in der nächsten Beziehung die gleichen Themen und Probleme wieder auf.

Paare reden in der Regel zu wenig miteinander, teilen sich zu wenig mit, tauschen sich nicht genügend aus. Und wenn sie reden, scheitern sie häufig, enden in gegenseitigen Vorwürfen und ziehen sich dann enttäuscht zurück. Vor Angst, erneut zu scheitern und abgewiesen zu werden, bleiben sie schließlich im Rückzug stecken und wagen keine wirklich persönlichen Gespräche mehr. Sie mauern sich ein und die Liebe erstickt.

Dieser Falle entkommen Paare, wenn sie sich mit ihren Bedürfnissen, Wünschen und Gefühlen mitteilen. „In der Handlungslogik der Liebe sind wir ohnmächtig, zumal wenn wir dabei unsere Bedürftigkeit eingestehen“ (Jellouschek 2009, S. 121). Es lohnt sich diese Ohnmacht zuzulassen, sie macht uns realistisch frei.

 Übung

„Wie können wir gut miteinander reden?“

Wie im Beispiel oben deutlich geworden ist, besteht die Kunst des Gespräches darin, von sich selbst zu erzählen, sich mitzuteilen. Wie gelingt dies? Indem man zu sich selbst steht und die eigenen Wünsche, Bedürfnisse, Gefühle und Gedanken mitteilt, ohne dabei den anderen / die andere zu bestimmen und zu überfahren. Sprachlich geschieht dies durch Sätze, die mit „Ich ...“ beginnen und nicht mit „Du solltest ...“, „Du müsstest ...“ oder Wörter wie „Nie ...“, „Noch nie ...“, „Immer ...“, „Alles ...“, „Nichts ...“ enthalten.

Auf der seelischen Ebene ist es wichtig, dass Sie in sich selbst Ihre Wünsche, Bedürfnisse, Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse zulassen, begreifen, beschreiben und in Sprache fassen. Es ist ein innerer Prozess der Wertschätzung sich selbst gegenüber und der Versprachlichung und Mitteilung der eigenen inneren Welt, die zur Annahme beim Gegenüber führt. Über die Wertschätzung und die Annahme der eigenen Person im Kontakt mit einer anderen vertrauten Person entsteht die Wertschätzung der / des geliebten Partnerin / Partners.

Wie reagiert Ihr Mann oder Freund / Ihre Frau oder Freundin, wenn Sie das Gespräch mit dem Satz „Wir müssen mal miteinander reden“ beginnen?

Wie reagiert Ihr Mann oder Freund / Ihre Frau oder Freundin, wenn Sie das Gespräch mit dem Satz „Ich möchte mit dir reden“ eröffnen?

Probieren Sie es einmal aus. Sie werden feststellen, dass zu Ihrer großen Überraschung bei der zweiten Form der Anrede Ihr Mann oder Ihre Frau tatsächlich auf Sie eingeht. Warum? Weil Sie zu sich stehen, weil Sie sich in Ihrem Wohlbefinden nicht vom Verhalten des anderen abhängig machen und direkt und ehrlich auf ihn / sie zugehen.

Um sich selbst gut kennen und verstehen zu lernen braucht es auch Gespräche mit anderen Menschen außerhalb der Liebesbeziehung und der Partnerschaft, denen man sich anvertrauen kann, mit denen man in schwierigen Phasen redet, wenn man noch nicht weiß, was man eigentlich selbst will oder was der Konflikt mit dem Partner in einem selbst ausgelöst hat. Sie klären für sich Ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse und sortieren vor, bevor sie Sie sich in unangemessener Form an Ihren Mann / Ihre Frau wenden. Schlussendlich ist es unabdingbar, sich achtsam mit den eigenen Wünschen, Bedürfnissen, Gefühlen und Gedanken mitzuteilen (siehe Abb. 2-2) und offen zu sein für die ehrliche Reaktion des anderen.

Ich habe für Situationen, in denen Sie etwas ansprechen oder einen Konflikt lösen möchten, die Formel K, eine Gesprächsformel, entwickelt, an der Sie sich orientieren können. Sie können mit dieser Formel ein Gespräch vorbereiten und führen (siehe Abb. 4-10).

Beziehung braucht Zeit und Pflege, sonst kann nicht entstehen, was ich gerade skizziert habe. Gerade dann, wenn wir durch Kinder, Eltern oder berufliche Herausforderungen sehr in Anspruch genommen werden, ist es von großer Wichtigkeit, sich als Paar Zeiten miteinander zu nehmen. Dafür sollten Pflichten rund um Kinder oder Ihnen anvertraute Menschen für eine bestimmte Zeit an andere delegiert werden. Ein gemeinsames Wochenende am Meer, ein Konzertbesuch, ein Spaziergang – es gibt so viele Möglichkeiten und Vorlieben für eine solche Paar-Zeit, wie es Paare gibt.

Eine heutzutage weitverbreitete Versuchung in der Paarbeziehung ist es, sich allzu sehr auf den einen vertrauten Menschen zu stürzen, ja zu werfen, und den anderen in der „Zweisamkeit“ mit zu vielen und zu vage definierten Forderungen zu überhäufen; dies kann ihn / sie aus der Beziehung vertreiben. Pflegen Sie auch Kontakte zu Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen, anderen Menschen, mit denen sie reden, spielen und feiern.

Wenn Kinder oder Tiere zur Familie dazugehören, kommt es häufiger zu Problemen übergroßer Eifersucht. Diese entsteht aus der Angst, nicht genügend Zuwendung zu bekommen. Hier ist es wichtig, die eigenen Zuwendungsbedürfnisse und die eigenen Strategien, diese zu befriedigen, gut zu kennen und sich darüber im Klaren zu sein, dass die Art der Zuwendung zu Kindern oder Tieren eine andere Art der Zuwendung ist als die zu erwachsenen Menschen; sie aus einer anderen Rolle heraus gelebt wird. Die Mutter des Kindes ist nicht die Mutter des Mannes, der Vater des Kindes nicht der Vater der Frau. Sie ist die Frau des Mannes und die Mutter des Kindes, er ist der Mann der Frau und der Vater des Kindes. Was wir als Kinder von den Eltern nicht bekommen haben, taucht in der Beziehung jetzt als Bedürfnis aus der Vergangenheit auf und wir übertragen es auf unsere Beziehungspartner.

Nur, und das wird immer wieder deutlich, was wir von unsren Eltern nicht bekommen haben, können wir nie wieder vom Mann oder der Frau bekommen. Wir können jetzt in einer erwachsenen Form (nur) die jetzt auch mögliche Zuwendung und Liebe entgegennehmen und geben. Schellenbaum (1991) nennt diesen hier notwendigen Entwicklungsprozess zutreffend den „Verzicht auf zu späte Elternliebe“. Es ist völlig natürlich, dass diese Konflikte und Themen in der Paarbeziehung auftauchen. Sie lassen sich lösen und die Beziehung wächst daran. Manchmal tut hier auch professionelle Hilfestellung durch Paarberater oder Paartherapeuten gut.

Wir handeln und leben in der Paarbeziehung in verschiedenen Rollen. Wir sind Mann und Frau, haben eine Liebesbeziehung. Wir sind Geschäftspartner, was unser materielles Zusammenleben angeht, wir sind gemeinsame Eltern unserer Kinder oder „Stiefeltern“ von Kindern der Lebenspartner. Diese Rollen gilt es auseinanderzuhalten. Und es gilt, die Zuwendung in den verschiedenen Rollen zu pflegen.

2-3sw.ai

Abbildung 2-3: Rollen in einer Paarbeziehung (© Schneider 2013)

Eine Beziehung kann man gut mit einem Feuer vergleichen. Das Feuer brennt auf die Dauer nur, wenn man Holz nachlegt, wenn man es schürt. Da das Paar mehrere Rollen gleichzeitig hat, vergisst es manchmal die Liebesbeziehung und lebt nur die Partnerschaftsrollen und die Elternrollen. Wenn das Feuer der Liebesbeziehung nicht mehr am Leben erhalten und gepflegt wird, kann es auch zum Burnout und zum Aus in der Beziehung kommen. Die Falle besteht darin zu meinen, die Partnerschaftsrollen würden uns auf die Dauer verbinden. Aber nur beides zusammen – die gemeinsamen Projekte, das Miteinander, die tätige Verbundenheit und die sichtbaren Ergebnisse der Partnerschaft sowie die der Liebesbeziehung eigenen empfangende und gebende Form der Verbundenheit, die bedingungsloses Mögen und Gemocht-Sein, Lieben und Geliebt-Sein in der ursprünglichsten Form gewährleistet eine langfristige lebendige Paarbeziehung.

Tipps

Literaturempfehlungen zum Thema Paarbeziehung:

Von Hans Jellouschek gibt es mehrere empfehlenswerte Titel:

Der Froschkönig.

Semele, Zeus und Hera.

Mit dem Beruf verheiratet.

Wagnis Partnerschaft. Wie Liebe, Familie und Beruf zusammengehen.

Liebe auf Dauer. Die Kunst, ein Paar zu bleiben.

Außerdem empfehle ich:

Peter Schellenbaum: Das Nein in der Liebe – Abgrenzung und Hingabe in der Liebesbeziehung.

Michael Lucas Moeller: Die Wahrheit beginnt zu zweit.

Anmerkung:

Die Unterscheidung von Geschäftsbeziehung und „Liebesbeziehung“ ist nicht nur in der Paarbeziehung, sondern auch in allen anderen Beziehungen sehr hilfreich. In Familienbeziehungen, wenn es um Geschäfte und insbesondere um Erbangelegenheiten geht; in Arbeitsbeziehungen und Freundschaften, wenn Personen mit persönlichem Charme und privaten Kontakten oder mit Geld zu manipulieren versuchen.

Tipp

2.5 Freunde, Freundinnen, Freundschaften

Menschen, die sich in ihrem Leben wohlfühlen, pflegen Freundschaften mit in der Regel drei bis fünf Freunden oder Freundinnen. Untersuchungen in Deutschland zeigen, dass meist Frauen wesentlich mehr Freundschaften pflegen und Männer relativ häufig nur einen Freund oder gar keinen „haben“. Freundschaften haben, ähnlich wie Paarbeziehungen, einen Aspekt von Intimität. Diese Intimität umfasst, sich mit ganz privaten Dingen einem anderen anvertrauen zu können und sich dabei verstanden zu fühlen. Freundschaft gibt den Beteiligten das Gefühl, so sein zu dürfen, wie sie gerade ‚drauf’ sind, aber auch klare Worte zu hören, wenn der Freund oder die Freundin anderer Meinung ist.

Wir können mit Freunden und Freundinnen gemeinsam Dinge erleben: reisen, spielen, Hobbys pflegen, Sport treiben, reden, schweigen, singen, tanzen, essen. Die Paarbeziehung wird einerseits durch Freundschaften von einer guten Portion Zuwendungsdruck befreit. Und andererseits können wir uns mit Freunden über Probleme in der Paarbeziehung austauschen, aber auch über Themen wie Elternschaft, Arbeit etc. Wir erhalten Rückmeldungen, lernen andere Ideen kennen, andere Blickwinkel. Wir erfahren, dass andere Menschen vergleichbare Themen wie wir hin und her bewegen und dass ihnen ähnliche Entwicklungsherausforderungen begegnen wie uns selbst.