Bruno Waldvogel-Frei

Das Lächeln
des
Dalai Lama

… und was dahinter steckt

© 2008 SCM R.Brockhaus
im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten

Umschlag: www.provinzglueck.com

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-417-21007-1 (E-Book)

ISBN 978-3-417-26253-7 (Buchausgabe)

Vorwort

Dies ist nun die dritte revidierte und erweiterte Auflage eines Buches, das eigentlich nie ein Buch werden sollte. Es hat so manchen Wirbel ausgelöst, was verständlich und zugleich unverständlich ist.

Verständlich deswegen, weil noch immer ein großes Informationsdefizit besteht. Denn einerseits wird in unseren westlichen Medien ein Dalai-Lama-Bild zelebriert, das sich an der Grenze zum Kitsch bewegt. »Der Gott zum Anfassen« titelte zum Beispiel »Der Spiegel«.1 Der Dalai Lama, Friedensnobelpreis- und Hoffnungsträger für Tibet – ein Mann, der dem mächtigen China zu widerstehen wagt und sich unermüdlich für die Menschenrechte einsetzt. Ein gern gesehener, bescheidener Gast in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Warum sollte man etwas gegen diesen ewig lächelnden »Gottkönig« haben wollen? Wohl doch nur aus Neid und Missgunst! Verständlich, dass ein Buch wie dieses Ablehnung oder gar Empörung auslöst. Doch was in den Klatschspalten und Journalen zu lesen ist, sind in der Regel Abhandlungen, die so wenig mit der Realität zu tun haben wie Karl May mit der wirklichen Geschichte der Indianer. Dies also die verständliche Seite, warum es so viel Widerstand gegen das gegeben hat, was Sie gerade lesen.

Unverständlich andererseits bleibt der Wirbel, weil es schon seit Jahrzehnten eine reichhaltige Fachliteratur gibt. Literatur, in der realistisch dargestellt wird, was im tibetischen Buddhismus wirklich Sache ist. Zugegeben – wer mit dieser nüchternen Perspektive konfrontiert wird, fällt im ersten Augenblick aus allen Wolken. Denn zwischen Propaganda und Realität klafft der berühmte »garstige Graben« weit auseinander. Der Dalai Lama und der von ihm vertretene tibetische Buddhismus sind anders als das bisschen Mitgefühl, Nirwana und Räucherstäbchen. Für viele Laien schockierend anders.

Es verwundert nicht, dass dieses Buch auf Widerstand und Polemik gestoßen ist – so nüchtern es die Dinge auch beim Namen nennt. Ich habe, wie bereits gesagt, Verständnis dafür. Denn – ich gestehe es ein – meine eigenen Recherchen haben mich selbst überrumpelt. Da tauchten Dinge auf, die ich nicht geahnt hatte. Aber fangen wir ganz vorne an. Was war der Auslöser für dieses Buch?

Blenden wir zurück. Meine Reise in die Welt der tibetischen Riten, Mandalas und Initiationen begann 2001. Als Abschluss einer Tibet-Ausstellung in Basel fand am 2. Dezember 2001 die offizielle Zerstörung des Kalachakra-Mandalas statt. Die Besucher hatten zuvor mehrere Tage lang die faszinierende Herstellung des aus Sand gestreuten geometrischen Bildes durch tibetische Mönche beobachten können.

Der Besuch des 14. Dalai Lama zur Eröffnung der Ausstellung war unbestrittener Höhepunkt in der Stadt am Rheinknie gewesen. »Seine Heiligkeit« wurde mit großer medialer Begeisterung im Basler Münster begrüßt. Das dort geplante Podiumsgespräch zwischen christlichen und buddhistischen Geistlichen mündete letztlich in eine philosophisch-religiöse Belehrung durch den prominenten Gast.

Der Beobachter erlebte allerdings einen merkwürdig gehetzten Dalai Lama. Nur flüchtig kommentierte er die Ausstellung und meinte, dass man bei gewissen Dingen halt doch besser wegsehen sollte. Das alles machte mich neugierig. Ich wollte wissen, worum es geht, und bohrte tiefer. Was ist der tibetische Buddhismus?

Zu meinem Erstaunen entdeckte ich, dass hinter den Kulissen seit Jahren eine breite, heftig geführte Debatte im Gange war. In München hatte es bei der Ankunft des Dalai Lama lautstarke Proteste gegeben. Wie war das möglich? Offensichtlich ging es in diesen emotional und kontrovers geführten Debatten um mehr als um Sandmandalas oder touristische Artikel aus Tibet.

In der Folge meiner Recherchen geriet ich – innerlich hin- und hergerissen – in ein komplexes religiöses Feld. Ich wurde neugierig: Wie viel Wahrheit steckte in den unglaublichen »Enthüllungsbüchern« über den tibetischen Buddhismus? Die dort angeschnittenen Themen verfolgte ich in eigenständiger Recherche weiter.

Ich sage es noch einmal: ein Buch zu schreiben war zu keinem Zeitpunkt meine Absicht. Ich bin in erster Linie Theologe, nicht Tibetologe. Dass aus den Recherchen zuletzt doch ein Buch wurde, liegt daran, dass ich von verschiedensten Seiten ermutigt – ja, beinahe gedrängt – wurde, meine Einsichten als kritischen Beitrag zum interreligiösen Dialog verfügbar zu machen.

Schon ein Jahr darauf, im Oktober 2002, fand in Graz ein europaweit beachtetes Kalachakra-Ritual statt (zum Kalachakra siehe Kapitel »Das Kalachakra-Tantra«). »Kalachakra for Worldpeace« versprach einen entscheidenden Beitrag zur Verwirklichung menschlicher Friedenssehnsüchte. Tausende von Gästen aus dem In- und Ausland wohnten der Veranstaltung bei. Der Dalai Lama leitete die Zeremonie. Graz war ein Höhepunkt der buddhistischen Initiationen (Einführungsriten und Belehrungen) in Europa. Dieses Buch löste dann auch in Österreich einen ziemlichen Wirbel aus – doch dazu später.

Dem Drängen von Freunden, Bekannten und Buddhismus-Interessierten habe ich nun auch mit dieser dritten erweiterten Ausgabe nachgegeben. Ich hoffe, sie eröffnet in verständlicher Weise einen ersten Zugang zu einem religiösen System, das kompliziert, archaisch und manchmal von erschreckender Brutalität geprägt ist. Es ist keine leichte Lektüre und braucht an gewissen Stellen gute Nerven. Ich habe versucht, auf das Spektakuläre zu verzichten. Dennoch braucht es eine gewisse Deutlichkeit, müssen gewisse Dinge beim Namen genannt werden um verstehen oder fragen zu können.

Weiterhin hoffe ich auch, dass das Buch nicht polemisch oder respektlos geraten ist. Das Christentum musste lernen, sich mit dem eigenen Schatten auseinanderzusetzen. Heute stellen wir nüchtern fest, dass jede Religion ihre dunklen Seiten besitzt. Sie beim Namen zu nennen, ohne dabei den Respekt vor den Angehörigen dieser Religionen zu verlieren, ist eine Aufgabe, die sich meinem Buch stellt.

Für Buddhismus-Freunde wird es – das ist mir bewusst – dennoch ein Stein des Anstoßes bleiben. Immerhin hat es mitgeholfen, eine innerbuddhistische Diskussion auszulösen, die – allerdings abgeschirmt von der Öffentlichkeit – noch nicht abgeschlossen ist. In diesem Buch werde ich auch bewusst immer wieder einmal von einer christlichen Warte aus ethische und religiöse Anfragen stellen. Denn Dialog bedeutet auch, eigene Meinungen ins Gespräch zu bringen. »Das Gute behaltet«, hatte einmal der christliche Missionar und Apostel Paulus geschrieben. Ein Leitsatz, der Buddhisten durchaus vertraut sein sollte. Das wünsche ich allen Lesern dieses Buches.

Basel im Juli 2008,
Bruno Waldvogel-Frei

Der Tibetische Buddhismus – ein eigenständiges Phänomen

Der Buddhismus ist eine Trendreligion. Stichworte wie »Achtsamkeit« oder »Pazifismus« werden mit ihm assoziiert. Der 14. Dalai Lama gilt in unseren Breitengraden als die Personifikation dieser Eigenschaften. Der »einfache Mönch« aus dem Tibet fasziniert die Massen. Schweizer Städte wie Basel oder Zürich verweisen mit großem Stolz darauf, ihn als Gast bei sich gehabt zu haben.

Unermüdlich redet der Dalai Lama über gegenseitigen religiösen Respekt und die Befreiung Tibets. Das Lachen ist sein Markenzeichen. Tibet, der Inbegriff des verloren gegangenen Paradieses, zerstört durch das grausame kommunistische Regime Chinas – ein Bild, das wir verinnerlicht haben. Kein Wunder, dass sich Tibet-Ausstellungen als Publikumsmagnet erweisen. Offensichtlich werden hier westliche Sehnsüchte und Projektionen berührt.

Dazu hat die Hollywood-Maschinerie verschiedenste Produktionen geliefert, die etwas von dieser Faszination zu transportieren wissen. Denken wir nur an Filme wie »Little Buddha«, »Sieben Jahre in Tibet« oder »Kundun«. Der Mythos Tibet erhielt seit den 1990er-Jahren einen neuen Aufschwung. Sein Motor sind viele Prominente, die sich öffentlich zum Buddhismus bekennen. Und, um ehrlich zu sein: Ist es nicht auch etwas schick, mit dem Dalai Lama zusammen abgelichtet zu werden?

Zweifellos: die Tibeter hatten und haben es nicht einfach. Tibet war über Jahrhunderte hinweg eine archaische Gesellschaft, vergleichbar mit dem europäischen Mittelalter. Viele Tibeter flüchteten ins Exil. Zahleiche von ihnen in die Schweiz, meine eigene Heimat. Dabei wurden sie um ein paar Jahrhunderte nach vorne katapultiert. Als Folge davon leben sie in einer doppelten Spannung. Einerseits tragen sie ihr eigenes uraltes religiöses Erbe in eine Kultur hinein, die vom Christentum geprägt ist. Dabei treffen zwei Kulturen aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Das schafft eine Identitätskrise. Andererseits kommt ihnen im Exil eine fast euphorische Buddhismus-Faszination entgegen, die vor allem von jenen intellektuellen Kreisen genährt wird, die sich enttäuscht vom Christentum abgewendet haben. Sie haben in fremden religiösen Systemen gesucht und sind im tibetischen Buddhismus fündig geworden. Und wie das bei Konvertiten häufig der Fall ist, werden die dunklen Seiten der neu gefundenen Religion gerne übersehen oder bewusst ausgeblendet.

Westliche Aktivisten arbeiten an einem Tibet-Bild, das es so nie gegeben hat. Eigentlich müssten die Tibeter selbstkritisch diesen Klischees entgegentreten. Das tun sie aber nicht oder nur sehr zögerlich. Verständlicherweise. Denn wer würde schon fremde Sympathien für die eigene Kultur verspielen wollen? Das geistlichweltliche tibetische »Oberhaupt«, der 14. Dalai Lama, benutzt die Sympathien geschickt, um seine eigenen Ziele zu erreichen, die längst nicht nur in der Befreiung von Tibet bestehen. Oberhaupt mit Anführungszeichen geschrieben, weil diese Stellung innerhalb der tibetischen Religionskreise nicht unumstritten ist. Und erst recht nicht im Buddhismus generell.

Es lohnt sich daher, einen Blick auf die Besonderheiten des tibetischen Buddhismus zu richten. Als christlicher Theologe habe ich mich im Rahmen meines Studiums natürlich auch mit dem Buddhismus auseinandergesetzt. Aber Buddhismus ist nicht gleich Buddhismus – so banal das klingt, so wichtig ist diese Feststellung. Dahinter steckt eine lange und komplizierte Geschichte. Es gibt – grob gesagt – drei verschiedene Richtungen innerhalb dieser Religion.

Das Kleine Fahrzeug – Hinayana – vertritt eine Weltsicht, in der das Dasein hauptsächlich negativ bewertet wird. Durch Askese, Meditation und rechtes Handeln überwindet der Gläubige die Welt, indem er erkennt, dass die irdischen Phänomene wesenlos, vergänglich und leidvoll sind – Trugbilder letztlich. Der Mensch und seine Entleerung durch die Askese stehen hier im Zentrum.

Das Große Fahrzeug – Mahayana – erweitert die ursprüngliche Lehre durch später hinzugekommene Ideen. Der Mahayana-Buddhismus wertet die Welt positiver und sieht sie als eine Ausdrucksform des All-Geistes. Er rechnet damit, dass viele Wesen befähigt werden, nicht nur für sich selber, sondern auch für andere eine Erlösung zu schaffen, und zwar als Bodhisattva. Ein Bodhisattva ist ein noch nicht vollendeter Buddha, der auf seine Vollendung verzichtet, um den Menschen durch sein Wissen zu helfen. Darum spielen hier vermittelnde Mächte, Götter und Dämonen (letztlich alles Ausdrucksformen des Buddhas) eine wichtige Rolle. Historisch gesehen war das Große Fahrzeug der Durchbruch zur Weltmission. Denn von nun an konnte der Buddhismus verschiedenste religiöse Strömungen (auch Natur- und Dämonenreligionen) integrieren, indem er sie einfach umdeutete und zuletzt auflöste. Die Menschen konnten nun Buddhisten werden und zugleich weiterhin ihren eigenen alten Göttern huldigen. Denn was spielte es für das einfache Volk schon für eine Rolle, wer nun wem untergeordnet war oder zu welchem geistig-spirituellen Aspekt gezählt wurde? Hauptsache die alten Traditionen konnten fortbestehen. Da gewisse buddhistische Systeme ohnehin unendlich kompliziert und mühselig sind, feierten die alten Götter und Dämonen fröhliche Umstände.

Auch in der christlichen Missionsgeschichte sind derartige Phänomene bekannt. Typische Beispiele sind der Macumba- oder der Voodoo-Kult, die zwar oberflächlich durch das Christentum ersetzt wurden, unter der Oberfläche aber ihre Eigendynamik beibehalten haben. Zugunsten der Einverleibung lokaler Volksgruppen ins Christentum wurden deren magische Systeme nie wirklich überwunden – bestenfalls integriert oder uminterpretiert.

Und schließlich – das ist für unsere Betrachtung wichtig – bildet sich aus der Synthese von spätem Mahayana und magisch-erotischen Praktiken der sogenannte Vajrayana-Buddhismus – auch Diamant-Fahrzeug oder Tantrayana genannt. Genau hier ist der tibetische Buddhismus beheimatet, eine besondere und im Buddhismus generell sehr umstrittene Variante. Zaubersilben und Zaubergeräte spielen eine wichtige Rolle. Aber auch Sexualmagie und Alchemie sind bedeutsame Elemente.

Als der Buddhismus in das Gebiet Tibets vordringt, stößt er auf die Bön-Religion, eine uralte, archaische und zum Teil sehr grausame Dämonen-Religion. Wie überall gelingt es durch geschickte Integration (durch den ersten Buddhismus-Missionar Padmasambhava, buddh. »Rinpoche«), diese Bön-Religion zu absorbieren. Die furchtbaren Götter werden zu Vorstufen Buddhas erklärt und als Beschützer in das buddhistische Pantheon eingereiht. Aber unter der buddhistischen Oberfläche leben und wirken diese Götter und Riten weiter.

Tibet erlebt zwei buddhistische Missionierungswellen. Daraus entstehen verschiedene Sekten, die sich bis heute zum Teil erbittert bekämpfen. Dies sind zum einen die Nyingmapa oder »Rotmützen«-Mönche, die eine rote Mütze tragen und sich auch die »Schule der Alten« nennen. Daneben gibt es die Richtung der Kagyüpa, die durch die mündliche Überlieferung geprägt ist. Der Lehrer oder Meister spielt in dieser Überlieferungslinie die zentrale Rolle. Diese Linie wurde später in langwierigen Religionskriegen von den Gelugpa, den sogenannten »Gelbmützen« unterworfen. Dieser Richtung gehört der Dalai Lama an, der auch den Kagyüpa vorsteht.

I. Teil: Ein schneller Weg zur Erlösung: Der tantrische Buddhismus

Meine literarischen Recherchen für dieses Buch begann ich mit dem Titel »Der Schatten des Dalai Lama« von Victor und Victoria Trimondi. Das hat seinen guten Grund. Denn bis zum heutigen Tag ist mir kein Werk von dieser Gewichtigkeit (im doppelten Sinne) begegnet, das einen so umfassenden kritischen Brückenschlag zwischen Ost und West versucht hat. Sollte sich die Analyse der Trimondis als korrekt erweisen, wäre sie ein bedeutsamer Beitrag zum Dialog mit dem tibetischen Buddhismus. Was sind die Hauptaussagen der Autoren?

Das Kernthema im tantrischen Buddhismus

Gibt es so etwas wie ein Kernthema im tantrischen Buddhismus? Im Christentum geht es bekanntlich um die Erlösung von den Sünden, die Wiederherstellung der Beziehung zwischen Schöpfung und Schöpfer und um das ewige Leben in der persönlichen Gottesbeziehung. Welt und Schöpfung werden als etwas Positives gesehen, wenn auch durch die Sünde getrübt.

Der Buddhismus hegt eine tiefe Skepsis dem Leben gegenüber. Leben ist Leiden. Und demzufolge kann das Ziel der Spiritualität nur darin bestehen, so bald als möglich aus dem ewigen Kreislauf des Leidens erlöst zu werden und zu erlöschen. Dies geschieht in der Regel durch Meditation, Achtsamkeit, Mitleid und diszipliniertes Leben. Und diese »Erlösung« wird über unzählige Wiedergeburten Stufe um Stufe erarbeitet.

Im tantrischen Buddhismus, genauer der tibetischen Variante, gibt es auf dem Weg zur Erleuchtung allerdings einige Überraschungen. Der Tantrismus, den der Dalai Lama vertritt, verspricht einen schnelleren Weg, und zwar die Möglichkeit, Erleuchtung schon in diesem Leben zu gewinnen. Ein schneller buddhistischer Weg zum Glück? Man ahnt schon, dass hier wohl ungewöhnliche Wege warten. Und so ist es in der Tat:

»Das Mysterium des tantrischen Buddhismus besteht in der Aufopferung des weiblichen Prinzips und in der Manipulation des Eros zur Erlangung universeller androzentrischer (d. h. männlicher) Macht.«2

Die Frauen in der Sicht des historischen Buddhas

Der Buddhismus ist bei Frauen sehr beliebt. Gerade in feministischen Kreisen wird immer wieder betont, welche ungeahnten Möglichkeiten hier auch den Frauen offenstünden. Immerhin gibt es ja auch weibliche Buddhas. Der tibetische Tantrismus hat etwas mit männlicher und weiblicher Sexualität zu tun. Es geht um das Rollenverständnis der Geschlechter. Und daraus hervorgehend wird die religiöse Bedeutung der Geschlechter abgeleitet. Welche Bedeutung hat die Frau im Buddhismus?

Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass die Überlieferungen des historischen Buddhas nicht gerade schmeichelhaft über die Frauen reden. Im Gegenteil. Die Frauen sind erstens das »Tor« zur Wiedergeburt – geboren zu werden ist ja überhaupt nicht erstrebenswert. Und zweitens wecken Frauen im Mann Leidenschaften. Aber genau diese Leidenschaften sind das Hindernis, um zur Erleuchtung und letztlich zur Erlösung zu gelangen.

Die daraus resultierende Logik ist folgenschwer: Frauen und alles Weibliche sind etwas Minderwertiges und müssen überwunden werden!

Das ist der Hintergrund von Zitaten wie den folgenden:

»Man plaudere eher mit Dämonen und Mördern mit gezücktem Schwert, berühre eher giftige Schlangen, selbst wenn ihr Biss den Tod bewirkt, als dass man plaudere mit einem Weibe ganz allein.«3

»Besser wäre es, Einfältiger, wenn Dein Geschlecht in den Mund einer giftigen und schrecklichen Schlange eindränge, als dass es in eine Frau eindringt. Besser wäre es, Einfältiger, wenn Dein Geschlecht in einen Backofen eindränge, als dass es in eine Frau eindringt.«4

»Die Gefahr des Haies aber, ihr Mönche, ist eine Bezeichnung des Weibes.«5

Die unter einem Pseudonym schreibenden Victor und Victoria Trimondi stellen fest: »Im Vinaya Pitaka, dem großen Buch der Ordensregeln, das für alle Phasen des Buddhismus gültig ist, finden sich acht spezielle Vorschriften für Nonnen. Eine davon lautet, dass sie sich noch vor dem geringsten und jüngsten aller Mönche zu verbeugen haben. Dies gilt selbst für die ehrenwerte und bejahrte Vorsteherin eines angesehenen Klosters.«6

Der Bodhisattva, der die mitfühlende Seite des Buddhas zeigt und »dessen höchste Aufgabe es ist, allen leidenden Wesen zu helfen, unterstützt jetzt die Frau freigiebig und selbstlos dabei, sich von der drückenden Last ihres Geschlechts zu befreien. Wenn in einem weiblichen Wesen der Erleuchtungsgedanke erwacht und sie dem Dharma (der buddhistischen Lehre) folgt, kann sie so große Verdienste ansammeln, dass es ihr erlaubt ist, in ihrem nächsten Leben als Mann zu inkarnieren. Führt sie dann in männlicher Gestalt weiterhin eine makellose Existenz im Dienste der ›Lehre‹, dann erfährt sie das Glück, nach ›ihrem‹ zweiten Tode im Paradies des Buddha mithaba zu erwachen, das ausschließlich von Männern bevölkert ist.«7

Im Tibet scheint das mit den Frauen nicht anders zu sein. Das tibetische Wort für »Frau« bedeutet »niedrig Geborene«. Das Wort »Mann« hingegen heißt »Wesen von höherer Geburt«. Die Geburt eines Mädchens brachte in der alttibetischen Gesellschaft Unglück, Söhne versprachen Glück und Wohlstand. Da ja die Wiedergeburt ein Fluch ist, ist die Frau, die gebärt, logischerweise mit ein Grund zum Unglück.

Zwar hatten die Frauen große Freiheiten – zum Beispiel in der Beziehung zu Männern – allerdings nicht in den spirituellen Dingen.

Beim näheren Hinsehen sind nicht einmal die weiblichen Buddhas ihren männlichen »Kollegen« ebenbürtig. So klagt Yeshe Tshogyal, die gerne von Feministinnen zitiert wird:

»Ich bin eine Frau – ich habe wenig Kraft, mich den Gefahren zu widersetzen. Aufgrund meiner niedrigen Geburt greift mich jeder an. […] Weil ich eine Frau bin, ist es schwer, dem Dharma zu folgen. Es ist selbst schwer, am Leben zu bleiben.«8

Mir ist bewusst, dass die Frauenfrage auch im Christentum zu Kontroversen und kulturellen Kämpfen geführt hat. Aber dass der Buddhismus diese Problematik in seinen heiligen Schriften noch um ein Vielfaches verschärft und polemisiert, sollte spätestens hier Frauen hellhörig machen.

Der lamaistische Buddhismus ist Sexualmagie

Der »schnelle« Weg zur Erleuchtung im Tantrismus benötigt also besondere Mittel. Anders ist das Versprechen, schon in einem einzigen Leben noch vor dem Tod Erleuchtung zu erlangen, nicht möglich. Und offensichtlich stellt das Geschlecht des Praktizierenden je nachdem ein »Problem« dar.

Die »Lösung« im Tantrismus besteht im Einsetzen sexualmagischer Praktiken, welche ganz aus männlicher Perspektive betrachtet werden. Sexualmagie verspricht, beim sexuellen Verkehr magische Energien freizusetzen. Die männliche Methode (Upaya) überwindet die weibliche Weisheit (Prajna). Wissen, Materie, Sinnlichkeit, Sprache, Licht – ja das gesamte Universum – erfährt der Yogi den tantrischen Texten nach als weiblich (ein »Yogi« ist jemand, der den tantrischen Buddhismus praktiziert). Die weibliche Kraft (Shakti) und die weibliche Weisheit (Prajna) gebären für ihn ununterbrochen die Realität; selbst transzendente Wirklichkeiten wie die »Leere« (Shunyata) sind weiblichen Geschlechts. Und hier wird auch die Wurzel allen Übels ausgemacht: Das Weibliche soll die Ursache der leidvollen Wiedergeburten sein. Deshalb muss es überwunden werden.

Um sich die feminine Urmacht des Alls anzueignen, hat der Yogi die entsprechenden spirituellen Methoden (Upaya) zu beherrschen. Sie haben zum Ziel, die weibliche Form in die männliche umzuwandeln mit der Absicht, Macht zu kumulieren. Kurzum: Das Weibliche wird vom Yogi absorbiert und manipuliert, um dann von ihm beherrscht zu werden. Damit das geschehen kann, braucht der Yogi die Hilfe von Frauen, mit denen er den Sexualakt vollziehen kann. In den tantrischen Texten auffallend häufig erwähnt werden die »erotischen« Bannsprüche, die den Yogi befähigen sollen, sich Frauen für seine sexualmagischen Rituale zu beschaffen. Den rituellen Sexualakt praktiziert er auch nach der Erleuchtung, denn da im Weibe der Schlüssel zur Macht liegt, festigt jeder liturgische Beischlaf seine Allmacht.9

Das »Zwei-in-Einem-Prinzip« des Yogis zielt jedoch nicht auf einen Zustand jenseits der Sexualität und des Eros hin. Der Tantra-Meister macht sich die männlich-weiblichen Sexualenergien bewusst zu Machtzwecken nutzbar und vernichtet sie nicht, selbst wenn sie nach der Initiation nur innerhalb seiner eigenen Person präsent sind. Sie wirken dort weiterhin als die beiden polaren Urkräfte, nur jetzt innerhalb des androgynen Yogi. Wenn er auch in seiner irdischen Gestalt als Mann vor uns steht, so herrscht der Yogi doch als Mann und als Frau, als Gott und als Göttin, als Vater und als Mutter zugleich. Und die Frau? Sie verschwindet aus dem tantrischen Szenario, nachdem ihr der Yogi die Gynergie (weibliche Energie) durch sexualmagische Techniken »geraubt« hat. Hat er erst einmal die erforderlichen Yogatechniken gemeistert, braucht er keine weibliche Partnerin mehr, denn der ganze Prozess wird jetzt in seinem eigenen Körper durchgeführt.

Die Sexualpartnerinnen im tantrischen Buddhismus

Sexuelle Energie als Weg zur schnellen Erleuchtung … Der Moment der Ekstase als Auslöser magischer Energien … Solche Gedanken sind nicht neu. Sie werden in den verschiedensten magischen Systemen (bis hin zum Satanismus) angewendet. Allerdings – und hier kommt das Besondere im Tantrismus – muss der Mann seinen Samenerguss verhindern. Und nicht nur das. Er muss sogar den »Samen« der Frau im Sexualakt »aufsaugen«. Es findet also kein gegenseitiger oder gleichwertiger Austausch sexueller Energien statt. Vielmehr begegnet uns hier eine Art »sexueller Vampirismus«.

Der religiöse Verdienst der Frau besteht darin, dass sie sich dem Mann zur Verfügung stellt. Dadurch gewinnt sie positives Karma und wird vielleicht im nächsten Leben als Mann geboren. Da der Tantrismus bekanntlich aus der Sicht des Mannes praktiziert wird, werden Frauen (sog. Weisheitsgefährtinnen oder Mudras) zur Auslösung und Aneignung der sexuellen Energien benötigt.

Es gibt drei Arten von »Weisheitsgefährtinnen«, mit denen der Yogi praktizieren kann. Dass dabei – möchte man sarkastisch sagen – nur schöne, junge und hingebungsvolle Frauen in Frage kommen, versteht sich von selbst. Wie das und was nun geschehen soll, hat mich zutiefst erschüttert.

Die Karma Mudra

Die Karma Mudra ist eine wirkliche Frau:

»Sie ist weder zu groß noch zu klein, noch allzu schwarz oder allzu weiß, sondern dunkel wie ein Lotusblatt. Ihr Atem ist süß und ihr Schweiß hat einen angenehmen Geruch wie von Moschus. Ihre Vagina entlässt ununterbrochen einen Duft wie von verschiedenen Lotusarten oder süßem Aloeholz. Sie ist ruhig und bestimmt, angenehm im Sprechen und immer fröhlich …«10

Das Kalachakra-Tantra empfiehlt für die Frauen eine Ausbildung in den raffinierten indischen Liebestechniken des Kama Sutras.11

Jugend ist eine weitere Anforderung, welche die Mudra zu erfüllen hat. Der Maha Siddha Saraha, ein bedeutender Lehrer des tibetischen Tantrismus im 8. Jahrhundert, unterscheidet fünf verschiedene Weisheitsgefährtinnen je nach dem Alter: Die achtjährige Jungfrau (Kumari); die zwölfjährige Salika; die sechzehnjährige Siddha, die schon monatliche Blutungen aufweist; die zwanzigjährige Balika und die fünfundzwanzigjährige Bhadrakapalini, die er als »gebranntes Fett der Weisheit«12 bezeichnet.

Der Tantriker Lama Gedün Chöpel warnt ausdrücklich davor, dass bei den Kindern während des Sexualaktes Verletzungen auftreten könnten:

»Mit Gewalt in ein junges Mädchen eindringen kann ernste Schmerzen hervorrufen und ihre Genitalien verwunden … Wenn es nicht die Zeit ist und wenn der Geschlechtsverkehr für sie gefährlich ist, reibe dich zwischen ihren Schenkeln und es (der weibliche Same) wird herausfließen.«13

Walker erklärt dazu:

»Beim Ritus der Jungfrau-Verehrung (Kumaripuja) wird ein Mädchen ausgesucht und auf die Initiation vorbereitet, ohne zu wissen, welches Schicksal sie erwartet. Man bringt sie zum Altar und verehrt sie nackt, bis schließlich ein Guru oder ein Schüler sie entjungfert.«14

Zu bevorzugen sind aus Gründen der Zahlenmystik zwölf- oder sechzehnjährige Mädchen. Nur dann, wenn solche nicht gefunden werden können, empfiehlt der Gründer der Gelbmützensekte (zu der auch der Dalai Lama gehört), Tsongkapa, den Gebrauch einer Zwanzigjährigen.

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