image

Antje Ippensen

BitterSüß

image
www.Elysion-Books.com

Die Autorin:

Antje Ippensen ist eine Mannheimer Autorin. Sie publiziert seit 1989 und ihre Texte wurden bereits vielfach prämiert (u. a. beim Kurd-Laßwitz-Preis und beim FDA Preis für phantastische Kurzgeschichten).

Neben dem Schreiben von phantastischen oder S/M-erotischen Kurzgeschichten (die z. B. im Charon Verlag in den Magazinen »Böse Geschichten« und »Schlagzeilen« erschienen sind) verwirklicht sie mit einer Freundin verschiedene künstlerische Projekte.

Nach den erfolgreichen BDSM Thrillern »Fesselndes Geheimnis« und »NachSchlag« ist »BitterSüß« der dritte bei Elysion-Books erschienene Titel.

Eine Fortsetzung von »Fesselndes Geheimnis«, »Labyrinth der Lust«, ist in der Vorbereitung.

image

ELYSION-BOOKS TASCHENBUCH

ORIGINALAUSGABE

UMSCHLAGGESTALTUNG: Ulrike Kleinert

FOTO: © Fotolia/ S.Kassal

www.Elysion-Books.com

Inhalt

BitterSüß

Prolog

Rückblick als Vorspann

Tiefe Nacht oder Vor Tagesanbruch

½ Perlfarbene Dämmerung – es wird langsam hell

Morgenröte auf meiner Haut

Danke, dass du immer für mich da warst, während »BitterSüß« entstand; danke für Deine Freundschaft, liebe Josiane.

»Schreiben ist wie Sex.«

(Isabel Allende)

Prolog

Es war eine grenzenlos öde Miniparty. Jedenfalls für sie. Die anderen Vier schienen sich gut zu unterhalten; deren Geplauder, das dem von Papageien in einem sehr engen Käfig glich, ebbte kaum jemals ab, und beim Hinhören fühlte sie sich, mit einem permanent höflichen Dauerlächeln an ihrem pinkfarbenen Cocktail nippend, in einer Endlosschleife gefangen. Fehl am Platz und das fünfte Rad am Wagen – wie passend bei der Anzahl an Leuten! – das waren ihre Empfindungen. Als sei die berühmte kristallene Mauer zwischen ihr und den anderen jetzt aus Panzerglas.

Sie empfand dies so viel stärker, seitdem sie einen … Identitätsflash gehabt hatte. Und ihr brennendster Wunsch war es, ihre Empfindungen mit jemandem teilen zu können … vorzugsweise mit einer Frau, einem schwulen Mann oder meinetwegen auch mit einem toleranten Heteromann, aber … sie fürchtete sich auch davor. Wenn sie recht überlegte, so war sie hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch es geheimzuhalten und es ausgewählten Leuten zu offenbaren.

Himmel, war das hier zäh. Sie hatte nicht wirklich etwas gegen Smalltalk, doch das hier war schon smallest talk. Oder kam ihr das nur so vor? Weil sie sich gerade so fühlte, als hätte der Fluss ihres Lebens einen scharfen Knick gemacht?

Es war alles noch so frisch …

Sie schaute sich die vier anderen an, auch ihren Bekannten, der sie überredet und mitgeschleppt hatte, und fragte sich, was wohl in ihnen vorgehen mochte, ob nicht jeder einzelne bloß fassadenhaft dieses nichtige Geplapper von sich gab und die Papageienfedern eitel spreizte und IN WAHRHEIT … hm, ein ebenso unorigineller wie trotzdem stimmiger, tiefer Gedanke.

Sie merkte, wie ihr Lächeln verrutschte.

Aber anhaben konnten ihr die Papageienmenschen eigentlich nichts. Sie war geschützt.

Deine starken und warmen Hände. Dein offener, zielbewusster, unbeirrbarer Blick.

Wie immer spendeten ihr diese Bilder Kraft. Sie nahmen die Farben der Umgebung auf und intensivierten die inneren Filmsequenzen noch einmal, und der Außenwelt blieben nur fade und gedämpfte Töne. Sogar ihr Drink, der Limettensaft, weißen Rum, Ananassaft und etwas Grenadinesirup enthielt, sah auf einmal sandgrau aus, und sie schob ihn beiseite. Er schmeckte sowieso nicht, was nicht an der Mixtur selber lag, nein, das nicht … seit ihrem einschneidenden Erlebnis mied sie Alkohol; sie kannte jetzt etwas, das wahren Geschmack verhieß.

Gerade als sie sich – in eine Smallest-Talk-Pause hinein – vernehmlich räuspern wollte, sah sie zum Glück, wie ihr Bekannter verstohlen auf die Armbanduhr schaute und dann höflich den Gastgeber ansprach. Immerhin hatte er nicht vollends verdrängt, dass sie beide schließlich zu einem bestimmten Zweck hier waren, nicht bloß zum Plaudern.

»Ach ja richtig«, sagte der Hausherr. »Ihr wolltet euch die Bücher oben ansehen und mitnehmen, was ihr brauchen könnt. Ist ’ne große Hilfe, denn so ein Umzug ist einfach die Hölle.« Er verzog das Gesicht, kippte den Rest seines Bieres und brachte sie dann auf den staubigen und spärlich beleuchteten Dachboden.

Bald waren sie fleißig am Stöbern und Zusammenpacken; es gab so einiges an Schätzen in gedruckter Form. Ihr Bekannter durchforstete eine Ecke am anderen Ende des Speichers, als sie eine Truhe fand, auf der fingerdick der Staub lag.

Sie hob den Deckel und sah in blaues Leinen gebundene schmale Schriftstücke, die ihr direkt »Tagebuch« entgegenriefen. Ihre Neugier schoss augenblicklich hinauf in die Stratosphäre, sie setzte sich unter die herabbaumelnde Glühbirne in einen zerschlissenen geblümten Ohrensessel und steckte ihre Nase in diesen ungewöhnlichen Fund.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Vor zehn Jahren hatte eine ihr unbekannte Frau über ihr Leben geschrieben und ihr Werk dann auf dem Dachboden verschwinden lassen; weshalb wohl?

Das war unglaublich, phantastisch!

Wie ein Zeichen, ein Omen, denn kurz zuvor hatte sie sich doch gewünscht, Erfahrungsaustausch zu bekommen und mit jemandem über die außergewöhnliche Wendung in ihrem Leben reden zu können?

In gewisser Weise ging ihr Wunsch in Erfüllung.

Rückblick als Vorspann

Tantalusqualen. Ich nehme an, dass die noch immer einigermaßen bekannt sind – und jeder und jede sie schon einmal erfahren hat. In heftiger oder abgeschwächter Form. Tantalusqualen: Etwas unerreichbar scheinendes immerzu zum Greifen nahe und doch unberührbar vor sich zu sehen; es weicht jedoch bei jedem Versuch, es zu erlangen, scheu zurück.

Genau betrachtet, klingt das eigentlich nicht sooo schlimm. Nicht wie in der eigentlichen antiken Sage selbst, wo Tantalus, von den Göttern für einen Frevel bestraft, vor Hunger und Durst fast umkam und sowohl Speise als auch köstlich erquickendes Wasser dicht vor der Nase hatte, beides ihm jedoch jedesmal, wenn er danach haschte, gnadenlos entzogen wurde.

Und doch – damals fühlte ich mich ein wenig so, wie er sich gefühlt haben musste, dieser Tantalus.

Mein ganz spezielles Problem, das mir diese Qualen verursachte, bohrte sich von Tag zu Tag tiefer in mich hinein und beschäftigte mich immer umfassender.

Es hatte allerdings nichts mit der Nahrungsaufnahme und nichts mit Getränken zu tun. Allerdings ging es um etwas ähnlich Lebenswichtiges.

Es war manchmal wie ein Traum, der mir im Aufwachen entglitt. Wie etwas, das mir auf der Zunge lag, aber einfach nicht über die Lippen kommen wollte. Es war eine schattenhafte Gestalt, von der ich gerade noch einen Mantelzipfel wahrnahm, aus dem Augenwinkel … die vor mir flüchtete, die ich um die Ecke herum verfolgte und GLEICH eingeholt haben würde … bog ich aber um diese Ecke, war sie weg.

Wie ein Gesicht in der Menge, das sich beim Näherkommen auflöste in Hunderte, ja Tausende lächelnder Münder und leuchtender Augen, so dass es nicht mehr auszumachen war …

Oh, dieser Druck. Es war, als sei ich ein Vulkan vor dem Ausbruch, der nur noch nicht wusste, ob er glühende Lava, Glasperlen oder kleine gefiederte Pfeile himmelwärts schleudern sollte.

Ich stand schon seit Jahren ratlos vor einer Tür mit einem kunstvoll geformten, altmodischen, schmiedeeisernen Schloss … wohl wissend, dahinter befand sich ein für mich immens wichtiger Raum … doch in der Hand hielt ich manchmal ein Schlüsselbund mit unendlich vielen Schlüsseln, manchmal etwas total Unpassendes wie eine Banane oder einen Schuh, und ab und zu versuchte ich das Schloss mit meinem Finger zu knacken, was natürlich ebenso fehlschlug wie meine anderen Bemühungen.

Kurz gesagt: Es war zum Aus-der-Haut-Fahren.

Tiefe Nacht oder Vor Tagesanbruch

28. Oktober 2002

Der Abend fing wirklich vielversprechend an. Mein Kollege lud mich zum Essen ein, war aufmerksam, ein bisschen frech, er roch gut, lächelte viel, machte mir leicht anzügliche Komplimente, bekam jedesmal, wenn er mir in den Ausschnitt schaute, noch etwas größere Augen (und mit Sicherheit einen noch etwas steiferen Steifen) – kurz, er war voll im Jagdmodus. Und ich genoss es, seine Beute zu sein, ermutigte ihn mit schnellen versteckten Seitenblicken, scheuem Lächeln, Zurechtzupfen meines tief und rund ausgeschnittenen Shirts, um noch ein Stückchen mehr von meinem Brustansatz preiszugeben … denn ich war ausgehungert und sehnte mich nach Sex. Verdammt, ich wollte ficken.

Ausgehungert, ja; auch ein bisschen aus der Übung und daher sehr verhalten – doch gerade das schien meinen Kollegen magisch anzuziehen. So dass ich die reizvolle Rolle der Scheuen, Unnahbaren einfach noch eine Weile weiterspielte, selbst nachdem ich eigentlich wieder in meine Flirtroutine hineingefunden hatte.

Er hieß Frankie, war groß, schlank, dabei sehr athletisch, ein Sportler mit einem jungenhaften Grinsen – aber nicht seine äußeren Attribute waren es gewesen, die mich an diesem Abend in die eindeutig-zweideutige Situation in dem Restaurant des Nobelhotels hineinmanövriert hatten. Sondern seine vehement vorgetragene Aussage, er habe schließlich in seiner Heimatstadt K. eine feste Freundin. Intensiv versichert hatte er mir, dass er eine solche Fernbeziehung, bei der die Partner sich nur an den Wochenenden sähen, geradezu liebe, sie sei IDEAL für ihn, das halte die Liebe taufrisch und man würde sich nicht in Alltagsgewohnheiten erschöpfen, sondern … Während er mir im Sekretariat diesen Schmus auftischte, schaute er mich gleißend an, mit Augen wie polierte Untertassen, und die ganze Zeit stand auf seiner Stirn: »Ich will dich vögeln« geschrieben.

Ah, ich fand sie köstlich, diese zur Schau getragene Treue-Moral. Diese durchdringende Verlogenheit. Genau das reizte mich, ließ meinen Füchsinnen-Blick auffunkeln – und der Funke sprang über.

Ich war dann bloß ein kleines bisschen verblüfft, wie blitzartig wir im Hotel landeten, nachdem ich ein einziges Mal vage Bereitschaft signalisiert hatte. Im Handumdrehen hatte Frankie alles organisiert.

Er und ich arbeiteten zusammen bei einem Softwareprojekt namens QUASI, seit ein paar Monaten. Da herrschte die reinste Goldgräberstimmung, denn es ging darum, einen etwas unbedarften Kunden nach allen Regeln der Kunst übers Ohr zu hauen und ihm möglichst teure Programme anzudrehen. Für mich als Sekretärin leicht zu durchschauen. Ich war zuständig für 60 bis 70 Mitarbeiter, und fast täglich kamen neue hinzu oder es wechselten auch mal die Gesichter. Praktisch jeder Arbeitsplatz beim Projekt war ein Schleudersitz, es konnte einen jeden Moment hinauskatapultieren – durch einen Fehler, eine Intrige, oder einfach nur so.

Meinen Posten hielt ich noch für relativ sicher, war aber auch angesteckt durch die allgemeine Stimmung und beeilte mich meistens, das viele Geld, was ich hier verdiente, rauszupulvern. Wir gingen mittags beispielsweise zum Thailänder und speisten, und zwar nur vom Allerfeinsten.

Ich war Freelancer, wie viele hier – für mich ein Novum, es schien mir ungewöhnlich, und genau das hatte mich auch angezogen: als freiberufliche Sekretärin zu arbeiten, die Rechnungen ausstellte für ihre Arbeitskraft und die stundenweise gut bezahlt wurde. Und der Job forderte einen total. Es kam vor, dass ich am Tag 14 Stunden abrechnete. Meine eigenen Rechnungen schreiben war zu meiner Lieblingsnebenbeschäftigung geworden, und mein Durchschnittseinkommen betrug fünf- bis sechstausend Euro im Monat. Der reine Wahnsinn.

Also, mit der Moral war es nicht weit her beim Projekt, wie oben schon angedeutet. Jeder belauerte jeden, es ging wölfisch zu, wobei ich glaube, dass das eine Beleidigung für Wölfe ist …

Als Sekretärin befand ich mich oft im Auge des Sturms, oder vielmehr: Ich schuf das Auge des Sturms, war der ruhende Pol, zu dem alle strömten, wenn sie sich ausweinen, auskotzen oder sonstwie irgendwas wollten … (nee, einen Quickie im Büro lieferte ich definitiv NICHT) außerdem war ich beinahe die einzige Frau, und ich spürte, wie das das gesamte Projekt vor unterdrückter Sexualität nur so vibrierte.

Bei mir gab es Kaffee, ich hörte zu und spendete Zuspruch.

Frankie kam besonders oft, so dass ich mich irgendwann fragte, wann er überhaupt noch seiner Arbeit nachging.

Und so waren wir also hier gelandet.

Das Ambiente gefiel mir. Das rosa gebratene Lammfilet schmeckte ausgezeichnet, der fruchtig-helle Wein perlte köstlich auf meiner Zunge. Eine wunderschöne Einstimmung.

Trotzdem wurde ich allmählich ein kleines bisschen unruhig.

Es war peinlich. Obwohl ich mich sehr nach erfüllender Erotik sehnte, blieb ich so trocken wie die Atacamawüste. Mist.

Während ich versuchte, mein Unbehagen zu verdrängen, streifte mein Blick – nicht zum ersten Mal – den sehr attraktiven, hochgewachsenen Kellner, der immer wieder an unseren Tisch kam. Er war jung und hatte dunkle Augen, die ebenfalls über mein Gesicht glitten, und zwar ohne zu lächeln. Trotzdem spürte ich ganz deutlich, dass ich ihm gefiel. Der Kellner, eine elegante Erscheinung, strahlte trotz seiner Jugend eine eigenartige Würde aus – ich konnte es nicht besser beschreiben. Plötzlich ertappte ich mich bei dem Wunsch, er und Frankie würden die Plätze tauschen.

Sofort zwang ich mich, diesen Gedanken zu verdrängen und das Beste aus meiner Situation zu machen.

Wir waren mit dem Dinner inzwischen beim Dessert angelangt und bei der Konversation beim Thema »Lieblingsfilme«. Ich erzählte Frankie von dem trashigen Film »Waxwork«, den ich gleichwohl heiß und innig liebte. Es fiel mir nur einigermaßen schwer zu erzählen, wieso, und als ich den Inhalt auch nur kurz beschrieb, lachte Frankie ungläubig auf.

»Entschuldige mal, aber das hört sich wirklich nach Trash an«, prustete er.

Idiot, dachte ich leicht verärgert, das hab ich doch gesagt. Flüchtig ging es mir auch durch den Sinn, dass der Typ offenbar oberflächlich war und sich nicht wirklich für sein Gegenüber interessierte – sonst hätte er schließlich gefragt, was mir denn besonders gut an dem Film gefiele, welche Szenen, und welche Schauspieler mitwirken würden. Bei seinem Lieblingsmovie hatte ich mich pflichtschuldigst nach all diesen Dingen erkundigt, obwohl ich mir kaum einen Streifen vorstellen konnte, den ich noch langweiliger fand als »Drei Männer und ein Baby«.

Frankie schaute mich an, und während seine Hand über den Tisch wanderte und die meine bedeckte, spürte ich gleichzeitig eine Berührung an meinem Bein.

»Na, über Geschmack lässt sich nicht streiten«, meinte er, »macht doch nix, wenn wir uns in Sachen Film nicht näher kommen. Hauptsache, in anderer Hinsicht …«, er zwinkerte mir zu, und seine angenehm große, warme und gepflegte Hand umschloss meine Finger.

Mein Ärger verrauchte. Stimmt, da hatte er völlig recht. Ich lachte ihn offen an – doch aus den Augenwinkeln beobachtete ich erneut den charismatischen Kellner. Und ich hätte schwören können, dass auch er mich mit seinen Blicken immer wieder streifte …

Ich bestellte mir noch einen Kaffee als Muntermacher, während Frankie noch ein Glas Wein leerte. Nach diesem Abschluss des Candle-Light-Dinners schlenderten wir zur Fahrstuhltür hinüber.

»Oh, meine Handtasche!«, rief ich plötzlich erschrocken aus und machte auf dem Absatz kehrt, um sie zu holen. Ich warf einen Blick über die Schulter, sah, wie Frankie erst zauderte, mir nachschaute, dann aber den Fahrstuhl rief und einfach auf mich wartete.

Stoffel, konnte ich nicht umhin zu denken. Leichtfüßig trotz meiner hohen Absätze tänzelte ich zu unserem Tisch im Restaurant, nahm das Handtäschchen von der Stuhllehne und beeilte mich auf dem Rückweg, da ich sah, der Lift war soeben angekommen.

Frankie, dem ein Blick in den Knigge wahrhaftig nicht geschadet hätte, stieg schon ein und winkte mir grinsend zu – na toll. Und da geschah es: Durch sein Verhalten noch mehr in Eile versetzt, stolperte ich über eine Teppichecke.

Und wäre böse gestürzt. Ja, ohne Zweifel – alles musste nach einem sehr bösen Sturz ausgesehen haben, denn Frankies Grinsen erstarrte zu einer Schreckensgrimasse, während er gleichzeitig blind irgendeinen Knopf drückte. Es war aber genau der falsche, und die Fahrstuhltüren schlossen sich.

Ich hatte keine Ahnung, ob Frankie noch mitbekam, dass ich von dem dunklen, lautlos an meiner Seite auftauchenden Kellner gerettet wurde, der geistesgegenwärtig – und sehr fest – meinen Arm packte und mich so vor dem Fall bewahrte.

»Danke«, stammelte ich zittrig; mein Herz hämmerte.

»Gern geschehen, Madame«, murmelte er mit einem leichten französischen Akzent, und für eine Mikrosekunde presste er meinen Körper gegen den seinen – höchst diskret, so, als wollte er mir nur weiterhin dabei helfen, wieder festen Tritt zu bekommen nach meinem Missgeschick.

Aber dadurch tauchte ich – äußerst willig, muss ich schon sagen – in seine Aura ein, und fortan war es um mich geschehen.

Ich nahm den namenlosen Hotelangestellten mit nach oben, zu Frankie, der in seinem Zimmer wartete. Meine hochhackigen Schuhe hatte ich mir von den Füßen gestreift und gemurmelt: »Verdammt, ich nehme die Treppe.« Und auf Strümpfen war ich nach oben gehuscht, spürte noch den Blick des Kellners mir folgen – doch in meiner Imagination nahm ich ihn in persona mit, nicht nur seinen Blick.

»Na, Janet, ist alles in Ordnung mit dir …? Du bist doch nicht gestürzt, oder? … Ich wollte eigentlich sofort umkehren, aber dieser blöde Lift …«

Frankies dämliches Geplapper ließ mich völlig kalt. Mit leicht angerauter Stimme sagte ich: »Es ist alles in bester Ordnung.«

Mit einer Hand schubste ich die Zimmertür hinter mir zu. In meiner anderen Hand baumelten meine Pumps.

Frankie starrte mich fasziniert an, ließ sich auf die Bettkante sinken und breitete einladend seine Arme aus. Katzengleich kam ich auf ihn zu – meine Schuhe warf ich in eine Ecke, und dann umarmten wir uns. Seinen heftigen Kuss erwiderte ich jedoch nur flüchtig, glitt tiefer, kniete dann zwischen seinen Beinen und nestelte an seinem Gürtel.

»Na, du gehst ja ran!«, staunte er und hob seinen Hintern an, damit ich ihm die Hose herunterziehen konnte – seinem Grinsen entnahm ich, dass ihm mein Engagement gut gefiel. Er hielt es für Leidenschaft.

Aus der Enge der Textilien befreit, schnellte mir sein gutgeformter Schwanz entgegen und ich schloss meine Lippen augenblicklich um ihn. Zart um die Eichel, ging tiefer, nahm die Zunge zu Hilfe, leckte und massierte ihn hingebungsvoll. Für Frankie hieß es einfach nur: zurücklehnen und genießen, was er auch ausgiebig tat. Schon bald fing er an zu stöhnen und mich anzuspornen, während sein Schwanz in meinem Mund immer mehr wuchs. Er war rasiert, das mochte ich. Ich lutschte seine Eier und ließ dann meine Zunge von der Schwanzwurzel wieder bis zur Spitze gleiten, widmete mich ausführlich dem Frenulum. Frankie stöhnte lauter. Sein Schwanz pulsierte, zuckte.

Ich legte eine kleine Kunstpause ein, auch um ihm Gelegenheit zu geben, seinerseits die Initiative zu ergreifen – was er umgehend tat.

Frankie flüsterte: »Komm …!« und als ich weiterhin lächelnd knien blieb, half er nach, indem er mich an den Oberarmen ergriff und hochzog. Willig ließ ich mich aufs Bett legen, ausziehen, wollüstig wand ich mich unter ihm und leistete auch keinen Widerstand, als er meine Beine an den Kniekehlen hochhob, um mich schön zu spreizen; rasch prüfte er mit einer Hand, ob ich feucht war, und – ja, ich war es, endlich, der Göttin sei Dank. Ich seufzte lustvoll, als ich seine eindringenden Finger spürte, ich seufzte JAJAJA … ich fühlte mich wohl, ich war von glühwarmer Geilheit umhüllt, und im nächsten Moment stieß Frankie auch schon zu.

Er machte seine Sache gut, er blieb lange hart und es dauerte, bis er abspritzte, er fickte mich begeistert, mal langsam, mal schneller, lobte meine enge Möse, drehte mich in verschiedene Positionen, ließ mir Zeit, nahm auch seine Finger dazu, umkreiste zart meine Klit, malte dann mit meinem eigenen Lustsaft Figuren auf meine Brüste, knetete sie, kurz, er gab sich echt Mühe, dachte nicht nur an sein eigenes Vergnügen, und irgendwann trieb ich auf den Orgasmus zu, bebte, aber nicht von innen, fühlte die freundliche warme Woge, die mich mitzog, aber … Der Mann merkte wie üblich nichts.

»Geil, Süße«, freute er sich und ritt mich noch ein, zwei Minuten.

Dann kam er und wie bei den meisten Männern so üblich, schlief er schon fünf Minuten später tief und fest, nachdem es gerade noch für zweieinhalb Minuten Streicheln gelangt hatte.

Hellwach und – wieder einmal – zutiefst unbefriedigt lag ich neben ihm.

Am nächsten Morgen wollte er mit seiner Morgenlatte direkt noch einen Fick, aber meine Lust auf ihn war total erloschen. Ich brachte das möglichst höflich zum Ausdruck, erhob mich und ging ins Bad. Sogar unter der Dusche hielt meine leicht melancholische Stimmung an.

Ich stellte mir Fragen wie: Was war nur los mit mir? Der Sex war doch gut gewesen, oder? Wieso ‚oder’, jawoll, schließlich war ich gekommen. Irgendwie jedenfalls. Weshalb also fühlte ich mich immer noch ausgehungert, und das bei gleichzeitiger totaler Unlust, es noch einmal mit diesem Frankie zu machen?

Am Hotelfrühstücksbuffet saß ich inmitten schnatternder Kollegen. Frankie versuchte mehrmals, mit mir ein Gespräch in Gang zu bringen, aber ich blieb schweigsam und beachtete ihn kaum, so dass er schließlich mit der Juristin zu seiner Linken zu flirten anfing. Was mich vollkommen kalt ließ. Das einzige, was mich interessierte war, ob jener süße Kellner womöglich irgendwo war, aber klar, er hatte eher die Spätschichten im Hotel, irgendwann musste der ja auch mal schlafen. Nachdem ich das gedacht hatte, blendete ich die Außenwelt so ziemlich komplett aus.

Nachdenklich rührte ich in meinem Kaffee. Meine Probleme mit der Sexualität beschäftigten mich. Zur Morgenmahlzeit selbst genoss ich bloß ein einziges Honigbrötchen, um dann zu Früchten überzugehen. Ich glaube, es war zwischen einem Stück Honigmelone und einer Feige (beides schmeckte exzellent), als mir die Erleuchtung kam – der rettende Einfall, der mir helfen sollte, glücklicher zu werden.

Ich würde fortan ein erotisches Tagebuch führen! Mein Sexleben einfach fortlaufend notieren und darüber reflektieren und es analysieren – genau so würde ich mir selbst »auf die Schliche kommen« und endlich herauskriegen, was mit mir nicht stimmte. Schließlich hatte ich schon von kleinauf geschrieben. Kurzgeschichten, Gedichte, Stücke. Nur das Tagebuchführen hatte ich mir mit der Zeit abgewöhnt, zumindest bis jetzt.

Schlagartig besserte sich meine Laune. Ich richtete mich auf und sandte freundliche Blicke in die Runde, so dass mehrere meiner Tischgenossen dies bemerkten und mein Lächeln erwiderten.

»Na, wenn Sie so strahlen, dann kann der Arbeitstag ja nur prima werden!«, bemerkte einer meiner Chefs bei QUASI. Er saß mir schräg gegenüber vor einem grässlichen englischen Frühstück, Sausages und Blutwurst samt Spiegelei, denn er war ein London-Fan.

Ich war noch nie im Hotel der Chefs und auswärtigen Kollegen gewesen, doch alle verhielten sich diskret, als sei es ganz selbstverständlich, dass ich hier auch mal übernachtete.

Mein Abenteuer mit Frankie wollte ich nicht an die große Glocke hängen und er würde es wohl auch nicht tun, aber es war gut zu wissen, wie selbstverständlich dergleichen hier akzeptiert wurde – ich war mir ohnehin sicher, dass es immer wieder erotische Zwischenfälle beim Projekt gab. Ein paar davon hatte ich am Rande ja schon mitgekriegt. Es gibt nicht viel, was der Sekretärin in einem Job wie diesem verborgen bleibt.

Auf die Bemerkung meines Chefs etwas zu erwidern, schien mir überflüssig, und er erwartete auch keine Antwort.

Ein langer Tag lag wieder vor uns, und dabei konnte ich es heute kaum erwarten, nach Hause zu fahren, um mit meinem ureigenen kleinen Projekt zu beginnen: dem Tagebuchschreiben!

30. Oktober 2002

18.30, auf der Fahrt von Frankfurt nach Mannheim.

Im Zug schrieb ich immer am liebsten. Ich suchte mir einen möglichst ruhigen Zweier-Platz im Großraumwagen des ICEs, setzte mich ans Fenster, zückte mein Notizbuch und legte los, während die rasende Metallröhre unter mir und um mich herum sanft ratterte und vibrierte und die Landschaft draußen vorbeiflitzte.

Unweigerlich werden die meisten meiner Tagebuchnotizen im Büro spielen, beim Projekt – wie schon mein Highlight mit Frankie zeigt – finde ich zurzeit die einzigen einschlägigen Kontakte. Denn mein Privatleben gleicht einer sehr dünnen Käsescheibe auf einem mageren Vollkornbrötchen. Ohne Butter. Zieht man einmal meine ehrenamtliche Tätigkeit im Frauencafé »Weibernest« ab, siehts noch kümmerlicher aus. Ich bin eine Single-Frau mit Katze, und QUASI, »das Projekt«, verschlingt mich geradezu, ein 12–14 Stunden-Arbeitstag ist normal.

Meine Chefs und Kollegen. Nicht wenige von ihnen sind goldig, doch nur einige sind wirklich relevant für das Erotische, dem ich als stets ausgehungerte Füchsin nachstelle.

Herrn Wild, einen der höheren Chefs, nenne ich nur ACW nach seinem Kürzel; er ist klein und rattenflink, dazu energiegeladen und jähzornig. Auch ich geriet heute kurz in seine Feuerlinie, er fuhr mich an wegen einer Folie, die ich noch nicht gezogen hatte – ich wusste weder, dass sie für ihn bestimmt war, noch, dass sie so eilig sein sollte. Ich blieb ganz ruhig, während er schäumte. Drolligerweise ist er der einzige, auf den ich total abfahre – ganz zuallererst war er mir nicht sympathisch gewesen, dann schaute ich schärfer hin und nahm seine interessante sexuelle Ausstrahlung wahr, anders lässt es sich nicht beschreiben. Ein Glück, dass er nicht nett ist!

Lenk nicht ab, weise ich mich schreibend selbst zurecht, was war letzte Nacht? Was hat dir die Nummer mit Frankie gebracht? Ein bisschen Lust, klar. Einen recht anständigen, sagen wir einen mittelmäßigen Orgasmus, und doch ist dieser quälende, sich immer wieder unterschwellig in mir ausbreitende Hunger ungestillt geblieben. Ich ahne einfach, dass es mehr geben muss. Und mich beunruhigen diese Phantasien. Ich meine, ich habe eigentlich kaum mit Frankie selbst geschlafen, letzte Nacht, sondern ein geiles Phantasieerlebnis mit dem namenlosen Hotelkellner gehabt. Im Grunde war Frankie nur ein Objekt für mich gewesen, kein Wunder, dass ich so gut wie nichts für ihn empfand. Das Komische ist bloß, dass ich mich auch in den Kellner nicht etwa verliebt habe! Nein, es ist komplizierter. Verflixt. Das ist ganz schön anstrengend, dies aufzudröseln. Der Reihe nach geht es bestimmt am besten.

Ich blende mal zurück zu dem Moment, da ich mir vorstellte, der gut aussehende Kellner folgte mir, sei dicht hinter mir, so dicht, dass ich seinen Atem in meinem Nacken spürte. Schon bei dieser Vorstellung überlief mich ein leiser wohliger Schauer. Er flüsterte mir Anweisungen zu. Er wollte, dass ich es Frankie besorgte (und es mir von ihm machen ließ) aber genau nach seinen Wünschen – und eben das fand ich total antörnend. Das allein spornte mich so an, dass ich tropfnass wurde und Frankie und ich beide ein geiles Erlebnis hatten. Es hatte so gut wie nichts mit Frankies Loverqualitäten zu tun.

Denn die ganze Zeit trieb ich in meinem eigenen Phantasiefilm, und zwar so intensiv, dass ich des Kellners schattenhafte Präsenz förmlich zu spüren meinte, manchmal sogar seine korrigierenden Hände auf mir fühlte, wenn er mir zeigte, wie ich Frankie zu blasen hatte … WIESO um alles in der Welt brauchte ich so etwas?? War das nicht ein bisschen krank? Oder sogar mehr als ein bisschen?

Eins steht fest: meinen Freundinnen im Weibernest brauche ich mit solchen Erzählungen nicht zu kommen. Die Feministinnen wären empört, die Lesben würden spöttisch lächeln, die Esoterikerinnen mich heilen wollen. Davon bin ich fest überzeugt.

Eben deshalb bleibt ja nur das Tagebuch …!

Der heutige Arbeitstag war, obwohl ich den Feierabend kaum erwarten konnte, sagenhaft gut, wenngleich hammerhart, wie meistens, denn für eine einzelne Sekretärin ist hier viel zu viel zu tun. Ich empfand mich als sehr lebendig. Voll erwischt vom WorkaholicVirus. Führte das erste Mal Protokoll beim so genannten Jour Fixe, der wichtig und konspirativ ist. Scharf aufpassen war angesagt, auf des Chefs knappe Zeichen achten.

Danach eine kleine Pause.

Als Herr Wild neben mir stand, um mir eine Frage zu beantworten, sah ich seine schönen langbewimperten, grünblauen Augen, und ich schmolz dahin. Sein goldblondes Haar fällt ihm jungenhaft in die Stirn – er hat einen geschmeidigen Körper, ist immer superkorrekt und trotzdem lässig gekleidet, wie schafft er das nur mit Anzug und Krawatte, eine Haltung wie ein Tänzer. Der tanzende Herr Wild oder ACW – er ist Anfang 40, schätze ich, und spielt regelmäßig Squash, um fit zu bleiben für den stressigen Arbeitsalltag.

Alle hier sind arbeitssüchtig – und stolz darauf. Ein Subchef – kam noch mit dem Wunsch nach 17 Folien um halb sechs. Bis wann er sie bräuchte? »Morgen 8.00 Uhr.« Ich fuhr in den 2. Stock, wo’s leer war und ich nicht in Gefahr geraten konnte, warten zu müssen. Morgen früh wäre das der Wahnsinnsstress, selbst wenn ich früh genug ankäme, also halb acht.

Auf dem Rückweg war ich trotz der späten Stunde nicht allein im Lift – ein dunkelhäutiger Anzugträger verschlang mich mit seinen holunderbeerschwarzen Augen, was mir nicht unangenehm war … ja, es schmeichelte mir, mehr aber auch nicht, und als ich trotzdem flüchtig darüber nachdachte wie es wäre, mit diesem Fremden eine Nacht zu verbringen, sagte sogleich eine Stimme in mir: »Es wäre auch wieder unbefriedigend.«

Die Spielverderberstimme, die leider bis jetzt immer recht behalten hatte. Nur ganz flüchtig zog es mir durch den Sinn, ob es womöglich anders wäre, mit einem exotischen Mann wie diesem Schwarzen zu schlafen, und in meinem Hang zur political correctness fragte ich mich am Rande auch sogleich, ob das etwa eine rassistische Einstellung war.

Verdammt, wo sollte das hinführen, wenn das so weiterging? So konnte das ja nichts werden, wenn ich nicht mit den Männern vögelte, mit denen ich zusammen war, sondern ausschließlich feucht und geil wurde durch herbeiphantasierte Männer, mit denen ich nicht zusammen war! Hatte ich bislang nur einfach noch nicht »den Richtigen« getroffen? Verbaute ich mir selbst den Weg? Zwang mich mein Unterbewusstsein, stets »den Falschen« zu wählen? Und wenn das so war – wieso, in Dreiteufelsnamen???

1. November 2002

Hey, ich muss einfach ein bisschen Geduld mit mir haben. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut – es ist zwar keine leichte, aber bestimmt eine lohnende Aufgabe, das Labyrinth meiner sexuellen Identität zu durchwandern – bis zum in sinnlichen Farben leuchtenden Ziel.

Immer hatte ich eigentlich gedacht, dass mehr hinter dem Ganzen stecken musste. Schließlich drehte sich die gesamte Welt doch um Sex, und mir kam es so vor, als würde ich mich selbst um das Hauptvergnügen betrügen. Und zwar andauernd, mit schöner Regelmäßigkeit.

An dieser Stelle – unvermeidlich, das machen alle Biographen so – ist es mal fällig, ein paar Info-Brocken über meine Kindheit fallen zu lassen wie Granatapfelkerne. Ich bin in einer biederen und ziemlich verklemmten Familie aufgewachsen. Das Thema Sex kam bei uns praktisch nicht vor, und nie habe ich meine Mutter oder meinen Vater nackt gesehen. Es lag wohl daran, dass sie beide streng katholisch erzogen worden waren … als Eltern verschonten sie zwar meinen Bruder und mich mit allzu rigorosen Erziehungsmethoden und zwangen uns auch nicht in ein Religionskorsett, aber mit Erotik und so schienen sie einfach nichts anfangen zu können. Das wurde schamhaft ausgeblendet; folgerichtig waren mein Bruder Henry und ich beide Spätzünder, und selbst jetzt noch, mit Mitte beziehungsweise Anfang 30 gab es eine ganze Menge, was wir noch nie erlebt hatten. Mein Bruder heiratete einfach die erste Frau, die sich seiner annahm und mit ihrer frechen, direkten Art seine Verklemmtheit löste – hey, sie hatte einfach den richtigen Schraubenschlüssel oder die passende Flachzange … der Vergleich würde dem technisch begabten Henry bestimmt gefallen.

Und bei mir … naja …

Im »Weibernest« gestern war’s anfangs unangenehm. Manchmal frage ich mich, weshalb ich da überhaupt noch hingehe – aber es ist natürlich ein gutes Gegengewicht zu meinem heftigen Job … und außerdem kommt Alpha ab und zu dorthin.

Mit ihr verband mich eine intensive Freundschaft; so manches Mal hatte ich mich auch schon gefragt, ob es nicht sogar mehr werden könnte … aber dann schreckte ich allein vor dem Gedanken zurück. Komisch, eigentlich. Denn ich mochte sie, fand sie auch körperlich anziehend.

Gestern allerdings, kurz vor der monatlichen Kollektivsitzung, trug gerade Alpha dazu bei, dass es für mich im Weibernest schrecklich war, zu Beginn jedenfalls. Anlass war folgender: Also ich hatte den Frauen gerade einen Computer gespendet. Alle waren begeistert. Fast alle.

»Was täten wir nur ohne unsere große Mäzenin!«, sagte Alpha spöttisch und prostete mir ironisch zu.

Ich hob ihr mein Glas entgegen, ohne eine Miene zu verziehen, obwohl ich den Stich wohl spürte und auch verletzend fand. Wie eine kalte Dusche schüttete sie ihre Worte samt höhnischen Blicken über mich. Aber ich kannte Alpha schon lange; so war sie – direkt bis an die Schmerzgrenze und manchmal auch darüber hinaus.

Die Blicke der anderen Kollektivfrauen gingen von mir zu ihr; alle spürten die Spannung, die plötzlich zwischen uns entstanden war.

»Ich finde es sinnvoll, was ich da tue«, entgegnete ich ruhig, da Alpha mich weiterhin anfunkelte.

»Du hast dich ans Kapital verkauft«, behauptete meine Freundin, »noch dazu an extrem widerliche Kapitalisten! Es ist schmutziges Geld – Scheiße, es ist so, als würdest du auf den Strich gehen!«

Unsere Mitfrauen hielten allesamt den Atem an.

Ich blieb weiterhin ruhig und fragte mich, was in sie gefahren sein mochte. Sie hatte schon früher gegen QUASI gestichelt und auch diese marxistischen Argumente vorgebracht, sehr altmodisch, sehr rührend … aber noch nie war sie so weit gegangen. Ich würde es bestimmt nicht noch einmal sagen, doch ich blieb bei meiner tatsächlich Meinung, dass mein Job Sinn machte – nicht nur für das »Weibernest«. Das Café pfiff nämlich finanziell auf dem allerletzten Loch, es war marode und seine Kollektivfrauen, die es führten, heillos zerstritten. Durch mein Geld, meine reichlich fließenden Spenden, war endlich wieder ein bisschen Ruhe, Spaß und Harmonie eingekehrt. (Hm, indem ich das niederschreibe, merke ich selbst, dass es ein bisschen eingebildet klingt. Also, natürlich ist Geld nicht alles. Es macht nur die Dinge ein bisschen geschmeidiger und glättet die Ecken und Kanten bei Konflikten innerhalb einer ehrenamtlichen Institution.)

Jedenfalls, Neid konnte es bei Alpha nicht sein. Sie war materiell bedürfnislos, eine leidenschaftliche Anarchistin, die sich überall durchschlängelte. Ich bewunderte das. Vielleicht aber fühlte sie sich emotional vernachlässigt?

Plopp. Ich machte mir ein Bier auf und drehte mir einen Joint. »Ich weiß, was du meinst, Alpha, und manchmal denke ich sowas auch«, meinte ich grinsend. »Die Pharmafabrik damals war ja schon schlimm genug, aber das hier … es ist so, als wäre ich in einem goldenen Spinnennetz gefangen. Andererseits – indem ich ordentlich was von der Kohle hierher trage, kommt es mir eben manchmal doch eher so vor, als würde ich dem Kapital eins auswischen und nicht andersherum.«

Alpha starrte mich an. Bestimmt hatte sie erwartet, dass ich wütend werden würde oder einschnappen wie ein Taschenmesser – normalerweise auch tatsächlich meine Spezialität. Nach einer Ewigkeit erwiderte sie mein Grinsen zögerlich.

»Okay, Mädels«, sagte ich forsch, »was steht auf der Tagesordnung?« Damit ließ ich den Joint kreisen und die Spannung löste sich endgültig im süßlich-aromatischen Rauch auf.

Wir litten unter chronischem Besucherinnenschwund. Das Weibernest hatte so recht keine eindeutige Identität, und wir boten zu wenig an. Jetzt allerdings wollte das örtliche Seelengesundheitsinstitut (kurz SGI) mit uns zusammenarbeiten. Eine leitende Ärztin hatte sich an Sina, die zweite Vorsitzende, gewandt und ihr den Vorschlag unterbreitet, Frauen, die als geheilt entlassen wurden und die nicht wussten wohin, erst einmal zu uns zu schicken, damit wir sie betreuten.

Sina glühte förmlich vor Begeisterung, als sie uns diese Idee unterbreitete.

»Ich finde das gut«, sagte ich und verlieh so der allgemeinen positiven Stimmung Ausdruck. »Wir sollten uns nur mental gut genug darauf vorbereiten … uns Informationen holen und Rückhalt auch aus dem SGI. Das Wichtigste ist aber Empathie, und die haben wir …«

»Genau!«, bekräftigte Alpha, die ganz offensichtlich nicht mehr darauf aus war, mich wegen Rumhurerei mit dem Kapital in die Pfanne zu hauen, »Janet hat recht, sowas können wir. Denkt mal, wie wir eigentlich heißen: Frauen kämpfen für Frauen e.V. Gerade deshalb sollten wir unseren Geschlechtsgenossinnen aus der Psychiatrie helfen.«

Beifälliges Gemurmel unter den anderen Kollektivfrauen, die sich außerdem sichtlich freuten, dass zwischen Alpha und mir wieder Harmonie eingekehrt war.

In der folgenden halben Stunde überlegten wir uns, wie das praktisch aussehen würde. Unsere neuen Gästinnen wären scheu, misstrauisch, müssten mit besonderer Wärme, aber auch wiederum nicht zuviel Herzlichkeit empfangen werden. Sina plädierte dafür, ein ganz spezielles Willkommens-Buffet zu gestalten, ein Vorschlag, der große Zustimmung fand.

»… etwas Gesundes, Leckeres, mit viel Gemüse und heilenden, wohlschmeckenden Körnern und Kräutern«, meinte eine etwa 45jäh-rige, ausgesprochen mütterliche Frau.

Ich lehnte mich etwas zurück und trank mein Bier aus. So ganz insgeheim, in einem versteckten Winkel meines Herzens, hegte ich Zweifel, ob das so funktionieren könne. Ich als Kassenfrau machte mir Sorgen und Gedanken über die Wirtschaftlichkeit des Weibernestes. Mit großer Sicherheit wären diese neuen Besucherinnen nicht gerade zahlungskräftig, und es stand auch eher NICHT zu vermuten, dass sie andere, finanzstärkere Frauen anziehen würden. Auf der anderen Seite liebte ich den schier unerschöpflichen, weiblich geprägten Idealismus, mit dem wir schon seit über einem Jahr – als sich das neue Kollektiv gebildet hatte – das windschiefe winzige Frauencafé am Laufen hielten. Selbstausbeutung pur, aber dafür auch Wärme, Witz, Phantasie, ein Zufluchtsort, an dem die harten Gesetze von »Draußen« nicht galten … Männer hatten hier keinen Zutritt, allein das schon machte uns radikal und extrem, und auch wenn ich selbst manchmal bedenklich darüber den Kopf schüttelte – ich mochte einfach diesen totalen Kontrast zu meinem restlichen Leben.

Meine beiden Leben waren so scharf voneinander getrennt wie Tag und Nacht. Das Tagleben in F., beim Projekt, stellte sich grell dar und scharf umrissen, geldgeil und intrigant, angefüllt mit komplexen, herausfordernden, teilweise absurden Aufgaben, kalt glitzernd und sich selbst verzehrend in halb unterdrückten Begierden. Das Nachtleben im Weibernest gestaltete sich hingegen eher warm, weich, voll vager Herzlichkeit aber auch mit emotionalen Problemen behaftet, zwischen materieller Bescheidenheit und hohem idealistischen Anspruch schwankend, mit Gelächter und leidenschaftlichen Diskussionen, begleitet von Marihuana, Zigaretten, Bier, Wein die Stunden verplaudernd bei Kerzenschein, doch gleichzeitig nicht frei von kleinen Eifersüchteleien und Machtkämpfen, wobei ich die als geradezu niedlich empfand, nach allem, was ich vom Projekt her gewohnt war.

Kein Wunder, dass mich jedoch die Spannung, die zwischen den zwei so verschiedenen Leben herrschte, manchmal schier zerriss, und ewig hatte ich mich in stark schablonenhafte Rollen hineinzuzwängen, wo blieb da ich selbst, wer war ich selbst wirklich, ich hatte keine Ahnung!

Kein Wunder auch, dass ich mich gerade jetzt extrem nach Sex sehnte, auch wenn er letztlich nicht so befriedigend war, wie ich mir das vorstellte – vermochte nur er es doch, die Gegensätze und Widersprüche für kurze Zeit aufzulösen und mir immerhin einen Hauch von Entspannung zu schenken.

Ich seufzte unhörbar, als ich bei diesem Punkt angelangt war mit meinen Gedanken und erkannt wieder, wie wichtig es war, mich mit meinem »Projekt Sexleben« zu beschäftigen.