Magie bedeutet an sich zu glauben

Erika Gruber

Verflucht

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1. Erinnerungen

Kapitel 2. Wenn Träume zur Wirklichkeit werden

Kapitel 3. Schicksalsbegegnungen

Kapitel 4. Verwirrende Veränderungen

Kapitel 5. Vergangene Geheimnisse

Kapitel 6. Feuerprobe

Kapitel 7. Wasserherz

Kapitel 8. Augenblicke

Kapitel 9. Wasserleichen

Kapitel 10. Wie im Märchen

Kapitel 11. Überraschende Herausforderung

Kapitel 12. Verrückte Mädchen

Kapitel 13. Dafür sind Freunde doch da

Kapitel 14. Wimpernschläge

Kapitel 15. Hochzeitsgeflüster

Kapitel 16. Abschiedstränen

Kapitel 17. gefährliche Träume

Kapitel 18. Bittersüß

Kapitel 19. Herzblut

Kapitel 20. Tränenwunder

Kapitel 21. Erwacht und Auferstanden

Kapitel 22. Solange es regnet

Kapitel 23. Unangenehme Kompromisse

Kapitel 24. Wunder geschehen

Kapitel 25. Grüner Hoffnungsschimmer

Kapitel 26. Startschwierigkeiten

Kapitel 27. Bedrohliche Vergangenheit

Kapitel 28. Verlorene Minuten

Kapitel 29. Haselnussbraun

Kapitel 30. Tanz der Feen

Kapitel 31. Im Bann des Dämons

Kapitel 32. Bis zum bitterem Ende

Danksagung

Es gibt so vielen Menschen, denen ich einfach nur Danke sagen möchte….

Ihr alle habt mich so wundervoll unterstützt und ermutigt. Danke an meine großartige Familie, meine Freunde, meine Eltern, die mir so viel mitgegeben haben und die mir helfen meine Träume zu leben.

Ein riesiges Dankeschön gilt meine Schwester Martina, die meine Launen ertragen, mein Buch formatiert, gelesen und korrigiert hat, die mir stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden ist. Ohne sie würde ich vermutlich immer noch vor einem halbfertigen Dokument sitzen.

Nicht zu vergessen Francesca Herr, die mit ihren wunderbaren Deutschkenntnissen mein Buch lektoriert und überarbeitet hat. Ihre einmaligen Kommentare haben mich vor der totalen Verzweiflung gerettet.

Und ohne die liebe Monika Himmelsbach, würde mein Werk noch immer zu Hause verstauben. Vielen lieben Dank für deine Hartnäckigkeit, dein Vertrauen in mich und meine Arbeit.

Zum Abschluss möchte ich noch meiner Mama und meinem Papa danken, sie haben mir so vieles beigebracht, vor allem an mich selbst zu glauben. Wo wir schon bei Familie sind: Danke, an meinen Bruder Stefan, der für seine fünfzehn Jahre einen erstaunlich großen Wortschatz besitzt. Danke, für deine Kreativität und Fantasie.

Ihr seid alle phänomenal einmalig und unglaublich fantastisch. Einfach nur Danke, für alles

Prolog

1200 Jahre bevor alles begann:

Es gab nicht eine Spur von Licht in diesem Tunnel. Kein Licht, keine Hoffnung. Nur eisige Kälte und alles verschlingende Dunkelheit erwartete sie hier. Das hier war bei weitem kein angenehmer Ort zum Bleiben.

Vermutlich fand dies auch die ungebetene Besucherin, denn sie zog fröstelnd ihre Schultern hoch. Gehüllt in einen seidig schwarzen Umhang, wurde sie nahezu eins mit der düsteren Felsgruppe. Wahrscheinlich wollte sie das auch, an diesen Ort kam niemand mit reinen, unschuldigen Absichten.

Irritiert schüttelte sie ihr blondes Haar. Sie würde sich einfach holen, was sie wollte und danach zusehen, dass sie so schnell wie möglich von hier verschwand.

Entschlossen setzte sie einen zittrigen Fuß vor den anderen und betrat die dunkle Höhle. Sie war vermutlich das erste Lebewesen seit langem, das diesen Ort der Finsternis betrat. Selbst die Tiere mieden die schwarze Bergkette.

Ängstlich drang sie tiefer in das verschlungene Höhlensystem ein. Ganz geheuer war ihr die Sache nach wie vor nicht. Laut hallten ihre klackernden Schritte von den Wänden. Der eisige Wind, der durch die Höhle pfiff, ließ ihre Augen tränen. Sie fühlte sich blind, umgeben von gieriger Dunkelheit, die nur darauf zu warten schien, dass sie einen falschen Schritt machte und in die Tiefe stürzte. Dieses beklemmende Gefühl der hilflosen Verletzlichkeit beunruhigte sie. Sie hasste es, schwach und ängstlich zu sein. Dem Unbekannten so vollkommen ausgeliefert zu sein. Diesem Teil in sich hatte sie schon lange abgeschworen. Denn weitab von der Unwirklichkeit dieser Höhle war sie stark und mächtig. Ihren Gegner in allem überlegen.

Also was tat sie hier? War ihr Ziel wirklich dieses Opfer wert?

Ihr kaltes Kichern hallte aus den Tiefen der Höhle. Wirklich, ihre eigene zweifelnde Dummheit war beinahe amüsant. Natürlich war es das wert! Und wer einmal einen Blick in diese funkelnd grünen Augen gewagt hatte, wusste, dass diese Frau niemals aufgeben würde. Dass sie eher über Leichen gehen würde, als ihren Traum zu verlieren.

Sie würde es schaffen, musste es schaffen. Wenn sie das hier lebend überstand, konnte sie nichts und niemand mehr aufhalten. Dann würde ihr alles und jeder gehören. Die ganze Welt würde ihr zu Füßen liegen, ständig darin bestrebt seiner Herrscherin jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

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Stunden, Minuten, Sekunden. Die Zeit verging, stetig und unaufhaltsam, zog sich wie zäher Kaugummi endlos in die Länge. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie schon hier war. Jegliches Zeitempfinden war ihr abhandengekommen. Das Einzige, was jetzt noch für sie zählte, waren ihre klackernden Schritte, die stets im gleichen Abstand von den Wänden widerhallten. Klick, klack, klick, klack, klick.

Immerhin hatte der Wind aufgehört zu heulen. Sie vermutete, dass es daran lag, dass sie einfach schon zu tief im verworrenen Höhlensystem eingedrungen war. Oder zu tief in der Tinte saß. Wie man es auch nahm, keine der beiden Optionen war vielversprechend. Denn das hier war das reinste Labyrinth, die pure Hölle. Nichts an dieser Höhle ergab auf irgendeine Art und Weise Sinn. Sie war bereits durch eine Steinmauer gefallen, hatte erschrocken aufgekeucht, nur um dann festzustellen, dass sich die Wand keinen Millimeter bewegen ließ. Düstere Schatten folgten ihr auf Schritt und Tritt, sie konnte ihren geifernden Atem auf ihrer Haut spüren. Doch wenn sie sich umdrehte, waren die Schatten verschwunden. So als wären sie nie da gewesen.

Lachen hallte von den Wänden, so laut, dass sie glaubte ihr Trommelfell würde zerspringen. Düstere Gestalten, mit glänzenden Rüstungen, ritten auf ihren schwitzenden und prustenden Pferden vorbei. Doch niemand nahm Notiz von ihr, so als wären diese Gestalten Hirngespinste, Geister aus vergangenen Tagen.

Die junge Frau hatte früher all jene belächelt, die an die Legenden um das sagenumwobenen Labyrinth glaubten. Sie selbst musste es natürlich wieder einmal besser wissen und hatte all die Märchen als Lügen abgetan. Aber hätte sie nicht damit rechnen müssen? Denn was war in ihrer Welt schon normal? Menschen konnten Dinge allein durch ihre Gedankenkraft bewegen. Geflügelte Wesen schwebten engelsgleich durch die Lüfte. Und sie selbst konnte Erdbeben hervorrufen oder ganze Wälder innerhalb weniger Minuten entstehen lassen. Waren das nicht ebenfalls nur Mythen für Irdische? Albernde Märchengeschichten die man kleinen Kindern erzählte?

Joshua hatte ihr einmal erklärt, dass jede Geschichte, jede Lüge und jedes Märchen einen wahren Kern hatte. Irgendwoher müssten ja die ganzen Legenden kommen, meinte er damals mit einem gewinnenden Lächeln. Ihr alter Lehrmeister war schon immer charmant gewesen, beeinflusste andere nur durch einen Blick aus seinen stahlblauen Augen.

Wie dumm er doch schlussendlich gewesen war, genauso leicht zu manipulieren wie all die anderen auch.

Ein ohrenbetäubendes Kreischen riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Schwert traf auf Stein, erschrocken duckte sie sich vor zwei kämpfenden Rittern. Das war knapp gewesen!

Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Hektisch wiederholte sie ihr Mantra und hüllte ihren Mantel noch enger um sich.

Ihr Herz klopfte laut und hart gegen ihre Rippen. So laut, dass sie meinte, ein Echo in den Schatten der Höhle hervorzurufen.

Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre zurückgelaufen. Zurück zum Licht, zur Wärme, zur Zivilisation. Aber sie war hier am Ayearás, dem Schattenfelsberg und sie weigerte sich, kampflos aufzugeben.

Entschlossen atmete die junge Frau tief ein und machte einen Schritt nach vorne in die Dunkelheit. Immer weiter ging sie auf die Schwärze zu und somit fort von Flucht und Freiheit. Es war zu spät für sie, ihre Meinung zu ändern, denn mit jedem Schritt war sie dem altem Artefakt -und damit ihrem Ziel- ein Stücken näher.

Sie hatte jahrelang auf diese Chance gewartet. Und jetzt, da sie ihrem Ziel so nah war, würde sie sich nicht so einfach vertreiben lassen, obwohl ihr dieser Ort nicht ganz geheuer war. Doch das war abzusehen gewesen. Immerhin war sie nicht hier um gute Taten zu vollbringen. Sie war hier, um ihre Kräfte zu vermehren. Damit sie stärker und mächtiger wurde als jede Fee vor und nach ihr. Sie würde in die Geschichte eingehen! Dafür konnte sie ruhig ein bisschen Dunkelheit in Kauf nehmen und die Kräfte waren dies allemal wert.

Zufrieden und mit energischeren Schritten ging sie weiter, während ihr finsteres Lachen von den Tunnelwänden widerhallte.

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Nach endlosen Schritten trat tatsächlich eine Veränderung ein. Sie hatte beinahe nicht mehr daran geglaubt. Statt des Widerhallens ihrer eigenen Schritte drang ein Flüstern und Murmeln an ihre Ohren. Es waren seltsame Laute, die aus den breiten Wänden der Höhle drangen. Der ekelige Singsang klang nach einer fremdartigen Mischung aus Tier und Mensch. Ihre Nackenhaare sträubten sich. Doch die junge Frau ließ sich davon nicht beirren und ging tapfer weiter. Die Stimmen allerdings blieben. Manchmal wurden sie so laut, dass sie meinte, ihr Trommelfell müsse platzen. An anderen Stellen waren sie wieder so leise, dass man sie leicht ignorieren konnte.

Einmal erhöhte sie ihr Tempo, dann ging sie wieder langsamer, später im Zickzack oder auf verschlungenen Wegen. Aber was sie auch tat, die Stimmen blieben hartnäckig an ihrer Seite. Da war ihr die unheimliche Stille noch lieber gewesen. Denn sie konnte die Stimmen zwar nicht verstehen, doch sie spürte, dass es etwas mit ihr zu tun haben musste. Sie schienen auf sie zu warten, auf ihr Versagen. Darauf, dass die mächtigen Kräfte der Finsternis stärker waren als sie. Sie erwarteten, dass sie sterben würde. Die Stimmen hatten kein Mitleid mit ihr. Sie wollten nur ihre Seele verschlingen. Sie wollten, dass die junge Frau genauso leiden musste, wie die Stimmen einst leiden mussten.

Diese Gedanken machte ihr Angst. Todesangst. Natürlich, sie hatte vorgehabt die Mächte der Finsternis zu benutzen. Es war ihr nur nie in den Sinn gekommen zu scheitern. Sie hatte immer daran geglaubt, dass sie die Eine war. Diejenige, die sich die Kräfte des Bösen zunutze machen konnte. Anscheinend hatten dies die Stimmen auch gedacht.

Erschrocken lief sie los. Die junge Frau achtete nicht auf den Weg vor ihr oder auf die Dunkelheit. Nicht einmal die Stimmen, die ihr folgten, konnten sie noch beeindrucken. Sie hatte schreckliche Angst. Immer tiefer rannte sie in den Tunnel hinein, so lange bis sie Seitenstechen bekam und anhalten musste. Erschöpft rang sie nach Luft, versuchte neue Kraft zu schöpfen. Sie musste es einfach schaffen!

Erstaunt blickte sie auf. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, doch es war noch schwärzer geworden. Die Dunkelheit kroch wie zäher Nebel aus allen Ecken und Ritzen. Die Stimmen allerdings waren verschwunden.

Sie war vollkommen fertig. Ihre Füße waren übersät mit Blasen und ihre Kehle brannte vor Durst. Erschöpft ließ sie sich auf den Boden sinken. Dabei achtete sie nicht auf den näher kommenden Nebel. Erst als eine Nebelschwade sie direkt berührte, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Erschrocken zuckte die junge Frau zurück. Der Nebel war eiskalt! Alle Müdigkeit war vergessen und sie wollte nur noch weg von dem ekeligen Nebel und diesem unheimlichen Ort. Vorsichtig wich sie weiter zurück, bis sie an eine Wand stieß. Moment mal, eine Wand?! Wie war das möglich? Sie war sich sicher, dass gerade eben noch ein Tunnel da gewesen war. Verzweifelt hämmerte sie gegen den massiven Stein, doch die Wand bewegte sich keinen Millimeter.

Jetzt wusste sie auch, warum die Stimmen verschwunden waren. Sie hatten die junge Frau in eine Falle gelockt und nun, da sie ihre Aufgabe erfüllt hatten, konnten sie sich getrost aus dem Staub machen. Sie war so dumm! Dabei war das Ganze doch mehr als offensichtlich gewesen. Ihre Angst hatte sie kontrolliert und nur deshalb war sie in ihr Verderben gelaufen. Sie könnte heulen vor Wut.

Der dunkle Nebel breitete sich weiter aus, sie musste sich wohl oder übel seiner eiskalten Berührung aussetzen. Doch auch das Atmen viel ihr zunehmend schwerer. Der Nebel verdrängte langsam aber sicher die Luft im Raum. Wenn sie also nicht erfror, würde sie kläglich ersticken. Sie würde einfach so sterben, niemals ihr Ziel erreichen.

Sie wollte nur noch in ihrem Selbstmitleid versinken. Insgeheim hasste sie sich dafür, doch was sollte sie dagegen tun?

Nein! Energisch wischte sie die Träne fort. Mit einem Mal wurden ihre Augen wieder lebhaft und sie straffte ihre schmalen Schultern. Niemals! Kampflos würde sie sich nicht geschlagen geben. Noch war nicht alles verloren. Woher ihr plötzlicher Mut kam? Keine Ahnung. Sie wusste nur eins. Sie würde es schaffen. Ganz bestimmt!

Der Weg hinter ihr war versperrt, also blieb nur die Flucht nach vorn. Die junge Frau würde weitergehen und darauf hoffen, dass ihre Zähheit und ihre Ausdauer belohnt wurden.

Bestimmt war dies eine Prüfung, um ihre Absichten zu testen, ob sie stark genug war, die Kräfte zu beherrschen. Mit neuem Mut setzte sie entschlossen ihren Weg in die endlose Dunkelheit fort. Doch schon nach wenigen Schritten wurde ihre Suche abrupt beendet. Etwas versperrte ihr den Weg. Schon wieder eine Wand? Tastend glitten ihre Finger über einen etwa kniehohen Stein. Also konnte es keine Wand sein. Doch was sollte dieser Stein bezwecken?

Es konnte doch nicht sein… War es etwa… der Altar? Wenn es sich hierbei um den gesuchten Altar handelte, wo war dann das Buch? Eigentlich sollte das Artefakt direkt auf dem Altar liegen. Stirnrunzelnd tastete sie weiter. Da war nichts. Nur kalter, glatter, toter Stein. Fieberhaft begann sie den Stein nach einem Geheimfach abzutasten. Dieses blöde Ding musste doch hier irgendwo sein! Suchend glitten ihre Finger über eingekerbte Muster, die den schlichten Altar schmückten. Da! Sie spürte eine sanfte Vertiefung. Kaum spürbar, wenn man nicht wusste, wonach man suchte. Endlich! Das Buch gehörte ihr. Nach jahrelangen Anstrengungen und Entbehrungen hatte sich all die Mühe nun doch gelohnt. Ihre Augen bekamen einen wilden Glanz.

Sie betätigte den Mechanismus und ein kleines Geheimfach tat sich auf. Darin befand sich ein altes, ledernes Buch.

Noch immer herrschte tiefe Dunkelheit um sie herum. Sobald sie jedoch das finsterste aller Bücher berührte, glomm ein schwaches Leuchten auf. So konnte sie wenigstens einige Umrisse erkennen. Fieberhaft beugte sie sich über das Buch. Es war alt. Uralt, älter als die Zeit selbst. Dennoch strahlte es hell, wie am ersten Tag. Der Einband lockte mit Rufen und ständig veränderte er sich. Bedeutende Schlachten und einzelne Ausschnitte der dunklen Seite ihrer Welt gab er wieder. Ein Flüstern und Seufzen umgab das schwarze Leder und wieder waren es Laute in einer fremden und geheimnisvollen Sprache, die sie nicht verstand.

Ehrfurchtsvoll öffnete sie das alte Artefakt und strich beinahe liebevoll über die vergilbten Pergamentseiten. Die Tinte hatte eine eigenartige, rötliche Farbe und das Geschriebene glänzte flüssig. Ganz so, als wäre gerade noch jemand da gewesen und hätte darin geschrieben. Faszinierend! Denn um so finstere Mächte und Zaubersprüche in ein Buch zu sperren, brauchte es mehr als gewöhnliche Tinte. Es brauchte Blut, Herzblut, freiwillig gegeben. Aber niemand, der noch halbwegs bei Verstand war, würde freiwillig einen einzigen Tropfen seines Herzblutes spenden.

Und obwohl sie sich mit dem Bösen eingelassen hatte, war sie noch lange nicht von ihm besessen. Genau das musste man vermutlich sein, besessen oder dumm. Vielleicht sogar beides. Denn Herzblut bindet. Diejenigen Feen, Menschen oder sonstigen magischen Kreaturen, waren an den Ort, an dem sie ihr Herzblut gelassen hatten, gebunden. Und zwar für alle Zeit.

Sie konnten die Höhle nicht verlassen und ihre Seelen würden niemals Ruhe finden. Sie waren verflucht, bis in alle Ewigkeit. Nicht einmal ihrem schlimmsten Feind würde sie so ein Ende wünschen. Wahrhaft große Narren hatten hierfür ihr Leben gelassen. Freiwillig und ohne Zwang. Herzblut gibt man nur denjenigen, den man aufrichtig liebt.

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Fordernd leuchteten die Zeichen auf und das Mädchen besann sich ihrer Aufgabe. Laut und mit klarer Stimme, begann sie den uralten Text vorzulesen. Die Worte perlten wie Wassertropfen von ihren Lippen ab, klar, rein und ohne den geringsten Fehler. Ein hämisches Grinsen stahl sich auf ihre Mundwinkel. Bald würde sie mächtiger sein als je eine Fee zuvor. Dann würden ihre angeblichen Freunde Augen machen.

Doch so leicht, wie es anfangs gewesen war, so schwierig wurde es mit der Zeit. Das Buch testete seine neue Besitzerin. War sie es wert?

Mit eisernem Willen las sie weiter. Jedes dunkle Wort stach in ihre Rippen, zwickte in ihren Beinen und schmerzte in ihrem Kopf. Langsam aber sicher versagte ihre Stimme und wurde zu einem Flüstern. Ans Aufgeben dachte sie nicht. Denn wenn sie jetzt versagen würde, dann erwartete ihre Seele ein ewiges Leben, eingesperrt in dem alten Buch. Sie würde dann auch nicht besser sein, als diejenigen, die ihr Herzblut gespendet hatten. Mühsam versuchte sie, die letzten Zeilen zu lesen. Der Wind heulte auf und der merkwürdige Gesang der Höhle setzte wieder ein. Laut und fordernd. Doch sie konnte es schaffen. Mühsam kämpfte sie mit den Worten.

Nur noch drei Zeilen. Sie konnte sich nicht mehr aufrecht halten. Ihr Trommelfell drohte zu platzen, die Stimmen sangen kreischend.

Zwei Zeilen. Keuchend fiel sie auf die Knie. Ihre Brust schmerzte höllisch. Jeder Atemzug tat weh.

Eine Zeile. Der Gesang schwellte weiter an und erreichte seinen Höhepunkt.

Vier Wörter…

Als das letzte Wort verklungen war, herrschte atemlose Stille. Totenstille. Nicht einmal ihr hastiges Luftschnappen konnte man hören. Eisiger Nebel hüllte alles in Watte. Die Welt verschwamm und eine merkwürdige Leichtigkeit machte sich in ihrem Kopf breit. Sie verspürte keine Kälte mehr. Erschöpft legte sie sich auf den kalten Steinboden. Nur mit großer Anstrengung konnte sie ihre Augen offen halten. Das Glimmern des Buches half ihr dabei. Es hatte etwas Tröstliches. Lächelnd betrachtete sie das Wechselspiel des Einbandes.

Gerade zeigte es die Schlacht um Laeryla, sie hatte davon gehört. Historische Bekannte tauchten auf. Erich der Wächter, Samuel der Gierige, Armand der dunkle Engel… Sie alle wechselten sich ab, spielten ihre Rolle, wie seit Jahrtausenden, bis der Einband nur noch ein Bild zeigte: Die mächtige Wasserschlange, ihre Göttin.

Täuschte sie sich oder wurde das Licht immer heller, funkelnder, blendender? Ein Zischen ertönte und sie öffnete ihre Augen. Das Buch schien sich … zu verwandeln? Irritiert beobachtete sie, wie das Buch all sein Licht aufzusaugen schien, es streckte und reckte sich und plötzlich war da kein Buch mehr. Es war eine düster-glänzende Schlange, die in den Farben der Nacht mehr als prächtig wirkte.

Der schuppige Körper war mit unzähligen Runen bedeckt, die sich saphirblau von der schwarzen Haut abhoben. Atemberaubend düster.

Zitternd streckte die junge Frau ihre Hand aus und berührte den Kopf der Schlange dort, wo die Rune für Schutz stand. Das Tier zeigte sich unbeeindruckt. Die Augen der Schlange waren nach wie vor geschlossen. Traute Einigkeit herrschte und seltsamerweise hatte sie keine Angst. Die Schlange beruhigte sie. All ihre Schmerzen waren vergessen. Vermutlich zuckte sie deshalb auch nur kurz zusammen, als sich das Wesen der Finsternis um ihr Handgelenk wickelte.

Ihr gutes Gefühl hielt jedoch nicht besonders lange an. Denn dort, wo der Körper der Schlange das Mädchen berührte, fing ihre Haut an zu brennen. Gepeinigt schrie die junge Frau auf. Doch die Schlange lockerte ihren Griff nicht, im Gegenteil, sie schien sich nur noch enger um ihre Hand zu wickeln. Züngelnd richtete sie ihren Oberkörper auf. Anscheinend wollte die Schlange sie bedrohen. Sie zeigte immerhin alle typischen Kennzeichen dafür.

»Mit Hilfe von verlängerten Halsrippen und besonders lockerer und flexibler Haut im Halsbereich sind Schlangen in der Lage, ihre Nackenhaut zu einer Haube auszubreiten«, schoss es ihr reflexartig durch den Kopf. Doch wie konnte sie sich noch mal gegen eine Schlange verteidigen? Keine unnötigen Bewegungen?

Zumal das hier keine gewöhnliche Schlange war, sondern eine fleischgewordene Göttin. Zischend begann die Wasserschlange mit ihrem Kopf zu wippen, sie spreizte ihre Halsrippen noch mehr. Ihr Kopf war nun direkt auf Augenhöhe mit dem der jungen Frau.

Da! Die Schlange öffnete ihre Augen. Keuchend starrte sie hinein. Sie waren rot, blutrot.

Die Schlange öffnete ihr Maul und ließ die Fangzähne hervor blitzen. Die junge Frau war noch immer in ihren blutigen Blick versunken. Hastig machte das Wesen einen Satz nach vorn und biss ihr in den Hals. Vor Schmerz schrie sie auf. Das Gift der Schlange wirkte schnell. Schon Sekunden später stand sie in Flammen, die gleichzeitig heiß und kalt waren. Eine grausame Mischung, die ihr keine Zeit ließ, sich an einen Schmerz zu gewöhnen. Sie fühlte sich, als ob sie gleichzeitig verbrannte und erfror. Wimmernd warf sie sich auf dem Steinboden umher. Noch immer hörte sie das Zischen der Wasserschlange und ihre glühenden roten Augen fraßen sich in ihr Gedächtnis. Sie konnte sie direkt vor sich sehen, obwohl ihre Augen geschlossen waren. Lange würde sie diese Schmerzen nicht ertragen können.

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Die Traumschlange begann zu sprechen. Anscheinend hatte sie Halluzinationen. Nur so konnte sie sich eine sprechende Schlange und ihre verschwundenen Schmerzen erklären. Irgendwann zwischen Wahnsinn und Tod musste sie wohl ohnmächtig geworden sein.

»Hööör mir gut zzzuuu«, lispelte die Schlange.

»Ich werde mich nicht wiederhooohlen. Alllsooo passs aaauf. Du hassst aaallee Prüfungen bestanden. Duuu biissst wüüürdig, bissst die eine, auf die ich schooon ssseeit Jahrhuuunderten warte. Duuu bisssst von meinem Bluuut. Duuu gehööörst mir und ich werde meine Kräfte teilen. Doch nuuur, wenn du vergisst, was dir einst wichtig war.

Deine Familie, deine Freeunde, ja seeelbssst deinen Namen. All das ist nichtig. Von nun an bist du Lilith, mein Engel des Chaos. Und du wirst tun, was ich dir befeeehle! Dafür gebe ich dir Macht, mehr, als je eine Fee besitzen sollte«. Geschwächt durch das Gift brachte das Mädchen kaum noch ein Nicken zustande, der Schlange schien es jedoch zu genügen.

»Guuuut!«, fuhr das urzeitliche Wesen fort, »Alle werden vor dir erzittern, vor dir knien, dich anbeten. Merkeee dir meine Worte guuut, Tochter. Du bist zu Großem bestimmt, doch scheiterssst du, werde iiich dich bessstrafen.«

Mit diesen Worten löste sich die Schlange auf. Die junge Frau blieb geschwächt und allein zurück. Was nutzten ihr schon die Kräfte der Schlange, wenn sie sterben würde?

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Vorsichtig öffnete sie ihre Augen. War sie tot?

Der steinharte Boden kam ihr zu bekannt vor. Gott sei Dank. Sie lebte und war immer noch in der Höhle!

Auch die Schlange war verschwunden, nur das dunkle Buch lag einsam auf dem Boden, leuchtete so, als ob nichts gewesen wäre. Hastig schreckte sie auf. Sie fühlte sich gut, richtig gut. All die Schmerzen waren verschwunden und sie fühlte sich stärker, als jemals zuvor. Wie neugeboren.

Die Dunkelheit war nun ein Teil von ihr, nicht mehr beängstigend, sondern strahlend und wunderschön. Auch die Kälte des Nebels konnte ihr nichts mehr anhaben. Genauso wenig wie Krankheit, Hitze und jede noch so starke Feenmagie.

Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht auf. Sie hatte es tatsächlich geschafft! Nun würde sie es allen beweisen! Ihr war noch immer leicht schwindelig, doch das kümmerte sie nicht. Sie hatte sich verändert, das spürte sie mit jedem wackeligen Schritt, den sie durch die Dunkelheit machte. Nicht nur ihre Kräfte waren gewachsen, auch ihr Körper fühlte sich stärker an und sie konnte besser in der Dunkelheit sehen. Zuvor hatte die Dunkelheit ihr die Vollkommenheit nicht offenbart. Ihre schwachen Augen waren durch die Feenmagie einfach zu verblendet gewesen. Doch mit den Augen der Wasserschlange konnte sie einen pechschwarzen Spiegel an der Wand erkennen. Was würde sie erwarten? Würde ihr Aussehen sich verändert haben? Mutig hob sie den Kopf und sah ihrem Antlitz entgegen. Pures Glück durchdrang ihre Adern. Sie war perfekt! Unbeschreiblich perfekt. Niemand würde es je wieder wagen, sie als graue Maus zu bezeichnen.

Die Frau vor ihr sah aus, wie der sündige Himmel. Die Haut makellos, von einer cremigen Blässe, ihr zierlicher Körper verboten anmutig. Sie hatte etwas Fließendes, obwohl sie sich nicht bewegte.

Früher waren ihre Haare eine Nuance heller gewesen, nun glänzten sie in einem satten Karamellton. Einzig und allein um ihre Augen trauerte sie ein wenig. Sie waren das Beste an ihr gewesen. Ihre wunderschönen, warmen smaragdgrünen Augen hatten sich in ein irisierendes, eiskaltes Blutrot verwandelt. Der Farbe des Bösen, der Dunkelheit, der Wasserschlange.

Aber Moment mal. Wenn ihre Augen sich verändert hatten, war dann auch ihr…? Tatsächlich!

Stirnrunzelnd betrachtete sie ihr vernarbtes Handgelenk. Bis vor wenigen Stunden war dort noch das Symbol der Feen eingraviert gewesen. Jedes magische Wesen, egal ob Fee, Engel oder Anima, bekam an seinem 16. Geburtstag ein Symbol eingraviert. Es war eine Art unverfälschbarer Code. Es zeichnete sie aus, zeigte ihr wahres, inneres, Ich. So wie bei den meisten Naturfeen war ihr Symbol eine Blume gewesen. Eine Engelstrompete, die Folgendes besagt: »In deinen Händen ruht für immer mein Glück.«

Doch diese Zeiten waren vorbei. Stattdessen prangte nun ein neues Symbol auf ihrer Haut. Es zeigte ihre Zugehörigkeit zur Dunkelheit. Um ihren Hals hatte sich eine pechschwarze Schlange geschlungen und dort, wo der Biss sie getroffen hatte, befanden sich zwei glühend rote Augen. Es schien, als würde diese Schlange auf ihrer Haut pulsieren, zum Leben erwachen. Denn der schuppige Körper blieb nicht da, wo er sollte. Er wanderte vom Hals zur Schulter, zum Handgelenk. Dort machte es sich die Schlange bequem und gab nur ab und an ein wohliges Zischen von sich.

Mit ihren perfekt geformten Lippen lächelte sie ihrem Spiegelbild zu. Ein boshaftes Grinsen breitete sich auf ihren makellosen Zügen aus. Von dem einstig schüchternen, liebevollen und durch und durch guten Mädchen war nichts mehr übrig. Hier stand eine junge, selbstbewusste und überaus mächtige Frau. Bereit den Auftrag der Wasserschlange auszuführen und das ganze magische Universum zu unterwerfen. Sie würde Chaos und Verwüstung verbreiten, wohin sie auch ging, denn das war schließlich ihre Aufgabe als Lilith, Engel des Chaos.