7
28
7
28
false

|7|Wir Simultanten: Immer erreichbar, im Standby

|9|Lästige Erledigungen verschiebe ich gerne. Seit Wochen fehlte mir ein Halogenlämpchen. Abends war die rechte Seite meines Schreibtischs nur noch dunkel. Schließlich fuhr ich an einem Samstagmorgen mit der U-Bahn in die Stadt und stieg am Neumarkt aus. Direkt auf der anderen Seite des Platzes befindet sich eines der großen, alteingesessenen Lampen-und Elektrogeschäfte von Köln. Dort haben sie eigentlich alles. Es gelang mir noch, die Straße zu überqueren, da klingelte mein Mobiltelefon. Es war die Hausverwaltung, die mich tags zuvor nicht erreicht hatte, um mit mir zu klären, ob ich einen Nachmieter für meine Wohnung gefunden hätte. Hatte ich. Ja, ich würde ein Fax schicken mit den Unterlagen. Ja, gut, dass jetzt alles geregelt ist. Das ging schnell.

Ich hatte das Handy noch nicht wieder verstaut, da klingelte es noch mal. Diesmal war es ein Kollege. »Hast du kurz Zeit?«, fragte er, es müsse dringend die Gliederung des gemeinsamen Aufsatzes besprochen werden. »Eine Minute«, sagte ich und meinte »keine Minute«. Ich war unter Zeitdruck. Außerdem ist es prinzipiell unsinnig, ein anspruchsvolles Thema zwischen Tür und Angel zu besprechen, im Lärm der Stadt, das Quietschen der Straßenbahn im Hintergrund. Ich bat dann doch noch um Aufschub und erklärte meine Situation. Er wollte keinen Aufschub gewähren, habe er doch nur noch die nächsten drei Stunden, um seinen Teil des Artikels zu schreiben. Dann müsse er nach Paris fliegen, und dann nach London, und dann ... sei der Abgabezeitpunkt verstrichen. Ich diskutierte also geschlagene zwanzig Minuten mitten auf der Straße die |10|Gliederung und die inhaltlichen Schwerpunkte des Aufsatzes. Zwischenzeitlich musste ich ins Telefon schreien. Denn es wurde immer lauter um mich herum; die samstägliche Einkaufswelle war längst angerollt.

Als das Gespräch endlich beendet war, entdeckte ich einen kleinen gelben Briefumschlag auf dem Display meines Mobiltelefons. Zwei Nachrichten waren während des Telefonats eingegangen. Die erste erinnerte mich daran, dass ich bereits seit zehn Minuten im Café an der Apostelnstraße hätte sitzen müssen, weil ich dort verabredet war (»Wann kommst du denn? Warten hier.«). Die zweite Nachricht lautete: »Meldest du dich heute gar nicht?« Es war 11:10 an einem Samstagvormittag, ich hatte mich bislang nicht gemeldet. Der Tag hatte noch 12 Stunden und 50 Minuten, aber an der privaten Front war er bereits kommunikativ verloren.

Genau in diesem Moment piepste mein BlackBerry, um mich an eine Telefonkonferenz (Englisch: Conference Call ) zu erinnern, die – ausnahmsweise – auch am Samstagmorgen möglich sein sollte, denn es gab drängende Probleme. Ich hatte auch einige: Dieses Telefonat hätte bereits in dem besagten Café stattfinden sollen, nachdem ich das Halogenlämpchen gekauft, ein Weilchen nett mit meinen Freunden geplaudert und einen Kaffee getrunken hätte. Nun fand auch die Telefonkonferenz auf dem Bürgersteig vor dem Lampenladen statt. Ich war sauer auf das Gerät, das zu dem Zeitpunkt piepste, den ich selbst festgelegt hatte. Ich war nass geschwitzt, denn es waren fast dreißig Grad, und das Mobiltelefon klebte an meinem Ohr. Menschen drängten sich an mir vorbei und redeten rücksichtslos in voller Lautstärke, obwohl ich doch telefonieren musste.

Mehrfach überkam mich die unbändige Lust, den anderen Teilnehmern der Telefonkonferenz das Wort abzuschneiden und eine knappe und präzise Zusammenfassung zu präsentieren, |11|um endlich den Gehsteig verlassen zu können. Als das nach mehreren Anläufen nicht gelungen war, legte ich einfach auf und stellte mein Mobiltelefon ab. Über den BlackBerry schickte ich schnell eine Mail an einen Kollegen, der noch an der Telefonkonferenz teilnahm: »Mein Akku schmiert ab, bitte entschuldige mich bei den Teilnehmern.« Ich dachte: »Wenn jetzt noch irgendjemand anruft, bringe ich ihn um.«

Dann betrat ich den Lampenladen. Eine ältere Verkäuferin steuerte auf mich zu: »Wat kann isch für Sie tun?« Ich kramte mein kaputtes Halogenlämpchen aus dem Rucksack und hielt es ihr hin. »Dat hammer nisch«, sagte sie gut gelaunt. »Sie sind doch ein Lampenladen?« fragte ich spitz. »Jawoll«, antwortete die Frau. »Und Sie verkaufen Lampen und Zubehör?« Ich nahm selber meine leicht gepresste Tonlage wahr. »Jawoll«, wiederholte die Frau und ließ sich in ihrer guten Stimmung nicht beirren. »Aber Sie haben keine Halogenlampen?«, fragte ich, fast schon kreischend. »So isset: die hammer nisch.«

Ich verspürte ein Beben in mir. Dann sagte ich zu der freundlichen älteren Dame »Schlampe!«, drehte mich auf dem Absatz um und verließ das Geschäft.

Digitale Bohème

An jenem Tag habe ich festgestellt, dass ich etwas ändern musste. Etwas war mit mir während der vergangenen Jahre geschehen. Ich war zu jener Spezies Mensch mutiert, die angeblich alles gleichzeitig kann. Ich war geworden, was ich nie sein wollte: ein Simultant.

Irgendwann in den zwei Jahren vor dieser Szene im Lampenladen muss es einen Punkt gegeben haben, den ich selbst nicht bemerkte. Den Zeitpunkt nämlich, als die Kommunikationsanforderungen, |12|die von außen an mich herangetragen wurden, begannen, meine eigene Lebensgestaltung zu bestimmen und meine eigene Kommunikationslogik zu überlagern. Als ich anfing, auf Information nur noch zu reagieren, statt nach meinen Wünschen und Vorstellungen zu kommunizieren. Als die kommunikative Vernetzung Wert an sich geworden war und nicht mehr Mittel zum Zweck der Verständigung. Als ich zuließ, dass die Technik mein soziales Leben bestimmt – und nicht umgekehrt. Ich war immer online, immer auf Standby und immer erreichbar. Aber ich war eigentlich nie mehr richtig da.

Wohlwollend betrachtet war ich zu einem Exemplar der Spezies Mensch geworden, die einen neuen Lebenstrend definiert: das virtuelle mobile Ich. Immer unterwegs, immer mit den neuesten Informationen versorgt, immer vernetzt mit anderen, die gleiche Interessen und Ziele haben. So jedenfalls versteht sich die digitale Bohème 1 , die man in den Cafés in Berlin-Mitte beobachten kann. Da sitzen sie, junge Menschen, die dank Internet und digitaler Technik dem Traum vom selbstbestimmten Arbeiten offenbar sehr nahekommen. Sie haben sich von den klassischen Lebens-und Arbeitsräumen emanzipiert (wozu noch ein Büro nutzen?), leben und arbeiten in wechselnden Gemeinschaften (communities) und brauchen dazu nicht mehr als einen Laptop mit Internet und ein Handy. Das Motto dieser Generation lautet: »Leben ist da, wo ich Netz habe.«2 Der Reiz dieser Lebensform jenseits der Festanstellung mit stationärem Arbeitsplatz und Bürostuhl liegt auf der Hand: Wer findet es nicht schön, beim Milchkaffee mit Freunden in einem Trendcafé interaktiv an einem Text, einem Grafikkonzept oder anderen Produkten der digitalen Wirtschaft zu arbeiten?

Kritisch betrachtet war ich zum Sklaven meiner technischen Vernetzung geworden. Ich bekam durchschnittlich 250 E-Mails |13|pro Tag, die meisten über den BlackBerry, dieses handtellergroße Gerät, das den mobilen Empfang von E-Mails an jedem Ort und zu jeder Zeit möglich macht, und gleichzeitig Telefon, elektronischer Kalender, Adressverzeichnis und Notizblock ist. Ich hatte eine Handyrechnung von mehreren hundert Euro pro Monat, weil ich nie zu Hause war und alle Gespräche mobil von unterwegs erledigte. Und ich arbeitete mehr als zwölf Stunden am Tag, regelmäßig bis in die Nacht hinein.

War mein Arbeitsvolumen plötzlich so gewachsen? Eigentlich nicht. Verschiedene Dinge hatten ineinandergegriffen und mich und mein Leben verändert. Weil ich immer erreichbar war, hatte ich keine Pausen mehr, um mich zu konzentrieren und wichtige Dinge wirklich zu durchdenken. Weil ich mir keine Zeit nahm, mit anderen in Ruhe und ohne Zeitdruck zu sprechen oder zu telefonieren (und die anderen sich diese Zeit auch nicht nahmen), gelang es selten, die Dinge zu Ende zu besprechen und eine wirkliche Lösung zu finden. Weil ich permanent auf alle Kommunikationskanäle achtete und sie alle gleichzeitig bedienen wollte, ließ ich mich dauernd in meiner eigentlichen Arbeit unterbrechen. Als Simultant war ich nicht mehr bei mir und selten bei denen, die meine Aufmerksamkeit gerne für sich in Anspruch genommen hätten.

Gesammeltes Schweigen

Eine verfahrene Situation. Ich wollte sie ändern, nur wie? Was tut man in einer solchen Lebenslage? Man beginnt von der extremen Gegenbewegung zu träumen. In Gedanken versetzte ich mich immer wieder in den Steingarten im Ry-an- ji-Tempel in Kyoto. Auf einer Reise zum Deutschland-Jahr in Japan hatte ich dreißig Gespräche geführt und einen Sightseeing-Marathon absolviert. |14|Wirklich im Gedächtnis blieb mir ein alter Mann, der in unfassbarer Langsamkeit einen kleinen Rechen mit wenigen Zinken durch das Kieselbett dieses Gartens zog. Die anderen Besucher habe ich gar nicht recht bemerkt; wir alle standen oder saßen am Rand dieses Gartens, vollkommen versunken in die langsamen Bewegungen des Mannes und die wunderschönen Muster, die er dabei zauberte.

Mir fiel Doktor Murke ein, der kauzige Hörfunkredakteur aus Heinrich Bölls Erzählung Doktor Murkes gesammeltes Schweigen.3 Er zeichnet im Rundfunk Gespräche mit bedeutsamen Menschen auf und schneidet daraus Teile für seine eigenwillige Sammlung. Keine bedeutsamen Aussagen, sondern das Schweigen, jene Sekunden, in denen der Gast im Studio einmal nichts sagt. Diese Partien fügt er aneinander und hört sich das Ergebnis immer wieder an. Seine Umwelt findet Doktor Murkes Steckenpferd absurd. Aber wer ständig dem Sprechen und Hören verpflichtet ist, für den wird das Schweigen zu etwas Besonderem. Die Stille wird so kostbar, dass man sie sorgsam sammelt und konserviert.

Immer online, immer im Prozess des digitalen Austauschs und – häufig genug – Geplappers gefangen, sehnen sich viele heute nach Ruhe und Abgeschiedenheit. Und selbst dafür gibt es im Netz mittlerweile einen Ort. Wer den Kontrapunkt zum Nachrichtenstrom, zum digitalen Grundrauschen, sucht, findet im Netz die Seite »alleinr. de«. Auf dieser Seite gibt es keine Fotos und Grafiken, keine Popups, keine Links, keine bunten Animationen und keine weiterführenden Informationen. Eigentlich findet sich hier nichts – außer einem kleinen Begrüßungstext: »Entspannen Sie sich. Hier müssen Sie nichts tun. Sie melden sich nicht an, Sie laden nichts hoch, Sie kommentieren nicht, Sie knüpfen keine Kontakte. Niemand beobachtet, was Sie tun. Sie sind allein.« Folgt man der abschließenden Aufforderung, |15|nach unten zu scrollen, hat man vor sich nur noch den schwarzen Bildschirm.

Technisch erreichbar, sozial isoliert

Das ist eine schöne Idee für einen Ausnahmemoment. Für die Bewältigung des ganz normalen Alltags hilft das wenig. Zenmeditation, Schweigen oder die Verweigerung, im Internet das zu tun, was man dort normalerweise macht – all das sind Gegenentwürfe, die einem das Grundproblem der Informations-und Kommunikationsüberlastung bewusst machen und kurzzeitig Entlastung verschaffen können. Letztlich aber müssen wir andere Wege finden, um das Leben in der mobilen und vernetzten Gesellschaft selbstbestimmt und konstruktiv zu gestalten. Denn eigentlich wollen wir ja vernetzt sein. Wir wo llen nur nicht den Überblick verlieren und wir wollen nicht ständig in der Pflicht zur Kommunikation stehen.

Unsere technische Vernetzung spiegelt die Wirklichkeit der modernen Gesellschaft wider. Wir arbeiten mit Informationen und in Kommunikationsprozessen. Dies ist ein Ergebnis des technischen und sozialen Fortschritts. Die Vorteile, die darin für uns liegen, wird niemand ernsthaft bestreiten. Am Institut für Medien-und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen führen wir zu dieser Frage ein Forschungsprojekt durch. Die bislang vorliegenden Ergebnisse zeigen: Die Möglichkeiten der umfassenden, mobilen Kommunikation können die individuelle Produktivität und die eines Unternehmens steigern. Für unsere Wirtschaft gilt: Ideen und Kreativität werden die wichtigsten Wirtschaftsgüter des 21. Jahrhunderts sein. Die Arbeit damit braucht Informationen und gelingende Kommunikation. Es geht also nicht darum, sich von dieser Vernetzung |16|abzuschneiden, um mit den Problemen fertig zu werden, die sie uns auch bringt. Denn die mobilen Kommunikationstechnologien erleichtern und bereichern unser Leben. Ich halte per SMS Kontakt zu fernen Freunden und zu meiner Familie. Ich kann mich spontan für den Abend verabreden, wenn er unerwartet frei wird. Ich schicke Liebesgrüße und Lebenszeichen, die ohne diese Technologien erst nach Tagen ankommen würden. Das alles möchte ich nicht missen.

Aber ich möchte auch die Zeiten nicht missen, die nur mir gehören. Die es mir erlauben, zu denken, zu pausieren, mich ganz und gar auf einen anderen Menschen oder eine bestimmte Frage zu konzentrieren. Das wird wieder möglich, wenn es gelingt, die Exzesse der technischen Vernetzung zu vermeiden. Sie sind es, die Probleme in unser Leben bringen. Und sie sind es, die uns in die Kommunikationsfalle laufen lassen. Zwei grundlegende Einsichten helfen, wieder zu den richtigen Prioritäten zurückzufinden:

  1. Wer technisch angeschlossen ist, ist nicht zwangsläufig auch sozial angebunden.

  2. Wer immer erreichbar ist, ist eigentlich für nichts und niemanden wirklich da.

Lob der Kommunikationspause

Früher gab es Phasen, für die sich die Gesellschaft auf eine Kommunikationspause verständigt hatte. Zu Zeiten meiner Kindheit war es ungehörig, zwischen 13 und 15 Uhr bei jemandem zu Hause anzurufen. Da war Mittagspause und man wollte ungestört sein. Heute gibt es maximal noch vereinzelt Menschen, die entnervt reagieren, wenn sie während der Tagesschau oder |17|samstags zur Bundesligazeit vom Telefon gestört werden. Ansonsten gilt: Wir sind immer auf Empfang.

Wer Kinder und Jugendliche heute am Schreibtisch beobachtet, wird darauf selbstverständlich nicht nur einen Computer und ein Handy entdecken, sondern auch feststellen: Hier geschieht alles gleichzeitig: Hausaufgaben, SMS, Telefonieren, Chats, Onlinespiele und die Suche bei Wikipedia. Die jüngere Generation scheint das alles spielend parallel zu bewältigen. Die Kinder und Jugendlichen von heute sind mit dem Computer, dem Internet und dem Mobiltelefon aufgewachsen und sozialisiert worden. Für Menschen, die in ihrer Kindheit noch fasziniert auf einen Schwarzweißfernseher mit drei Programmen gestarrt haben, mag ein solcher Umgang mit der Technik manchmal schwer verständlich sein.

Wie wir Menschen mit den modernen Kommunikationsmitteln umgehen, hängt ganz wesentlich davon ab, ob und wie wir mit ihnen sozialisiert worden sind. Ich habe mir meine PC-Erfahrung erst nach der Pubertät mühsam und begleitet von unterschiedlich gearteten Systemabstürzen erarbeiten müssen. Mein sechsjähriger Neffe hat längst einen intuitiven Zugang zum Computer. Er spielt, er malt, er mailt am PC. Und dann hat er plötzlich keine Lust mehr und wendet sich anderen Dingen zu. Manchmal kann man dann beobachten, wie seine Stimmung kippt. Wie er dennoch nicht loslassen kann vom Computer und all den Angeboten, die er dort findet und entdecken will. Dann muss meine Schwester eingreifen, um ihm die Pause zu verordnen, die er für sich braucht.

Wenn wir neue Technologien für unser Lebens entdecken, dann reicht es nicht, zu lernen, wie man sie technisch benutzt. Man muss auch lernen, wie man richtig und sozial verträglich mit ihnen umgeht.

Eine Mehrheit scheint die permanente kommunikative Vernetzung |18|und Erreichbarkeit zwar zu wollen, fühlt sich von ihr aber zugleich geplagt oder gar überfordert. Eine Umfrage im Auftrag der amerikanischen Zeitschrift Newsweek brachte widersprüchliche Zahlen ans Licht: 70 Prozent der Befragten gaben an, nicht mehr ohne E-Mail leben zu können, 60 Prozent waren darüber hinaus der Meinung, ihre Arbeit werde dadurch effizienter. Gleichzeitig klagten aber 94 Prozent der Befragten darüber, dass sie pro Tag mindestens eine Stunde darauf verwendeten, zahllose Mails zu beantworten oder unwichtige Mails zu löschen.4 Berechnungen nach einer Studie des Henley Management College in Großbritannien Anfang 2007 haben ergeben, dass Manager insgesamt 3, 5 Jahre ihrer Lebenszeit mit irrelevanten E-Mails verschwenden.5

Mitunter ergreifen Menschen fragwürdige Maßnahmen, um sich der Überforderung zu erwehren. Eine Befragung von 417 Führungskräften in Deutschland brachte ans Licht, dass Manager mit Hilfe der mobilen Kommunikationstechnologien regelmäßig lügen.6 Am häufigsten wird dabei die Wahrheit per SMS verdreht: 81 Prozent der Befragten gaben an, oft beziehungsweise sehr oft die Unwahrheit zu schreiben. Auf Platz zwei der »Lügen-Liste« steht die E-Mail. Für diese Inflation der Unwahrheiten geben die Autoren der Studie verschiedene Gründe an: Weil der persönliche und direkte Kontakt immer seltener wird und weil viele Menschen ständig unterwegs sind, können ihre per SMS oder E-Mail übermittelten Informationen häufig nicht überprüft werden. Der wichtigste Grund liegt in der Motivation: Die Manager wollen dem hohen Kommunikationsdruck der ständigen Erreichbarkeit einfach einmal entfliehen. »Kein Handy-Empfang«, »Klingeln nicht gehört«, »Probleme mit dem E-Mail- Server«, »Akku leer« oder »habe im Flugzeug gesessen« sind die häufigsten Ausreden für einen Kommunikationsabbruch. Sie stimmen fast nie.

|19|Das ist ein deutlicher Hinweis, dass auch etwas anderes nicht stimmt – unser Verhältnis zu den technischen Kommunikationsmöglichkeiten, unsere Positionierung im umfassenden Strom der Kommunikation. Wer lügen muss, um sich eine Atempause zu verschaffen, der traut sich offensichtlich nicht, zu sagen, dass er einmal abschalten muss.

In St. Gallen sind wir in unserer Studie zum Gebrauch von BlackBerry und Smartphones (Telefone, die auch mobile E-Mails empfangen können) zu ähnlich widersprüchlichen Ergebnissen gekommen: Unter anderem haben wir nach der Belastung durch die permanente kommunikative Verfügbarkeit gefragt. Bei den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten wählten die meisten zunächst nur die positiven Einschätzungen: »erleichtert mein Leben«, »macht mich unabhängig vom Büro«, »lässt mich meine Arbeit flexibler erledigen«. In der zweiten offenen Antwortrunde rückten die meisten Teilnehmer dann auf Nachfrage in ihrer Beschreibung mit den Problemen heraus: kein Wochenende mehr ohne Arbeit, Sonntags abends kommen per E-Mail die Aufgaben für den Montag herein (die womöglich schon um sieben Uhr morgens erledigt sein müssen), Ärger und Frust beim Partner und in der Familie, weil nie mehr richtig »abgeschaltet« wird.

Das Abschalten hat zweierlei Dimensionen: Wir müssen technisch ausschalten, um gedanklich abschalten zu können. Das fällt vor allem jenen Menschen schwer, die in den Kommunikationsströmen der mobilen und vernetzten Gesellschaft ganz vorne mitschwimmen. Wenn besonders aktive Wissensarbeiter in den USA 341, in Großbritannien 320, in Deutschland 301 und in Frankreich 256 Mail am Tag empfangen und senden, 7 dann lässt sich leicht vorstellen, was es bedeutet, einen Tag offline zu bleiben. Am nächsten Tag sind dann eben zwischen 500 und 700 Mails zu lesen, zu löschen oder zu beantworten.

|20|Die meisten von uns haben die Erfahrung gemacht, was es bedeutet, eine Zeit lang offline zu sein. In der Regel beantwortet niemand die Anrufe und E-Mails für uns, die sich in dieser Zeit angehäuft haben. Aber wir versuchen nicht, etwas an der Ursache dieser Überlastung zu ändern, wie arbeiten einfach mehr. Notfalls auch in der Freizeit und im Urlaub. Das wiederum macht den Menschen auf Dauer kaputt. Wer nie entspannt, wird erst verspannt – und tickt irgendwann womöglich aus. »Crazy busy, overbooked, overstreched and about to snap« (wahnsinnig beschäftigt, überbucht, überdreht und kurz vorm Ausrasten), so beschreibt der US-amerikanische Psychologe Edward M. Hallowell diesen Zustand.8

Wie sich das auch auf die schönsten Augenblicke unseres Lebens auswirkt, zeigt ein Beispiel aus der Forschung: Die Entspannungs-und Glücksgefühle, die der Einzelne im Urlaub gewinnt, sind nur drei Tage nach Wiederaufnahme der Arbeit nahezu verschwunden. Das ergab eine experimentelle Studie mit 76 Angestellten der IT-Wirtschaft an der Universität Tel Aviv. Ein Urlaub hat heutzutage also eine Halbwertzeit von drei Tagen! 72 Stunden nach der Rückkehr an den Arbeitsplatz ist die Erholung aus der Empfindungswelt des Arbeitnehmers getilgt. Und das ist noch nicht alles: Drei Wochen nachdem die befragten Angestellten wieder ihren Job aufgenommen hatten, waren Stress und Burnout wieder auf dem Level angekommen, den sie vor dem Urlaub erreicht hatten.9

Heutzutage muss vor dem Antritt der Ferien und nach der Rückkehr aus dem Urlaub ein ganzer Berg von Information und Kommunikationsanfragen bewältigt werden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass im Zeitalter von E-Mail und Mobiltelefon nicht mehr »das Büro« die im Urlaub eingehende Arbeit unter den Weiterarbeitenden verteilt. Sie wird entweder gleich an den Urlaubenden weitergeleitet oder auf Wiedervorlage gelegt. Wir erleben |21|seit einigen Jahren ein »Stellvertretersterben«. Die übliche Regelung, dass man sich im Urlaub von einem Kollegen oder einer Kollegin vertreten lässt, der oder die dann auch wirklich die Arbeit übernimmt, ist im Aussterben begriffen. Stellenabbau und immer flachere Hierarchien haben den Einzelnen oft wirklich zum Einzelkämpfer gemacht. Viele, die im Berufsleben stark eingebunden sind, gönnen sich mit Blick auf ihre Informations-und Kommunikationsgewohnheiten längst keine Tage mehr, in denen sie wirklich im Urlaub, also tatsächlich für das Büro unerreichbar sind. E-Mails werden auch in den Ferien täglich gecheckt, wichtige – und auch unwichtige – Dinge telefonisch schnell erledigt.

Droge Information

Der Entwicklungsschritt, der diese Veränderungen am stärksten vorangetrieben hat, ist, wie ich glaube, der BlackBerry, oder allgemeiner: die Möglichkeit, immer und überall E-Mails zu senden und zu empfangen. Im Jahr 2000 erlebte der BlackBerry an der Wallstreet in New York seinen ersten Höhenflug und kein gestandener Broker oder Investmentbanker wollte sich mehr ohne das Gerät sehen lassen.

Ich habe mir frühzeitig einen BlackBerry zugelegt. Und damit begannen die Probleme. Ich fühlte mich ständig genötigt, nachzuschauen, ob eine Nachricht eingetroffen war. Wer hatte mich eigentlich dazu verpflichtet? Wenn dann nicht eine, sondern zwanzig angekommen waren, wurde ich hektisch. Manchmal war es zum Verzweifeln. Bei jeder neu eingegangen Mail blinkt der BlackBerry rot und schlägt Alarm. In langweiligen Konferenzen kann man regelmäßig Teilnehmer beobachten, die auf ihren BlackBerry starren wie das Kaninchen auf die |22|Schlange, um ja nicht zu verpassen, wenn eine neue Mail eingeht. »Natürlich muss ich nicht sofort jede E-Mail checken, die eingeht, das ist nun wirklich nicht nötig«, sagt ein Teilnehmer einer Studie zu den Wirkungen der mobilen E-Mail, »aber ich habe irgendwie doch das Gefühl, ich sollte nachsehen.«10 Pawlow lässt grüßen.

Für das multiple Telefon bürgerte sich bald ein Spitzname ein, der inzwischen sogar Eingang in einige internationale Wörterbücher gefunden hat: »Crackberry«. Crack, eine fatale Mischung aus Kokainsalz und Natron, macht sofort abhängig und wirkt hochgradig zerstörerisch auf die Gesundheit und die soziale Verträglichkeit. Es wirkt außerdem extrem schnell, verursacht beim Anwender ein Gefühl gesteigerter Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit bis hin zu Selbstüberschätzung und Größenwahn. Beobachtet man exzessive BlackBerry-Nutzer, kann man auch bei ihnen den Eindruck bekommen, sie stünden unter Drogen, abgekoppelt von ihrer Umwelt, nur noch auf sich und das Gerät konzentriert.

Bei Youtube kursieren längst Filme, die den BlackBerry aufs Korn nehmen und die allumfassende mobile Kommunikation |23|ad absurdum führen: Ein Video präsentiert beispielsweise den »BlackBerry Helmet«, den Helm passend zur mobilen E-Mail. Damit der BlackBerry-Nutzer nun wirklich nie wieder vom Display seines Geräts aufschauen muss, wird er mit einem Helm ausgestattet, der durch eine Signalflagge von weitem sichtbar ist. So werden die anderen Passanten frühzeitig vor Rempelattacken des unaufmerksamen mobilen Workaholics gewarnt. Außerdem verfügt der Helm über eine Kamera, deren Aufnahmen direkt auf den BlackBerry übertragen werden, so dass der Nutzer sehen kann, wohin er gerade läuft, während er unablässig auf das kleine Display starrt und die Tastatur bearbeitet.

|22|

9783867740579.images/figure/figure_22_0.jpg

The BlackBerry Helmet: Ultimative Lösung für den mobilen Workaholic

|23|Ich maile, also bin ich

Warum lassen wir uns tyrannisieren von den Möglichkeiten der technischen Kommunikation, die – richtig verwendet – doch eine Hilfe sein können? Warum tyrannisieren wir uns selbst?

Es ist nicht die Technik, die diese Verhaltensweisen auslöst. Es sind wir, die die Technik mit einem klaren Ziel nutzen: Wir wollen Aufmerksamkeit. Wir wollen beachtet werden, mitspielen im Spiel der Wichtigen und Wahrgenommenen. Immer im Einsatz, immer leistungsbereit. Immer ganz vorne bei denen, die Informationen senden und empfangen, und so die Agenda setzen: Ich maile, also bin ich. Diesen Grundzug des Menschen hat der irische Theologe und Aufklärungsphilosoph George Berkeley bereits vor rund 250 Jahren auf den Punkt gebracht: »Esse est percipi« (Sein heißt wahrgenommen werden).

Jede SMS, jedes Telefonat und jede E-Mail, die jemand bekommt, ist für ihn ein Signal: Da gibt es jemanden, der an mich denkt, mit mir in Kontakt treten will – und meine Aufmerksamkeit |24|haben möchte. Aufmerksamkeit ist die neue Währung unserer Zeit. Der Medienphilosoph Georg Franck beschreibt das im Entwurf einer »Aufmerksamkeitsökonomie« so: »Aufmerksamkeit braucht man nicht nur für fast, sondern für restlos alles, was man erleben will. Man kann Aufmerksamkeit auch für restlos alles ausgeben, was es überhaupt zu erleben gibt. Die Aufmerksamkeit übertrifft in dieser Universalität das Geld. Zugleich ist ihre Verfügbarkeit schärfer begrenzt.«11 Wir wetteifern darum, wahrgenommen zu werden. Denn Wahrnehmung bringt Anerkennung, und die bringt Einfluss. Und so bimmeln, blinken und brummen wir ohne Unterlass durch die Welt.

Die meisten haben ein untrügliches Gespür für die Probleme, die damit verbunden sind, wenn man sich selbst, die eigene Identität und Position im sozialen Leben vornehmlich über den Grad der Vernetzung und den Umfang der Erreichbarkeit definiert. Es ist ihnen klar, dass es letztlich nicht funktioniert, aber sie wissen nicht, wie sie es ändern sollen. Und alle kluge Einsicht ist in dem Moment vergessen, in dem es darum geht, für andere so erreichbar wie möglich zu sein. Die wechselseitige Erwartung permanenter Erreichbarkeit ist eine enorme Belastung – aber sie verspricht zugleich Erfüllung. Sie setzt uns unter einen hohen Kommunikationsdruck, bahnt uns zugleich den Weg zu Anerkennung und Wertschätzung.

Entscheidend ist, dass die Aufmerksamkeit, die wir entgegennehmen und anderen zukommen lassen, sich nicht allein auf den Prozess des Kommunizierens beschränkt. Sie muss das Ergebnis von Kommunikation sein, im Sinne der Verständigung zwischen zwei Menschen, die sich im Wortsinne etwas zu sagen haben. Ich bin nicht dadurch, dass ich maile, funke, simse. Ich bin dadurch, dass ein anderer das zur Kenntnis nimmt, was ich ihm mitteilen möchte, und daraus etwas macht. Und der andere |25|ist dadurch, dass ich nicht nur wahrnehme, wie er kommuniziert, sondern aufnehme, was er mir sagen will.

Um dieses Ergebnis zu erreichen, müssen wir gelegentlich aus dem Strom der Informationen ausscheren, einen Stop einlegen am Rand des Datenhighway und innehalten. Nur dann können wir Informationen verstehen und verarbeiten, daraus Anschlusskommunikation herstellen. Nur dann sind wir mehr als technisch angeschlossen: Wir sind sozial verbunden. Wer zu diesem Schritt des Innehaltens nicht mehr in der Lage ist, verfehlt die Übersetzung des virtuellen Lebens der Kommunikationsnetzwerke in das reale Leben der zwischenmenschlichen Beziehungen. Wem diese Übertragung nicht gelingt, der ist überladen mit Informationen, aber verarmt in der Kommunikation.

Das existenzielle Funkloch

In diesem Buch will ich näher beleuchten, woran das liegt. Warum sind wir dabei, den Zweck der Kommunikation zugunsten des Selbstzwecks eines permanenten Informationsaustauschs zu vernachlässigen (Teil I)? Weil es zu viele Informationen gibt, die wir verarbeiten müssen, und ihre Menge auch durch den technologischen Fortschritt täglich anwächst (Kapitel 2). Weil wir dadurch zu viele Entscheidungen treffen müssen (Kapitel 3) und versuchen, alle Dinge parallel zu erledigen, obwohl wir dazu gar nicht in der Lage sind (Kapitel 4). Und weil wir der Technik erlauben, unser Leben zu beherrschen, anstatt selbst zu bestimmen, wie wir diese Technik sinnvoll und produktiv einsetzen wollen (Kapitel 5).

Ich möchte außerdem fragen, was diese Abhängigkeiten von der technischen Vernetzung für den einzelnen Menschen bedeuten (Teil II). Was kann er tun, um die eigene Position im |26|Strom der Informationen zu bestimmen? Wie kann er sich darin mitbewegen, kommunikativ anschlussfähig bleiben und die Vorteile der technologischen Entwicklung nutzen, ohne Getriebener seiner Geräte und Vernetzung zu sein (Kapitel 6)? Wie inszeniert sich das mobile, vernetzte Ich in seiner Lebenswelt (Kapitel 7)? Ich werde dabei nicht allein auf unseren Arbeitsalltag schauen, sondern auch auf die Veränderungen im privaten Leben (Kapitel 8 und 9). Arbeit, Leben und Lieben sind immer stärker miteinander verwoben – auch das ist eine Konsequenz der umfassenden technischen Vernetzung und Erreichbarkeit. Die müssen nicht zum Problem werden, aber sie bedürfen der Gestaltung, der Kommunikationsregeln für den Umgang mit sich selbst und mit anderen.

Es ist ein Anfang, das Handy auch mal auszuschalten. Aber es geht um mehr. Der Einzelne muss die Fähigkeit entwickeln, die eigene Position in der modernen vernetzten Gesellschaft zu finden und zu definieren. Nur eine solche Position ermöglicht Individualität in einer Welt, in der unablässig konventionelle oder normative Anforderungen des Kollektivs an uns herangetragen werden. Auch die will und muss der Einzelne erfüllen, zumindest muss er sich zu ihnen verhalten. Denn er will Anteil haben an den Möglichkeiten der Vernetzung – am Produktivitätszuwachs, der mit ihr verbunden ist, und an den flexiblen Lebensformen, die nur durch sie möglich werden. Aber er darf sich nicht versklaven lassen.

Wir alle vollführen in unserem Leben ständig den Balanceakt, der unsere moderne Welt bestimmt: zwischen den Anforderungen einer technokratisch-leistungsorientierten Umwelt auf der einen Seite und dem Willen zur eigenen Lebensgestaltung und zum individuellen Lebensglück auf der anderen. Das Verbindungsglied zwischen ihnen ist die gelungene Kommunikation (Kapitel 10).

|27|Die Lösung unserer Probleme und die Chance für geglückte Kommunikation liegt in einer so simplen wie effektiven Maßnahme: der klugen Unerreichbarkeit. Sie gewährt uns Zeiten der Ruhe, des Abschaltens und der Konzentration. Der Kölner Autor Navid Kermani beschreibt in seinem Roman Kurzmitteilung den Vorstandsvorsitzenden eines Autokonzerns und seine ungewöhnlichen Arbeits-und Lebensregeln: »Etwa zog er sich täglich zweimal zurück, um zu meditieren, und er hatte auch alle zwei Wochen einen festen Tag, an dem er nicht ins Büro kam, keinerlei Termine annahm und nicht erreichbar war.«12 Wenn es diesen Vorstandsvorsitzenden wirklich gibt, dann hat er verstanden, worum es heute geht.

Solche Strategien der klugen Unerreichbarkeit sind heute im realen Leben gefragt. Wir müssen Bedingungen schaffen, dass Phasen der Vernetzung und des Informationsinputs sich mit Phasen der Verarbeitung und des kreativen Outputs abwechseln. Nur dann können wir uns selbst verständlich machen und andere verstehen. Nur dann kann aus Kommunikationslast wieder Kommunikationslust entstehen.

Kommunikation braucht Qualität. Und Qualität braucht Zeit. Wer sich verständigen will und verstanden werden will, muss nachdenken können und sich erklären dürfen. Der größte Luxus ist es heute, technisch unerreichbar und im gleichen Augenblick für jemanden oder etwas wirklich da zu sein. Jeder braucht heute von Zeit zu Zeit sein individuelles existenzielles Funkloch. Das sorgt nicht nur für eine Steigerung der Lebensqualität, es ist überlebenswichtig.

231
253
231
253
false

|231|Das Glück der Unerreichbarkeit

|233|Wenn ich in einem asiatischen oder arabischen Land unterwegs bin, habe ich oft besonders schöne und intensive Zeiten der Wahrnehmung. Ich betrachte mein Umfeld anders und nehme auf diese Weise viele Eindrücke mit nach Hause, die lange in meinem Gedächtnis bleiben und Anregung für neue Ideen sind. Woran das liegt? Ich kann meist die Sprache nicht sprechen und die Schrift nicht lesen. Ich höre Geräusche und sehe Bilder, aber ich vermag keine semantischen Bezüge herzustellen. Das macht mich frei. Es reduziert den Input, den ich durch die Sprach-und Schriftkommunikation sonst in jeder Sekunde bekomme. Und es schafft Freiräume für einen anderen, intensiven Blick auf die Dinge.

Natürlich können wir uns nicht partiell blind und taub stellen, um uns frei zu machen. Aber der Grundgedanke lässt sich doch übertragen: Es muss Wege geben, um Platz im Kopf und Zeit für das Denken zu schaffen. Angesichts von Datenflut und Kommunikationslawine müssen wir Gelegenheit finden, zu unterbrechen und innezuhalten. Das ist viel schwerer, wenn jedes Detail, das um einen herum geschieht, potentiell die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aber es ist möglich.

Den Ausweg aus der Kommunikationsfalle weisen uns genau solche Unterbrechungen und Pausen. Es sind die gezielt gewählten Phasen der Unerreichbarkeit, die dem Menschen individuelle Gestaltungsräume eröffnen. Und diese sind die Voraussetzung, Glück zu erfahren und ein erfüllendes Leben zu erreichen.

|234|Kann man sich Glück erarbeiten?

Der Philosoph und Psychologe Paul Watzlawick hat diesen Zusammenhang in seinen klugen Analysen der menschlichen Befähigung zum selbstgewählten Unglücklichsein auf den Punkt gebracht. In einem Interview sagte Watzlawick: »Die Möglichkeit des Glücks liegt in der Tat in der Aufgabe der Idee, man müsse das Glück erreichen. Man kommt dann möglicherweise zu der Einsicht, dass die Suche allein am Nichtfinden schuld war.«1

Wer immer auf der Suche nach dem perfekten Glück ist, der hat keine Chance, es zu finden. Er merkt noch nicht einmal, wenn es doch seinen Weg kreuzt. Wer immer gleichzeitig auf Empfang und auf Sendung ist, der bemerkt gar nicht, wann die Botschaft eintrifft, die den Unterschied macht. Für ihn gilt: Er sieht den Heuhaufen vor lauter Nadeln nicht.

In der industrialisierten Welt erhält auch die Idee des glücklichen Lebens eine Leistungskomponente: Du musst dich immer noch mehr anstrengen, um das Glück zu erreichen (das fälschlicherweise dann auch noch in Besitz, Wohlstand und Anerkennung »berechnet« wird). Gelegentlich gewinnt man den Eindruck, Glück sei ein Zustand, der nur noch schwerlich in die moderne Gesellschaft hineinpasst, lenkt er doch von allseitiger Arbeitsbereitschaft und Pflichterfüllung ab. Das Glück ist »dem Angriff des Moralisten«2 ausgesetzt, der sich der Arbeits-und Leistungsmoral mehr verpflichtet fühlt als der Moral eines erfüllten sozialen Lebens. In unserer Zeit ist es also um das Glück schlecht bestellt. Als soziale Aufladung und Erwartungshaltung im Begehren allgegenwärtig, findet man es selten in wirklicher Erfüllung.

Ich vergesse in diesem Zusammenhang nie die Werbung der siebziger und achtziger Jahre. Werbung ist immer ein Spiegel |235|der sozialen Verhältnisse, und damals spiegelte sie die Vorstellung, die materialisierte Perfektion des Haushalts sei die Wiege des Glücks. Die Standards setzte Henkel mit seinem Markenprodukt »Persil«: Gnade der Hausfrau, deren Wäsche nur sauber, nicht aber rein gewaschen war. Blieb die Wäsche auch nach dem Waschen kratzig, ließ das schlechte Gewissen in Form einer anklagenden lebenden Sprechblase nicht lange auf sich warten: Das wäre mit »Lenor« nicht passiert. Am schlimmsten aber war es, wenn die Frau des Hauses den eigentlichen Moment des Lebensglücks nicht angemessen zelebrierte: den Nachmittagskaffee. Halb ausgetrunkene Tassen blieben zurück. Zu ihrem Unglück kam dann noch Frau Sommer ins Spiel, die wusste, woran das alles lag. »Aber ich habe mir doch solche Mühe gegeben«, klagte die enttäuschte Hausfrau. Die Antwort ging dreizehn Jahre lang auf die schon nachhaltig in ihrem Selbstbewusstsein erschütterte Hausfrau nieder und auf die gesamte Fernsehnation, die damals noch nicht wegzappen konnte: »Mühe allein genügt nicht!« – Die Kaffeeversagerin musste unglücklich bleiben. Sie hatte nicht verstanden, dass es die richtige Mixtur aus ewigem Streben und den richtigen Produkten ist, die das Glück beschert.

Glück darf nur erwarten, wer alle sozialen Anforderungen hundertprozentig erfüllt. Das scheint bis heute zu gelten: Kommunikationstechnologien versprechen uns die perfekte, die allumfassende Erreichbarkeit. Dafür müssen wir uns wirklich anstrengen und dürfen keine Fehler machen. Die preußische Grundhaltung in allen Lebensdimensionen hat sich längst auch in die Kommunikation eingeschlichen. Wo es einen Reiz gibt, da hat bitte auch eine Reaktion zu erfolgen – mit Hilfe der besten Technologie und unter Einsatz von allem, was wir geben können. Manchmal bleibt zwischen der Technisierung des Haushalts und der Technisierung der Kommunikation dann |236|kein so gravierender Unterschied mehr. Die Kommunikation verläuft reibungslos. Aber die Momente der geglückten Verständigung werden rar.

Augenblick, verweile doch

Wie könnte der geglückte Moment in Zeiten der mobilen digitalen Vernetzung aussehen? Vielleicht so, wie eine gelungene Fotografie. Sie fängt das Bild eines Moments ein, mit den Menschen, den Objekten, ja auch den Bewegungen, auf die wir unsere Aufmerksamkeit, unseren Focus richten und die in diesem Moment in ihrem Zusammenspiel für uns von ganz besonderer Bedeutung sind und etwas auslösen in uns, eine tiefere emotionale Regung. In Goethes Faust (zweiter Teil) wird diese Momentaufnahme, ungefähr zeitgleich mit der Erfindung der Fotografie, so beschrieben:

Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:

Verweile doch, du bist so schön!

Es kann die Spur von meinen Erdetagen

Nicht in Äonen untergehn.

Im Vorgefühl von solchem hohen Glück

Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.

Während der Abfassung dieses Riesenopus klagte Goethe in einem Brief an seinen Großneffen Nicolovius, das »Veloziferische« sei das »größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden lässt [. .. so] dass man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist [. . .] und so immer aus der Hand in den Mund lebt«.3 Dabei kreierte Goethe, wie wir das bis heute gerne tun, einen Neologismus, um ein neues Phänomen mit einem neuen |237|Wort zu belegen: Das »Veloziferische« ist eine Verbindung aus dem lateinischen Begriff für Eile (velocitas) und Luzifer. Heute leben wir nicht von der Hand in den Mund, sondern von einer E-Mail zur nächsten. Und sie treffen in schnellem Takt ein. Eilig ist immer noch alles, aber es gibt neue Gründe dafür: zuallererst die Kommunikationstechnologien, die der Mensch nicht nur richtig, sondern auch falsch zu verwenden versteht. Das »Veloziferische« und das »Technoziferische« ergänzen einander ungemein gut.

So sehr sich Faust bei Goethe auch müht: Kein Augenblick kann verweilen. Eine gelungene Fotografie aber ermöglicht es uns, ihn dennoch in einigen seiner Komponenten und Assoziationsketten zu bewahren. Er wird damit immer wieder zugänglich in einer Zukunft, in der der betrachtete Moment längst vergangen ist.

Die Chance, einen Augenblick fotografisch zu bannen, hängt von der Wahl des richtigen Moments ab. Und dafür sind heute nicht zuletzt die technischen Fähigkeiten der Kamera ausschlaggebend: Wenn ich versuche, einen bestimmten Moment mit meiner digitalen Kamera einzufangen, dann finde ich womöglich nachher auf dem Speicher nur ein leeres Bild oder ein Stück blauen Himmels, ohne dass der Gegenstand des Fotografierens, das eigentliche Objekt abgebildet ist. Warum ist das so? Weil digitale Kameras trotz all der elaborierten Technik und trotz allen Fortschritts noch immer an einem kranken: der Langsamkeit des Auslösers. Die Kamera braucht so lange, bis sie das Drücken des Auslösers in die Aufnahme umwandelt, dass der Moment augenblicklich vergangen ist. Und das eigentliche Abbild mit ihm.

Das ist eine seltsam paradoxe Erscheinung für eine digitale Technologie, die ansonsten immer und überall auf Beschleunigung setzt. In diesem speziellen Fall verlangsamt sie. Und |238|wüsste man nicht, dass Technologien nicht in der Lage sind, zugunsten des Menschen vernünftige Entscheidungen zu treffen, könnte man fast auf die Idee kommen, die digitale Fototechnik wolle uns die Kostbarkeit des Moments vor Augen führen, jenen hohen Anspruch, den der einzelne Augenblick an die Zeit und die Aufmerksamkeit des Betrachters stellt. Wer einen Moment digital festhalten und auf seinen Speicher bannen will, der muss Geduld und Zeit haben. Und er muss sich konzentrieren. Löst er nur im Vorbeigehen aus, bleibt vom Gesehenen zumeist kein Abbild .

Zeit frisst Leben

Die Neue Zürcher Zeitung 4