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Noor van Haaften • In Freiheit leben

Noor van Haaften

In Freiheit leben

Wie wir persönlichen Ballast erkennen und loswerden können

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Die niederländische Originalausgabe erschien unter dem Titel Geroepen om vrij te zijn bei Uitgeverij Novapres, Apeldoorn, Niederlande

Deutsch von Martina Merckel-Braun

Wenn nicht anders angegeben, wurden die in diesem Buch zitierten Bibelstellen folgender Bibelausgabe entnommen:

Elberfelder Übersetzung (revidierte Fassung), 8. Auflage der Standardausgabe 2000, © 1985/1991 R. Brockhaus Verlag Wuppertal

Außerdem wurden folgende Bibelübersetzungen zitiert:

Lutherbibel, revidierter Text von 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart (L)

Hoffnung für alle – Die Bibel, © 2002 by International Bible Society, übersetzt und herausgegeben durch: Brunnen Verlag Basel, 1. Auflage der revidierten Fassung (Hfa)

Gute Nachricht Bibel, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart (GN)

2. Aulage 2006

© 2004 der deutschen Ausgabe: R. Brockhaus Verlag Wuppertal

Umschlaggestaltung: Ralf Krauß, Herrenberg

Druck: Ebner & Spiegel, Ulm

ISBN: 978-3-417-21941-8 (E-Book)

ISBN-13: 978-3-417-24876-0 (lieferbare Buchausgabe)

ISBN-10: 3-417-24876-0

Bestell-Nr. 224.876

Datenkonvertierung E-Book:

Fischer, Knoblauch & Co. Medienproduktionsgesellschaft mbH, 80801 München

Vorwort

Es muss ungefähr 1996 gewesen sein, als ich meinen ersten Vortrag zu dem Thema »Ballast in unserem Leben« hielt. Inzwischen sind wir einige Jahre und Vorträge weiter. Ich habe nicht nur in meinem Heimatland, den Niederlanden, darüber gesprochen, sondern auch in anderen Ländern Europas und in Übersee. Überall fühlten sich die Zuhörer von diesem Thema stark angesprochen, und immer wieder wurden in den nachfolgenden Gesprächen neue Fragen gestellt, Erfahrungen ausgetauscht und Kommentare abgegeben. Die Reaktionen und die Offenheit, die mir entgegengebracht wurden, haben mich dazu ermutigt, mich noch intensiver mit dem Thema Ballast–und dem Thema Freiheit! – auseinander zu setzen. Denn darum geht es im Grunde: dass Christen die Freiheit, die Gott ihnen in Christus geschenkt hat, für sich in Anspruch nehmen und darin leben. Paulus sagt in Galater 5,13: »Ihr seid zur Freiheit berufen.« Und kurz davor, in Vers 1, sagt er: »Für die Freiheit hat Christus uns frei gemacht.«

Während ich dieses Buch schrieb, habe ich mehr als einmal an das alte Schwarzweißfoto gedacht, das meine Mutter auf ihrem Schreibtisch stehen hatte. Als Kind verstand ich nicht recht, warum sie solchen Wert auf dieses Bild legte, das eine Möwe zeigte, die auf einem Pfahl am Strand saß. Es war ein Anblick, den ich schon Tausende von Malen gesehen hatte, weil wir nah am Meer wohnten und uns oft in den Dünen und am Strand aufhielten. Eines Tages jedoch erzählte meine Mutter, dass dieses Foto ihr so viel bedeutete, weil diese Möwe für sie ein Symbol der Freiheit war. Wenn man genau hinschaute, sah man, dass sie nicht einfach nur auf dem Pfahl saß; ihre Haltung und ihr Blick ließen erkennen, dass sie im Begriff war, ihre Flügel auszubreiten und wegzufliegen. In ein paar Sekunden würde sie sich vom Wind hoch in den Himmel hinauftragen lassen und sich kurz darauf wieder hinabstürzen, um einen Fisch zu fangen oder ein Weilchen auf den Wellen zu schaukeln.

Inzwischen begreife ich die Vorliebe meiner Mutter für das Bild von der Möwe auf dem Pfahl. Dass Freiheit für sie einen großen Wert darstellte, wird jeder, der sie gekannt hat, bestätigen. Sie hat te es nicht leicht im Leben – einerseits aufgrund ihrer eigenen Kindheit in einem strengen Elternhaus, aber auch, weil sie schon in jungen Jahren allein dafür verantwortlich war, ihre fünf Kinder aufzuziehen. Ohne Zweifel hat sie sich oft danach gesehnt, von all der Verantwortung und Mühe befreit zu sein, die einer allein erziehenden Mutter auferlegt sind. Dadurch wurde ihr die Möwe, die im Begriff war, der Freiheit entgegenzufliegen, zu einem wichtigen Symbol. Ich bin sehr dankbar, dass meine Mutter später in ihrem Leben Jesus begegnete und dadurch wahre Freiheit kennen lernte. Heute kennt sie diese Freiheit in ihrer ganzen Fülle, weil sie inzwischen bei ihm in der Herrlichkeit ist. Für uns gilt das Letzte noch nicht. Solange wir auf dieser unvollkommenen Erde leben, erkennen wir nur stückweise (1. Korinther 13,12). Aber wir wissen von dem, was wir noch nicht sehen, und warten sehnsüchtig auf den Moment, in dem das Sterbliche auf ewig »verschlungen wird vom Leben« (2. Korinther 5,4). Bis es so weit ist, stehen wir vor der Herausforderung, dem allmächtigen Gott mehr Raum zu geben in unserem Leben, wodurch unsere – durch Christus gewirkte – Freiheit mehr und mehr in uns Gestalt gewinnt. Je fester wir in Jesus gewurzelt und gegründet werden, desto mehr werden wir zu der Freiheit hinwachsen, die er uns erworben hat. Er selbst ist der Schlüssel, wie er uns mit seinen eigenen Worten sagt: »Wenn nun der Sohn euch frei machen wird, so werdet ihr wirklich frei sein« (Johannes 8,36).

Wenn Paulus in Galater 5,1 schreibt, dass Jesus uns »zur Freiheit« frei gemacht hat, dann unterstreicht das, was Gott in und durch Christus mit uns vorhat. Es ist sein Wille, dass die Befreiung und Erneuerung, die wir bei unserer Wiedergeburt durch Gottes Geist erfahren haben, in unserem Leben fortwirken. Sie sollen nicht nur einen kleinen Bereich unseres Daseins prägen, sondern nach und nach unser ganzes Leben umgestalten. Wir unsererseits haben die Aufgabe, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist in unserem Leben Raum zu geben. Das bedeutet: Wir müssen alles, was Gottes Wirken in uns hinderlich ist, konsequent und radikal aus dem Weg räumen (siehe Hebräer 12,1).

In diesem Buch wollen wir uns damit beschäftigen, welche Dinge unsere Freiheit in Christus boykottieren. Und welches Gepäck (oder welchen Ballast) wir mit uns herumschleppen, so dass wir nicht nur schlecht vorankommen, sondern auch daran gehindert werden, wirklich in das Leben einzutreten, das Gott für uns geplant hat. Wir wollen uns ehrlich damit auseinander setzen, welche »Joche« uns auferlegt worden sind oder auferlegt werden – sei es durch die Umstände, durch andere Menschen oder durch uns selbst. Wir wollen herausfinden, wie wir diese Dinge identifizieren und was wir dagegen tun können.

Sie werden in den folgenden Kapiteln einigen Themen begegnen, die bereits in früheren Büchern von mir angesprochen worden sind, dort im Zusammenhang mit der Lebensgeschichte einer bestimmten biblischen Person, nun in Form eines eigenen Themas und Kapitels. Sie werden auch einigen biblischen Personen begegnen, von denen Sie nicht nur in meinen Büchern, sondern zweifellos auch in Büchern anderer Autoren öfter gelesen haben. Das ist kein Wunder, es ist sogar unvermeidlich, denn die Lebensgeschichten dieser Menschen sind nach wie vor äußerst faszinierend und darüber hinaus überaus lehrreich. Letztlich geht es darum, wie Gott an ihnen, in ihnen und durch sie gewirkt hat, und darum werden wir nie aufhören, über sie nachzudenken, zu sprechen und zu schreiben. Es gibt immer neue Perspektiven, unter denen wir die biblischen Geschichten untersuchen können.

Neben biblischen Persönlichkeiten beschäftige ich mich in meinem Buch auch mit Menschen aus der Gegenwart. Es sind Menschen aus verschiedenen Ländern, denen ich bei Konferenzen oder anderen Gelegenheiten begegnet bin. Wo immer dies möglich war, habe ich sie um die Erlaubnis gebeten, ihre persönliche(n) Erfahrung(en) für dieses Buch verwenden zu dürfen. In allen Fällen habe ich aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes die Geschichten etwas abgeändert; manchmal habe ich auch einen Teil einer Geschichte mit einem Teil einer anderen Geschichte verbunden. Dies bedeutet, dass die betreffenden Personen sich in den Beispielen nicht mehr erkennen können. Falls Sie, aus welchem Grund auch immer, glauben, sich selbst oder eine andere Person in diesem Buch zu erkennen, entspricht dies nicht den Tatsachen.

In Freiheit leben ist kein Buch, das man in einem Zug durchlesen sollte. Es ist so aufgebaut, dass jedes Kapitel ein spezielles Thema behandelt und in sich abgeschlossen ist. Dieses Thema und die Person aus der Bibel, die dazu als Vorbild dient, werden jeweils auf der Titelseite des Kapitels genannt. Dort wird außerdem auf einen zentralen Bibelvers verwiesen, und es wird der Weg zur Freiheit aufgezeigt beziehungsweise das, was wir tun können, um den jeweiligen Ballast abzuwerfen. Auf der Rückseite jeder Titelseite sind dann eine Anzahl Bibeltexte aufgeführt, die mit dem betreffenden Thema im Zusammenhang stehen und die es wert sind, dass man sich eingehender mit ihnen beschäftigt. Dieser Aufbau gibt dem Leser die Freiheit, ein Thema beziehungsweise Kapitel auszuwählen, mit dem er sich befassen möchte, sei es allein oder in Gemeinschaft mit anderen. Daher eignet sich dieses Buch auch gut zur Gruppenarbeit in einem Gesprächs- oder Bibelkreis.

Während ich dieses Buch schrieb, erfuhr eine meiner Freundinnen, dass sie schwer krank war und nach menschlichem Ermessen nicht mehr lange leben würde. In den Gesprächen, die wir in den darauf folgenden Wochen führten, sprachen wir oft über Glauben und Vertrauen, und sie fragte mich wiederholt danach, wie ich mit dem Schreiben meines Buches vorankäme. »Weise die Menschen darauf hin, dass sie sich viel mehr auf Jesus ausrichten sollen« war eines der Dinge, die sie mir mehr als einmal ans Herz legte. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass dieses Buch meine Leser dazu anspornt, sich mehr nach Jesus auszustrecken und nach dem Leben, das er für uns geplant hat. Ich möchte allen danken, die mich beim Schreiben unterstützt haben – durch Gebet, Anteilnahme, Ratschläge und Korrekturen –, und widme dieses Buch Aartje Janssen, die am 8. Oktober 2003 heimgegangen ist zu ihrem himmlischen Vater.

Soest, im November 2003

Einleitung

Befreiung und Freiheit sind Themen, die sich durch die ganze Bibel ziehen. Es geht dabei um Gottes Absicht mit uns Menschen: Wir sind dazu berufen, frei zu sein und zu den Menschen zu werden, die Gott vor Augen hatte, als er uns schuf. Menschen, die in Gemeinschaft mit ihm leben. Menschen, die nicht eingeengt und ängstlich sind, nicht gefangen, sondern frei! So wurden die ersten Menschen geschaffen. Aber es dauerte nicht lange, bis sie die von Gott geschenkte Freiheit verspielten. Indem sie ihren eigenen Weg gingen, luden sie nicht nur große Schuld auf sich, sie verloren auch ihre Freiheit und Unbefangenheit. Angst und Scham trieben sie dazu, sich vor Gott zu verstecken. Aber Gott ließ es nicht dabei bewenden; er forderte sie dazu auf, zum Vorschein zu kommen: »Und Gott, der Herr, rief den Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du?« (1. Mose 3,9).

Viele Generationen später sehen wir Gottes Volk in Ägypten. Es ist geknechtet, wird unterdrückt und ausgebeutet. Auch da ruft Gott. Und – er befreit. Beachten Sie, mit welch kraftvollen Worten er es in 3. Mose 26,13 erinnert: »Ich bin der Herr, euer Gott, der ich euch aus dem Land Ägypten herausgeführt habe, damit ihr nicht ihre Knechte sein solltet. Und ich habe die Stangen eures Joches zerbrochen und euch aufrecht gehen lassen.«

Als Jesus, wiederum viele Generationen später, zu Beginn seines irdischen Dienstes in einer Synagoge spricht, steht wieder die Botschaft von Befreiung und Freiheit im Mittelpunkt: »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen gute Botschaft zu verkündigen; er hat mich gesandt, Gefangenen Freiheit auszurufen und Blinden, dass sie wieder sehen, Zerschlagene in Freiheit hinzusenden, auszurufen ein angenehmes Jahr des Herrn« (Lukas 4,18f). Später, in einem Streitgespräch mit den Juden, sagt er: »Wenn nun der Sohn euch frei machen wird, so werdet ihr wirklich frei sein« (Johannes 8,36). Und von Paulus stammt der Ausspruch: »Für die Freiheit hat Christus uns frei gemacht. Steht nun fest und lasst euch nicht wieder durch ein Joch der Sklaverei belasten« (Galater 5,1).

Werfen Sie Ihren Ballast ab!

Das Leben hat viel Ähnlichkeit mit einem Marathonlauf, für den man bekanntlich einen (sehr) langen Atem braucht. Das Wort »Wettlauf« in Hebräer 12,1 heißt im griechischen Text agon; hiervon ist das deutsche Wort »Agonie« abgeleitet. Das lässt tief blicken! Wir bekommen bei unserer Bekehrung kein Erste-Klasse-Ticket für einen Luxus-Sonderzug. Es ist nicht so, dass wir das Leben von einem komfortablen Sessel aus an uns vorbeiziehen sehen, mit einem Brötchen in der einen und einer Flasche Cola in der anderen Hand. Im Gegenteil, unsere Lebensreise erfordert Einsatz und Durchhaltevermögen und kostet uns oft Schweiß und Tränen. Manchmal gehen wir eine angenehme Wegstrecke, dann wieder stolpern wir über allerlei Hindernisse, gelegentlich auch über unsere eigenen Füße. Es gibt Zeiten, in denen wir gut vorankommen und voller Zuversicht sind, dann wieder sind wir nahe daran, den Mut zu verlieren, und fragen uns, ob wir die Ziellinie jemals erreichen werden. Dies ist der Kontext, in dem der Schreiber des Hebräerbriefes betont, dass die Teilnehmer am Wettlauf des Lebens »jede Bürde und die uns so leicht umstrickende Sünde ablegen« sollen. Das griechische Wort für Bürde (ogkon) bezeichnet etwas, das zu viel wiegt und eine Last oder auch ein Hindernis darstellt. Damals bezeichnete ogkon zu viel Fleisch oder Fett, das durch das richtige Training abgebaut werden musste. Das Wort ablegen (apothemenoi) lässt an etwas denken, das man ausziehen kann, wie etwa ein Kleidungsstück, das bei einem Wettlauf hinderlich wäre. Das ist vollkommen logisch, denn wer (übermäßig) belastet ist, geht das Risiko ein zu erlahmen: Er »ermattet in seiner Seele« (Vers 3) und bekommt »erschlaffte Hände« und »gelähmte Knie« (Vers 12).

Ich habe mehrere Jahre meines Lebens in Österreich verbracht, und dort bin ich zu einer passionierten Skilangläuferin geworden. Langlauf ist eine Sportart, die einem viel abverlangt und bei der alle Muskeln beansprucht werden. Man lässt sich nicht durch eine Gondel oder einen Schlepplift auf einen Berg hinaufbringen und saust dann mithilfe der Schwerkraft wieder hinunter. Beim Langlaufen muss man alles selbst machen. Beim Steigen, beim Abfahren und auf ebenen Strecken trägt man sein eigenes Gewicht und sein Gepäck. Jeder Langläufer weiß: je weniger Gepäck, desto besser. Mit einem leichten Rucksack kommt man auch leichter voran, man ist besser im Gleichgewicht und hält länger durch. Man hat weniger Mühe bei den seltsamen Kapriolen, die man manchmal schlagen muss, man ist wendiger. Aber obwohl ich das alles weiß, ist mein Rucksack doch meist zu schwer. Ich nehme zu viel mit, und/oder es kommt unterwegs noch das eine oder andere hinzu. So erinnere ich mich an eine Langlauftour, bei der ich die Steinskulptur eines Vogels mitschleppte. Wir waren in einem verlassenen Gebiet unterwegs und landeten bei einer Berghütte, in der zu unserer Überraschung jemand wohnte. Dieser Mann mit seinem wettergegerbten und tief gebräunten Gesicht lebte ein sehr zurückgezogenes Leben; seine einzige Gesellschaft waren eine Ziege und ein paar Hühner. In das Dorf im Tal kam er höchstens zweimal im Jahr. Seine Tage verbrachte er in der freien Natur. Und er machte Skulpturen. Ich verliebte mich in einen schönen Vogel, den er aus Stein gehauen hatte, und er war auch bereit, ihn mir zu verkaufen. Mit einiger Mühe gelang es mir, diesen Steinbrocken in meinen Rucksack zu stopfen. Später verirrten wir uns leider, so dass unsere Tour um einige Stunden verlängert und durch einen Schneesturm erschwert wurde, und da verwünschte ich meine neue Anschaffung, die mir so viel zusätzliches Gewicht bescherte.

Was für eine Skitour von einigen Stunden gilt, gilt noch mehr für unsere Lebensreise. Dass in Hebräer 12,1 beim Ablegen von Ballast als Erstes die Sünde genannt wird, ist nicht verwunderlich. Wenn ich noch einmal den Vergleich zum Langlaufen ziehe, dann würde Sünde hier dem eigenen Übergewicht entsprechen. Es sind mein Eigen-sinn, mein Eigen-dünkel, meine Eigen-mächtigkeit, kurz: mein eigenes Ich, die mich in Schwierigkeiten bringen. In diesem Licht betrachtet, ist es auch bemerkenswert, dass das oben erwähnte griechische Wort ogkon (Gewicht oder Last) auch im übertragenen Sinn für Stolz gebraucht wird.

Wenn ich mit meinen Langlaufskiern unterwegs bin, dann meine ich immer mal wieder, dass es viel reizvoller wäre, meine eigene Spur zu ziehen, als der Spur zu folgen, die ein Führer für mich abgesteckt hat. Die Tatsache, dass dieser Führer die Gegend kennt wie seine Westentasche, weil er dort aufgewachsen ist, tue ich achtlos ab. Ich sehe einen dunklen Wald vor mir und beschließe, dass ich dort nicht hindurchfahren will, sondern lieber den sonnigen Abhang nehme. Ich biege nonchalant von der markierten Loipe ab und nehme meinen eigenen Weg, um … früher oder später zu erkennen, dass ich mich entweder hoffnungslos verirrt habe oder auf einem Terrain gelandet bin, wo ich auf meinen schmalen Brettern die größten Schwierigkeiten habe. Es ist mehr als einmal vorgekommen, dass ich umkehren musste, weil mir ein reißender Fluss den Weg versperrt hat, oder weil ich vor einem Abhang stand, der mit meinen Langlaufskiern unmöglich zu bewältigen war. In meinem Eigensinn habe ich geflissentlich Hinweisschilder ignoriert, auf denen stand, dass eine bestimmte Loipe nur für sehr geübte Langläufer geeignet ist, und mich in dummem Übermut auf Strecken begeben, denen ich in keiner Weise gewachsen war. Dabei bin ich mehr als einmal stecken geblieben (einmal musste mich sogar ein Rettungsteam von einer Bergwand holen), und mir blieb nichts anderes übrig, als im buchstäblichen Wortsinn auf meiner eigenen Spur zurückzukehren auf den richtigen, abgesteckten Weg, der durch ein schönes, abwechslungsreiches Gebiet führte: durch Wälder hindurch und an frischen Bächen vorbei und sogar an einer Berghütte entlang, in der ein einladendes Feuer im offenen Kamin brannte und in der es heißen Kaffee und frischen Apfelkuchen gab. Der Führer wusste es doch besser! Und dasselbe gilt auch für die Wege, die Gott mich führt. In der Tat, »er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit« (Psalm 23,3). Wenn ich mein eigener Führer bin und meine eigene Spur ziehe, gehe ich nicht selten in die Irre.

Der Schreiber des Hebräerbriefes spricht davon, dass wir »jede Bürde und die uns so leicht umstrickende Sünde ablegen« sollen. Dadurch, dass er es so allgemein formuliert, stellt er sicher, dass nichts vergessen oder außer Acht gelassen wird, denn die Beispiele dafür, was alles »Bürde« beziehungsweise »Ballast« sein kann, sind zahllos. Aber wie finden wir heraus, was eigentlich Ballast ist? Nun, anders als beim Urlaubsgepäck, wo es sich um ein Zuviel an Kleidung, Spielsachen, Büchern oder Lebensmitteln handeln kann, geht es hier nicht um ein neutrales Zuviel, sondern um Dinge, die wir loswerden müssen, weil sie nicht gut für uns sind. Es ist unsichtbares Gepäck, das sich dadurch bemerkbar macht, dass es uns niederdrückt und belastet. Oft weisen uns negative Gefühle darauf hin, dass es in unserem Leben irgendwelchen Ballast gibt. Dass David nach seinem Ehebruch mit Batseba von Unruhe zerrissen wurde und sogar körperliche Beschwerden bekam, hatte mit persönlichen Sünden zu tun, die er nicht bekannt hatte; dadurch schleppte er den Ballast der Schuld mit sich herum. Mirjams Kraft und ihr Dienst für Gott wurden beeinträchtigt, weil sie Unzufriedenheit und Kritik in ihrem Gepäck hatte. Petrus muss nach seinem Verrat an Jesus einen Rucksack voller Selbstvorwürfe auf den Schultern getragen haben, während die Samariterin aus Johannes 4 niedergedrückt wurde von Scham. Der reiche Jüngling schleppte einen Götzen mit sich herum: sein Geld. Dass es eine Bürde – Ballast – für ihn war, sehen wir an seinem Kummer. Noomi trug die Last der Bitterkeit, die aus altem, unverarbeitetem Schmerz resultierte. Marta war gereizt und unter Druck wegen des Stresses, unter dem sie sich befand und den auch wir heutzutage gut kennen; ihr Ballast war der Druck der vielen Verpflichtungen. Rahels Ballast war ihr Kinderwunsch, der zu einem Anspruch geworden war, der sie beherrschte. Ich werde in den folgenden Kapiteln noch auf einige dieser Beispiele zurückkommen.

Der Herr aber …

Manchmal tragen wir ein Joch, das uns von anderen auferlegt wurde. Manchmal haben wir uns selbst ein Joch auferlegt. Manchmal haben sich, schleichend und ohne dass uns dies wirklich bewusst geworden wäre, Dinge in unserem Rucksack angehäuft. Es gibt vieles, was uns belastet, niederdrückt und bremst, vieles, was unserer inneren Freiheit im Weg steht. Es sind lästige Dinge, die wir nicht immer sofort erkennen und mit denen wir oft nicht umgehen können – aber unser Gott wohl! Immer wieder lesen wir in der Bibel: »Der Herr aber …« So ist es: Gott ist darauf aus, uns zu befreien. Aus diesem Grund – um uns vollkommene Freiheit zu schenken – hat er seinen einzigen Sohn gesandt. Dieser Sohn, Jesus Christus, ist der Einzige, der uns wirklich frei machen und uns wahre Freiheit geben kann. Er will uns unser Joch abnehmen, er will uns Flügel schenken und uns »leichtfüßig« machen. Was das bedeutet, entdecken wir, wenn wir sein Joch auf uns nehmen, wenn wir uns ihm unterwerfen und ihm nachfolgen. Bei (und in) ihm entdeckt ein Mensch, was Freiheit wirklich bedeutet. Es geschieht dort, zu seinen Füßen, dass wir hineingenommen werden in einen Prozess fortschreitender Befreiung. Wenn wir Jesu Einladung annehmen und zu ihm kommen, werden wir Ruhe finden (Matthäus 11,28). Ein Zuhause für unser rastloses Herz, Heilung für unsere Gebrechlichkeit, unser Niedergedrücktsein. Vergebung für unsere Sünden, Kraft und Mut anstelle von Unsicherheit und Angst. Er wird uns aufrichten und uns Leben schenken – ein frohes, freies Leben, das diese Bezeichnung wirklich verdient.

Wir dürfen nicht vergessen, dass unser Ballast (Dinge wie uneingestandene Schuld, Scham, Enttäuschung und Bitterkeit, Zorn, Selbstvorwürfe und negatives Denken) eine perfekte Plattform darstellt, auf der Gottes Widersacher landen kann. Das tut er mit Begeisterung, denn er ist darauf aus, unseren Glauben zu untergraben und uns zu ruinieren (1. Petrus 5,8). Über die zusammengekrümmte Frau in Lukas 13 sagt Jesus, dass sie vom Satan gebunden war. Offenbar hatte er in ihrem Leben Fuß fassen können; sie wurde von ihm gequält und niedergedrückt. Das war schon achtzehn Jahre lang so, aber dann griff Jesus ein. Er befreite sie und richtete sie auf. Dieses Wunder, dieses Eingreifen von oben, brauchen wir heute noch ebenso dringend wie die Menschen damals. Wir können unseren Ballast ablegen am Kreuz, wir können uns von unseren negativen Denkmustern und Verhaltensweisen abwenden in dem Sinne, dass wir mit ihnen brechen (wollen), aber wir können dies nicht mit unserer Willensanstrengung allein fertig bringen, sondern nur mit der Hilfe unseres Herrn.

In den folgenden Kapiteln weise ich immer wieder hin auf den Heiligen Geist als unseren Helfer beim Prozess des Ablegens und Loslassens. Er ist die Kraft in uns, die dafür sorgt, dass wir weiterkönnen und weiterkommen (2. Korinther 4,7). Der Heilige Geist wirkt jedoch nicht allein. Die Bibel lässt keinen Zweifel daran, dass alles steht und fällt mit Gott, dem Allmächtigen. Wir wissen auch, dass Jesus sich nach seinem Tod und seiner Auferstehung nicht von uns zurückgezogen hat; er hat sich zur Rechten Gottes gesetzt, wo er unablässig im Gebet für uns eintritt. In Hebräer 12,2 wird er der Anfänger und Vollender des Glaubens genannt, auf den wir fortwährend unsere Augen gerichtet halten sollen. Jesus hat nicht nur den Weg für uns gebahnt, er selber ist der Weg. Der Heilige Geist ist uns gegeben, damit wir hier auf Erden nicht allein dastehen. Durch ihn ist der Gott-mit-uns nach Jesu Tod und Auferstehung zum Gott-in-uns geworden. Dieses Innewohnen des Heiligen Geistes ist ein wesentlicher Aspekt im Leben eines jeden Menschen, der als Christ und in Christus leben will. Der Heilige Geist hilft den Kindern Gottes, als neue Menschen zu leben; er ist aktiv anwesend bei dem persönlichen Erneuerungs- und Veränderungsprozess, der mit der Bekehrung begonnen hat und weitergeht, bis unser Leben auf dieser Erde endet. Er ist die treibende Kraft für die Erneuerung unseres Denkens (Römer 12,2), durch die wir mehr Einsicht in das Wesen und die Gegenwart Gottes wie auch in uns selbst bekommen. Er will uns helfen, besser zu begreifen, was nötig ist – was wir ablegen und was wir ergreifen oder »anziehen« müssen –, damit wir zu erwachsenen Christen werden (Epheser 4,13-15).

Kapitel 1

Herr, gib mir dieses Wasser …

Johannes 4,15

Über den Ballast innerer Leere und Unruhe

Problem:

Innerer Durst und Unruhe

Wieso Ballast:

Menschen, denen innerer Friede und Erfüllung fehlen, finden keine Ruhe

Biblische Person:

Die Samariterin am Brunnen

Der Weg zur Freiheit:

Jesus

Unser Helfer:

Der Heilige Geist – er öffnet uns die Augen für die Wahrheit

Kernvers:

»Wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm geben werde, den wird nicht dürsten in Ewigkeit«

(Johannes 4,14)

Wie eine Hirschkuh lechzt nach Wasserbächen,
so lechzt meine Seele nach dir, o Gott!

Psalm 42,2

Was bist du so aufgelöst, meine Seele, und was stöhnst du in mir?

Harre auf Gott!

Psalm 42,12

Aber die auf den Herrn hoffen, gewinnen neue Kraft.

Jesaja 40,31

Sie werden nicht hungern und nicht dürsten, und weder Wüstenglut noch Sonne wird sie treffen. Denn ihr Erbarmer wird sie leiten und wird sie zu Wasserquellen führen.

Jesaja 49,10

Mich, die Quelle lebendigen Wassers, haben sie verlassen, um sich Zisternen auszuhauen, rissige Zisternen, die das Wasser nicht halten.

Jeremia 2,13

Du bereitest vor mir einen Tisch.

Psalm 23,5

Wer zu mir kommt, wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr dürsten.

Johannes 6,35

Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.

Matthäus 11,28 (L)

Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.

Offenbarung 21,6 (L)

(…) und der auf dem Thron sitzt, wird über ihnen wohnen. Sie werden nicht mehr hungern, auch werden sie nicht mehr dürsten (…), denn das Lamm, das in der Mitte des Thrones ist, wird sie hüten und sie leiten zu den Wasserquellen des Lebens.

Offenbarung 7,15-17

Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und allem Frieden im Glauben, damit ihr überreich seiet in der Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes!

Römer 15,13

Der Kirchenvater Augustinus soll einmal gesagt haben, dass jeder Mensch mit einer Leere in seinem Herzen geschaffen sei, die nur Gott selbst füllen könne. Manche bezweifeln, ob dieser Ausspruch wirklich von Augustinus stammt, aber das ist auch gar nicht so wichtig. Worauf es ankommt, ist die Wahrheit, die sich hinter diesen Worten verbirgt. Jeder Mensch kennt diese Erfahrung von einer inneren Sehnsucht nach … ja, nach was? Manche nennen es Glück (und suchen es in zwischenmenschlichen Beziehungen oder materiellem Wohlstand), andere nennen es Lebenserfüllung (und suchen es in Karriere, Erfolg und Status), wieder andere sagen, dass sie auf der Suche sind nach innerem Frieden (und suchen diesen in dem, was wir gegenwärtig Spiritualität nennen).

Schafe, die keinen Hirten haben

Als Jesus vor zweitausend Jahren auf dieser Erde lebte, stellte er fest, dass die Menschen seiner Zeit rastlos und erschöpft waren. Das berührte ihn tief. Matthäus berichtet, dass er »innerlich bewegt« wurde, als er die Volksmengen sah (Matthäus 9,36). Die Menschen erinnerten ihn an Schafe ohne Hirten. Haltlos und wehrlos. Ängstlich, rastlos und erschöpft. Heimatlos. Ausgeliefert an sich selbst und die Welt um sie herum. Jesus empfand Mitgefühl und tiefe Liebe für diese Menschen, die – so beschäftigt (und vielleicht auch wichtig) sie scheinen mochten – doch innerlich verloren waren und auf der Suche nach etwas, das ihrem Leben Sinn verlieh.

Ein Schaf, das keinen Hirten hat, ist allerlei Gefahren ausgesetzt. Es kann sich im Gesträuch verfangen oder ins Wasser fallen und ertrinken, es kann sich verletzen und eine gefährliche Infektion bekommen, es kann sich ein Bein brechen oder stürzen und so auf dem Boden landen, dass es nicht mehr aufstehen kann, was seinen sicheren Tod bedeutet. Es kann von Raubtieren angefallen und zerrissen werden. Kurz, ein Schaf, das keinen Hirten hat, ist dem Tod preisgegeben. In rauen Gegenden wie Wales oder Irland sieht man am Straßenrand manchmal Kadaver von Schafen liegen. Sie wurden von Autos angefahren und ihrem Schicksal überlassen. Die Schafe haben eine Ohrmarke oder einen Farbklecks auf dem Rücken als Zeichen dafür, zu welcher Herde sie gehören. Aber weil sie frei herumlaufen, ohne ständig beaufsichtigt zu werden, geht doch ab und zu etwas schief. Wenn kein Hirte da ist, der sich um die Schafe kümmert, der sie im Auge behält und beschützt, dann sieht es schlecht für sie aus.

Es bewegt mich, dass Jesus die Menschen seiner Zeit mit Schafen verglich, die keinen Hirten haben. Das sagt nicht nur etwas über den Zustand dieser Menschen aus, sondern auch und vor allem etwas über ihn selbst. In Johannes 10 bezeichnet er sich selbst als den guten Hirten, der sein Leben einsetzt für seine Schafe. Er spricht auch über schlechte Hirten, denen nicht viel an ihrer Herde liegt. Wenn ein Wolf kommt, denken sie nur an ihre eigene Sicherheit, und sie ergreifen die Flucht – »weil er ein Mietling ist und sich um die Schafe nicht kümmert« (Johannes 10,13), stellt Jesus treffend fest und vergleicht diese schlechten Hirten mit Dieben und Räubern, die nur gekommen sind, »um zu stehlen und zu schlachten und zu verderben«. Er selbst dagegen kam aus einem anderen Grund: »Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und es in Überfluss haben. Ich bin der gute Hirte« (Johannes 10,10f). Direkt zuvor (in Vers 9) sagt er: »Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, so wird er errettet werden und wird ein- und ausgehen und Weide finden.«

Die Samariterin (Johannes 4,1-42)

Mit diesen Worten Jesu im Gedächtnis wenden wir uns Johannes 4 zu, wo wir einer Frau begegnen, die in jeder Hinsicht dem von Jesus skizzierten Bild entspricht: Sie ist rastlos und erschöpft wie ein Schaf, das keinen Hirten hat. Die Frau ist anonym geblieben, ihr Name wird nicht genannt. Vielleicht ist das absichtlich geschehen, um ihre Privatsphäre zu schützen. Jedenfalls beschränkt sich der Evangelist Johannes darauf, sie zu beschreiben als »eine Frau aus Samaria« oder »die samaritische Frau«. Übrigens sagt dies schon sehr viel aus, »denn die Juden verkehren nicht mit den Samaritern«, wie es in Vers 9 heißt.

Um diese Ablehnung zu begreifen, müssen wir einen Blick zurück in die Zeit werfen, in der die zehn Stämme des Nordreiches Israel (zu dem auch die Provinz Samaria gehörte) in die Hände der Assyrer fielen. Während dieser Zeit ließ der König von Assur Tausende von Juden deportieren, darunter auch eine große Anzahl aus der Provinz Samaria.1 Das Vakuum, das sie hinterließen, wurde gefüllt von Einwanderern aus allerlei Ländern und Völkern, die ihre eigenen Götter und rituellen Bräuche mitbrachten. Wohl akzeptierten (und verehrten) diese Fremden den Gott Israels, dem in ihrer neuen Heimat gedient wurde, aber er erhielt nicht den Platz, der ihm zukommt. Der Gott Israels wurde den eigenen Göttern zur Seite gestellt, die ihrerseits Eingang nach Samaria fanden. Es kam so weit, dass Bilder dieser fremden Götter in den Tempeln Samarias aufgestellt wurden (siehe zum Beispiel 2. Könige 17,24-41), eine Entwicklung, die für die Juden, die nicht (oder nicht mehr) in Samaria wohnten, unannehmbar war. Die Samariter waren in ihren Augen nichts wert, sie waren Abschaum sowohl in religiöser als auch in ethnischer Hinsicht (wahrscheinlich hat es auch Mischehen gegeben).2 Die Ablehnung war total und nicht mehr rückgängig zu machen, im Gegenteil, die Haltung der Juden verhärtete sich immer mehr. Jahre später kam es noch einmal zu einer Deportation: der babylonischen Verbannung unter König Nebukadnezar. Als die Verbannten aus Juda schließlich in ihr Heimatland zurückkehrten und Anstalten machten, den Tempel in Jerusalem wieder aufzubauen (ca. 539 vor Christus), boten die Einwohner von Samaria ihre Hilfe an. Diese wurde rigoros abgewiesen (Esra 4,1-3). Dieser Vorfall führte zu noch größerer Distanz und Bitterkeit.

Gott ergreift die Initiative

Vor diesem geschichtlichen Hintergrund ist es frappierend, dass Jesus auf seiner Reise von Judäa nach Galiläa bewusst einen Zwischenstopp in Samaria einlegte. Wir lesen in Vers 4: »Er musste aber durch Samaria ziehen.« Angesichts der oben erwähnten Situation können wir nur den Schluss ziehen, dass es sich um ein »heiliges Müssen« handelte. Es war Gottes Wille, dass Jesus diesen Weg ging. Sein Aufenthalt in diesem Gebiet, das die Juden wann immer möglich zu umgehen suchten, gehörte zu Gottes Heilsplan: Er sandte seinen Sohn, um das Verlorene zu retten. Die samaritische Frau war solch eine Verlorene. Auch wenn sie von den Juden abgelehnt wurde, Gott war sich nicht zu schade, sich mit ihr zu beschäftigen. Und darum machte sich Jesus auf den Weg nach Samaria, wo er um die Mittagszeit in der Stadt Sychar ankam und einen historischen Ort aufsuchte, den Jakobsbrunnen. Müde von seiner Reise, ließ er sich dort nieder und schickte seine Jünger in die Stadt, um einkaufen zu gehen. Danach … wartete er auf diese eine samaritische Frau.

Hier sehen wir ein wichtiges göttliches Prinzip: Der Herr ergreift die Initiative. Er sucht die Menschen und wartet sehnsüchtig auf sie. Bevor ein Mensch beginnt, Gott zu suchen, hat Gott sich immer bereits auf die Suche nach diesem Menschen gemacht. Wenn ein Mensch ein Verlangen nach Gott verspürt, geschieht das niemals »einfach so«; es ist immer der Beginn einer Antwort auf Gottes Rufen. Es ist seine Liebe, die uns lockt. Denken Sie an Jesaja 65,1f: »Ich ließ mich suchen von denen, die nicht nach mir fragten, ich ließ mich finden von denen, die mich nicht suchten. Zu einem Volk, das meinen Namen nicht anrief, sagte ich: Hier bin ich, hier bin ich! Ich streckte meine Hände aus den ganzen Tag nach einem ungehorsamen Volk, das nach seinen eigenen Gedanken wandelt auf einem Weg, der nicht gut ist« (L), und denken Sie auch an Römer 10,20: »Ich ließ mich finden von denen, die mich nicht suchten, und erschien denen, die nicht nach mir fragten« (L).

Hier am Brunnen in Sychar sehen wir in Jesus den Vater, der Ausschau hält. Einen Vater, den er uns übrigens auch im Gleichnis vom verlorenen Sohn zeigt (Lukas 15). Sobald der Vater in diesem Gleichnis seinen Sohn in der Ferne entdeckt, wird er von Liebe und Erbarmen überwältigt, und er läuft ihm mit ausgestreckten Armen entgegen und fällt ihm um den Hals (Lukas 15,20). Der Junge, der mit einer Verurteilung gerechnet hatte (und diese auch verdiente), wird überrascht von einem überwältigenden Willkommen.

Etwas Ähnliches steht der Samariterin bevor. Als sie beim Brunnen ankommt, wird sie erwartet und willkommen geheißen vom Sohn Gottes, der extra nach Samaria gereist ist, um ihr zu begegnen. Ob sie selbst bewusst auf der Suche ist nach Gott, wissen wir nicht, aber dass er auf der Suche nach ihr ist, ist sicher, »denn der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu erretten, was verloren ist« (Lukas 19,10).

Auf der Suche nach lebendigem Wasser

Was wissen wir außer der Tatsache, dass die Samariterin zu einer verachteten Minderheit gehörte, sonst noch über diese Frau? Aus Vers 18 geht hervor, dass sie fünf Ehen hinter sich hatte und nun mit einem Mann zusammenwohnte, mit dem sie nicht verheiratet war. Da stellt sich automatisch die Frage: Wie kann jemand fünfmal verheiratet gewesen sein? Was ist mit und in diesen Ehen passiert? Sind von diesen Männern einige gestorben, ist sie von ihnen verlassen worden oder ist sie selbst weggelaufen? Wurde sie vielleicht weggeschickt, weil sie unfruchtbar war? Letzteres ist möglich, denn es ist nirgends von Kindern die Rede. Auffällig ist, dass wir keine Antwort bekommen auf diese Fragen. Gottes Wort gibt kein einziges Detail preis über das, was letztlich privat ist. Es geht uns auch nichts an. Gott kennt die Fakten, und das ist genug.

Die Samariterin hatte fünfmal eine Hochzeitsfeier mitgemacht. Sie hatte fünfmal die Worte gesprochen: »Ja, ich will mit diesem Mann zusammenleben. Ja, ich will seine Frau sein und in guten und schlechten Zeiten bei ihm bleiben.« Nachdem die erste Ehe zu Ende war, folgte eine zweite. Zum zweiten Mal stand sie voller (neuer) Hoffnung unter dem Baldachin3: »Diesmal wird es anders laufen. Mit diesem Mann bin ich für den Rest meines Lebens verbunden. Diesmal …« Fünfmal legte sie ihr Treuegelöbnis ab, und jedes Mal stand sie irgendwann wieder allein da. Warum beim sechsten Mal keine Hochzeitsfeier stattfand, wissen wir nicht. Vielleicht hatte sie den Mut verloren, noch einmal zu heiraten, vielleicht hatte dieser sechste Mann ihr keinen Heiratsantrag gemacht, vielleicht fand er es nicht nötig, zu heiraten, oder vielleicht war es nicht möglich, weil er mit einer anderen Frau verheiratet war (die Worte Jesu: »(…) der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann«, könnten dies vermuten lassen).

Die Tatsache, dass jemand fünfmal heiratet und danach mit jemandem zusammenlebt, ohne zu heiraten, sagt etwas über diese Person aus. Es würde mich nicht wundern, wenn die Samariterin nicht die Kraft oder den Mut aufgebracht hat, allein zu sein. Es sieht sehr danach aus, dass sie ihren Halt und ihr Glück in Beziehungen gesucht hat. Wenn eine Beziehung endete, machte sie sich auf die Suche nach einer neuen. Auch das Bedürfnis nach Sex kann eine Rolle gespielt haben. Die Geschichte erinnert mich an eine junge Frau, die in ihren frühen Teenagerjahren ihre erste sexuelle Begegnung hatte und seitdem mit so vielen Männern geschlafen hat, dass sie den Überblick verloren hat, wie viele es genau waren. Es gab dazwischen ein paar Beziehungen, die etwas länger gedauert haben, aber keine dieser Beziehungen hatte Bestand. Sie sagte mir: »Ich schaffe es einfach nicht, allein zu sein. Es geht mir gar nicht mal so sehr um Sex, sondern schlicht um die Tatsache, dass jemand bei mir ist und mich festhält.«