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Inhalt

Für Aya

Vorspann

DIE RETTUNG DER POESIE IM BLÖDSINN
Oder: Warum ich (das hier) schreibe
Oder: Drei Ausflüge

Schemenhaft sah ich den Rücken des Riesen, der vor mir saß und uns mit ruhigen, starken Zügen immer weiter ins Ungewisse ruderte. Hinter ihm saß mir zugewandt ein sehr alter Mann, der in diesem Moment dabei war, eine Straftat zu begehen.

Die hölzernen Ruderblätter verschwanden geschmeidig und gleichmäßig im dunklen Wasser. Tauchten tropfend im Nebel auf, um wieder zu verschwinden.

Der Riese drehte langsam den Kopf zur Seite, sodass ich seine enorme Nase sehen konnte, die in etwa so groß war wie meine rechte Hand. Vor einer Stunde waren wir aus dem Gasthof geschlichen. Mit den Werkzeugen beladen, die wir für unseren Raubzug brauchten, waren wir dann vorsichtig einen kleinen Hügel hinab durchs feuchte Gras gelaufen, bis wir an ein altes Bootshaus kamen. Der Schein der Taschenlampen huschte über fette Spinnen und das modrige Gebälk, zwischen dem sie gierig in ihren Netzen hockten.

Im Wasser, in der Mitte des Schuppens, lag ein fünf Meter langes Ruderboot. Die Ruderbootgarage verlassend, war ich beim Gedanken an die im Dunkeln über uns lauernden Spinnen doch erleichtert und froh, endlich keinen festen Boden mehr unter den Füßen zu haben. Als sich die auf dem See liegenden Nebelschwaden durch die aufgehende Sonne aufzulösen begannen, versuchte ich mit einer Gewichtsverlagerung am Riesen vorbeizugucken, um einen Blickkontakt mit dem Alten zu erhaschen. Auch dieser hatte eine extrem ausgebildete Nase, unter der nun eine dicke Zigarre glimmte. Er schaute zu mir herüber und lächelte mich an, wie nur ein Opa seinen Enkel anlächeln kann …

In dem nach kaltem Zigarrenrauch, Büchern und Rasierwasser riechenden Arbeitszimmer meines Großvaters hatten mich die präparierten Raubfischköpfe, die die Wand zierten, schon immer gleichermaßen fasziniert und gegruselt. Prachtexemplare von Süßwasserhechten mit bösem Blick und scharfen Zähnen.

Und jetzt war ich also zum ersten (und leider auch einzigen) Mal dabei, dem Spektakel Mensch gegen Natur bzw. Angel gegen Hecht beizuwohnen. Irgendwo in den unheimlichen Tiefen des Wassers zog lauernd ein kalter Mörder seine Kreise, und es war nur eine Frage der Zeit, bis wir ihn dem See rauben würden.

Die Aussicht auf dieses Erlebnis und die Tatsache, dass an Bord kaum gesprochen wurde, erhöhten die Spannung. Ich fühlte mich jedoch zu jeder Zeit sicher, was zum einen daran lag, dass der Kapitän mein Großvater war, zum anderen war auch der mir abgewandte rudernde Riese mit mir verwandt. Er war mein Patenonkel. Mit seinen zwei Metern Körpergröße erschien er mir als Kind tatsächlich wie ein milder, gutmütiger Riese. Die beiden pflegten gewisse Gewohnheiten, die, ohne viele Worte zu verlieren, strikt eingehalten wurden: Während mein Onkel ruderte, saß mein Opa qualmend am Ende des Bootes und »schleppte« einen Angelhaken hinter uns her. Was verboten war. Als wir einen aussichtsreichen Platz gefunden hatten, warf mein Onkel den eisernen Anker. Zur Begrüßung dieses Platzes, oder der Fische, oder einfach, weil sie Lust dazu hatten, gab es für die beiden Männer einen Jägermeister und für mich ein Stückchen Lindt Vollmilchschokolade. Die Tafel verstaute mein Opa danach wieder sorgfältig in der Innentasche seines Mantels. So bekam die Schokolade tatsächlich etwas Feierliches, und es war klar, dass man an so einem Tag – neben der Tatsache, dass dort keine Fische an die Haken gingen – noch weitere Gründe hatte, den Angelplatz immer wieder zu wechseln.

Obwohl den beiden sehr gebildeten Männern das Prinzip des Zufalls durchaus vertraut gewesen sein müsste, wurde die Entscheidung, wo man den Anker auswarf, in direkten kausalen Zusammenhang mit diversen Beiß- und Fangoptionen gestellt. Mit zunehmender Zahl der Ortswech-sel wurde lebhafter und ernsthafter, ja geradezu wissenschaftlich abgewogen und diskutiert. Mir war es egal, ich war heiß auf die Schokolade.

Als wir also wieder über den See glitten und zum x-ten Male Ausschau nach dem optimalen Ankerplatz hielten, sagte mein Onkel plötzlich: »Hier ist der perfekte Platz. Ich habe das Gefühl, hier ist ein BARSCHLOCH.« Mein Opa erwiderte: »Ja, und wenn du falsch liegen solltest und das nicht stimmt, lassen wir den ersten Buchstaben weg und dann bist du das!«

Im ersten Moment gar nicht verstanden, blieb mir diese Wortspielerei bis heute im Gedächtnis als ein Beispiel dafür, was für eine große Wirkung so eine winzige sprachliche Veränderung haben kann. Mein Großvater war ein belesener Mann und Verehrer Wilhelm Buschs.