Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2013

Coverfoto: © Victoria Andreas

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2013

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe 978-3-87387-911-9
ISBN dieses eBooks: 978-3-87387-912-6

Einleitung

Es hätte eine Erfolgsgeschichte werden können.

Eine junge Frau gründet im Alter von 25 Jahren eine Bank. Die Anfangszeit mit einigen Aufs und Abs erweist sich als schwierig, und so dauert es einige Jahre, bis sich ihr Bankhaus etabliert. Ab da jedoch genießt die Gründerin einen ausgezeichneten Ruf. Ihr wird großes Vertrauen entgegengebracht, sie verkehrt in höchsten Kreisen und wird mit zahlreichen Würden und Titeln geehrt. Geschäfts- wie Privatleute legen ihr Vermögen bei ihrer Bank an.

Dann brechen turbulente Zeiten an, und das Haus gerät in Zahlungsschwierigkeiten. Um diese abzudecken, werden von Kunden hinterlegte Wertpapiere als Absicherung bei anderen Banken, die als Kreditoren dienen, hinterlegt. Dabei wird verschwiegen, dass es sich um Kundendepots handelt. Zudem verwendet die Bankgründerin in ihrer Funktion als Mitgesellschafterin eines weiteren Unternehmens für dieses Unternehmen bereitgestellte Kredite zur Abdeckung ihrer Schulden – und das ohne Mitwissen der Mitgesellschafter. Nach weiteren Delikten des Betrugs und der Untreue kommt es zum Prozess. Die Unternehmerin wird zu drei Jahren Haft verurteilt, während der sie im Alter von 52 Jahren an einer Lungenentzündung stirbt.

„Millionenbetrug der ‚Königin von Zell am See‘“ – so lautete damals eine der Schlagzeilen in der Presse. Wie schon gesagt: Es hätte eine, wenn nicht die Erfolgsgeschichte werden können. Stattdessen jedoch: Konkurs, Anklage und Prozess, Verurteilung und Haft, Krankheit im Gefängnis und Tod mit 52 Jahren. Nicht nur das Leben dieser talentierten, gescheiten und eigentlich sehr tüchtigen Frau war zerstört. Mit hineingerissen in dieses Drama wurden viele der Bankkunden, die teilweise um ihr ganzes Vermögen gebracht wurden; besonders bitter traf es natürlich die zahlreichen weniger wohlhabenden Menschen, die ihren letzten „Spargroschen“ verloren.

Das besonders Traurige an dieser Geschichte, die sich in den Jahren zwischen 1910 und 1935 ereignete, ist: Die Protagonistin dieses Dramas, Frau Auguste Caroline Lammer, ist bis heute die erste und einzige Bankgründerin Österreichs. Sie hätte als leuchtendes Vorbild für Frauen, die ähnlich mutige Schritte gehen wollen, in die österreichische Geschichte eingehen können (vgl. Gschwandtner, 2007).

Diese und unzählige weitere Beinahe-Erfolgsgeschichten kennzeichnet allesamt ein bestimmtes Merkmal: Was auf den ersten Blick so clever zu sein scheint, erweist sich bei näherem Hinsehen auf eine häufig tragische und zugleich erschreckend banale Weise als schlichte Dummheit der verantwortlichen Führungspersonen. Und diese Form der Dummheit ist weit verbreitet. Sie macht nicht Halt vor hoher Intelligenz und Bildung. Sie trifft ebenso charismatische und bewunderte Personen, und dies gar nicht so selten. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung ist diese Form der Dummheit nicht angeboren. Sie resultiert nicht aus fehlenden Talenten oder aus schwachen Genen. Meist ist sie schlicht die Folge „mangelnder Nachdenklichkeit“, wie es Hannah Arendt formulierte (Arendt, 2008, 14 f.).

Nun fragen Sie sich bestimmt: Was haben diese Ausführungen über die Dummheit in einem Buch über Führungsethik zu suchen? Ist es nicht eher so, dass gerade moralisch und ethisch einwandfreies Handeln von mangelnder Cleverness zeugt? So manche Führungskraft wird sich die Frage stellen, ob sie sich Moral überhaupt leisten kann. Zieht man dadurch nicht den Kürzeren im Konkurrenzkampf? Ethik und Erfolg scheinen sich einander zu widersprechen. Und so ist es kein Zufall, dass viele Menschen mit hoher ethischer Gesinnung etwas abfällig als „Gutmenschen“ belächelt werden: wirklichkeitsfremd, naiv und wenig ernst zu nehmen. Doch die Liste der Beispiele, die das Gegenteil belegen, ist lang, sehr lang. Und immer wieder lässt sich dabei dieselbe „Moral aus der Geschicht’“ ziehen: Im Nachhinein und aufs Ganze gesehen war es ziemlich dumm, sich unethisch zu verhalten. Den Umkehrschluss haben viele noch gar nicht richtig realisiert: Ethik nimmt eine, vielleicht sogar die zentrale Stellung innerhalb der Wertschöpfungskette ein. Ohne Moral kann sich langfristiger Erfolg nur schwer einstellen. Auf der anderen Seite hilft werteorientiertes Handeln dabei, im wahrsten Sinne des Wortes Werte zu erzeugen, und das auch in materieller und finanzieller Hinsicht.

Nun will dieses Buch Führungskräfte nicht mit dem moralischen Zeigefinger ermahnen. Vielmehr möchten wir sie ermutigen, sich auf die eigene Klugheit zu besinnen. Die zentrale Frage lautet daher:

Wie kann ich als Führungskraft klug, erfolgreich und moralisch handeln?

 

Doch vorab noch ein paar Erläuterungen zum Aspekt der Dummheit. Wir haben diesen Begriff zunächst sehr plakativ verwendet (was – wenn es dabei bliebe – ebenfalls eine Erscheinungsform der Dummheit wäre) und wollen ihn daher im Folgenden etwas differenzierter beleuchten.

Wie das Beispiel von Frau Lammer zeigt, schützen Intelligenz, Bildung, perfekte Umgangsformen usw. alleine nicht vor Dummheit. Vielmehr speist sie sich aus Selbstüberschätzung bzw. fehlerhafter Einschätzung. Dies wiederum resultiert aus einer mangelnden Fähigkeit und meist auch dem mangelnden Willen zur Selbsterkenntnis. Gleichzeitig ist Dummheit sehr bequem, was sie zusätzlich verführerisch macht. Man muss sich nicht die Mühe machen, differenzierte Urteile zu fällen. Für einen Menschen, der sich dumm verhält, ist es charakteristisch, dass ihm jegliche Vorsicht im Urteil fehlt. Feine Unterscheidungen werden nicht vorgenommen oder ausgeblendet, und die Welt mit all ihrer Vielfalt wird in ein sehr grobes Kategorialsystem gepresst. In seiner Blindheit verfügt der „dumme“ Mensch über ein Farbspektrum, das lediglich schwarz und weiß enthält. Deshalb hat er auch keinerlei Hemmungen, rasch Urteile zu treffen. Solche Urteile basieren jedoch auf einem unsicheren Fundament. Das hat ein „dummer“ Mensch mit kleinen Kindern gemeinsam. Auch sie verfügen nur über ein noch wenig differenziertes Kategoriensystem: So wird etwa alles, was vier Beine hat und mit dem Schwanz wackelt, in die Kategorie (oder „Schublade“) „Hund“ gepackt. Wer würde da einem Kleinkind eine erfolgreiche Unternehmensführung anvertrauen? Dabei bleiben Kinder nicht bei den einfachen Schubladen stehen, sondern entwickeln ein immer dichter werdendes Netz an Kategorien, wodurch im selben Ausmaß die Urteilskraft zunimmt (Glucksmann, 1988).

Der große Philosoph Immanuel Kant fügt noch ein weiteres Merkmal der Dummheit hinzu, den fehlenden „Witz“. Er bezeichnet sie als einen „Mangel an Urteilskraft ohne Witz“ (Kant, 1977, S. 537). Ein „gewitztes“ Verhalten zeichnet sich dadurch aus, Muster zu erkennen und weit auseinanderliegende Tatsachen in einen überraschenden Zusammenhang zu bringen. Darin besteht auch der „Witz“ vieler neuer Entdeckungen und Erfindungen. Kreative Geister betrachten nicht nur das Naheliegende, sondern verknüpfen Dinge neu.

Für die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt wiederum besteht das entscheidende Charakteristikum der Dummheit in einem Mangel an Nachdenklichkeit. Denken benötigt den Rückzug. Im Denken entfernt man sich aus der Gegenwart und beschäftigt sich mit Abwesendem (Arendt, 2008). Die Wirklichkeit verliert für das denkende Ich somit ihr Gewicht und ihren Sinn. Nur so ist es möglich, die Essenz, den Kern und die eigentliche Wichtigkeit einer Sache zu erkennen. Das Denken presst gewissermaßen aus den einzelnen Dingen und Sachverhalten, die es dank der „Entsinnlichung“ – ein anderer Begriff für Abstraktion – handlich zusammenfassen kann, allen Sinn heraus, der in ihnen stecken könnte. Gerade die Fähigkeit zur Entsinnlichung, zur Abstraktion, macht Denken erst zum Denken. Dazu gehört auch das Vermögen, sich der allgemeinen, der „herrschenden“ Meinung entziehen zu können und die eigene Vernunft in Anspruch zu nehmen. Hanna Arendt beschreibt dies als regelrechten „Bürgerkrieg“ zwischen dem menschlichen Gemeinsinn einerseits und dem Denkvermögen und Bedürfnis der Vernunft andererseits, die den Menschen dazu bestimmen, sich auf längere Zeiträume davon abzusetzen (Arendt, 2008, S. 17). In dieselbe Richtung weist wohl der berühmte Ausspruch Wittgensteins: „Der Philosoph ist nicht Bürger einer Denkgemeinde“ (Wittgenstein, 1984, S. 380). Auch hier geht es darum, sich zumindest vorübergehend vom Alltag und dem normalen Leben zu distanzieren. Ein Mensch, der nicht nachdenkt, d. h. der sich und sein Handeln nicht infrage stellen kann, ist stark gefährdet, dumme Entscheidungen zu treffen.

Wenn wir jedoch den heutigen Führungskontext und beruflichen Alltag betrachten, scheint die Forderung nach Nachdenklichkeit auf den ersten Blick völlig wirklichkeitsfremd und unpassend zu sein. In der „Hitze des alltäglichen Gefechts“ bleibt keine Zeit für langes Hin-und-her-Denken. Doch dies ist ein Irrtum. Der römische Kaiser und Stoiker Marc Aurel etwa fand mitten auf dem Schlachtfeld Zeit, sich zu besinnen und das eigene Tun und Handeln zu reflektieren (vgl. Wittstock, 2007, S. 8). Würde er einige typische moderne Klagen über Zeitmangel hören, würde er wohl nur nachsichtig lächeln und sie nicht ernst nehmen können. Gleichzeitig übersieht der Einwand, dass Nachdenklichkeit nicht mehr zeitgemäß ist, den fundamentalen und grundlegenden Unterschied zwischen Nachdenken und Grübeln. Grübeln heißt, immer um ein und dieselbe Sache zu kreisen. Grübeln gräbt sich selbst eine Grube, aus der es alleine nicht mehr herausfindet. Beim Grübeln stecken wir mitten im Problem – und wir stecken fest. Im Gegensatz dazu führt „Nach“-Denken zu einem Abstand zu den Sachverhalten und dem zu lösenden Problem. Der Sinn dieses Nachdenkens besteht nach Seneca darin, täglich mindestens einen Irrtum zu korrigieren. In einer heutigen Formulierung würden wir uns fragen: Was sind die „lessons learned“? Wer nun glaubt, angesichts des scheinbar so absorbierenden Tagesgeschäfts darauf verzichten zu müssen, der muss eben die gleichen Fehler immer wieder aufs Neue machen. Und das hört sich wahrlich nicht klug an.

Nun sind wir gewiss nicht der Ansicht, dass Dummheit unter Führungskräften und in Unternehmen weiter verbreitet wäre als in den sonstigen Lebensbereichen. Einen wichtigen Unterschied macht jedoch die Zahl der Menschen aus, die mit den Folgen der klugen oder dummen Entscheidungen leben müssen. In der Regel sind das viele. Führungskräften kommt daher eine besondere Verantwortung zu, sich und andere nicht zu gefährden, mit anderen Worten: sich nicht dumm zu verhalten.

Mit den Stoikern führen?

Dummheit hat – wie oben erwähnt – eine lange Geschichte. Genauso lange haben sich aber Menschen damit beschäftigt, wie ihr und ihrer Hauptquelle, dem unethischen Verhalten, begegnet werden kann. Unter all jenen greifen wir hier vor allem die stoischen Philosophen heraus. Denn deren Ansichten und Gedanken sind aus mehreren Gründen auch heute noch hochaktuell. Zum einen entwickelten sie sich in einer sehr krisenhaften Zeit, verbunden mit zahlreichen politischen Wirren und militärischen Auseinandersetzungen. Die stoische Philosophie kann daher als eine „Philosophie der Krise“ bezeichnet werden (Weinkauf, 2001, S. 44). Sie zielte gerade in diesen Zeiten darauf ab, Orientierungshilfen zu geben, um dennoch zu einem sinnerfüllten und glücklichen Leben gelangen zu können. Für die Stoiker, wie für die meisten der antiken Philosophen, steht vor allem die Praxis im Vordergrund. Der Elfenbeinturm war damals noch ein äußerst seltenes Exemplar.

 EXKURS

Die Bezeichnung Stoiker leitet sich vom griechischen Begriff „Stoa“ für „Säulenhalle“ ab. Der Begründer dieser philosophischen Schule, Zenon (um 336 – 264 v. Chr), unterrichtete nämlich in einer Athener Säulenhalle (vgl. Weinkauf, 2001). Entwickelt wurde die stoische Philosophie über einen Zeitraum von etwa 400 Jahren. Sie gliedert sich in drei Perioden:

  1. die ältere,
  2. die mittlere und
  3. die römische Stoa.

Zur letzteren gehören als deren Hauptvertreter Cicero, Seneca, Epiktet und Marc Aurel.

Und unter all diesen Praktikern stechen die stoischen Philosophen zu Zeiten des Römischen Reiches besonders hervor. Da hätten wir zunächst den Vorstandsvorsitzenden eines global operierenden Unternehmens, der diese Stelle schon seit gut 20 Jahren erfolgreich innehat, obwohl es größte Schwierigkeiten und Krisen zu bewältigen gab. Oder denken wir an einen Rechtsanwalt, der in der höchsten Liga spielt und auch in der Politik erheblichen Einfluss hat. Einem anderen wiederum gelingt es, in einem diktatorischen System einerseits eine gewichtige politische Rolle zu spielen, gleichzeitig dabei aber seine reine Weste zu bewahren. Und schließlich gelang es einem vierten, innere Freiheit und Unabhängigkeit zu erreichen, obwohl er die meiste Zeit wie ein Gefangener leben musste. Was haben diese Männer gemeinsam? Zum einen sind alle vier Praktiker, die auf einen langen und reichhaltigen Erfahrungsschatz zurückblicken können. Und ihnen ist es äußerst wichtig, bei allen Schwierigkeiten moralisch integer zu bleiben. Sie scheuten sich nicht, Risiken einzugehen und mutig für ihre Anliegen zu kämpfen, oft mit großem Erfolg. Würden diese Männer ein Loblied auf die Moral singen, wir wären geneigt, ihnen Glauben zu schenken. Denn sie sprechen mitten aus dem prallen Leben.

Doch nun möchten wir die Herren einzeln vorstellen: Als Erster ist Marcus Tullius Cicero zu nennen (106 – 43 v. Chr.), Anwalt und Politiker, der es mit den mächtigsten Männern seiner Zeit aufnehmen musste, darunter Julius Gaius Cäsar. Auch dem klugen Lucius Annaeus Seneca (um 4 v. Chr. – 65 n. Chr.) waren politische Macht- und Ränkespiele besser vertraut, als ihm lieb war. Unter anderem war er Lehrer Neros in dessen jungen Jahren. Marc Aurel gar (121 – 180 n. Chr.) brachte es bis zur machtvollen Position des Kaisers, der das Römische Reich in einer seiner schwierigsten Phasen regieren musste. Epiktet (etwa 55 – 135 n. Chr.) wiederum war griechischer Sklave in römischen Diensten, dem es gelang, sich freizukaufen.

Wir sehen: Bei den Stoikern handelte es sich um ganz verschiedene Menschen, die mitten im Leben standen. Sie schöpften ihre Erfahrungen aus dem wirklichen Alltag und standen häufig im Brennpunkt des öffentlichen Lebens. Ihre philosophischen Erkenntnisse sind von zeitlos praktischer Natur und daher auch für die heutige Lebenswirklichkeit geradezu geschaffen und tauglich.

Ihnen allen ging es primär um die Entwicklung der Tugend, ein Begriff, der heute für manche verstaubt klingen mag. Doch Tugend leitet sich von „Taugen“ ab! Tugendhaft handeln heißt daher, über wirklich taugliche Fähigkeiten und Einstellungen zu verfügen, gleichermaßen moralisch und erfolgreich zu sein.

Wie ist dieses Buch aufgebaut?

Im 1. Kapitel geht es vor allem um Selbsterkenntnis. Sie ist das wichtigste Instrument, um Misserfolge zu vermeiden und die Qualität der Urteile zu steigern, was zu klugen und besseren Entscheidungen führt. Selbsterkenntnis bedeutet, sich klar zu werden, wie wir auf andere Menschen wirken. Dadurch erhöht sich auf Dauer die eigene Wirksamkeit. Selbsterkenntnis heißt auch, sich Fragen zu stellen, noch pointierter: sich infrage zu stellen.

Im 2. Kapitel wird die Tugend des Maßhaltens behandelt. Ein Begriff, der nun schon eine geraume Zeit in den Medien herumkreist. Maßhalten wird (noch) häufig in erster Linie mit Verzicht assoziiert. Verzicht klingt wenig attraktiv. Doch in Wirklichkeit geht es um Maßhalten zum Zwecke größerer Freiheit. Durch die Fähigkeit, Maß zu halten, erreichen wir einen höheren Grad an Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit. Wir entreißen sozusagen dem Schicksal die Macht über uns. Dabei stellt sich natürlich die Frage, was intelligente, fähige und tüchtige Menschen dazu verleitet, irgendwann Maß und Ziel zu verlieren, und wie es gelingen kann, den Verlockungen gegenüber standhaft zu bleiben.

Das 3. Kapitel dreht sich um den Umgang mit Emotionen. Hauptursache für Krisen sind weniger die Fakten, sondern der falsche Umgang mit ihnen. Einer Studie zufolge, in welcher die Ursachen für Unternehmensinsolvenzen ausgewertet wurden, zählten Managementfehler und vor allem auch Angst zu den Hauptfaktoren für zu spätes Handeln (Euler Hermes, 2006).

Zusätzlich braucht es Klarheit über die eigenen Grundsätze und Ziele, was das Thema des 4. Kapitels ist. Diese verleihen Standhaftigkeit und innere Kraft, ohne die ein guter Umgang mit den eigenen Emotionen sowie die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können, kaum gegeben sind.

Im 5. Kapitel wird ein besonders „heißes Eisen“ behandelt: Macht. Wer führt, hat Einfluss und verfügt über Macht. Macht jedoch kann verführen. Doch wer dieser Verführung unterliegt, handelt besonders unklug. Denn Macht, die Angst und Druck verbreitet, erweist sich in der Realität oft als äußerst fragil und kurzlebig.

Das abschließende 6. Kapitel widmet sich der Bedeutung von Gemeinschaft und Freundschaft. Schon die Stoiker wussten, dass ein „kluger Egoist“ sich auch altruistisch verhalten muss: Ohne Gemeinschaft kein dauerhafter Erfolg.

Am Ende eines jeden Kapitels finden Sie die „Meditationes“: meist Textstellen stoischer Philosophen, zuweilen ergänzt um die eine oder andere Übung. Sie dienen als Einführung in die „Kunst der Muße“, in die Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln zu reflektieren, hier im Lichte der zentralen Thesen des jeweiligen Kapitels. Muße so verstanden beugt der Dummheit vor, die sich ja durch einen Mangel an Nachdenklichkeit auszeichnet. Auch aus diesem Grund rät Seneca von jeglicher Tätigkeit ab, die keine Zeit zur Muße lässt!

1. „Spieglein, Spieglein an der Wand ...“ – Selbsterkenntnis als mentales Navigationsinstrument

Es gibt nichts Unglückseligeres als einen Menschen, der alles im Weltkreis erkunden und unaufhörlich die Tiefen der Erde erforschen will und zu erraten sucht, was in der Seele seiner Mitmenschen vor sich geht, aber nicht einsieht, dass es genügen würde, sich auf den inneren Daimon [Gewissen, innere Stimme] in seinem Inneren zu richten und ihm entsprechend zu dienen.

(Marc Aurel)[1]

Stellen Sie sich vor, Sie würden auf einer Party folgenden Aussagen eines Bauherren lauschen: „Ich will sparen, und da frage ich mich, wieso ich so viel Geld für einen Statiker ausgeben soll. Jeder weiß doch, wie man ein Haus baut, das sagt schon der gesunde Menschenverstand.“ Sicherlich würden Sie zögern, dessen Haus – sollte es je gebaut werden – zu betreten. Und das zu Recht.

Umso unverständlicher ist es auf der anderen Seite, wie sehr sich die meisten Menschen auf ungeprüfte Denkgebäude verlassen.

Ohne Kenntnis über die „Architektur der Seele“ findet unser Leben auf sehr schwankendem Untergrund statt, was schnell zu schlechten und falschen Urteilen und Entscheidungen führt.

Dies zu vermeiden – darum geht es in diesem Kapitel. Selbsterkenntnis und Selbstprüfung sind genauso unerlässlich wie statische Berechnungen beim Hausbau. Anders formuliert: Ohne Statik kein Hausbau, und ohne Selbsterkenntnis kein gelungenes Leben.

1.1 Der blinde Fleck

Die Römer waren fantastische Bauherren. Neben prachtvollen Palästen schufen sie technische Meisterleistungen wie die Fußbodenheizung und ein extrem beeindruckendes System der Trinkwasserversorgung. Über Hunderte von Kilometern wurde Wasser durch Aquädukte nach Rom geleitet. Diese waren so exakt gebaut, dass auf der Länge einer römischen Meile das Gefälle oft nur wenige Zentimeter betrug. Und das mit den damaligen Mitteln! Doch ähnlich wie in unserer Zeit existierte ein großes Ungleichgewicht zwischen technischer Perfektion und menschlicher Unvollkommenheit. Untersuchungen zeigen, dass heutzutage mehr als vier Fünftel aller misslungenen Projekte an mangelhafter Kommunikation und nicht an fehlendem technischem Know-how scheitern. Da keinerlei Anzeichen existieren, dass sich das Ausmaß menschlicher Vollkommenheit bzw. Unvollkommenheit über die Zeit gravierend verändert hat, dürfte die Quote früher in einem ähnlichen Bereich gelegen haben.

Nicht zuletzt deshalb war schon für die antiken Philosophen die Neigung der Menschen, für die eigenen Schwächen blind zu sein, ein zentrales Thema. So benutzt Seneca das Bild einer Sklavin, die plötzlich erblindet. Sie selbst glaubt jedoch, dass sie deswegen nichts mehr sehen könne, weil es im Haus finster geworden sei. Daher verlangt sie unentwegt von ihrem Aufseher, mit ihr in ein anderes Haus zu ziehen. Nun stellt Blindheit allein schon ein großes Problem dar. Das noch schlimmere Übel jedoch besteht für Seneca darin, sich dieser Blindheit nicht einmal bewusst zu sein.

Eine moderne Analogie zur Metapher der blinden Sklavin ist der wohlbekannte blinde Fleck im Augenhintergrund. Das Spannende dabei: Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen. Unser Gehirn „ergänzt“ unsere visuelle Wahrnehmung so, dass es ein vollständiges lückenloses Bild ergibt. In einem übertragenen Sinn können wir mit „blinder Fleck“ jenen Anteil unseres Verhaltens bezeichnen, welcher uns selbst nicht bewusst ist. Schauen wir uns dazu das folgende Beispiel an.

Herr Braun ist Werksleiter in einem technischen Unternehmen. Er klagt über seine zurückhaltenden Mitarbeiter. Viel zu selten ginge die Initiative von ihnen aus, stets müsse er sie mit Ideen und Lösungsvorschlägen versorgen. Als außenstehender Beobachter einer Teambesprechung wird deutlich, dass sich Herr Braun sehr ungeduldig gebärdet, kaum jemanden ausreden lässt, keine Pausen aushält und schon fast hyperaktiv agiert. Aus der Beobachterperspektive ist klar, dass Herr Braun einen Großteil zu dem Problem, unter dem er leidet, selbst beiträgt. Oder weniger höflich ausgedrückt: In einem großen Ausmaß ist er selbst das Problem, unter dem er leidet!

Mangelnde Selbsterkenntnis führt zu unliebsamen Überraschungen, wobei diese in der Regel nur für uns selbst wirklich unerwartet sind. Denn von außen betrachtet erscheint es Beobachtern nur zu offensichtlich, wie wir uns selbst immer wieder in die Irre führen und mit unserem Verhalten auf die Nase fallen. Und umgekehrt befinden wir uns unseren Mitmenschen gegenüber in der Beobachterrolle. Ebenso wie wir, blenden auch unsere Mitmenschen meist aus, welch großen Beitrag sie selbst zu ihren Problemen leisten. Wie sagt es Daniel Kahneman so schön: „Fehler entdecken ist leicht – bei den anderen“ (Kahneman, 2012, S. 42). Wie kommt es zu dieser partiellen Blindheit? In erster Linie ist es unser nonverbales Verhalten, welches „interne Angelegenheiten“ nach außen transportiert, meist Stimmungen, die uns nicht bewusst sind. Wir glauben, wir würden sachlich argumentieren. Unsere Stimme jedoch zeigt den Ärger, den wir vor uns selbst und anderen verbergen wollen. Wir meinen, wir seien freundlich. Unser versteinerter Gesichtsausdruck signalisiert unseren Gesprächspartnern allerdings etwas völlig anderes. Wir sind überzeugt davon, dass wir andere wertschätzend behandeln. Unser Verhalten aber spricht eine andere Sprache.

Herr Meier, Abteilungsleiter in einem großen Konzern, äußert sich stets sehr wertschätzend über seine Mitarbeiter, wenn er auf diese angesprochen wird. Ihm sei wichtig, als Ansprechpartner immer für sie zur Verfügung zu stehen. Dennoch kriselt und grummelt es seit einiger Zeit in seiner Abteilung. Während eines Teamworkshops fällt Herr Meier aus allen Wolken, als ein Großteil der Mitarbeiter sich darüber beklagt, dass er nie bzw. kaum Zeit für sie habe.

Die Folgen mangelnder Selbsterkenntnis, wie sie die Beispiele zeigen, machen deutlich, warum Selbstreflexion so wichtig ist: Selbsterkenntnis ist wie ein Navigationssystem. Ohne zu wissen, wo ich stehe, kann ich meine Ziele nicht anvisieren und erreichen. Ohne Kenntnis meiner Wirkung auf andere erscheinen mir deren Reaktionen unverständlich. Das Leben ähnelt dann einer Fahrt mit Vollgas bei beschlagener Windschutzscheibe. Der Crash ist vorprogrammiert.

Nun müssen wir davon ausgehen, dass Selbsttäuschung der Normalfall ist. Dies erklärt auch, warum es im täglichen privaten und geschäftlichen Leben zu so vielen Missverständnissen und Zusammenstößen kommt. Die meisten Menschen sehen sich selbst gar nicht oder zu einem geringen Ausmaß als Teil der Situation. Sie sind sich nicht bewusst, wie ihr Verhalten auf andere wirkt bzw. dass es überhaupt eine Wirkung auf andere hat. In Konflikten zeigt sich diese Blindheit besonders deutlich. Nie bin ich das Problem, sondern immer sind die anderen schuld. Ich bin nur das Opfer.

Dass eine „Blindfahrt durchs Leben“ kaum zu einem guten und erfolgreichen Dasein führt, scheint zunächst sehr einsichtig zu sein. Die Frage bleibt jedoch, wieso sich so viele mit der Selbsterkenntnis schwertun. Der Hauptgrund ist: Vor allem zu Beginn kann sie ziemlich unangenehm werden, besonders wenn wir uns von lieb gewonnenen, aber falschen Bildern von uns selbst verabschieden müssen. Um Sie dennoch dafür zu motivieren, möchten wir hier in kompakter Form den Nutzen ansprechen, den der (nicht immer leichte) Weg der Selbsterkenntnis verspricht:

  1. Selbsterkenntnis benötigen all diejenigen, die sich persönlich weiterentwickeln und gelassener und selbstbewusster werden wollen. Mit anderen Worten: Selbsterkenntnis ist die wichtigste Voraussetzung für persönliches Wachstum.
  2. Auch wer sein Leben selbst gestalten und in die Hand nehmen möchte, muss über Selbsterkenntnis verfügen. Und denken Sie daran: Aus der Opferrolle heraus führt es sich schlecht! Noch mehr als andere sind Führungskräfte auf Selbsterkenntnis angewiesen.
  3. Hängt viel von Ihren Einschätzungen der Situation sowie Ihren Entscheidungen ab? Dann können Sie sich mangelnde Selbsterkenntnis kaum leisten. Selbsterkenntnis verringert die Blindheit und erhöht so die Urteilskraft. Und ohne dies sind keine guten Entscheidungen möglich.
  4. Möchten Sie Auswege finden aus unproduktiven und scheinbar unverständlichen Konfliktsituationen? Selbsterkenntnis hilft, im komplexen und oft unscharfen Bereich der menschlichen Kommunikation besser zu navigieren.

1.2 „Ich mache mir die Welt, so wie sie mir gefällt“ – Raus aus der Opferrolle!

Pippi Langstrumpfs Lebensmotto ist längst schon zum Klassiker geworden. Viele Kinder, insbesondere Mädchen, wurden dadurch ermutigt, an ihre eigenen Stärken zu glauben – gelegentlich zum Leidwesen der Eltern. Der Leitspruch fordert uns auf, den eigenen Handlungsspielraum voll und ganz zu nutzen. Und: Irgendetwas geht immer! Vor allem war es aber Pippis enormes Selbstbewusstsein, welches so viele Kinder und auch Erwachsene faszinierte. Um jedoch wirklich über dieses gestaltende Selbstbewusstsein zu verfügen, muss ich mir zunächst im vollen Wortsinn meines Selbst bewusst sein. Der Weg zum starken Selbstbewusstsein führt über die Selbsterkenntnis! Mit anderen Worten: Selbstbewusstsein erlangt derjenige, der bereit ist, sich den eigenen Fehlern zu stellen. Vielen Menschen bereitet dies große Probleme. Es braucht Größe, sich Fehler einzugestehen.

Lieber täuschen wir uns da selbst und schieben ein Scheitern auf die Umstände. Und meist sind es die anderen, die uns diese „Umstände machen“, natürlich nur aus unserer verzerrten Sicht. Zur Selbsttäuschung gesellt sich noch ein treibender Mechanismus: Wer Fehler macht, fühlt sich häufig schuldig oder beschämt. Mit diesen Emotionen können viele Menschen nicht umgehen. Folgerichtig versuchen sie, diese zu vermeiden. Der einfachste Weg ist, die Verantwortung für einen Fehler mitsamt den Gefühlen der Schuld und der Scham auf andere abzuwälzen. Aber da spielen die Stoiker nicht mit! So sagt Mark Aurel:

„Wenn ein Gegenstand der Außenwelt dich missmutig macht, so ist es nicht jener, der dich beunruhigt, sondern vielmehr dein Urteil darüber; dieses aber sofort zu tilgen, steht in deiner Macht. Hat aber die Missstimmung in deinem Seelenzustände ihren Grund, wer hindert dich, deine Ansichten zu berichtigen?“

(Marc Aurel, 8, 123)

Ein noch radikalerer „Spielverderber“ ist Seneca. Für ihn sind die Umstände nicht nur nicht schuld an unserem eigenen Übel. Sondern wir sind an den Umständen schuld, da sie die Folgen eigener Fehler sind (Seneca, 3, 171). Das klingt hart. Der Weg, alles auf die Umstände zu schieben, wirkt auf viele nach wie vor verlockend, so bequem und leicht erscheint er.

Doch dies gilt nur vordergründig. Der Preis für das Schwarze-Peter-Spiel mit der Verantwortung ist hoch. Er geht nicht nur auf Kosten des Selbstbewusstseins, sondern vielmehr auch auf Kosten der Freiheit. Schon den antiken Philosophen war durchaus bewusst: Wer nicht selbst am Steuer sitzt, sondern sich den Umständen ausliefert, der verzichtet auf seine persönliche Freiheit. Denn jede Suche nach Fehlern im Außen lenkt davon ab, sich bewusst zu werden, was man selber tun kann. Welche Handlungen kann ich in Gang setzen, wie kann ich mein Schicksal in die eigene Hand nehmen? Für Seneca ist es daher eines Menschen schlichtweg unwürdig, sich auf sein Schicksal, die Eltern oder anderweitige schwierige Umstände hinauszureden. Es geht nicht darum, zu warten, sondern darum, aktiv zu werden, sich gestalterisch einzubringen und sich die Fragen zu stellen:

Denn wer die Ursachen im Außen sucht, nutzt den eigenen Handlungsspielraum und die damit verbundene Freiheit nicht – und dies ist schlicht dumm! Sicherlich kann man nicht immer entscheiden, wo man in einer bestimmten Situation und im Leben steht, aber immer kann man entscheiden, wie man dort steht.

Die Opferrolle steht keiner Führungskraft gut. Daher suchen gute Führungskräfte selbstverantwortlich danach, was man an einer Situation ändern kann, ohne abzuwarten, dass die anderen damit beginnen. Wünschen sie sich etwas von anderen Menschen, fragen sie sich als Erstes: „Was kann ich dazu beitragen, um das Gewünschte zu erreichen?“ Strebt eine Führungskraft beispielsweise danach, mehr respektiert und anerkannt zu werden, kann der Rat der stoischen Philosophie nur lauten: Zolle zuerst deinen Mitarbeitern Anerkennung und Respekt, und du wirst ihn ebenfalls erhalten.

 EXKURS

Unterschiede in der Selbsterkenntnis zwischen Frauen und Männern

Kulturell bedingt scheint es Frauen in der Regel leichter zu fallen, sich Fehler einzugestehen. Im traditionellen und immer noch wirksamen Rollenstereotyp gelten sie (wohl irrtümlich) als das schwache Geschlecht. Wer schwach ist, der kann sich Fehler leisten. Männer sind – auch wieder stereotyp gesprochen – weit mehr um ihr Image besorgt. Zum Bild der Männlichkeit gehört Stärke. Fehler werden als Schwäche erlebt, dürfen daher nicht sein. Muss sich ein Mann doch einen Fehler eingestehen, treten bei ihm weniger Gefühle der Schuld als die der Scham auf. Die neuere psychologische Forschung über Emotionen zeigt, dass sich Scham weit negativer auf die psychische und physische Gesundheit auswirkt als Schuld. Daraus lassen sich zwei Konsequenzen ziehen:

  1. Frauen fällt Selbsterkenntnis leichter (zumindest im Durchschnitt). Somit besitzen sie grundsätzlich bessere Voraussetzungen, moralisch und damit erfolgreich zu führen.
  2. Männer müssen sich über die Entwicklung und Stärkung der Tugenden hinaus auch von ihrer traditionellen Rolle lösen, was vielen schwerfällt.

1.3 Die „Intuitionsfalle“

Zum täglichen Geschäft von Führungskräften gehört es, Entscheidungen zu treffen. Und diese sollten möglichst klug sein. Was braucht es aber, um kluge Entscheidungen treffen zu können? Es braucht die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem, Richtiges von Falschem und Gutes von Schlechtem zu unterscheiden. Mit anderen Worten: Es bedarf einer guten Urteilskraft. Die Basis für gute Urteile wiederum liefern uns unsere Einschätzungen und Wahrnehmungen. Führungskräfte müssen die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter beurteilen, schwelende Konflikte möglichst früh erkennen, abschätzen, ob ein Mitarbeiter mit seinem Arbeitspensum über- oder unterfordert ist, ob das Team konstruktiv und effizient arbeitet oder zu viel Zeit für das Lösen unterschwelliger Machtkämpfe verschwendet usw.

Und meist bleibt nicht viel Zeit, diese Urteile und Entscheidungen zu fällen. Keine einfache Aufgabe!

Doch der Ausweg scheint einfach: Hören wir doch auf unseren Bauch! Er wird uns auf die richtige Spur bringen. Denn tatsächlich existieren (wissenschaftliche) Beweise, dass Bauchentscheidungen zu guten Urteilen führen können (Gigerenzer, 2007). Natürlich ist dabei große Vorsicht geboten. Sehen wir uns den „Beipackzettel zu den Risiken und Nebenwirkungen“ von Intuition, landläufig Bauchentscheidung genannt, näher an.

Was ist mit dem Begriff „Bauchgefühl“ oder gleichbedeutend „Intuition“ gemeint? In der Regel bezeichnen wir damit etwas, was wir tief verinnerlicht haben, so tief, dass es außerhalb unseres Bewusstseins abläuft. Ein anderer Name dafür lautet „unbewusste Kompetenz“. Unbewusste Kompetenzen bilden das Rückgrat all unserer Handlungen. Wenn wir gehen, verlassen wir uns darauf, dass die Muskelkoordination von selbst geschieht. Auch beim Erfassen und Beurteilen von Situationen spielen eine Menge automatisierter Strategien und Prozeduren eine große Rolle. Das sprichwörtliche „Fingerspitzengefühl“ ist unbedingt auch auf Intuition und unbewusste Kompetenzen angewiesen. Doch was diese auszeichnet, ist gleichzeitig auch deren Nachteil. Intuition und Bauchgefühl basieren auf unseren Erfahrungen und auf dem, was wir bereits gelernt haben. Mit anderen Worten: auf Altem. Unsere Intuition und unser Bauchgefühl gleichen einem treuen Ackergaul, der auf stets denselben Pfaden absolut zuverlässig seine Runden dreht. Aber nicht jede Situation ist nur durch Rückgriff auf Bewährtes zu bewältigen. Und würden wir uns nur auf unsere Intuition verlassen, würden wir nichts Neues mehr hinzulernen. Hier tritt die bewusste Selbsterkenntnis auf den Plan. Sie reflektiert unser Tun, unsere Erfolge und auch unsere Fehler. So trägt sie entscheidend dazu bei, dass wir lernen und uns als Person mitsamt unseren Fähigkeiten weiterentwickeln. Bewusste Selbsterkenntnis „füttert“ unsere Intuition. Nur eine gut „genährte“ Intuition ermöglicht gute Entscheidungen auch aus dem Bauch heraus. Was heute neu ist, wird morgen das Bewährte darstellen, auf das wir intuitiv Zugriff haben. Pointiert ausgedrückt müssen wir, wenn wir uns auf unsere Intuition alleine verlassen wollen, die Suppe auslöffeln, die wir uns eingebrockt haben. Und da hängt vieles, wenn nicht sogar alles, davon ab, welche „Erfahrungszutaten“ von welcher Qualität diese Suppe enthält. Nur die Selbsterkenntnis sorgt für beste Zutaten!

Aber noch ein weiterer Grund spricht dafür, unserer Intuition nicht immer und unbedingt zu vertrauen: Auch Bauchgefühle können irren. Selbsttäuschung hat nicht nur Auswirkungen auf unser Denken. Ebenso sind unsere Einstellungen und Überzeugungen sowie unsere Gefühle davon betroffen. Befinde ich mich in der Opferrolle, dann fühle ich mich auch als ein solches. Und bin ich schon länger daran gewöhnt, dann sind davon auch meine Intuitionen wesentlich betroffen. Mein Bauchgefühl ist das eines Opfers und somit ein schlechter Ratgeber bei der Frage, wie ich die Situation besser gestalten kann. Nur Selbsterkenntnis kann uns aus dieser einschränkenden und eingeengten Perspektive befreien und uns dadurch unterstützen, zu besseren und fundierten Urteilen zu gelangen. Über die eigene Person hinaus kann sich Selbsterkenntnis auch auf uns als Gattungswesen beziehen. Unser Geist funktioniert bei Weitem nicht perfekt. Der New Yorker Psychologieprofessor Garry Marcus spricht in dem Zusammenhang auch von Murks, so der Titel eines seiner Bücher (Marcus, 2009). „Natürliche Beurteilungsfehler“ spielen in viele Belange unseres Lebens mit hinein und führen zu Problemen, wenn wir uns ihrer nicht bewusst sind. Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, darauf näher einzugehen. Wer mehr darüber wissen möchte, den verweisen wir auf Daniel Kahneman (2012).

Auf den Punkt gebracht

Selbsterkenntnis verbessert die Qualität unserer Urteile, und dies wiederum führt zu klugen und besseren Entscheidungen:

„Bilde Deine Urteilskraft sorgfältig aus. Das ist das wirksamste Mittel, dass keine Meinungen in Dir entstehen, die der Natur und ebenso einem vernünftigen Geschöpfe widersprechen.“

(Marc Aurel, 3, 37)

1.4 Wie es in den Wald hineinruft ...

Herr Tief findet, dass die Verkäuferin heute besonders unfreundlich zu ihm ist. Hätte Herr Tief sich selbst auf einer Videoaufzeichnung sehen können, wäre ihm wohl aufgefallen, dass er bereits beim Betreten des Geschäfts einen ziemlich grimmigen Blick aufgesetzt hatte. Bei der außerdem ziemlich brüsk formulierten Frage von Herrn Tief: „Geht das denn nicht ein bisschen schneller?!“, verging der Verkäuferin sofort jeder Gedanke an ein Lächeln.

Seien wir ehrlich zu uns: Wir alle haben uns schon mal anderen Menschen gegenüber so wie Herr Tief verhalten, wenn auch hoffentlich selten. Und genauso wie Herr Tief waren wir uns vermutlich sicher, dass wir mit unserem Urteil über die andere Person recht hatten. Denn „objektiv betrachtet“ hat diese uns tatsächlich grimmig angesehen und in einem scharfen Tonfall mit uns gesprochen. Jedoch haben wir dabei etwas ganz Wesentliches vergessen und ausgeblendet: Wir haben uns selbst übersehen. Die Handlungen der anderen Person haben wir so beurteilt, als wären wir gar nicht anwesend gewesen! Das ist in etwa so, als würden wir uns wundern, dass eine Billardkugel ihre Bahn verändert, und dabei völlig außer Acht lassen, dass sie von einer anderen Kugel getroffen wurde! Bei diesem Beispiel ist es natürlich leicht, den Wirkungszusammenhang zu durchschauen, denn wir beobachten das Geschehen von außen. Im Spiel der Kommunikation sind wir jedoch nie nur Zuschauer, sondern befinden uns mitten im Spielfeld. Wir sind beteiligt. Oft genug sind wir dabei gewissermaßen die „Kugel des Anstoßes“. Und nur wenn wir dies begreifen, wird das Verhalten unserer Mitmenschen für uns wirklich erklärlich. Warum hat mein Gesprächspartner gerade seine Meinung geändert? Was führte zu einem veränderten Tonfall? Usw. Selbsterkenntnis ermöglicht uns, die Spiele der Erwachsenen (Berne, 2002) erfolgreich und fair zu spielen.

Auf den Punkt gebracht

Erst wenn wir wissen, wie wir wirken, können wir wirklich erfolgreich und dauerhaft wirksam sein!