Heinrich und Jonas Bedford-Strohm

Wer’s glaubt,
wird selig

Ein Glaubensgespräch
zwischen Vater und Sohn

Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung und Konzeption: Verlag Herder

Umschlagmotiv: ©Fotostudio Photogenika/München

ISBN (E-Book) 978-3-451-34587-6

ISBN (Buch) 978-3-451-61193-3

Für Deborah, Lennart und Nathan

Inhalt

Vorwort

1. Glück

2. Gott

3. Jesus

4. Bibel

5. Kirche

6. Religionen und Konfessionen

7. Tod

8. Spiritualität

Nachwort

Vorwort

Meinen Altersgenossen und mir fällt es oft schwer, über Glauben zu sprechen. Es gibt allerdings immer wieder Erlebnisse, die darauf schließen lassen, dass auch wir nicht vollkommen religiös unmusikalisch sind. Am Lagerfeuer nach dem dritten Bier. Am Tresen kurz vor Kneipenschluss. Beim Warten auf den Einlass vorm Konzert. In der Garderobenschlange auf einer Party. Wenn die Fassade verschwindet, wenn die Zunge sich löst, wenn man sich unbeobachtet fühlt, dann fängt man gelegentlich doch an, über Themen zu reden, die in unserer Alltagswelt sonst keine Rolle spielen: Gott, Tod, Glück, Spiritualität, Themen also, die sonst nicht wirklich oben auf der Agenda stehen. Auch für mich nicht, obwohl ich Pfarrersohn bin. Wir haben in der Regel andere Sorgen.

Meine Generation wächst in einem Dilemma auf. Wir sollen alles in kürzerer Zeit schneller, besser und effizienter machen. Eine ziemliche Herausforderung, gerade wenn die Gesellschaft kaum darauf zu vertrauen scheint, dass wir unseren Weg selbst finden werden. In der Polyfonie der guten, oder zumindest gut gemeinten, Ratschläge kommt jede noch so konträre Kombination vor: Wir sollen heimatverbunden, bodenständig und geerdet sein, aber in jedem Fall Auslandserfahrungen sammeln und möglichst viele Praktika machen. Denn: »Nicht für die Schule, fürs Leben lernen wir.« Wir sollen perfektes Hochdeutsch sprechen, den Dialekt der Heimat aber nicht verlieren und natürlich diverse Fremdsprachen lernen. Wir sollen technologie- und medienkritisch sein, aber jedes Medium beherrschen, immer verantwortungsvoll im Internet surfen und zusätzlich zur versierten Online-Recherche noch die Klassiker der Weltliteratur, alle Brockhausbände und wenigstens zwei Tageszeitungen lesen.

Wir sollen mindestens das können, was die Eltern schon konnten, dabei auf dem neuesten Stand des Wissens sein und bloß nicht Wikipedia als Quelle angeben. Wir sollen nicht mehr nur Kaffee kaufen, sondern mit einer Fairtrade-Kaffee-Kampagne bei Starbucks und Co. gleich die ganze Welt retten, dabei aber bloß nicht zu kapitalismuskritisch werden. Wir sollen später bitte Lifestyle-Kombis aus heimischer Produktion mit genug Platz für Partner, Hund, Kind und etwa dreihundert PS fahren und gleichzeitig die Welt vor dem Klimakollaps retten, aber wiederum natürlich, ohne zu globalisierungskritisch zu werden. Kurzum: Wir sollen alles ausbaden, was die vergangenen Generationen verbockt haben, ohne den Humor zu verlieren. Also lächeln, bloß nicht zu vorwurfsvoll sein und immer authentisch bleiben! Das ist eine Karikatur? Natürlich. Anders ließe sich der Anforderungsdruck auch gar nicht aushalten.

Jedenfalls ist da wenig Platz für anderes. Bestimmt nicht für Glaubensfragen nach der Art: Wo ist mein Platz in dieser Welt? Wo ist der rote Faden in meinem Leben? Wie kann ich meinen Beitrag zu einer besseren Welt leisten? Was hilft mir, diese Welt zu verstehen? Wie kann ich mit meinen eigenen Schwächen umgehen? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Gibt es einen Gott? Gibt es Übernatürliches? Dabei ließe sich die Liste ausbauen. Aber es scheint »gesellschaftlich« nicht vorgesehen zu sein, dass wir nach Antworten auf diese Fragen suchen. Vielleicht, weil wir mit der Rationalität, mit der wir die drängenden »Sachzwangfragen« des Lebens angehen, bei diesen Fragen nicht weiterkommen.

Diese Rationalität ist natürlich wichtig. Aber diese Rationalität ist eben auch immer in Gefahr, alles, was nicht in ihr Raster passt, als irrational und somit unwichtig auszusortieren. Das finde ich verkehrt. Ich finde: Wir müssen uns erlauben zu träumen. Wir müssen uns erlauben, an etwas zu glauben. Wir müssen uns erlauben zu spielen. Und zwar nicht erst nach dem dritten Bier. Aus diesem Wunsch entstand dann die Idee zu diesem Buch. Es ist für mich eine große Spielwiese der Glaubensfragen geworden, ein Produkt unendlicher Neugier, und ich widme es allen Forschern und Abenteurern, die – wie ich – das Universum des Glaubens erkunden wollen, ihren Fragen, Ängsten und Sehnsüchten freien Lauf lassen wollen, ohne dabei ihren Verstand »an der Garderobe abzugeben«. Glücklicherweise habe ich in meinem Vater, als Theologen und Bischof, einen Gesprächspartner, der keine Angst vor der Sprache, den Fragen und der Kritik meiner Generation hat.

Ich wünsche mir, dass dieses Buch Leserinnen und Leser findet, die wie ich auf der Suche sind, und ich hoffe, dass dieses Glaubensgespräch in ihren Kreisen, am Tresen, beim Lagerfeuer, vorm Konzert oder in der Garderobenschlange weitergeführt wird. Und: Der Weg ist das Ziel, oder?

Also: Glückliche Reise und alles Gute!
Jonas Bedford-Strohm

1. Glück

JONAS BEDFORD-STROHM

Wer glaubt, wird selig. Stimmt das?

HEINRICH BEDFORD-STROHM

Nicht wie bei einem Kochrezept jedenfalls, wo man nur ein paar Zutaten zusammenmischt nach dem Motto: Ein bisschen Lukasevangelium, ein bisschen Paulusbrief, ein bisschen Altes Testament, dann ordentlich schütteln, und es kommt das Glück heraus. So funktioniert’s nicht! Aber ich bin in der Tat der Meinung, dass man anhand von vielen Einzelaspekten zeigen kann, dass Glaube ein erfülltes Leben ermöglicht.

Kann man im Umkehrschluss genauso sagen: Wer nicht glaubt, wird auch nicht selig?

Nein, ich glaube, das kann man nicht im Umkehrschluss so sagen. Ich würde theologisch sagen: Gott hat viele Möglichkeiten, den Menschen ein erfülltes Leben zu schenken. Aber gleichzeitig sage ich, dass der Weg, den ich kenne und der sich für mich bewährt hat, der Weg über den christlichen Glauben ist. Man kann die Kraft dieses Weges anhand von Erkenntnissen der Glücksforscher sehr schön zeigen …

Bevor wir in die Details gehen: Kannst du kurz definieren, was Glück für dich heißt? Wir reden ja jetzt nicht von bloßer Ekstase und Euphorie, weil man gerade im Lotto gewonnen hat.

Glück heißt für mich, dass ich aus der Fülle leben darf und nicht aus der Knappheit leben muss. Glück heißt, dass ich einen inneren Frieden spüren darf und nicht aus der Angst leben muss. Glück heißt, dass ich nicht nur dann eine Basis für mein Leben habe, wenn die Dinge gut für mich laufen, sondern dass ich eine Basis habe, die auch in den schweren Zeiten tragfähig ist, wenn Leid in mein Leben kommt. Glück im umfassenden Sinne heißt eben, sich in guten wie in schweren Tagen getragen und geborgen fühlen zu dürfen.

Glück ist für dich also kein temporärer Zustand, sondern eher ein Gesamtkonzept?

Ja, ich glaube, beides ist ein Aspekt von Glück. Es gibt das Augenblicksglück, es gibt den Genuss, das Hochgefühl, und das ist auch etwas Wunderbares. Aus einer christlichen Perspektive sind das Hochgefühl, der Genuss und auch die Liebe ein Geschenk Gottes.

Gleichzeitig leben wir nicht nur aus dem Augenblicksglück. Genauso wichtig ist, dass dieses Augenblicksglück in einen Lebenshorizont eingebettet ist, der breiter ist als der Augenblick. Deswegen glaube ich, dass es auch ein Glück gibt, das einen ganzen Lebensbogen – gute und schlechte Zeiten – mit einschließen kann.

Wenn man Glück als Gesamtkonzept versteht: Wie erarbeitet man sich dieses Konzept von Glück? Hat der Glaube da eine Anleitung parat?

Vielleicht ist diese Frage in sich schon problematisch: Wie erarbeitet man sich ein Lebensglück? Die Frage setzt ja voraus, dass Glück machbar sei und dass man, um es zu »machen«, nur eine bestimmte To-do-Liste abarbeiten müsse. Der Weg zum Glück ist nicht wie Cola kaufen am Getränkeautomaten, in den man zwei Euro wirft und unten dann das frisch gekühlte Glück in Empfang nimmt.

Glück, wie ich es verstehe, hat sehr viel mit Passivität zu tun. Es hat damit zu tun, dass ich offen durchs Leben gehe und das, was mir widerfährt, in einen bestimmten Verstehenshorizont integriere. Glück heißt eben auch, dass ich in einer bestimmten Weise mit dem umgehen kann, was ich nicht beeinflussen kann, was mir einfach widerfährt. Und genau da kommt für mich die Gottesbeziehung ins Spiel, in die ich das, was mir widerfährt, einordnen kann.

Es gibt dazu noch dieses Zitat aus der Dreigroschenoper: »Ja, renn’ nur nach dem Glück, doch renne nicht zu sehr, denn alle rennen nach dem Glück, das Glück rennt hinterher.« Heißt das, dass man sich, wenn man sich zu sehr anstrengt und kein Vertrauen hat, das Glück kaputt machen kann?

Ich glaube, dass das Zitat eine menschliche Tendenz sehr schön beschreibt: Wir meinen manchmal, dass Glück dadurch entsteht, dass wir uns anstrengen und bestimmte Dinge tun. Wir arbeiten sozusagen verbissen an unserem Glück. Aber auf diese Weise stehen wir dem Glück möglicherweise im Wege. Die christliche Perspektive setzt ganz anders an. Wir wollen natürlich unser Leben gestalten, wir sind natürlich aktiv und wollen etwas für unser Glück tun. Aber gleichzeitig wissen Christen, dass ihr Leben, ja, die ganze Welt in Gottes Hand liegen und nicht in ihrer. Wir Christen sehen uns im Horizont der liebenden Zuwendung Gottes. Das ist ein viel lebensnäherer Zugang, denn jeder Mensch kennt Situationen, in denen wir die Erfahrung machen, dass wir etwas nicht unter Kontrolle haben, dass wir einfach ohnmächtig sind. Krankheiten können zum Beispiel extreme Erfahrungen von Ohnmacht sein. Oder der Tod. Da sind wir völlig am Ende mit unseren Kontrollmöglichkeiten. Wer behauptet, dass der Mensch seines Glückes Schmied ist, muss solche Situationen ausklammern.

Wo liegt denn der Mehrwert der christlichen Perspektive im Vergleich zur Glücksratgeber-Literatur oder der wissenschaftlichen Glücksforschung?

Auch da frage ich zurück: Schon das Wort Mehrwert setzt doch eine Zweckorientierung voraus. Deine Frage folgt dem Motto: Ich lasse mich nur auf etwas ein, wenn man den Wert klar beziffern kann und ich genau weiß, dass es mir was bringt. Wenn ich so ans Leben herangehe, habe ich eigentlich schon verloren.

Wenn die Frage aber meint: Welche Horizonte erschließen sich mir durch den Glauben, die sich ohne Glauben nicht erschließen? – dann kann ich sie, glaube ich, ganz gut beantworten. Es ist nämlich tatsächlich so, dass gerade der Aspekt, den wir nicht kontrollieren können, über die Glücksratgeber hinausreicht.

Die Frage ist: In welche Grundperspektive zeichne ich mein Leben ein? Und da sehe ich in der christlichen Perspektive deswegen Stärken, weil sie eben neben dem Hochgefühl auch das Leiden umfasst. Christen glauben an einen Gott, der selbst die Erfahrung der Ohnmacht am Kreuz gemacht hat. Die christliche Religion geht von der Annahme aus, dass dieser Jesus Christus, der am Kreuz gestorben ist, wieder auferweckt worden ist. In der Situation der totalen Ohnmacht hat am Ende nicht das Nein, sondern das große Ja zum Leben gestanden – Christus ist auferstanden.

Das ist die Grundlage dafür, dass Jesus sagt: »Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.« Das griechische Wort makarios, das im Original für selig steht, kann man auch mit glücklich übersetzen. Deswegen redet einer der wichtigsten Abschnitte der Bibel, die Bergpredigt nämlich, vom Glück. »Glücklich sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Glücklich sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Glücklich sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.«

All diese Seligpreisungen reden also vom Glück, und trotzdem gehört zu diesen Seligpreisungen auch das Leiden: »Glücklich sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn sie werden Gottes Kinder heißen. Glücklich sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden.« Das sind alles Seligpreisungen, die das Leiden, das Unrecht, mit in den Horizont integrieren. Das, glaube ich, ist die große Stärke des christlichen Glücksverständnisses. Es muss das Leiden nicht verdrängen, sondern kann es integrieren.

Über die Auferstehung müssen wir später noch reden. Aber zunächst noch was anderes: Kann es sein, dass für Christen Glück gar nicht als des Menschen höchstes erstrebenswertes Ziel gilt?

In der Perspektive des Christentums ist das höchste Ziel eine erfüllte Gottesbeziehung, die untrennbar verbunden ist mit der Beziehung zu anderen Menschen: Gott lieben und den Nächsten wie sich selbst lieben. Darum geht es für Christen. Deswegen gehört Glück als Selbstzweck in der Tat nicht zur christlichen Grundperspektive. Aber Glück, also die Erfahrung der Fülle des Lebens ist ein Aspekt einer intakten und gelingenden Gottesbeziehung. Das oberste Ziel und das oberste Gut, so hat die theologische Tradition gesagt, ist Gott. Aber in diese Gottesbeziehung wird die Glücksperspektive eingezeichnet.

Stell dir vor, es gäbe einen Glückssimulator, den man an unser Gehirn anschließen könnte und der uns über neuronale Impulse das Gefühl des absoluten Glückes simulieren könnte.

Okay.

Der Mensch kann den Unterschied nicht bemerken, weil er mit Endorphinen bombardiert wird und das für Glück hält. Wäre es legitim, sich lebenslänglich mit diesem Simulator verbinden zu wollen?

Es ist nur ein Gedankenspiel, aber in der simulierten Glückserfahrung könnte ja das Leid durchaus integriert sein. Ein permanentes Hoch würde die Glückserfahrung nur nivellieren, also würden Trauer, Leid und Niedrigphasen mit eingebaut werden. Wäre das nicht ähnlich wie in deinem religiösen Ansatz? Hängen Christen mit ihrem »Gott schenkt Leben die Fülle«-Glauben nicht an einer Art Glückssimulator?

Natürlich sperrt sich in mir alles gegen die Vorstellung eines solchen Simulators. Das ist meine spontane Reaktion. Wenn ich mich an eine solche Maschine anschließe, liefere ich mich einer Sache aus, zu der ich, anders als zu Gott, kein Vertrauen haben kann. Maschinen laufen nach Schemata ab, Maschinen sind von Menschen konstruiert. Maschinen gehen nicht auf mich ein, sondern laufen nach ihrem Algorithmus ab. So »intelligent« und ausgereift ein Algorithmus sein kann, eine Maschine kann deswegen nie etwas sein, an das ich mich anschließen möchte.

Wenn ich dagegen von Gott spreche, dann spreche ich von jemandem, dem ich vertrauen kann, dessen liebender Zuwendung ich gewiss sein darf, mit dem ich in Beziehung stehen kann, der auf mich reagiert und der übrigens auch mich meint und nicht irgendeine Nummer, die da angeschlossen wird. Eine Maschine kann nie ein Gott sein, der mich will, meint und bejaht. Deswegen kann ich nicht umhin, die Vorstellung von der Glücksmaschine als etwas Unattraktives zu sehen.

Die Simulation ist etwas Künstliches. Es bin nicht ich, der da lebt, sondern es ist die Gehirnaktivität, die Leben vorgaukelt. Simulation ist kein echtes Leben. Mit so einem Simulator würde der Mensch nur ruhig gestellt werden.

Und was ist mit dem Unglück? Kann ich die guten Momente nur dann wirklich als Glück empfinden, wenn ich auch die schlechten Momente als Unglück empfinde? Kann es Glück ohne Schmerz geben?

Die Frage ist, ob ich die schlechten Momente zwangsläufig als Unglück begreifen muss, oder ob ich offen bin für eine Perspektive, die auch die schweren Momente in den Horizont der Gottesbeziehung stellt. Dann kann ich auch in den schweren Momenten aus dem Vertrauen leben. »Leben in Fülle« ist nicht nur verheißen, wenn es den Menschen gut geht. Zum Beispiel der Psalm 23 sagt das auf eine mich immer wieder neu bewegende Weise: »Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, so fürchte ich kein Unglück. Denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.« Das ist ein Vertrauen, das auch vor den schweren Zeiten keine Angst haben muss, weil es sich begleitet weiß.

Jeder, der schon mal erlebt hat, wie dicht menschliche Beziehungen werden, wenn Menschen sich im Leid gegenseitig beistehen, der weiß ganz genau, dass auch solche Zeiten zum Lebensglück beitragen können – wenn man einen ganzen Lebensbogen in den Blick nimmt. Menschen, die schwere Zeiten durchgemacht haben, wachsen und verändern sich durch diese schweren Zeiten. Immer wieder bin ich in der Seelsorge alten Menschen begegnet, die ihr Leben so gedeutet haben, dass auch die schweren Zeiten Führung und Begleitung durch Gott sind.

Kann das nicht zynisch wirken? Wie erklärt man das Leuten, die dauerhaftem Leid ausgesetzt sind durch Umstände, die sie selbst gar nicht beeinflussen können?

Ich würde nicht versuchen, eine »Erklärung« zu finden. Das wäre falsch. Es gibt tatsächlich Situationen des Leidens, in denen gibt es nichts zu erklären. Es gibt Erfahrungen von Sinnlosigkeit, in denen jeder Versuch, einem betroffenen Menschen einen Sinn vermitteln zu wollen, fast grausam ist. Schließlich erlebt dieser Mensch gerade einfach Sinnlosigkeit. Und was ein solcher Mensch braucht, ist jemand, der diese Sinnlosigkeit mit ihm zusammen aushält. Genau das ist aus meiner Sicht die Chance des christlichen Glaubens. Christen glauben schließlich an einen Gott, dessen menschliche Erscheinung in Jesus Christus am Kreuz geschrien hat: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

Es ist ein ungeheuerliches Phänomen der Religionsgeschichte, dass einer, der so schreit und die absolute Abgründigkeit des Leidens erlebt, als Sohn Gottes bezeichnet wird. Das ist für mich ein Grund, warum ich der festen Überzeugung bin, dass es vielleicht keine andere Perspektive des Lebens überhaupt gibt, die so stark fähig ist, genau solche Situationen der Sinnlosigkeit und der Verzweiflung aufzunehmen, indem sie sie einfach aushält, anstatt sie wegzuerklären.

Themenwechsel: Mitunter ist es gar nicht einfach zu merken, dass man glücklich ist. Zum Beispiel in der Liebe. Da lebt einer oder eine mit jemandem zusammen, den er oder sie wirklich liebt, dem er oder sie vielleicht sogar ein Eheversprechen gegeben hat. Und dann entsteht aus der Sehnsucht nach Abwechslung oder Selbstwertproblemen oder was auch immer ein Seitensprung. Und danach merkt er oder sie plötzlich, was damit alles kaputt gegangen ist und wie viel Glück zerstört ist. Warum weiß ich oft erst zu spät, dass ich glücklich war, und wie merke ich, dass ich glücklich bin?

Eine schwierige Frage und ein trauriges Beispiel. Mir fallen spontan zwei Begriffe ein, die Glücksforscher ins Spiel bringen, wenn es darum geht, sein Glück auf Dauer zu stellen – und die interessanterweise auch für Christen zentral sind: Dankbarkeit und Vergebung.

Okay. Was hat das mit dem Paar nach dem Seitensprung zu tun?

Ich versuche es zu erklären: Aus der Dankbarkeit leben bedeutet, dass wir nicht erst, wenn wir einen Menschen verlieren, feststellen, was wir an ihm oder ihr gehabt haben, und den vergebenen Möglichkeiten nachtrauern. Aus der Dankbarkeit für das, was wir jetzt haben, zu leben und nicht erst dem nachzutrauern, was wir verlieren, das ist für menschliche Beziehung, sei es in der Ehe oder in der Familie, von zentraler Bedeutung.

Das hat für mich ganz persönlich bedeutet, dass ich mir des großen Geschenks, zum Beispiel Kinder zu haben, eine Frau zu haben, die ich liebe, immer bewusst war. Und ich habe mich immer bemüht, bewusst jetzt wahrzunehmen, wie glücklich ich bin, anstatt es erst dann zu merken, wenn es vergangen ist. Es ist ein wesentlicher Aspekt eines erfüllten Lebens, dass wir lernen, für das, was wir haben, zu danken. Und zwar im Jetzt.

Und trotzdem kann natürlich etwas passieren, wie ein Seitensprung oder ein anderer Verrat. So ein Verrat ist eine schwere Krise – aber vielleicht muss er nicht das Ende des gemeinsamen Glücks bedeuten. Und da kommt die Vergebung ins Spiel, die Glücksforscher für ein glückliches Leben für elementar halten. Wir müssen lernen zu vergeben. Jeder Mensch muss das. Für Christen ist das nichts Neues, im christlichen Glauben ist Vergebung ja von zentraler Bedeutung. Jedes Mal, wenn Christen das Vater Unser beten, bitten sie darum, dass sie dann, wenn andere Menschen ihnen Unrecht tun, die Kraft zur Vergebung haben und umgekehrt auf Vergebung hoffen dürfen: »Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.«

Die Themen Vergebung und Dankbarkeit sind zentraler Bestandteil christlicher Frömmigkeit. In jedem Gottesdienst wird ein Dankgebet gesprochen. Auch das Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer ist im Grunde ein Dankbekenntnis, weil es sagt: Wir Menschen verdanken uns nicht uns selbst, sondern wir verdanken unsere Existenz Gott als unserm Schöpfer.

Dank und Vergebung sind also zwei Themen, die die Glücksforscher als wichtige Themen identifizieren, die gleichzeitig Kernthemen des christlichen Glaubens sind.

Ist es nicht interessant, dass alle Welt von Glück spricht, sich nach Lebensglück sehnt, dass aber Glück als Entscheidungskriterium in der Politik zum Beispiel kaum eine Rolle spielt? Wenn zum Beispiel die Steuerpolitik diskutiert wird, kommt das Glück der Menschen als Kriterium in der Diskussion nicht vor. Es geht immer um Gerechtigkeit. Hat die Frage nach Glück in der Politik nichts zu suchen, beziehungsweise hätte Glück als Kriterium nicht mehr Aufmerksamkeit verdient?

Es gibt in der Politik im Moment in der Tat eine spannende Entwicklung. Die Frage nach Glück gewinnt etwa bei den Wirtschaftspolitikern an Bedeutung. Die fragen heute verstärkt danach, was Wohlstand eigentlich ist. Bislang galt als maßgebliches Kriterium, als Indikator für Wohlstand, das Bruttosozialprodukt. Aber das ändert sich.

Nicht nur Ökonomen sehen inzwischen immer deutlicher, dass dieser materielle Wohlstandsindex, den das Bruttosozialprodukt ausweist, eben nur die halbe Wahrheit und manchmal sogar fast die Unwahrheit darstellt. Jeder Verkehrsunfall steigert das Bruttosozialprodukt, aber bestimmt nicht das persönliche Glück.

Deswegen arbeiten im Moment Forscher an den Universitäten, in diesem Fall aber auch ganz konkret eine Enquête-Kommission des Bundestages, an der Frage, wie wir die Wohlstandsindikatoren so verändern können, dass sie ihre Verengung auf materiellen Wohlstandszuwachs überwinden. Das ist eine ganz spannende Sache und nimmt vieles auf, was gerade aus dem Raum der Kirchen seit vielen Jahren gesagt worden ist, nämlich, dass zum Glück und Wohlstand einer Gesellschaft eben nicht nur materieller Zuwachs zählt, sondern auch die Frage sozialer Gerechtigkeit, die Gleich- oder Ungleichheit, der Umgang mit der Natur, die Frage der Bildung, die Lebenschancen der Schwächsten – all das spielt für die Lebenszufriedenheit eine genauso große Rolle wie der Zuwachs an materiellem Wohlstand.

Man hat sogar in der Glücksforschung festgestellt, dass es oberhalb einer bestimmten Einkommensgrenze, und die liegt auch für Industrieländer bei einem erstaunlich geringen Pro-Kopf-Einkommen von 25 000 bis 35 000 Dollar im Jahr, durch Einkommenszuwachs keinen Zuwachs an Lebenszufriedenheit mehr gibt. Das kann man empirisch feststellen. Das heißt, dass das Geld für die Lebenszufriedenheit eine viel geringere Rolle spielt als zum Beispiel die Frage der Ungleichheit.

Deswegen trägt ein Buch zu dem Thema, das Furore gemacht hat und mittlerweile international breit diskutiert wird, im Deutschen den Titel »Gleichheit ist Glück«. Die beiden Wissenschaftler Richard Wilkinson und Kate Pickett haben in ihren Untersuchungen festgestellt, dass die Gleichheit viel entscheidender für die Lebenszufriedenheit der Menschen ist als die absolute Höhe des materiellen Wohlstands. Deswegen ist der Untertitel des Buches auch: »Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind«.

Das kann ich nur bestätigen. Südafrika und Namibia sind im Gini-Index, der die Gleich- beziehungsweise Ungleichheit der Bevölkerung erfasst, die Länder mit der größten Schere. In Stellenbosch, wo ich ein Semester studiert habe, habe ich erlebt, welche krassen Auswirkungen das auf die Lebenswirklichkeit der Menschen dort hat. Die Ungleichheit bedeutet massives Unglück, für die Reichen und für die Armen. Im Vergleich zu Südafrika sieht es im viel ärmeren Land Ruanda beim Gleichheitsindex um einiges besser aus. Ich erinnere mich, dass du von deinen Reisen nach Ruanda überhaupt nicht von Unglück, eher vom Gegenteil berichtet hast. Glaubst du, da ist ein Zusammenhang?

Sicher ist da ein Zusammenhang. Das Erstaunliche an diesen Glücksforschungen ist ja, dass auch das materiell oberste Drittel der Bevölkerung in den Ländern mit mehr Gleichheit glücklicher ist. Auch die Reichen sind glücklicher, wenn die Gegensätze geringer sind. In Südafrika, wo der Unterschied zwischen Arm und Reich immer größer geworden ist, ist die Lebenszufriedenheit geringer als in einem Land wie Ruanda. Persönlich habe ich in Ruanda viel Zukunftszugewandtheit, viel Aufbruchsgeist und viel Glück unter Menschen gespürt, obwohl Ruanda nach wie vor ein sehr armes Land ist.

Mich haben meine Erfahrungen während der Monate in Südafrika sehr aufgerüttelt. Ich kann eigentlich gar nicht mehr über Glück nachdenken, ohne zu überlegen, wie meine Worte dort klingen würden. Ich bin als der wohlbehütete Europäer aus gesicherten Verhältnissen gekommen und habe einerseits mit Südafrikanern aus den Vororten von Kapstadt zusammengewohnt, von denen viele unglaublich reich waren, und andererseits mit Kommilitonen studiert, die nur dank eines Stipendiums überhaupt studieren konnten und sehr arm waren. In unserem Wohnheim habe ich mich manchmal wie ein armer Schlucker gefühlt, und draußen auf der Straße wurde ich in den Augen der Armen, die mich um 20 oder 30 Cent baten, zum Superreichen. Ich habe mich meiner Privilegien geschämt. Und wenn man sich den politischen Hintergrund klarmacht, wird man nur noch wütend: Die harte Form des Kapitalismus, die der African National Congress (ANC) in Südafrika vertritt, zementiert die Strukturen, die die Apartheid einst geschaffen hat. Für die Masse der Bevölkerung hat sich materiell nichts geändert. Und trotzdem steht der Westen daneben und spendet Applaus, weil Südafrika sich dem radikalen Liberalismus verschrieben hat. Ohne das hätte es vom Westen keine Kredite für den Wiederaufbau in den 90er Jahren bekommen. Der Westen hat dem ANC quasi verboten, soziale Politik zu betreiben, und hat dem neuen Südafrika seine marktradikale Ideologie als Patentrezept zum Glücklichwerden aufgedrückt. Dieses Rezept hat aber für die breite Masse der Bevölkerung in Südafrika offensichtlich völlig versagt. Bei all diesen Themen wird einem die Beziehung von Glück, gesellschaftlichem Zusammenhalt und materiellen Dingen jeden Tag mit voller Wucht ins Gesicht getreten. Davor kann man in Südafrika nicht wegrennen. Wenn man in die Townships reingeht und sieht, dass die Regierung öffentliche Toiletten ohne Häuschen baut und die Menschen mit Handtüchern umwickelt aufs Klo gehen müssen, vergeht einem echt Hören und Sehen.

Du sprichst die wahrscheinlich allergrößte Herausforderung an – auch im Hinblick auf das Thema Glück –, der wir gegenwärtig entgegensehen: die krasse weltweite Ungerechtigkeit durch die Tatsache, dass jeden Tag 25 000 Menschen sterben, weil sie nicht genügend Medizin oder Nahrung haben, obwohl sie in ausreichendem Maße auf der Welt vorhanden wäre. Das ist letztlich der größte Stachel in einer Perspektive, die das Glück nicht nur für sich selbst reserviert, sondern die Welt insgesamt einbezieht. Das eigene Glück, jedenfalls in der Perspektive des christlichen Glaubens, darf nie den Blick auf das Leiden der anderen verstellen. Glück muss das Leiden der anderen mit einbeziehen. Christus sagt in Matthäus 25: »Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.« Es geht um Christus selbst in der Frage unseres Umgangs mit den Menschen, die jetzt leiden.

Unsere tiefen Intuitionen sagen uns das auch. Die Beziehung zu anderen Menschen ist uns eben nicht egal. Wenn wir diese Intuitionen auch wirklich wahrnehmen und auf sie hören, dann kann eine Perspektive des persönlichen Glücks für uns nur bedeuten, dass wir das Unsere tun, um zu einer Welt zu kommen, in der alle Menschen in Würde leben können. Deswegen gehören für mich zum Glück immer auch die politische Perspektive und das persönliche Teilen.

Ich sehe es als eine der größten Aufgaben für die Kirchen, dass sie genau diese christliche Perspektive des Glücks, das auf die Leidenden hört und das Leid nicht verdrängt, in die Gesellschaft hineinbringen, es immer wieder zur Sprache bringen und sich zum Anwalt einer Vision der Welt machen, in der alles vermeidbare Leid von Menschen ein Ende hat.