Cover

Über dieses Buch

»Als 1948, noch vor der Währungsreform, zwei völlig alberne und nur leidlich begabte Backfische, Alice und Ellen Kessler – die Kessler-Zwillinge – ihre allerersten größeren Achtungserfolge feierten, hat Hildegard zu mir gesagt: ›Irmgard, vergiss es! Der Markt ist voll. Ich mach ’ne Solokarriere!‹«

Irmgard Knef, die verkannte, verleugnete und vergessene Zwillingsschwester der großen Hildegard Knef, eine sprachgewaltige, kämpferische alte Dame, bricht endlich ihr Schweigen und rechnet ab mit ihrer berühmten Schwester.

Ein Buch für Liebhaber fantastischer Geschichten, Anhänger geistreicher Komik, Freunde tiefsinniger Chansons – für Kabarettliebhaber und für Knef-Fans ein Muss.

»Eine famose Legende, die virtuos historische Geschehnisse und die echte Knef-Biografie mit haarsträubender Fiktion und zwerchfellerschütternder Fantasterei verknüpft.« (Süddeutsche Zeitung)

»Das brisanteste Fundstück der deutschen Unterhaltungsgeschichte.« (Der Spiegel)

Der Autor

Ulrich Michael Heissig, geboren 1965 in Sindelfingen, studierte in Berlin Politologie und Medienwissenschaften und war als Autor für Funk und Fernsehen tätig. Des Weiteren arbeitet er als Regisseur für Theater- und Kabarettproduktionen und ist Librettist diverser Musicals. Seit 1999 tourt er mit seinen Jazz-Chanson-Kabarett-Soloprogrammen Ich, Irmgard Knef, Schwesterseelenallein und Die letzte Mohikanerin im gesamten deutschsprachigen Raum. Für die Erfindung und Darstellung der Irmgard Knef wurde Heissig unter anderem mit dem Deutschen Kabarettpreis – Sonderpreis 2004 ausgezeichnet.

Ulrich Michael Heissig
Irmgard, Knef und ich

Mein Leben, meine Lieder

Edition diá

 

 

Inhalt

Statt großer Vorworte

Genauso wie sie
Das Lied vom zweisamen Mädchen
Irmgard in the Heat
Die letzte Trotzkistin von Kreuzberg
Ich glaub, ein Weltstar werd ich nie
Fremd geblieben
Gib mir Antwort
Eine irritierte Schwester
Mein Leben war anders
Der Kerl aus Kreuzberg
Des Rätsels Lösung
Die letzte Mohikanerin
Meine Ich-AG
Der Lack ist ab
Und Hilde?

Statt großer Nachworte
Dank

Hildes Bibliografie
Irmgards Diskografie
Fotonachweis
Impressum

Den Menschen, die mir bisher als Wunder begegnet, wenn Sie wissen, was ich meine …

»Ich holte bald auf. Schnell hatte ich Irmgard überflügelt. Nicht nur was die Zahl der Männer betraf, sondern überhaupt. […] Irmgard gab vor, mich zu verachten, aber es war nur Neid. […] Irmgard wurde immer unleidlicher. Ich wäre gerne ausgezogen, aber jedes Kellerloch war schon vollgestopft mit Menschen. Dann hat mir der Krieg geholfen. Unsere Verbindung löste sich von selbst.«

Hildegard Knef als Marina in Die Sünderin

Statt großer Vorworte

2005 ist das Jahr der Jubiläen:
60 Jahre Kriegsende,
100 Jahre Albert Einsteins Relativitätstheorie,
und
200 Jahre ist Schiller schon tot.
Mein Gott, wie die Zeit vergeht!
Aber das für mich wichtigste Jubiläum:
Knef wird 80.
Würdevolle 80.
Würde volle 80 werden.
Und ich?
Ich werde!
Ich will. Ich will.

Genauso wie sie

Wenn eine Frau 1925 in Deutschland geboren wurde, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie Ingeborg, Elfriede, Ilse, Margarete, Helga, Hildegard oder Irmgard heißt. Auf jeden Fall hat sie vieles erlebt und viel zu erzählen.

Genauso wie sie

Beim Blick auf den Abreißkalender wird klar,

wie schnell doch die Zeit vergeht und wie kurz so ein Jahr!

Die Zeit scheint zu flieh’n – sie vergeht fast im Nu,

und was ist alles schon passiert?

Und war ich manchmal auch schwer lädiert,

eines hab ich stets praktiziert

ganz ohne Getu’:

Haut’s mich mal um, steh ich auf.

Und nehme Schrammen und Beulen in Kauf

und Kratzer und blutige Knie:

So bin ich, und so war auch sie!

Rutsch ich mal aus, schrei ich: »Autsch!«

Kurier mich dann auf der Wohnzimmercouch –

doch liegen bleib ich dort nie:

So bin ich, und so war auch sie.

War Trümmerfrau, heißer Friedensengel

für manch kalten Krieger.

Hab meine Ampel auf Grün gestellt

für manchen Linksabbieger.

Wie Phönix aus dem Ruin

kam ich hervor aus meinem Kiez in Berlin.

Hab’s geschafft, doch fragt bitte nicht, wie!

So bin ich, und so war auch sie!

Als neunzehnhundert… noch vor der Währungsreform …achtundvierzig zwei völlig alberne und, wie ich fand, auch nur leidlich begabte Backfische, Alice und Ellen Kessler – die Kessler-Zwillinge –, ihre allerersten größeren Achtungserfolge feierten, hat Hildegard zu mir gesagt: »Irmgard, vergiss es! Der Markt ist voll! Der Bedarf ist gedeckt! Diese Nachfrage ein für alle Mal gesättigt! Ich mach ’ne Solokarriere! Wenn auch du unbedingt etwas im Showbiz machen möchtest: Es gibt auch schöne Berufe hinter der Bühne!«

Sie ist dann in die Staaten gegangen – die Geschichte kennen Sie –, seitdem ist sie ein Weltstar: in Deutschland.[1] Ich bin zunächst hauptsächlich in Berlin geblieben und habe jahrzehntelang hintergründig geschwiegen. Mein Schweigen hat mich wahnsinnig viel gekostet – Hilde manchmal auch. Nun saß ich also im ausgebombten Berlin, der Reichshauptstadt, die nicht mehr war. Nicht mehr war als ein »Trümmerfeld bei Potsdam«, wie es der spätere Intendant des Theaters am Schiffbauerdamm damals so treffend formulierte. Die Häuser glichen hohlen Zähnen, wenn sie überhaupt noch irgendetwas glichen. Die Straßen waren gesäumt von Mauerstümpfen und Steinhaufen.

Nicht umsonst hatten wir die Namen unserer Bezirke der Realität angepasst: Aus Lichterfelde war Trichterfelde, aus Steglitz Stehtnix und aus Charlottenburg Klamottenburg geworden. Eine vom Volksmund vorgenommene Umbenennungsaktion, die kein anderes Ziel hatte, als der Wirklichkeit Rechnung zu tragen: dem Ergebnis der »Blut und Boden«-Politik Hitlers. Es fällt schwer, den jüngeren, nachgeborenen Lesern zu vermitteln, wie es war. Ich sage immer: Wer damals nicht dabei gewesen ist, der hat’s auch nicht erlebt. Hitler hatte auf makabre Weise recht behalten: Sein »Volk ohne Raum« hatte jetzt tatsächlich keinen Raum, keinen Wohnraum mehr. Ein Dach überm Kopp glich einem Lottogewinn. Alle waren ausgebombt. So bezog ich, rein provisorisch, eine etwas fußkalte Seitenflügelparterrewohnung in der Kreuzberger Fidicinstraße. Dort wohne ich noch heute. Die Wohnung hatte mir eine mütterliche Freundin, die ich ein paar Jahre zuvor inmitten der Kriegswirren kennengelernt hatte, vermittelt.

Helene, Helene Dietrich! Die wohnte schon seit jeher in Kreuzberg am Mehringdamm, Ecke Bergmannstraße. Zufällig hatte sie von dieser kleinen, noch einigermaßen bewohnbaren Wohnung erfahren und sie mir vermittelt. Wir alle waren nach dem Kriegsende froh, noch mal davongekommen zu sein und leben, wieder leben und weiterleben zu dürfen. Nachdem die Heerscharen brauner Köchinnen und Köche bedingungslos kapituliert hatten, löffelten wir nun die von ihnen eingebrockte Aschesuppe nach und nach gemeinsam aus. Die erste Nachkriegszeit war grauenhaft: Wir hatten ja nix! Möbel, Geschirr, Wasch- oder Putzmittel? Wenn ich Fenster putzen wollte, musste ich zu meiner Nachbarin. Bei der waren die Scheiben drin geblieben.

Das Alltagsleben musste organisiert werden: Lebensmittelmarken, Zigarettenwährung, Schwarzmarktschnäppchen. Mit knurrendem Magen Schlange stehen, Ketten bilden, Eimer voller Ziegel weiterreichen und Steine kloppen. Trotz dieser Anstrengungen der unmittelbaren Nachkriegszeit kamen auch für mich bald die ersten internationalen Angebote – aus dem amerikanischen, britischen und französischen Sektor. Man bot mir Seidenstrümpfe, und ich sollte dafür Privatvorstellungen geben, wenn Sie wissen, was ich meine.

Aber für solcherlei Unterhaltung stand ich nicht zur Verfügung. Ich habe – nach jeweilig kurzem Zögern – die mir angebotenen Seidenstrümpfe zum Befremden der Anbieter stets zerrissen. Ich wollte alles oder nichts. Aber eine Soldatenbetreuung im großen Stile, wie sie mir damals vorschwebte, hätte »die Moral der Truppen« zersetzt. Dies meinte zumindest ein Alliierter vor dem Kontrollrat: »You really could destroy the moral of our troops«, rief er mir vor dem Gebäude zu, mir hinterherpfeifend, als ich an ihm vorüberging.

Bald nachdem Hildegard in die Staaten, genauer gesagt nach L. A., gegangen war, bekam ich eine Ansichtskarte, die sie mir wahrscheinlich unter kalifornischer Sonne und Palmen sitzend geschrieben hatte. Meine Kreuzberger Adresse hatte sie wohl über den Suchdienst vom Roten Kreuz ausfindig gemacht. So erreichte mich die erste Post von meiner Schwester aus Übersee. Ja, sie hatte es geschafft und war über den Großen Teich gekommen. Selznick, der großartige Produzent ganz und gar nicht alberner Melodramen, hatte sie geholt. Wo war der Produzent, der mich nach Hollywood hätte holen können? Offensichtlich »vom Winde verweht«!

Die mittlerweile sehr abgegriffene und ausgebleichte kolorierte Ansichtskarte – ich habe das Original in meinen späteren Bühnenshows immer wieder dem Publikum präsentiert – zeigt einen kargen Berg, an dem ein Gestell mit weißen Großbuchstaben montiert ist. Auf der Rück- beziehungsweise Schreibseite prangte in unserer schönen, großzügigen, lateinischen Schrift: »Hello Irmgard! Greetings from Hollywood. Das Wetter ist schön und das Essen gut. Call me if you want. Hilde«. Eine ellenlange Telefonnummer zierte den unteren Rand der Postkarte, und eine Vierzig-Cent-Briefmarke prangte in der für sie bestimmten Ecke. Obwohl sie kurz vor unserer Trennung »keinen Pfennig« auf unsere gemeinsam-schwesterliche Karriere gegeben hätte, hatte sie jetzt dennoch freiwillig Geld für mich ausgegeben. Wenn es auch nur vierzig Cent für die Briefmarke waren. Während ich meine ersten vierzig Mark – die wir alle nach der Währungsreform als Überbrückungsgeld, als Starthilfe bekommen hatten – gänzlich für das Porto meiner Bewerbungsunterlagen ausgab. Ich hätte das Geld genauso gut zum Fenster rausschmeißen können.

Obwohl dann doch noch was geklappt hat. Ich bekam ein Engagement als eine Tänzerin, als Eintänzerin im allerersten Provisorium des später so berühmt gewordenen Café Keese. Beim mittwöchlichen Ball der einsamen Herzen in einer notdürftig zusammengenagelten, ehemaligen Luftaufsichtsbaracke in Charlottenburg. Meist hatte ich Schicht, wenn noch nicht allzu viel los war. Das heißt, ich musste animieren und das Publikum zum Bleiben auffordern beziehungsweise die paar Leutchen, die schon früh da waren, vertrösten: »Warten Sie ruhig noch ein Weilchen, da kommt schon noch jemand!« Ich schrieb damals einen Text, den ich immer vor meinen Eintanzeinlagen dem stark damenüberschüssigen Publikum zu Gehör brachte. Ein Text, den ich heute noch in meinem Repertoire habe, weil ich ihn immer wieder leicht aktualisiere – work in progress by doing itself –, wenn Sie wissen, was ich meine …

An dieser Stelle möchte ich allerdings den Urtext aus dem Jahre 1948, nach der Währungsreform, dem geneigten Leser darbringen:

Komm doch auch du!

John kommt gleich, Tom kommt gleich.

Und der dort hinten steht, der kommt auch gleich.

Komm du auch – komm und hab Spaß!

Kein Fräulein will heut allein kommen,

ob mit Soldaten oder ganz frommen –

Vikaren: Hauptsache Spaß!

Ein Rat kommt außer Kontrolle,

bitte frag mich nicht, wie!

Und ein Talentsucher –

von der Filmindustrie!

Mit Dollars und harter Mark komm’n sie,

Kommen heut aus ihrem Quark,

drum komm’n sie!

Komm du auch – komm und hab Spaß!

Ein reicher Schieber aus Britz kommt gleich,

Presseleute ohne Witz komm’n gleich,

komm du auch, komm und hab Spaß!

Ein junger Boy namens Roy kommt gleich,

Siegfried, nibelungentreu, kommt gleich,

komm zeitgleich, komm und hab Spaß!

Auch Hiob kommt ohne Botschaft,

und wir bleiben verschont.

Tanzt – kommt zusammen, damit das Leben sich lohnt.

Ein Brite mit »beer« im Glas kommt gleich,

ein GI mit ’ner Tüte Gras kommt gleich,

Spaß kommt gleich!

Ja, komm doch auch du!

Ja, komm doch auch du!

Ja, komm doch auch du!

Diesen Text sang ich damals auf eine Melodie von Cole Porter, mit dem ich dann jahrelang – nichts – zu tun hatte, obwohl wir uns später doch noch kennen- und schätzen gelernt haben: Er schätzte mich allerdings um einiges älter als ich ihn, aber schön der Reihe nach.

Graue Zellen

Eine dreiundachtzigjährige grauhaarige, fein gemachte Dame steht nach einem Konzert in Lehrte bei Hannover vor meinem improvisierten Signierstand, hinter dem ich, in voller Maske und im Bühnenkostüm, abgekämpft von einer anstrengenden Show, sitze und versuche, gewinnend in die Menge zu lächeln. Der Stirnschweiß perlt unter meiner Perücke und sucht sich als Rinnsal den Weg an die frische Luft. Mein Make-up hält stand, und dem Schweiß gelingt es nicht, meine Maske verschwimmen zu lassen und somit sämtliche Illusionen zu zerstören. Ein vom Veranstalter überreichter Strauß roter Rosen liegt neben mir.

Die Dreiundachtzigjährige tätschelt meine Hände: »Also, das freut mich so, dass Ihre grauen Zellen noch so funktionieren. Also Ihre grauen Zellen!« Und sie tippt sich dabei an die Stirn. »Wie können Sie diese ganzen Texte noch so gut behalten?! Ich sag immer: Hauptsache, die grauen Zellen funktionieren. Und wissen Sie, was?« Neugierig auf das, was jetzt noch kommen mag, blicke ich sie schweigend an. »Bei Ihnen merkt man eben, dass das noch wirklich echte alte Schule ist.«

Sie bittet um ein Autogramm, das ich ihr gerne – »mit besten Wünschen, Ihre Irmgard« – gebe. Sie entdeckt meine CDs, und nachdem sie die Booklets eingehend studiert hat, dann aber wieder ohne Kaufabsicht auf den Tisch legt, fragt sie mich: »Sie haben doch bestimmt auch Platten von Ihrer Schwester. Davon hätte ich gerne eine mit ihren größten Hits. Ich hab Ihre Schwester so bewundert. Schade, dass sie nicht mehr ist!« Ich muss sie enttäuschen und verweise auf den Fachhandel. Sie verabschiedet sich mit: »Und Ihnen alles Gute! Und Ihren grauen Zellen! Seien Sie stolz darauf!«

Manchmal bin ich’s auch. Ob ich, Irmgard Knef, schwesterseelenallein oder als letzte Mohikanerin auf der Bühne stehe, egal, ich spiele drei Programme abwechselnd und bin meist allein. Es sei denn, ich gebe Konzerte mit meinen wunderbaren Musikern. Da besteht die Gefahr, meine grauen Zellen könnten mich im Stich lassen, durchaus. Schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste, aber immerhin erst halb so alt oder doppelt so jung, wie meine Larve es dem Publikum weismachen will. Aber Irmgard hat sich gut gehalten, und ihr Gedächtnis funktioniert noch blendend. Vor ihren grauen Zellen kann man nur den Hut ziehen. Was die alles weiß und behalten hat! Seit Jahren steht sie auf Bühnen und erzählt eine Geschichte, die mir selbst immer noch vorkommt wie ein Märchen aus längst vergangenen Tagen:

Was hatte ich noch von Hilde? Eine US-amerikanische Briefmarke, eine Postkarte und eine weiß-nicht-wie-vielstellige Zahlenaneinanderreihung, die mir in Aussicht stellte, wieder mit ihr in Kontakt treten zu können. Sollte ich nach Eingabe dieser Nummer tatsächlich ihre geliebte Stimme hören?

Ich fasste mir ein Herz und habe sie dann tatsächlich vom Postamt am Flughafen Tempelhof angerufen. War ja fast um die Ecke: Fidicinstraße und Zentralflughafen liegen sehr dicht beieinander. Heute gibt’s dort kein Postamt mehr, und zum Telefonieren muss man das Haus auch schon längst nicht mehr verlassen.

Die transatlantische Verbindung war sehr schlecht in jenen Tagen, wie Sie sich sicher denken können: Stalin saß auf sämtlichen Leitungen und hatte alle Zufahrtswege blockiert. Hinzu kam dieses permanente Start- und Landegedröhn der US-amerikanischen Rosinenbomber. Aber ich bekam dennoch ein Amt, nachdem lange genug vermittelt worden war. Es klingelte, sie hob ab, und noch bevor sie ihren Namen nannte, schimpfte sie in den Hörer, wem es denn einfiele, sie mitten in der Nacht anzurufen!? Ich habe ihre Aufregung nicht verstanden. Es war schon halb drei Uhr nachmittags. Wir unterhielten uns schließlich ein Weilchen, das heißt, aus ihr sprudelte es nur so heraus, während ich mich bemühte, kurz und knapp zu bleiben.

Ich verspannte mich beim Gedanken an die Telefoneinheiten und blieb während des ganzen Gesprächs wenig locker. Die teuren Einheiten mussten ja erst mal verdient und bei Keeses wieder eingetanzt werden. Sie erzählte mir, dass sie sich in Hollywood vorkomme wie auf Eis gelegt, dass sie nichts zu spielen bekäme. Keine Film-, keine Drehbuchangebote. Dass sie nur ge-buy-outet worden sei, weil die Amis nicht wollten, dass wir hier im Nachkriegsberlin wieder ’ne neue UFA aufmachten. Und sie erzählte mir voller Stolz, dass sie jetzt das Schreiben lernen würde. Ich ermutigte sie und fand: »Wird nun auch allmählich Zeit, Hilde!« In diesen Nazi-Schulen hatten wir ja alle wirklich nicht allzu viel beigebracht bekommen.

Sie behauptete, ein gewisser Dr. Mabuse würde ihr nun die Grundlagen der Literatur vermitteln. Und sie betonte mehrmals, es handele sich dabei nicht um den Herbert, sondern um den Ludwig. Ich verstand trotz des Fluglärms nur Bahnhof und fand es völlig albern. Wollte sie mich mit ihrem Herbert und Ludwig verschaukeln?[2] Wie kam sie auf so was? Ich weiß es nicht. Aber ich wusste natürlich, dass es sich bei Dr. Mabuse um eine fiktive Figur handelte. Halluzinierte sie? Hatte sie während des Mittagsschläfchens einfach nur schlecht geträumt, oder war sie in schlechte Kreise geraten? Stand sie unter Drogen?[3]

Ich wechselte das Thema und flehte sie an, sie möge ihre Entscheidung, eine Solokarriere zu starten, doch bitte revidieren. Das war zwar viel verlangt, aber doch aus meiner Situation heraus völlig verständlich. Vielleicht war ihr Entschluss im Januar ’48 aus einer Laune heraus entstanden, und sie bereute es insgeheim längst schon, alleine in Amerika zu sitzen und auf Angebote zu warten. Aber es war nichts zu machen: »Begreif doch endlich«, sagte sie, und ihr Ton klang schon leicht genervt: »Ich möchte mich gern von dir trennen – am liebsten auf längere Zeit. Es reicht mir, dich näher zu kennen. Ich mag dich nicht mehr. Tut mir leid.«

Dann legte sie auf, und ich, ehemaliges Blitzmädel, stand da wie vom Donner gerührt.[4] Konnte nicht fassen, dass sie mich nicht zurückholen wollte ins gemeinsame Boot. Ausgebootet stand ich da. Ohne Angebote. Und ohne Buy-out. Stand da und wusste nur: »Ich bin jung. Ich bin begabt. Ich gebe Rätsel auf!« Aber an eine Potenzierung unserer kreativen Kräfte durch eine gemeinsam-schwesterliche Karriere war nun nicht mehr zu denken. Die Tür war ins Schloss gefallen und der Hörer auf die Gabel.

In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass sie nicht mal im Traum daran denken würde, mich künftig in ihrer Biografie auch nur zu erwähnen. Sie wollte alleine rudern in Amerika und würde sich ins Zeug legen – das war klar. Würde rudern und rudern, bis sie es in die Stromschnellen des Mainstreams geschafft haben würde. Mir aber schwante, dass ich in Kreuzberger Seitenkanälen immer nur gegen den Strom paddeln würde.

Gefiel ich tatsächlich nicht? Warum gefiel ich nicht? War ihr Gesicht denn nicht auch meines? War es nicht unser Gesicht? Ein Gesicht, das die Illustrierte Stern in ihrer ersten Ausgabe wenige Monate zuvor so treffend mit »natürlich« und »anmutig« umschrieben hatte?

Traurig ging ich nach Hause, zurück in die Fidicinstraße. Die Flieger starteten und landeten, und Westberlin war versorgt trotz Blockade. Und ich? Ich war blockiert trotz Versorgung. Künstlerisch blockiert – mein Dasein als Eintänzerin half ja nur über gröbste materielle Not hinweg. Künstlerisch blieb es unbefriedigend. Aber zwischenmenschlich gab es einen hellen Streifen am Horizont: Im Zusammenhang mit der Berliner Luftbrücke wurde mir ein US-amerikanischer GI vom Air-Force-Bodenpersonal vorgestellt, der mich dann immer mit dem Notwendigsten versorgte: Zigaretten, Nylons, Kaugummi und Seife. Aber das Wichtigste: Durch ihn lernte ich den Jazz kennen. Er hieß Bob und war ein schillernder Charakter von unglaublicher Musikalität. Für mich war er Cool Jazz und Swing zugleich. Als er mich eines Abends nach Hause brachte und mir im Seitenflügeleingang gestand, dass er in seiner Kaserne auch ab und an mit Männern schlafen würde, da hab ich ihn nicht stehen lassen. Ich hab ihm auch keine gescheuert. Ich habe nur wissend gelächelt und ihm gesagt: »Na, denn biste ab heute für mich nur noch Bi-Bob!« Später habe ich oft erzählt, dass ich bereits vor Charlie Parker Bebop entdeckt hätte, und dann diese Geschichte erzählt. Meistens haben alle sehr gelacht.

Bi-Bob brachte mir immer Platten mit von Cole Porter, George Gershwin, Louis Armstrong und vor allem von Ella Fitzgerald. Seit dieser Zeit bin ich ein hoffnungsloser Fan ihrer Musik und habe die Platten zum Anhören immer ins Café Keese mitgebracht (erschwingliche Plattenspieler für den Privatgebrauch gab’s ja damals noch nicht). Ließ Porter und Gershwin auflegen und sang darüber meine eigenen deutschen Texte.

Geburt in Kreuzberg

Irgendwelche Nachbarn hatten die Polizei gerufen, und in der kleinen, zum Bersten vollen und an Atemluft knappen Kneipe war man für kurze Zeit in Aufruhr geraten. »Lärmbelästigung« nachts um 1.10 Uhr.

Die Show, durch die eine Moderatorin namens Renate Wanda de la Gosse, Kreuzbergs autonome Antwort auf Désirée Nick, herzerfrischend führte, war schon über zwei Stunden im Gange. An einem heißen Juliabend in einem völlig verrauchten und schwitzenden Raum. Das Kondenswasser floss in Strömen von den Ladenscheiben. Grund für den Andrang in der ansonsten nicht oft an Überfüllung leidenden Kneipe: Die allerkreativsten und ambitioniertesten Darsteller und Selbstdarsteller anarchistischer Bühnenkunst feierten zusammen mit einem ebenso schrillen, unbourgeoisen Publikum einen bunten Abend unter dem Motto »Titanic Light Show« in einer Bar, die auch noch Café Anal hieß. Wahrscheinlich hieß sie früher einmal Café Kanal, denn der Landwehrkanal liegt nur wenige Seitenstraßen entfernt. Irgendwann musste von den Lettern des Schriftzuges das K abgefallen sein, und so entstand der nun geläufige Name – wie eine fromme Legende die Entstehung des Barnamens zu erklären versuchte. In Wirklichkeit gab es nie einen Schriftzug …

Der Schankraum, in dem eine überdimensionale Pappmaché-Muschel über dem Tresen und ein Spiegelscherbenspiegel hinter dem Spirituosenregal prangten, war dem ständigen fantasievollen Wandel der Dekorationskünstler und Raumgestalterinnen unterworfen. Die Shows, die darin stattfanden, wurden mit einiger Regelmäßigkeit von einem engagierten Team zusammengestellt und waren zum kulturellen Happening-Geheimtipp von Hausbesetzern, Wagenburg-Bewohnern, deren Sympathisanten, Freunden und anderen, ganz normalen Freaks geworden. Unter den zahlreichen Künstlern und Künstlerinnen, die sich an diesem Abend ein Stelldichein auf der Bühne gaben, befand sich eine Elvira Westwärts, ein Moser-Hans, eine Lilo (ohne Pulver) und Linda von Tonnstädt, Maria 2000, Paula Sau, die Haus, Kitty, Silvi, Tilly Creutzfeldt-Jacob, Richi und Wolf, Steffi Stoßmich, Marcus Egal, Chou-Chou de Briquette, Ovo Maltine, Gloria von Tunten und Blasen, Baella van Baden-Babelsberg und Fiese Margot.

Und nun sollte diese letzte Show ein jähes, polizeilich verordnetes Ende finden? Ohne großes Finale und ohne meinen Auftritt, für den ich mir etwas Besonderes ausgedacht hatte? Meinen ersten Auftritt als Knef, dem ich den ganzen Abend, in einem klammen Kellergewölbe unter der Bühne sitzend, wartend, rauchend, trinkend entgegengefiebert hatte? Das konnte nicht sein. Also trank man oben etwas leiser und unten im Keller etwas schneller. Und nach einer halben Stunde Pause beschloss man weiterzuspielen!

Renate Wanda de la Gosse kündigte mich mit ihrem schönsten Lispeln an: »Unsere nächste Künstlerin ist nicht mehr jung und nicht mehr hübsch. Sie ist alt. Quasi sehr alt. Es ist …« Und da stockte sie und blickte auf ihr Redemanuskript. »Irmgard … Knef … ja, tatsächlich!« Unter einem freundlichen Begrüßungsapplaus kam ich mit viel zu langer Perücke, viel zu dunkler Sonnenbrille im Seventy-Outfit mit Lackschnürstiefeln, eng anliegendem Chasuble und eierschalenfarbener Gabardineschlaghose auf die Bühne. Die Kostümteile hatte mir Paula Sau aus dem Altersheim, in dem er als Altenpfleger arbeitete, von einer jüngst verstorbenen Insassin mitgebracht. Den weißen Kapotthut hatte ich ungefragt einer Bekannten entwendet.

Nachdem ich mich als Irmgard mit meinem Kreuzberger Schicksal kurz vorgestellt hatte, kam der erste Song – zur Musik einer Art Karaoke-Maschine, einem rechteckigen kleinen schwarzen Zauberkästchen, das als Wundermaschine kollektiv durch die Szene gereicht wurde, um aus Vollplaybacks authentische Halbplaybacks zu erstellen. Mithilfe dieses Geräts war es gelungen, aus Hildegards »Der alte Wolf« ihre Gesangsstimme so weit herauszufiltern, dass meine mit Mikrofon verstärkte Stimme locker ihren Gesang übertönen konnte. Hildes Stimme war nun kaum hörbar in den Hintergrund gedrängt, sonst bestand die Musikaufnahme unverändert fort. »Ein kleines audio-technisches Wunderwerk der Rückgängigmachung von Stimmen in bereits fertig gemischten Aufnahmen, so sie dreispurig und ohne zu viel Hall aufgenommen sind«, wie mir Ulf, der Tontechniker, zu erklären versuchte. Im Handel ist dieses Kästchen – zum großen Ärgernis aller Karaoke-Freunde und zur Beruhigung der gesamten Musikindustrie – nicht erhältlich.

Während Hilde im Hintergrund kaum hörbar vom alten Wolf, der langsam grau wird, sang, übersang ich sie im Vordergrund mit dem »Kollektiv«, das »langsam grau« wurde, meiner Huldigung an die Kneipe und die Verabschiedung des Personals. Am Schluss meiner fünfzehnminütigen Darbietung erntete ich großen Jubel: Dies war die Geburt einer alten Dame namens Irmgard. Nach Stunden im Keller an Lampenfieber und Auftrittswehen leidend, hatte eine Knef, die gar nicht behauptete, »die« Knef zu sein, zum ersten Mal das Licht einer bescheidenen Scheinwerferwelt erblickt.

An die Darbietung der Originalversionen war nicht zu denken. Denn unser aller Englisch war ja nicht so doll. Diejenigen, die amerikanische oder britische Soldaten als »Privatlehrer« hatten, kamen meist über ein thematisch sehr begrenztes Situationsvokabular nicht hinaus: »Hello«, »Yes, please«, »Thank you darling«, »I love you«, »I love you too!« oder »No more sex anymore«, aber auch »I’ll be a good mother for your sons« – das war’s dann meist. Es erfüllt mich mit Stolz, zu wissen, dass ich wohl die Erste war, die in Deutschland nach dem Kriege einer nicht unerheblichen Zahl von Altersgenossen den Jazz nahegebracht hat, dank meiner eigenen deutschen Texte.[5]

Hildegard behauptete ja in jedem Interview, im Funk, im Fernsehen, in jeder Talkshow, sie hätte angefangen, Texte, Bücher zu schreiben, literarisch zu arbeiten. Völlig albern und unhaltbar! Vor dem Hintergrund meiner textlichen Pionierarbeit, die tatsächlich eher Missionsarbeit war – hatte ich doch diese wunderbare Jazzmusik einer Generation vermittelt, die bis dato nur den UFA-Sound kannte –, war diese Behauptung nahezu grotesk.

Ich war die Erste. Die Manuskripte meiner ersten Liedtexte wurden bereits 1951 verlegt – 1952 dann wiedergefunden – und sind bis zum Erscheinen dieses Buches leider unveröffentlicht geblieben. Bereits im zarten Alter von drei Jahren – wir waren noch nicht erhaben genug, um über den Esstisch gucken zu können – zeigte sich schon mein dichterisches Talent. Wir verbrachten damals die Sommermonate in Zossen, bei Großvater auf dem Lande. Großvater hatte eine grau gescheckte Katze, die hieß Minka. Eines Abends, es ging schon auf den Frühherbst zu, lag Minka unweit von Großvaters gemütlichem Herd und jungte. Ich weiß nicht, lieber Leser, ob Ihnen das Wort »jungen« noch geläufig ist, die deutsche Literatursprache ist ja immer mehr am Verarmen. Es handelt sich hierbei um ein literarisches Fachverb für animalisches Kinderkriegen. In diesem Bereich differenziert die deutsche Hochsprache dann doch sehr genau: Die Kuh kalbt, das Pferd fohlt, das Schaf lammt, das Schwein ferkelt, der Hund wirft, der Fisch laicht, der Vogel eiert …

Hilde und ich, damals noch völlig naiv und selbstredend noch nicht aufgeklärt, ahnten natürlich nicht, was da vor sich ging, und starrten gebannt auf Minka. Spontan fasste ich die Beobachtung dieses kleinen Naturschauspiels in einen originellen zweizeiligen Reim. Während Hildegard – ganz fasziniert vom Tier, das sich in seinen Wehen wand – nur schweigend beobachtete, dichtete ich intuitiv jambenartig:

Auweh, auweh, auweh,

’s Katzele hat Bau’weh.[6]

Oder später, als Neunzehnjährige: Viele Mädchen schreiben in diesem Alter, beseelt von dichterischem Elan und Ehrgeiz, Gleichnisse in Reimform, gefüllt mit oft weit hergeholten lyrischen Metaphern. Meist werden Männer in Paar- oder Kreuzreimen angehimmelt, und manche Klassenkameradin schrieb zu unserer Zeit eine »Ode an den Führer«. Ich hatte mich auch aufs Schreiben kapriziert. Während meine Schwester, wie sie ja später oft erzählte, das Zeichnen bevorzugte. Egal, ob Zeichnen oder Dichten, wir wollten beide zum Theater, zum Film, wollten wie so viele in diesem Alter Schauspielerinnen werden. Aber es war ja mitten im Krieg, und für zwei von uns hatten die kein Kontingent. Hildegard hatte das Glück der Erstgeborenen, obwohl ich nach wie vor der Ansicht bin, dass es das Prinzip Zufall war, das die Ergebnisse der Aufnahmeprüfung entschied. Wahrscheinlich war denen dort in Babelsberg nicht mal bewusst, wen von uns beiden sie da aufgenommen hatten. Aber ich war nicht die Einzige, die’s nicht geschafft hatte. Auch Gertrud Schneider, mit der mich seit unserer Ablehnung eine lebenslange künstlerische Freund- und Seilschaft verband, flog nach der ersten Runde raus.

Vorbilder

Zweimal war ich sitzen geblieben, bis ich dann doch noch das Abitur mit einundzwanzig Jahren schaffte. Meine Schulzeit blieb mir als traumatische Erfahrung im Gedächtnis. Nach meinem Zivildienst bei »Essen auf Rädern« wollte ich zum großen Entsetzen meines wohlmeinenden, aber theaterfernen Vaters ans Theater: Zwei Aufnahmeprüfungen zur Schauspielschule hatte ich bereits nicht bestanden, obwohl ich doch noch kurz zuvor als Schüler in der Schulaula mit der Theater-AG Triumphe gefeiert hatte! Wie konnten diese schnöseligen Jury-Mitglieder der Auswahlkommissionen das übersehen?

Meine Bereitschaft, die demütigenden Bescheide einer Ablehnung auszuhalten, war bereits nach zwei missglückten Anläufen verbraucht. Ich bewarb mich um eine Regiehospitanz, und tatsächlich, nachdem ich viel Geld für das Porto meiner Bewerbungsunterlagen ausgegeben hatte, kam ich doch noch ans Theater. Vom Weihnachtsmärchen über eine Musical-Inszenierung bis hin zum konservativen Schauspiel erwarb ich an norddeutschen Bühnen Einblicke in die Theaterprobenpraxis, sodass schließlich daraus ein Festengagement als Regieassistent an einem Stadttheater in einem klassischen Drei-Sparten-Haus wurde.

Mein Vertrag verpflichtete mich neben meiner Funktion als Regieassistent und Abendspielleiter auch als Darsteller für kleinere und kleinste Rollen. Shakespeare, Barlach, Brecht. Alle diese Großen hatten ein Herz für Kleinstrollen gehabt. So fielen denn auch für mich Ein- und Zwei-Satz-Rollen ab. Ich durfte mit den Granden des Ensembles auf der Bühne stehen und während des Schlussapplauses nebenbei die Vorhangzieher befehligen.