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Petra Ritzinger und
Ernst Rainer Weissenbacher:

Später Kinderwunsch –
Chancen und Risiken

Wir danken
Herrn Professor Dr. med. habil. Heinz Spitzbart
für die wertvolle Unterstützung
bei der Realisierung dieses Buches

Petra Ritzinger und
Ernst Rainer Weissenbacher

Später Kinderwunsch –
Chancen und Risiken

Vorsorge bei später Schwangerschaft

Abnehmende Fruchtbarkeit
und Sterilitätsbehandlung

Pränataldiagnostik und neue Methoden der Biomedizin

Natürliche Geburt oder Kaiserschnitt auf Wunsch

2. Auflage

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W. Zuckschwerdt Verlag München

Umschlaggestaltung: Heinz Hiltbrunner, München

Fotos: Helmut Rüffler, München

Seite 158/159: Fotostudio Grafe, Bühl

Auslieferungen W. Zuckschwerdt Verlag GmbH

Brockhaus Commission
Verlagsauslieferung
Kreidlerstraße 9
D-70806 Kornwestheim

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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© 2006 by W. Zuckschwerdt Verlag GmbH, Industriestraße 1, 82110 Germering.

ISBN 978-3-86371-177-1

Inhalt

Einführung

Späte Mütter sind in der Schwangerschaft disziplinierter

Der Trend zur späten Mutterschaft nimmt zu

 Günde für den Aufschub des Kinderwunsches

 Psychologische Aspekte der späten Elternschaft

Persönliche Erfahrungen von „Last-Minute-Müttern“

Was versteht man unter Risikoschwangerschaft?

Wie kommt es zu widersprüchlichen Studien über altersabhängige Risikofaktoren bei Spätgebärenden?

Schwangerschaftskomplikationen

 Einführung

 Bluthochdruck

 Gestose

 Diabetes mellitus

 Gestationsdiabetes

 Blutungen im letzten Schwangerschaftsdrittel (dritten Trimenon)

Auswirkungen von Rauchen auf die Entwicklung des Kindes

 Einführung

 Einfluss von soziologischen Faktoren auf die Rauchgewohnheit

 Schädigender Mechanismus des Rauchens

Alkohol- und Drogenmissbrauch während der Schwangerschaft

 Alkoholmissbrauch

 Drogenmissbrauch

Fehlgeburt

 Wann spricht man von Fehlgeburt?

 Symptome, die auf eine drohende Fehlgeburt hindeuten

 Ursachen für eine Fehlgeburt

 Wie kann eine drohende Fehlgeburt verhindert werden?

 Einfluss des Alters der Mutter auf das Fehlgeburtenrisiko

Fehlbildungen

 Chromosomal bedingte Fehlbildungen

 Nicht chromosomal bedingte Fehlbildungen

Frühgeburt

 Definition

 Gesundes Überleben ist die Zielsetzung in der Frühgeborenenmedizin

 Ethische Herausforderung für Ärzte und Eltern

 Mögliche gesundheitliche Schäden

 Ursachen für eine Frühgeburt

 Präventivmaßnahmen zur Verhinderung einer drohenden Frühgeburt

 Der radikale Zervixverschluss zur Vermeidung einer Frühgeburt

 „Selbst-Vorsorge-Aktion“

 BabyCare: Erfolgreiche Prävention von Frühgeburten

 Der Einfluss des Alters der Mutter auf das Frühgeburtsrisiko

Kaiserschnitt

 Einführung

 Bezeichnung der Operation

 Geschichte der Schnittentbindung

 Entwicklung im 20. Jahrhundert

 Operationstechnik

 Medizinische Indikation für einen Kaiserschnitt

 Gründe für den Anstieg der Kaiserschnittrate

 Der Kaiserschnitt als Wunschoperation – Vorteile und Risiken

 Die Wunschsectio ist bei deutschen Frauen nicht so beliebt

 Warum ziehen Frauen einen Kaiserschnitt einer natürlichen Geburt vor?

 Ist ein Kaiserschnitt nur ein harmloser Eingriff für die Mutter?

 Gefahr für das Kind

 Jusristische Aspekte

 Natürliche Geburt oder Kaiserschnitt?

 Ein Liebeshormon lässt die starke Mutter-Kind-Bindung entstehen

 Doula – Dienerin der Frau

 Das Alter der Mutter ist entscheidend bei der Wahl des Entbindungsmodus

 Späte Erstgebärende werden zwei- bis dreimal so oft wie jüngere Frauen per Kaiserschnitt entbunden

Niedriges Geburtsgewicht

 Wann spricht man von niedrigem Geburtsgewicht?

 Ursachen für niedriges Geburtsgewicht

 Der Einfluss des Alters der Mutter auf die Untergewichtigkeit des Neugeborenen

Intrauteriner Fruchttod und Säuglingssterblichkeit

 Definition der Begriffe

 Untersuchungen zur Sterblichkeit des Fetus bzw. Neugeborenen

 Ursachen für einen intrauterinen Fruchttod und Faktoren für den Rückgang der fetalen Mortalitätsrate in den letzten Jahrzehnten

 Zusammenhang zwischen fortgeschrittenem Alter der Mutter und intrauterinem Fruchttod

 Perinatale Sterblichkeit – Ursachen und Entwicklung in den letzten Jahrzehnten

 Zusammenhang zwischen perinataler Sterblichkeit und fortgeschrittenem Alter der Mutter?

 Faktoren für neonatale und postneonatale Sterblichkeit (Säuglingssterblichkeit)

Müttersterblichkeit

 Definition

 Müttersterblichkeitsrate in den letzten Jahrzehnten

 Faktoren, die die Müttersterblichkeit beeinflussen

 Medizinische Ursachen der Müttersterblichkeit

 Das Mortalitätsrisiko einer Sectio caesarea im Vergleich zur Vaginalgeburt

 Die Müttersterblichkeitsrate steigt mit dem Alter kontinuierlich an

 Hauptursachen der Müttersterblichkeit bei Frauen über

Die Entscheidung für das Wunschkind kann zu spät sein

Unfruchtbarkeit

 Einführung

 Ursachen bei der Frau

 Ursachen beim Mann

 Ursachen bei Mann und Frau

Maßnahmen der Fortpflanzungsmedizin

 Einführung

 Intrauterine Insemination (IUS)

 Intratubarer Gametentransfer (GIFT)

 In-vitro-Fertilisation (IVF)

 In-vitro-Maturation (IVM)

 Kryokonservierung

 Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI)

 Erfolgschancen bei der künstlichen Befruchtung

Die psychische, physische und zeitliche Belastung bei der künstlichen Befruchtung

 Sterilität als Lebenskrise

 Am schlimmsten sind die Ungewissheit und das Warten

 Frauen und Männer erleben die Kinderlosigkeit unterschiedlich

 Die zeitliche Belastung

 Die Vorstellung eines Lebens ohne Kind

 Von Anfang an Grenzen setzen

 Wann ist eine psychologische Beratung hilfreich?

Höhergradige Mehrlingsschwangerschaft: Ein ethisches Problem

 Risiken für die Mutter und die Kinder

 Die erfolgreiche Schwangerschaft wird zum tödlichen Segen

 Fetozid – bewusste Selektion eines oder mehrerer Kinder

Pränatale Medizin

 Einführung

 Ultraschall (Sonographie) – eine nichtinvasive Methode

 Invasive Untersuchungsmethoden

 Ethische Diskussion um die Pränataldiagnostik

 Ein positiver Befund – die Entscheidung über Leben oder Tod

 Anspruch der Eltern auf das „perfekte“ Kind

 Spätabtreibungen – eine beabsichtigte Totgeburt wird eine lebende Frühgeburt – ein ethisches Dilemma

Präimplantationsdiagnostik und andere Möglichkeiten der Bio- und Gentechnologien

 „Zeugung auf Probe“

 Gefahr einer neuen Form von Eugenik

 Polkörperdiagnostik

 Der Embryo darf nicht für die Forschung missbraucht werden

 Stammzellpatent wird eingeschränkt

 Der patentierte Mensch

 Keimbahntherapie – ein Kind mit genetischem Gütesiegel?

Anhang

 Glossar

 Quellennachweis

Einführung

In Deutschland und anderen westlichen Ländern hat sich ein klarer Trend abgezeichnet, nach dem immer mehr Frauen ihren Kinderwunsch hinauszögern und erst mit Mitte/Ende dreißig oder sogar Anfang vierzig ein Kind planen. Eine Frau um die vierzig ist sowohl psychisch als auch physisch voll leistungsfähig, steht häufig auf dem Höhepunkt ihres Lebens. Sie stellt eine ausgereifte Persönlichkeit dar und gilt als sehr attraktiv. Die Mutterrolle wird nicht nur als einzige Lebenserfüllung angestrebt.

In unserer Gesellschaft, die weitgehend von den Medien beeinflusst wird, erfüllen Frauenidole aus Film, Fernsehen, Politik und Wirtschaft, die spät ihr Mutterglück erfahren, eine große Vorbildfunktion. Frauen mit Charisma und Persönlichkeit wie die Schauspielerinnen Ornella Muti, Isabelle Adjani und Susan Sarandon oder Cherie Blair, Staranwältin und Frau des britischen Premierministers Tony Blair, bekamen alle Anfang oder sogar Mitte vierzig noch ihr Baby.

Mit einem Kind wird die eigene Kindheit wieder wach. Man erlebt die Unbekümmertheit, kindliche Freude und Spontaneität wieder und lernt mit dem Kind gemeinsam den Augenblick, das Hier und Jetzt zu genießen. Gerade in unserer leistungsorientierten Gesellschaft geben uns Kinder die Kraft, unsere Gefühle zu leben. „Ein Kind denkt mit dem Herzen, und ich wage zu behaupten, dass es auf die gleiche Weise sieht…“ Dieser Satz stammt von dem kirgisischen Dichter Tschingis Aitmatov und enthält viel Wahrheit.

Ab dem 35. bzw. 40. Lebensjahr ist eine Schwangerschaft in der Regel mit höheren Risiken verbunden, einerseits auf Grund der drastisch zunehmenden Chromosomen-Aberrationen (insbesondere des Down-Syndroms), andererseits auf Grund von Komplikationen in Folge des Alters. Deshalb sollten Frauen in diesem Alter zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu einer Schwangerschaftsuntersuchung gehen und alle weiteren Vorsorgetermine gewissenhaft wahrnehmen, um eine komplikationslose Schwangerschaft und Geburt zu erleben. Nach Studien aus jüngerer Zeit [8,13] haben ältere Erstgebärende eine genauso große Chance ein gesundes, normal entwickeltes Kind zur Welt zu bringen wie jüngere Frauen, wenn sie medizinisch optimal betreut werden.

Als ideales Gebäralter gilt allerdings nach wie vor die Zeit zwischen dem 20. und 29. Lebensjahr. Mit zunehmendem Alter nimmt die Fruchtbarkeit ab, und dies trifft ganz besonders auf Frauen über 35 Jahre zu. Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch kann die assistierte Reproduktionsmedizin in vielen Fällen jedoch noch zu ihrem ersehnten Wunschkind verhelfen. Trotzdem müssen viele Frauen die schmerzhafte Erfahrung machen kinderlos zu bleiben.

„Späte“ Mütter gab es zu allen Zeiten der Geschichte. Die Zahl der Frauen in Deutschland, die jenseits der 50 noch ein Kind bekommen, ist jedoch verschwindend gering (im Jahr 2004 waren 11 ehelich geborene Kinder von Müttern über 50 Jahre), auch wenn die Boulevardpresse Einzelfälle hochspielt und uns damit suggeriert, die sehr späten Mutterschaften nähmen zu. Schwangerschaften jenseits der fünften Lebensdekade sind aus ethischen und sozialen Gründen sehr umstritten und sollen nicht Thema dieses Buches sein. Wenn man der Bibel glauben soll, hat Sarah noch im hohen Alter von 90 Jahren ihren Sohn Isaak zur Welt gebracht.

Eine Studie der Harvard Universität von 1998 [90] sorgte für Schlagzeilen in den Zeitungen. Sicherlich ist sie nicht repräsentativ, gibt aber doch einen weiteren Anreiz für eine späte Mutterschaft. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass Frauen, die spät gebären, häufig eine sehr hohe Lebenserwartung haben. Unter den Hundertjährigen ist der Anteil der Frauen, die nach ihrem 40. Lebensjahr noch ein Kind bekamen, deutlich erhöht. Es wird vermutet, dass die Fähigkeit ohne Hilfe der Reproduktionsmedizin, im fünften Lebensjahrzehnt noch Kinder zu gebären, Ausdruck einer Verlangsamung des Alterungsprozesses ist, der es wiederum ermöglicht, ein hohes Alter zu erreichen. Möglicherweise ist dabei auch eine späte Menopause von Bedeutung. Es handelt sich hierbei jedoch um eine Hypothese, die von den Gerontologen erst noch durch weitere, umfassendere Studien belegt werden muss, um zu beweisen, dass späte Mütter tatsächlich länger Sexualhormone bilden und genetisch langsamer altern.

Dieses Buch möchte die Frauen in ihrer Entscheidung bestärken, sich auch noch spät für ein Kind zu entscheiden und das beglückende Gefühl der Mutterschaft zu erleben und dabei – wie viele Frauen berichten – eine ganz neue Dimension des Lebens und der Liebe zu erfahren. Es soll aber auch ausdrücklich auf die Risiken hinweisen und aufzeigen, wie diesen bei älteren Erstgebärenden entgegengewirkt werden kann.

Späte Mütter sind in der Schwangerschaft disziplinierter

Ältere Mütter unterscheiden sich in mancher Hinsicht von den jüngeren. Studien belegen, dass die typischen Erstgebärenden häufig in finanziell gesicherten Verhältnissen leben und selbstständige und unabhängige Frauen sind. Viele haben bereits beruflich Karriere gemacht, die sie sich allerdings oft hart erkämpfen mussten. Sie sind nicht mehr auf der Suche nach ihrer Identität, sondern haben ihren Weg gefunden und damit auch innere Ruhe. Die so genannten Spätgebärenden verfügen in der Regel über einen qualifizierten Bildungs- und Ausbildungsstand, arbeiten überdurchschnittlich viel in akademischen Berufen und gehören sozial privilegierten Schichten an. Auffällig ist auch, dass sie sich weniger Traditionen verpflichtet fühlen als Jüngere und häufig ein unkonventionelles Leben führen. Viele leben ohne Trauschein mit ihrem Partner, haben teilweise jüngere Partner oder sich gar entschieden, ihr Kind alleine großzuziehen [46].

Erfahrungsgemäß gehen „ältere“ Schwangere gewissenhafter zu allen Vorsorgeuntersuchungen und verhalten sich disziplinierter. Sie rauchen weniger oder hören ganz damit auf, verzichten auf alkoholische Getränke, ernähren sich gesund und schonen sich mehr, das heißt sie gönnen sich genügend Schlaf und vermeiden jeden Stress. Reife Frauen erleben ihre Schwangerschaft häufig sehr bewusst, möglicherweise deshalb, weil sie wissen, dass sie unter Umständen nur dieses eine Kind haben werden und sich ihm nun ganz widmen möchten. Die positive Einstellung ist auch ein wichtiger Faktor für den Verlauf der gesamten Schwangerschaft.

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Zwei Tage nach der Geburt

Der Trend zur späten Mutterschaft nimmt zu

Gründe für den Aufschub des Kinderwunsches

Warum immer mehr Frauen die Schwangerschaft weiter hinausschieben, hat verschiedene Beweggründe. Zum einen hat sich das Frauenbild stark gewandelt. Nach längeren Bildungs- und Ausbildungszeiten üben immer mehr Frauen Berufe mit einer hohen Qualifikation aus. Der Kinderwunsch ist bei den Frauen heute deshalb häufig von sehr ambivalenten Gefühlen begleitet: Habe ich den richtigen Partner für eine Familie bzw. ist die Partnerschaft stabil genug? Berufstätige Frauen fragen sich: Schaffe ich den beruflichen Wiedereinstieg? Habe ich ein gutes Betreuungsangebot für mein Kind/meine Kinder? Gelingt es mir, Karriere und Familie zu vereinbaren? Frauen, die ihren Beruf aufgeben, um sich ausschließlich um die Familie zu kümmern, haben andere Ängste: Ist auch ohne eigenen Verdienst das Familieneinkommen sichergestellt? Ist der Arbeitsplatz meines Mannes krisenfest oder muss ich Zukunftsängste haben? Ist es ein zu hohes Risiko, in der Abhängigkeit vom Mann zu leben?

In Deutschland wird ca. jedes vierte Baby von einer Frau über 35 Jahre geboren

Allein in den letzten beiden Jahrzehnten ist die Zahl der Spätgebärenden von 1,3 Prozent auf 27,5 Prozent im Jahr 2005 gestiegen [110]. Eine stetig wachsende Zahl von Frauen (und Männern) genießt ihr Leben erst einmal als Single. Allein im früheren Bundesgebiet hat sich die Zahl der Alleinlebenden zwischen 25 und 45 Jahren von 1976 bis heute verdreifacht. Während Anfang der 70er Jahre nicht einmal acht Prozent der Westdeutschen zwischen 25 und 35 allein lebten, waren es um die Jahrtausendwende schon etwa 25 Prozent. In Großstädten vollzieht sich diese Entwicklung noch rasanter. Die Zahl der Einpersonenhaushalte steigt ständig. So lebt beispielsweise in Frankfurt oder München bereits in mehr als der Hälfte aller Haushalte nur eine Person.

Drastisch stieg auch der Anteil der jungen Leute an, die in nichtehelichen Lebensgemeinschaften wohnen. Besonders im Alter von 25 bis 35 wird diese Lebensform der traditionellen Ehe vorgezogen. Viele Singles entscheiden sich, später doch mit einem Partner zusammenzuziehen und dann zu heiraten. Viele nichtehelichen Lebensgemeinschaften werden noch legalisiert. Die Entscheidung für eine Heirat wird nur in einer späteren Lebensphase getroffen als früher. Heirateten 1991 in Deutschland ledige Männer mit 28,5 Jahren und ledige Frauen mit 26,1 Jahren, so taten sie dies 2004 erst mit 32,4 bzw. 29,4 Jahren [17, 117].

In den alten Bundesländern wird heute jedes fünfte Kind nicht ehelich geboren. In den 1970er Jahren war es nur jedes 20. Im Osten sind nicht eheliche Geburten mit über 50 Prozent inzwischen der Normalfall. Die Zahl der Alleinerziehenden nahm seit Mitte der 1970er Jahre um die Hälfte zu. So lebten im Jahr 2000 in Deutschland 1,8 Millionen Alleinerziehende.

Da fast jede zweite Ehe geschieden wird, ergeben sich heutzutage ganz neue Familienstrukturen: die Patchworkfamilie, die Ein-Eltern-Familie der Alleinerziehenden, die Stief- bzw. Adoptivfamilie. Auch wenn die jeweiligen Ehepartner schon Kinder haben, entsteht der Wunsch, mit dem neuen Partner ein gemeinsames Kind zu haben. Die Frauen sind dann häufig schon Mitte/Ende dreißig oder Anfang vierzig, wenn sie ihre zweite Familie gründen [46]. Bedingt durch diese demographischen Veränderungen und andere Gründe (siehe unten) steigt in der Bundesrepublik Deutschland und vielen anderen Industriestaaten seit etwa 30 Jahren der Prozentsatz spätgebärender Mütter. Heute sind bereits 7 Prozent aller Lebensgemeinschaften Stieffamilien.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes [117] nimmt seit Jahren die Anzahl der Mütter, die bis zu ihrem 29. Lebensjahr ihr erstes Kind bekommen, ständig ab und die Anzahl, die zwischen ihrem 30. und 45. Lebensjahr ihr erstes Kind bekommen, steigt kontinuierlich an. Im Jahr 1997 wurden zum ersten Mal die meisten Kinder von Müttern im Alter von 30 bis 34 Jahren geboren und nicht mehr wie in den Jahren zuvor von Müttern im Alter von 25 bis 29 Jahren. Heute wird ca. jedes vierte Baby von einer Mutter geboren, die über 35 Jahre alt ist. Heutzutage ist es nichts Besonderes mehr, mit 45 Jahren Mutter von Kleinkindern zu sein.

Innerhalb der letzten 13 Jahre ist das Durchschnittsalter der Frau bei der Geburt des ersten Kindes um ca. drei Jahre gestiegen und liegt heute bei knapp 30 Jahren. Kurz vor der Wende bekamen die Frauen im Osten ihr erstes Kind noch mit knapp 24 Jahren, während im Westen der Mittelwert schon damals bei knapp 27 Jahren lag. Sowohl im Westen als auch im Osten wünscht sich jede dritte Frau um die vierzig mehr Kinder als sie hat. Fast jedes dreißigste Neugeborene der Republik hat schon eine Mutter jenseits der vierzig. Das rapide Ansteigen des Alters der Erstgebärenden im ehemaligen Osten lässt vermuten, dass die wirtschaftlich unsichere Situation und Zukunftsängste dafür verantwortlich sind, obwohl die Frauen ja bessere Voraussetzungen für einen beruflichen Wiedereinstieg haben, da die Betreuungsangebote für Kleinkinder wesentlich besser sind als im Westen.

Demographische Entwicklung

Die Geburtenrate, das heißt die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau betrug im Jahr 2004 in Deutschland 1,36. Die meisten Frauen bekommen zwei Kinder, viele, zu viele, bleiben jedoch kinderlos. Für eine stabile Bevölkerung wären 2,1 Kinder nötig, eine Zahl, die zuletzt in den 1970er Jahren erreicht wurde [69].

Während die Geburtenzahl in Deutschland stetig fällt, ist in München als einziger Ausnahme in der Bundesrepublik seit 1995 ein leichter Geburtenzuwachs zu beobachten. Im Jahr 2005 wurden so viele Babys geboren wie zuletzt in den 60er Jahren. Eine Erklärung für diesen Trend ist zum einen ein Ausländeranteil von ca. 23 Prozent, zum anderen ziehen immer mehr junge Leute zurück in die Stadt. München geht es wirtschaftlich immer noch am besten in Deutschland und die Stadt bietet viele Arbeitsplätze. Eine traurige Tatsache bleibt jedoch: Nur in jedem siebten Münchner Haushalt - ähnlich wie in anderen Großstädten – lebt ein Kind. Eine Erklärung ist, dass sich zunehmend gut situierte Familien drei bis vier Kinder „leisten“ und andere Paare bewusst ganz auf Kinder verzichten.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren in München im Jahr 2005 ca. 29 Prozent der Gebärenden älter als 35 Jahre. Auch die Zahl der Mütter, die bei der Geburt die vierzig überschritten haben, steigt allgemein rapide. In München zählten im Jahr 2005 schon fünf Prozent zu dieser Gruppe.

Die Suche nach dem richtigen Partner für eine Familie

Eine Studie ergab, dass Frauen als Hauptgrund, weshalb sie sich so spät für ein Kind entscheiden, antworteten, noch nicht den richtigen Lebenspartner gefunden zu haben. Die einen waren vorher noch nicht verheiratet, die anderen lebten in einer unbefriedigenden Partnerschaft, in der sie sich keine Kinder vorstellen konnten [115].

Auch eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa unter 40 000 Männern und Frauen im Alter zwischen 18 und 49 Jahren ergab als Hauptgrund, keine Kinder zu wollen, noch nicht den richtigen Partner gefunden zu haben. Diese Auffassung teilt auch der Soziologe Francois Höpflinger von der Universität Zürich. Er bezeichnet die heutige Generation der 30- bis 39-jährigen als „Spätzünder“. Laut Umfragen hätten die jungen Leute deshalb noch keine Kinder, weil sie trotz ihres fortgeschrittenen Alters noch immer nicht den richtigen Partner gefunden hätten. Auch das deutsche Institut für Wirtschaftsforschung befasste sich kürzlich auf einer Krisensitzung mit den stetig sinkenden Geburtenzahlen. Der Soziologe Thomas Klein von der Universität Heidelberg wies auf die „Instabilität der Beziehungen“ hin. In neuen Beziehungen müsse der Kinderwunsch immer wieder erst neu entstehen.

Vereinbarung von Karriere und Familie

Zum anderen hat sich in den letzten Jahrezehnten das Frauenbild stark gewandelt. Der Anteil beruflich gut ausgebildeter Frauen hat in den vergangenen vierzig Jahren kontinuierlich zugenommen. Berufliches Engagement wird als zweithäufigster Grund für eine späte Schwangererschaft genannt [101, 115].

Anders als in Dänemark oder Frankreich, wo die Geburtenrate deutlich höher, nämlich bei 1,7 bzw. 1,9 liegt, ist es für Mütter in Deutschland noch immer schwer, Beruf und Familie in Einklang zu bringen. In Skandinavien und Frankreich ist es selbstverständlich, dass Kinder von staatlich geprüften Tagesmüttern oder in Ganztagskrippen versorgt werden.

„Frankreich ist ein Staat, der Kinder will, Lust auf Kinder hat und kollektiv das Kindersein begehrt“, so die Professorin Barbara Vinken. Kinder stehen einer Karriere nicht im Weg: Direkt nach dem Mutterschutz können Eltern ihre Kinder in die Kinderkrippe geben. Die staatliche Kinderbetreuung hat in Frankreich eine lange Tradition. Bereits 1881 wurden die ersten französischen Vorschulen für Kinder ab drei Jahren gegründet, weil der Staat meinte, die Familien schützen zu müssen. Seit Mitte der 80er Jahre gibt es außerdem ein umfangreiches Beihilfesystem für private Tagespflege. Die Nationale Familienkasse übernimmt in Frankreich die Sozialversicherungsbeiträge und zahlt gegebenenfalls auch einen Lohnzuschuss, wenn Familien eine anerkannte Tagesmutter einstellen. Die Betreuung in der eigenen Wohnung hat sich nach der Krippe als beliebteste Lösung für die unter Dreijährigen durchgesetzt. So wurden seit 1991 immerhin 250 000 Arbeitsplätze in Privathaushalten geschaffen. Finanziert wird die Familienkasse aus Steuergeldern sowie Beiträgen der Arbeitgeber. Heute arbeiten über 70 Prozent der französischen Frauen mit zwei Kindern den ganzen Tag.

Ein gutes Beispiel für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie liefert auch Dänemark. In drei von vier dänischen Familien verdienen Vater und Mutter. Nach dem Mutterschutz folgt eine 46-wöchige Elternzeit, in der Mutter oder Vater Elterngeld erhalten, dessen Höhe vom vorigen Einkommen abhängig ist und dem vollen Arbeitslosengeld entspricht. So können sich gut qualifizierte Frauen – oder auch Männer – leichter für eine „Kinderpause“ entscheiden. Außerdem sorgte die dänische Regierung schon vor etwa zehn Jahren für zusätzliche Betreuungsangebote für Kleinkinder. Heute ist etwa die Hälfte aller Ein- bis Zweijährigen in Tagespflege.

In der BRD beklagen dagegen viele Mütter zu wenig qualifizierte Betreuungsangebote in Krippen für Kinder unter drei Jahren, starre Öffnungszeiten der Kindergärten, mangelnde qualifizierte Betreuungsangebote für Grundschüler und fehlende Ganztagsschulen. Nur Berlin bildet da eine erfreuliche Ausnahme: Fast jedes zweite Kind unter drei Jahren besucht eine Krippe. In Köln dagegen bekommt nicht einmal jedes 20. Kind unter drei Jahren einen Krippenplatz.

Frauen sind zunehmend weniger bereit, nach der Geburt eines Kindes Elternzeit zu nehmen, da sie einen Karriereknick befürchten. Mehr als zwei Drittel der Mütter in Deutschland nehmen allerdings nach wie vor Erziehungsurlaub.

Nach dem Soziologen Hans Bertram gibt es in Deutschland derzeit unter den Müttern eine Vielfalt weiblicher Lebensentwürfe, die sich auf drei weibliche Lebensstile reduzieren lassen: Etwa 60 Prozent der Frauen bevorzugen Teilzeitarbeit und wollen den Beruf mit einem Familienleben verbinden. Etwa ein Viertel der Frauen sind „berufsorientiert“ und etwa 15 Prozent wollen die traditionelle Mutterrolle übernehmen und sich ausschließlich um den Haushalt und die Versorgung und Betreuung der Kinder kümmern. Bei den Männern ist es umgekehrt. Etwa zwei Drittel legen den Schwerpunkt auf ihren Beruf, ein Drittel vereinbart Beruf und Familienleben und der Hausmann bleibt ein Mythos [41].

Dr.Waltraud Cornelißen, Leiterin der Abteilung Geschlechterforschung und Frauenpolitik am Deutschen Jugendinstitut e.V. München, untersuchte die Lebensentwürfe junger Frauen. In der Nachkriegszeit war es für junge Frauen selbstverständlich, eine Familie zu gründen. Das traditionelle Versorgermodell war der Mann als Allein-Ernährer und die Nur-Hausfrau. Zunehmend mehr Frauen wollten jedoch nicht die Entscheidung Familie oder Beruf treffen, sondern beides miteinander verbinden. So entstand das Drei-Phasen-Modell. Nach einer anfänglichen Berufszeit widmeten sich die Frauen der Familie und versuchten dann, wieder ihre berufliche Tätigkeit aufzunehmen. Heute sind viele Frauen nicht mehr bereit, das hohe Beschäftigungsrisiko zu tragen. Angesichts der hohen Scheidungsrate wollen sich die Frauen auch nicht mehr auf den Mann als Hauptverdiener verlassen. Sie möchten finanziell unabhängig sein. In der früheren BRD ist ein Fünftel aller Familien mit Kindern unter 18 Jahren alleinerziehend und in den neuen Bundesländern ist es sogar schon ein Drittel. Die meisten berufstätigen Mütter nehmen die Elternzeit nach dem Erziehungsgeldgesetz, weil ihnen eine gute Betreuung und Versorgung ihres Kindes wichtig ist. Gleichzeitig möchten sie beruflich kein Risiko eingehen. Die Sicherheit trügt jedoch. So sind drei Jahre nach der Geburt eines Kindes 16 Prozent der vormals berufstätigen Frauen – im Osten ca. ein Fünftel – arbeitslos bzw. suchen Arbeit. Oft gelingt der Wiedereinstieg in den Beruf auch nur auf einer Stelle mit niedrigerer Qualifikation und geringerem Einkommen. Alice Schwarzer äußerte gar in einem Spiegel-Interview im Mai 2006, der dreijährige Erziehungsurlaub sei die größte Frauenfalle überhaupt. Er habe die Frauen in Scharen aus dem Beruf gelockt. Nicht einmal jede zweite kehre nach den drei Jahren zurück. Und nur jede fünfte erhielte einen Job wie zuvor.

In der gegenwärtigen unsicheren wirtschaftlichen Situation mit befristeten Arbeitsverträgen, hohen Anforderungen an zeitliche Flexibilität und Mobilität fällt es immer mehr Paaren schwer, sich bewusst für ein Kind zu entscheiden, da auch die finanzielle Belastung nicht zu unterschätzen ist. Ein Kind bis zum 18. Lebensjahr großzuziehen, kostet rund 150 000 Euro. Die Zahl der vielen Schwangerschaftsabbrüche ist ebenfalls alarmierend und zeigt, dass sich viele Eltern zu bestimmten Zeiten mit einem Kind überfordert fühlen. Auf sieben Lebendgeborene kam im Jahr 2000 in Deutschland ein Schwangerschaftsabbruch. Immer mehr Frauen verzichten ganz auf ein Kind. So ist schon jede vierte Frau, die nach 1960 geboren wurde, kinderlos. Insbesondere angesichts der fehlenden Betreuungsangebote für Kleinkinder, die es Frauen unmöglich machen, weiter Vollzeit oder nicht einmal Teilzeit zu arbeiten, verschieben immer mehr Paare den Kinderwunsch. Die Zahl der Spätgebärenden ist in den letzten zwei Jahrzehnten deshalb überproportional gestiegen. Insbesondere Frauen mit einem hohen Bildungsabschluss stehen in einem großen Konflikt zwischen Beruf und Familie, da sie auch einen hohen Anspruch an die Rolle als Mutter haben. Ein wiederholtes Aufschieben des Kinderwunsches birgt aber die Gefahr, dass aus einer ursprünglich gewollten, zeitlich begrenzten Kinderlosigkeit eine endgültige, ungewollte Kinderlosigkeit wird. Die Mehrzahl der jungen Frauen und Männer in Deutschland wünscht sich jedoch Kinder. Bei jungen Frauen ist der Wunsch ausgeprägter als bei jungen Männern und im Osten stärker als im Westen. Heutzutage stehen den Frauen bei ihrer Lebensgestaltung viele Möglichkeiten offen. So ist ein weiterer Teil der Frauen weder auf Vereinbarkeitsproblematik noch auf Familiengründung oder Karriere fixiert. Sie suchen ihren eigenen Weg zur Selbstfindung oder einen gemeinsamen Weg mit dem Partner – mit oder ohne Kinder.

Zwei Drittel aller Frauen bekommen heutzutage ein Kind. Von den Müttern sind wiederum zwei Drittel berufstätig. Die Bereitschaft, die Berufstätigkeit zugunsten der Kinder aufzugeben wie noch Anfang der 1990er Jahre, hat zwar deutlich nachgelassen, aber ein nicht unbeträchtlicher Teil der Frauen übernimmt nach wie vor gerne die traditionelle Familienrolle. Im Jahr 2000 war in der BRD die Hälfte der Frauen mit Kindern unter drei Jahren bis unter sechs Jahren erwerbstätig, während dies 1986 nur 38 Prozent in Westdeutschland waren [20].

Die meisten jungen Frauen sind sich heute sehr bewusst, dass Bildung und Ausbildung eine wichtige Voraussetzung für ihre zukünftige Lebensplanung sind. Mittlerweile besuchen mehr Mädchen (54 Prozent) als Jungen (46 Prozent) das Gymnasium. Nach dem Abitur entscheiden sich dann allerdings mehr Jungen als Mädchen für ein Studium. Damit ist der Vorsprung der Mädchen wieder vergeben und sie begrenzen ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt, denn die Arbeitslosigkeit unter den Nicht-Akademikern ist tatsächlich deutlich höher.

Die Einstellung zur Berufstätigkeit von Müttern mit kleinen Kindern aller Altersstufen hat sich in den vergangenen 25 Jahren deutlich geändert. So war Anfang der 80er Jahre eine überwältigende Mehrheit der Frauen der Ansicht, dass ein Kleinkind darunter leidet, wenn seine Mutter berufstätig ist. Im Jahr 2004 waren nur noch etwas mehr als die Hälfte der Frauen im Westen dieser Meinung und weniger als ein Drittel der Frauen im Osten.

Nach repräsentativen Befragungen unter Jugendlichen zwischen 16 und 23 Jahren hält ein gutes Drittel der Männer noch immer an der traditionellen Vorstellung fest, dass sie der Hauptverdiener sein sollen und die Frau in erster Linie für die Familie zuständig ist. Nicht wenige junge Frauen (im Westen 29 Prozent, im Osten 22 Prozent) waren 2003 bereit, ihre Berufstätigkeit aufzugeben, um sich um die Kinder zu kümmern.

Nach Daten von 1998 wünschten sich Paare mit Kindern unter sechs Jahren am häufigsten, dass der Mann Vollzeit und die Frau Teilzeit arbeitet. In der Realität sah es dann jedoch anders aus. Nur die Hälfte schaffte es, dieses Modell zu praktizieren. Nach dem traditionellen Versorgermodell (Mann Vollzeit, Frau nicht erwerbstätig) lebten 52 Prozent der Paare mit Kindern unter sechs Jahren. Gewünscht hatten sich dies jedoch nur gerade mal sechs Prozent. Dies zeigt, dass 1998 viele Frauen gerne weiterhin ihren Beruf ausgeübt hätten, jedoch keine Gelegenheit dazu hatten. Nur 16 Prozent der Ehepaare mit Kindern unter sechs Jahren waren beide voll berufstätig, wobei doppelt so viele Paare dieses Modell angestrebt hatten [21].

Auch Meisenhelder et al. schreiben in ihrer Studie [83], dass sich viele Frauen erst relativ spät für ein Kind entscheiden, weil sie erst einmal ihre beruflichen Ziele erreichen und Karriere machen möchten. Sie suchen ihre Selbstverwirklichung im Beruf. Im Vergleich zu früher sind die Frauen selbstbewusster geworden. Das Bewusstsein für Selbstbestimmung und Eigenverantwortung ist gewachsen. Berufsorientierte Frauen mit einer qualifizierten Ausbildung setzen sich sehr hohe Ziele, identifizieren sich mit ihrem Beruf und beziehen auch ihre Selbstbestätigung daraus. Bevor sie ans Kinderkriegen denken, möchten sie erst einmal einige Jahre Berufserfahrung sammeln, eine gesicherte Position erreichen und ihren Erfolg und ihre Unabhängigkeit genießen.

Gelingt der Übergang in den Beruf nicht so ohne weiteres, so wird der prinzipiell vorhandene Kinderwunsch noch weiter hinausgeschoben, wie einschlägige Studien belegen. Entgegen verbreiteten Annahmen gilt – zumindest für Frauen mit einer qualifizierten Ausbildung – keineswegs, dass sie sich zurückdrängen lassen an Heim und Herd. Im Gegenteil: Erwerbslose junge Akademikerinnen empfinden zwar den Verzicht auf Kinder bzw. das Hinauszögern der Geburt des ersten Kindes als eine gravierende Belastung. Sie reagieren aber auf erschwerte berufliche Bedingungen typischerweise damit, dass die Anstrengungen, einen ausbildungsadäquaten Arbeitsplatz zu finden, noch verstärkt werden [97].

In sozial privilegierteren Schichten wird der Beruf weniger als finanzielles Muss oder als Mittel zur Emanzipation zwischen Mann und Frau betrachtet, sondern vielmehr als Ausdruck der persönlichen und sozialen Entfaltungsmöglichkeit [115].

In der Regel kehren die späten Mütter nach der Geburt eines Kindes wieder in ihren Beruf zurück. Frauen mit einfachem Schulabschluss wollen ihre Erwerbstätigkeit nach einer Schwangerschaft eher aufgeben als Frauen mit einer qualifizierten Ausbildung. Letztere wünschen sich außerdem, dass sich ihr Partner stärker im Privatbereich engagiert, und erwarten doppelt so häufig wie Frauen mit einfacher Bildung, dass er, solange die Kinder klein sind, seine Berufstätigkeit einschränkt.

Die meisten Frauen stellen es sich jedoch einfacher vor, Kind und Beruf zu vereinbaren, als es dann in der Realität der Fall ist. Selbst bei Paaren, die sich gemeinsam um die Fürsorge des Kindes kümmern wollen, sind es doch meist die Mütter, die Kompromisse schließen und ihre berufliche Tätigkeit reduzieren.

Lange Ausbildungszeiten

Es ist die Rede von der „biografischen Rush-Hour“, die Hochschulabsolventinnen nach einem langen Studium und einer schwierigen Berufseintrittsphase gerade mal ein Fünf- bis Sieben-Jahres-Fenster für die Heirat und die Verwirklichung des Kinderwunsches lasse. Seit den 70er Jahren sind die Ausbildungszeiten deutlich länger geworden. So beenden die jungen Leute heute eine Berufsausbildung ca. zweieinhalb Jahre später als damals und ein Fachhochschulstudium etwa drei Jahre später. Die Universität verlassen die Studierenden fast zwei Jahre später mit einem Abschluss, Frauen mit ca. 28,5 Jahren und Männer mit ca. 29,4 Jahren. Außerdem leben junge Leute – anders als in Frankreich oder Finnland – viel zu lange in finanzieller Abhängigkeit ihrer Eltern. Bei wichtigen Lebensentscheidungen sind sie also immer gezwungen, Rücksicht auf die Eltern zu nehmen. Die so genannten Nesthocker, insbesondere junge Männer, wohnen noch lange bei ihren Eltern, den Großeltern oder Freunden und lassen sich bekochen und umsorgen. Sie werden erst spät mit der Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit in das Erwachsenenleben entlassen. Etwa 40 Prozent eines Jahrgangs sind erst nach dem 28. Lebensjahr wirtschaftlich von den Eltern unabhängig. Dann müssen die jungen Leute erst einmal beruflich Fuß fassen und gleichzeitig stehen sie unter Zeitdruck, zu heiraten und eine Familie zu gründen [41].

In dem im Jahr 2005 unter Leitung des renommierten Berliner Familiensoziologen Hans Bertram herausgebrachten Familienbericht der Bundesregierung heißt es: “Es ist heute das Bestreben einer wachsenden Zahl von jungen Frauen, durch eine qualifizierte Beruftstätigkeit ökonomische Unabhängigkeit zu erreichen; gleichzeitig sehen sie sich der nach wie vor bestehenden Erwartungshaltung gegenüber, den größten Teil der Haus- und Fürsorgearbeit übernehmen zu sollen. (…) Ihre Doppelorientierung auf Familie und Beruf kollidiert mit den steigenden Anforderungen in der Erwerbswelt (…) Diese biografischen Entscheidungsdilemmas führen entweder zum Verzicht auf die Gründung einer Familie oder aber zu einer erheblichen Doppelbelastung bei Berufstätigkeit.“ Die Zweiteilung von Beruf oder Familie muss aufgehoben werden und die Frauen müssen bei ihrer Lebensplanung unterstützt werden. Das forderte auch der Familienbericht: „Die Familien schaffen die Basis der Generationensolidarität und der Bereitschaft, Fürsorge für andere zu übernehmen“ [42]. Politiker warnen:„Eine Absage an Kinder ist eine Absage an das Leben.“

Das Image der Rabenmutter oder der Glucke

Erschwerend für die Mütter in Deutschland kommt hinzu, dass es hierzulande noch immer nicht gesellschaftlich akzeptiert ist zu arbeiten, wenn die Kinder noch klein sind. Mütter, denen ihre Karriere wichtig ist und die ihre Kinder vor dem dritten Geburtstag in die Krippe oder zu einer Tagesmutter bringen, werden bei uns noch immer angefeindet. Bundeskanzlerin Angela Merkel verteidigte berufstätige Mütter allerdings kürzlich gegen den Vorwurf der angeblichen „Rabenmütter“. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen ist mit sieben Kindern, hochqualifizierter Ausbildung als Frauenärztin und Spitzenjob geradezu das Paradebeispiel für die „Vereinbarkeit“ von Beruf und Familie. Vollzeitmütter, die sich in den ersten drei wichtigen Lebensjahren ganz ihrem Kind widmen, werden andererseits von den so genannten Karrieremüttern belächelt. Nicht selten müssen sie sich Bemerkungen anhören wie: „Du versauerst ja langsam zwischen Windeln, Babybrei und Computer.“ Egal ob sich eine Frau „nur“ für Familie oder für Beruf und Familie entscheidet, beide Modelle müssen gesellschaftlich anerkannt sein. Heutzutage müssen die Frauen selbst entscheiden können, ob sie zu Hause ihr Kind betreuen möchten oder aber wieder in den Beruf einsteigen möchten und die bestmögliche Alternative für ihr Kind suchen.

Immer mehr Frauen wünschen sich bewusst keine Kinder

Beunruhigend ist, dass immer mehr Frauen in Deutschland ganz bewusst auf Kinder verzichten. Nach einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung wünschen sich 14,6 Prozent der Frauen und sogar 26,3 Prozent der Männer zwischen 20 und 39 Jahren überhaupt keine Kinder.

Seit den 70er Jahren ist die Zahl der kinderlosen Frauen von zehn Prozent auf ein knappes Viertel heute gestiegen. Der Hauptgrund für die niedrige Geburtenrate in Deutschland liegt aber nicht in der zunehmenden Kinderlosigkeit vieler Frauen, sondern vielmehr in dem Schwinden der Mehrkindfamilien. Auch in kinderreichen Ländern wie in den USA, in Finnland oder Schweden hat etwa jede fünfte Frau keine Kinder, aber es gibt dafür doppelt so viele Familien mit drei Kindern. Ähnlich wie in den USA ist bei der Fortpflanzung ein soziales Gefälle erkennbar. Frauen der unteren Bildungsschichten bekommen auch weiterhin Kinder. So sind unter den Hauptschulabsolventinnen nur ca. 20 Prozent kinderlos, während etwa 36 Prozent der Frauen mit Hochschulabschluss keine Kinder haben. Der Anteil der Frauen, die noch jenseits der 40 ein Kind gebären, ist unter den Akademikerinnen allerdings besonders hoch. Laut Mikrozensus des Statistischen Bundesamts sind bis zu ihrem 35. Lebensjahr sogar 62 Prozent der Hochschulabsolventinnen kinderlos. Frauen mit Spitzenpositionen im Beruf haben die höchste Quote der Kinderlosigkeit. Bildung und Erfolg im Beruf wirken wie ein Verhütungsmittel – bei Männern wie bei Frauen [41].

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Zwillinge

Annette Höck, Münchner Vorsitzende des bayerischen Hebammenverbands, macht jedoch die gegenteilige Erfahrung. Immer mehr Frauen sagen: „Entweder gscheit viel Kinder oder gar nicht.“ Vor allem besser verdienende oder gut ausgebildete Frauen empfänden zwei Kinder oft als „langweilig und spießig“. „Wenn drei oder vier aus dem Auto steigen, ist das cool“ – und man zeige, dass man es sich leisten kann. Von einer neuen „Avantgarde“ spricht Höck, Frauen, die beweisen wollen, dass sie alles schaffen: Karriere und Kinder [67].

Demographen schätzen indessen, dass in Zukunft etwa die Hälfte aller Akdademikerinnen kinderlos bleiben wird. Viele von ihnen sind auch ohne Kinder glücklich. Sie können sich einen hohen Lebensstandard leisten und genießen ihre Freiheit und Selbstständigkeit. So gaben 44 Prozent der Kinderlosen insgesamt in einer Umfrage des Forsa-Instituts von Frühjahr 2005 an, sie wünschten sich keine Kinder, da sie mit ihrem Leben sehr zufrieden seien. Auffallend ist jedoch, dass ein wachsender Teil der Hochschulabsolventinnen erst gar nicht heiratet: Ein Viertel der Jahrgänge 1957 und 1958 ist ledig und die Hälfte der Jahrgänge 1967 und 1968 ist noch nicht verheiratet. In Deutschland hängen Ehe und Kinderkriegen jedoch noch eng zusammen. So haben immerhin 80 Prozent der verheirateten Akademikerinnen Kinder und nur 13 Prozent der ledigen. Viele Männer scheinen vor selbstbewussten, anspruchsvollen und hoch qualifizierten Frau über 30 zurückzuschrecken. Sie fühlen sich überfordert bzw. die Frauen sind ihnen zu anstrengend. Die Soziologen Hans-Peter Blossfeld und Andreas Timm bestätigen jedoch, dass die Männer jeder jüngeren Generation zunehmend besser qualifizierte Frauen heiraten [40].

Die Familie ist kein Auslaufmodell

Familie ist ein positiver und notwendiger Beitrag zur wirtschaftlichen und demographischen Zukunft des Landes. Sie ist in Deutschland kein Auslaufmodell, wie Frank Schirrmacher in seinem Buch „Minimum“ über die Bedeutung der Familie schreibt. Der Kinderwunsch beim Menschen entstehe dadurch, mit Gleichaltrigen aufgewachsen zu sein. Zwei Drittel der Kinder in Deutschland hätten nach wie vor wenigstens ein Geschwisterchen, nur etwa ein Fünftel der Kinder blieben Einzelkinder – ein Wert, der seit den 50er Jahren relativ konstant bleibe. Erstmals gäben junge Leute heutzutage allerdings an, sich nicht zwei, sondern nur ein Kind zu wünschen. Der Kinderwunsch der unter 30-jährigen habe um ca. 15 Prozent nachgelassen. Katastrophenfälle in der Geschichte zeigten, dass sich nicht junge Einzelkämpfer retten konnten, sondern vor allem Familien. Der familiäre Zusammenhalt sei noch immer stärker als jede Freundschaft. Die Familie sei eine Art Selbsthilfeorganisation, eine Institution, die helfe und in der Selbstlosigkeit und Altruismus gelernt werde. Auch heute stehe auf der Lebenswunschliste der jungen Generation die Familie noch immer an erster Stelle [107].

Das neue Elterngeld soll den Start ins Familienleben erleichtern

Finanzielle Gründe spielen bei der Familiengründung ebenfalls eine wichtige Rolle. Oft sind die optimalen äußeren Rahmenbedingungen noch nicht geschaffen, um ein Kind großzuziehen. Es ist noch nicht ausreichend Wohnraum vorhanden und man möchte dem Kind alles bieten können, ohne sich einschränken zu müssen.