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Inhalt

I. Kap der Jungfrau

II. Der Zöllner

III. Galle

IV. Die hundertsiebzehnte Kammer

V. Die Hauptstadt

VI. Der Bus 49

VII. Schweigezone

VIII. Indigo Street

IX. Vier Körner Nieswurz

X. Skorpionfisch

XI. Saat des Sonderbaren

XII. Heute Abend in diesem Theater

XIII. Von einem, der klein war …

XIV. Huldigung an Fleming

XV. Kirke

XVI. Padre

XVII. Der Herr Gesellschafter

XVIII. Die Erinnerung kehrt zurück

XIX. Heute Morgen …

XX. Der letzte Zauberer

Fragmente aus der Schweigezone oder Ceylon, eine Anti-Reise

Bilddokumente

Ausbruch aus der Schweigezone: Nicolas Bouviers Ringen um Form

Kürzel der benutzten Vorlagen

Schreib-Exorzismen aus Nicolas Bouviers Nachlass

Magie und Musik. Anmerkungen zur Übersetzung

Für Eliane

Thomas

Manuel

und für Claude Debussy,

diese uralte Geschichte

Man kann doch nicht dauernd

kommen und gehen

und einfach schweigen.

Kenneth White

I

Kap der Jungfrau

Das Eine wurde von der Hitze geboren. In ihm erwachte die Liebe, erster Same des Denkens.

Rigveda

Die Sonne und ich waren schon lange wach, da erinnerte ich mich, dass heute mein Geburtstag war, und daran, dass ich am Abend zuvor, als ich durch den letzten Basar kam, eine Melone gekauft hatte. Die machte ich mir zum Geschenk, schmatzte sie bis zur Schale ab und wusch mein verschmiertes Gesicht mit dem bisschen Tee, der in meiner Kürbisflasche übrig geblieben war.

Geschlafen hatte ich, fest und tief, gleich neben dem Auto unter einem einsamen Buddhabaum, dahinter gelbe Dünenhügel, die die Adamsbrücke gürten, und die Maserung des Meeres, von weissen Schäfchen überzogen. Die Fahrt durch Indien hinunter – ein Wunder. Heute also würde ich diesen Kontinent, den ich so sehr liebte, verlassen. Der Morgen war voller Vorzeichen und leichter als eine Luftblase. Auf all seine Anträge gab es nur eine Antwort: Ja. Wie mit fremder Hand packte ich meine Sachen und betrachtete die schmalen schwarzen Silhouetten in ihren karmesinroten Lumpen, wie sie sich rund um eine kleine Mühle für Zuckerrohr zu schaffen machten, ein Steinwurf nur von meinem Biwak. Ein Mädchen in einem Sarong von gleichem Rot brachte ihnen gerade ihr Essen. Da machte ich mit meiner Hand ein Dach, um ihre prächtigen Brüste, nackt, im Gleissen des Lichts zu sehen. Trotz der Brandung hörte ich, wie sich warme Stimmen überschlugen, und das Knirschen hölzerner Walzen. Die Zeit war aufgehoben. In diesem lieblichen Geflirr von Stimmen, Glitzern und bunttanzenden Schatten lag eine erhabene und flüchtige Vollkommenheit, eine Musik, die mir vertraut war. Leier des Orpheus, Flöte von Krishna. Sie erklingt, wenn die Welt in ihrer durchsichtigen und schlichten Urtümlichkeit erscheint. Wer sie hört, und sei es ein einziges Mal, bleibt für immer verwundet.

Sechzig Kilometer vor dem Kap bricht die Strasse einfach so mitten im Sand ab, als wäre alles gesagt. Da gewahrt man einen Holzverhau, der nicht wirklich wie ein Bahnhof ausschaut und auch in keinem Führer erwähnt wird. Davor ein kleiner Zug in Decauville-Spur, ganz aus hartem Holz und Messing und wie ein alter Kochkessel von den Händen, Hintern und kleinen Zigarren der Reisenden dumpf und dunkel gescheuert. Ganz schwarz auch meine Nachbarn: Parias, die als Gastarbeiter zu den Pflanzungen der Insel hinunterfuhren, zwischen ihren Bündeln aus beblümtem Baumwolltuch kauernd, das Gesicht von ihren gestelzten Beinen eingerahmt. Da ich kaum Raum brauchte und keines ihrer Pakete zerdrückte, fragte mich der Kühnste von ihnen auf Englisch, ob ich ein Inder aus Nepal sei. Grosses, grosses Indien – siebzehn Alphabete, mehr als dreihundert Dialekte –, wer will sich da noch auskennen. Glänzend braun war ich, salzig wie ein Fladenbrot, ein wenig schrumpelig auch von der Gelbsucht. Noch bevor ich antworten konnte, hatten sie mich bereits vergessen. Sie setzten alle das gleiche geheuchelte und gefügige Lächeln auf, wegen der Grenze, die näher kam und die sie mit ihren abgelaufenen Papieren passieren mussten, schwarz gehandelt und von Schweiss gegerbt. Bei der Endstation am Kap der Jungfrau strebten sie in Viererkolonnen Baracken entgegen, die in der Mittagshitze dampften. Ich stand mit ihnen an, um meinen Pass abstempeln zu lassen. Den Hals ausrenkend, sah ich im blauen Schatten eines Hangars, wie ein tamilischer Pfleger damit beschäftigt war, die Herde mit einer skalierten Spritze zu impfen, dickbäuchig wie ein Schoppen. Bei jedem Kunden wechselte er die Nadel und verabreichte dem Opfer seine Dosis. Ohne Spritze kein Visum. Ich brauchte zwar keine mehr, aber lieber eine Impfung zu viel als ein Wortgefecht mit einem südindischen Funktionär. Sei’s wegen der Farbe meiner Augen, sei’s aus Angst, ich könnte mich nachher beschweren, der Pfleger meinte es gut mit mir: die dreifache Dosis. Ob Serum oder Geld, wer hat, dem wird gegeben. Mindestens zehn Jahre immun! Wogegen?, daran verschwendete ich keinen Gedanken. Ich hatte zwei Jahre Reiserouten in den Venen, und das Glück machte mich zum Gecken. Ich musste noch viel lernen. Sanft und sachte.

Die Prospekte versprechen, das Eiland sei ein Smaragd am Hals des Subkontinents. Einstiges Arkadien viktorianischer Hochzeitsreisen. Paradies für Insektenforscher. Preisgünstige Gelegenheit, um den »Grünen Blitz« zu sehen.

Mag sein. Aber dreitausend Jahre vor Baedeker war man, wie früheste Rituale der Arier bezeugen, weit mehr auf der Hut. Die Insel ist ein Hort für Magier, Zauberer, Dämonen. Eine russgeschwärzte Gemme, unter dem Einfluss schlimmer Planeten aus der Tiefe des Ozeans geschwemmt. Fällt ihr Name in einer Beschwörung, wird er behutsam eingeleitet und von folgender Formel gefolgt:

Ihr Gifte der Muräne

Des Ichneumons

Und des Skorpions

Gegen Süden gewandt

Dreimal mach ich euch zu Wasser.

Das werden wir ja sehen.

II

Der Zöllner

Die Erdstrasse nach Murunkan schlängelt sich zwischen Bewässerungsbecken hindurch, die noch von den alten Dynastien angelegt worden sind. Die Bäume, die diese kuriose Komposition aus Zisternen und Schleusen einst in Besitz nahmen, sind längst abgestorben, und heute winken ihre glattpolierten Skelette über dem schwarzen Gewässer. Da und dort flirrt der malvenfarbene Fleck einer Bougainvillea im Mittagsdunst. Etwas wenig für ein Landschaftsgemälde: weithin verstreute Spiegelflächen, zersplittert und trüb, in Schweigen versunken, das wirkt mehr wie eine Gedächtnislücke oder wie ein Finger, den man an unsichtbare Lippen legt.

Wegen der Fahrrinnen rollte ich nur langsam voran. Auf den bemoosten Steinen hoben Wasserschildkröten ihre platten Schädel, um dem Wagen nachzuschauen. Die Strasse lag fast ganz verlassen da. Binnen einer Stunde begegnete ich nur gerade einem abgemergelten Bauern, der auf dem Randstreifen dahintrottete, die Zehen zum Fächer gespreizt, eine grüne Frucht auf dem Kopf, deren Geruch so grässlich und deren Wuchs so gewaltig war, dass man sich fragte, ob es sich um plumpes Blendwerk oder um ein Theaterrequisit handelt. Hatte ich mich verfahren? Ich wollte gerade wenden, da sah ich durch den Schleier von Schweiss, der in meinen Augen brannte, einen silbernen Blitz, langhin, er ging von einer mächtigen Silhouette aus, die mitten im Weg aufragte: ein fetter Kerl, ganz ausser Atem, Haarbüschel standen ihm aus den Ohren, doch die Zöllneruniform war perfekt gebügelt. Rollenden Auges fragte er mich, ob ich nach Negombo unterwegs sei. Unterm Arm trug er einen Schwertfisch mit fangfrischen Augen, so schwer, dass seine Knie wankten und er ihn, ohne meine Antwort abzuwarten, hinten im Wagen verstaute. Dort verwahrte ich ein grosses nepalesisches Messer, das er ungeniert durch seine Finger gleiten liess.

»Strict-ly-for-bid-den-to-have-this-kind-of-weapon-on-the-Island«, meinte er mit jenem Akzent aus dem Süden, wo die Englischbrocken offenbar frittiert werden. Was für ein abgeschmackter Auftakt, und so baffte ich zurück, dass es genauso verboten sei, mit einem fetten Stinkefisch in mein Auto zu steigen, für den er nicht einmal etwas bezahlt habe. Nach zwei Jahren Asien hatte ich so langsam eine Ahnung, wie Zöllner ihre Gamelle garnierten. Es hätte schon schwereres Geschütz gebraucht, um ihn aus der Fassung zu bringen. Der Witz war ganz nach seinem Geschmack, er sandte mir ein nachsichtiges Lächeln und schickte sich an, seine gewichtige Person auf dem Beifahrersitz breitzumachen. Der nicht einmal ächzte. Denn seine Korpulenz rührte weniger von echtem Fett her als vielmehr von der extrem hohen Meinung, die er von sich selbst hatte. Er richtete den Rückspiegel auf sich und zog seinen Scheitel mit einem Taschenkamm nach. Nun, ich war nicht unbedingt unglücklich, dass ich diesen aufgeblasenen Kerl zur Hand hatte, und sagte ihm ohne Schonung, was von seinen kontinentalen Kollegen zu halten sei: total unfähige Schikanierer und Schwätzer, Verschwender von dreisten Dummheiten – selbst mit Dummheit sollte man sparsam umgehen – und von Wischen, die man, eine Stunde nachdem man sie ausgefüllt hat, in den Latrinen wiederfindet, säuberlich in Quadrate zerschnitten. Während ich ihn dieser Tirade aussetzte, beobachtete ich ihn aus den Augenwinkeln. Sein Kopf wackelte: Ganz und gar von sich eingenommen, hörte er überhaupt nicht zu. Nur das Wort Zöllner war in sein Bewusstsein gedrungen.

»Da haben Sie vollkommen recht«, meinte er zu mir, »echt tolle Hechte. Hier sind die Jungs, wie Sie selber sehen werden, noch besser: blitzsauber, gut genährt, ehrerbietig.«

Seine Bescheidenheit hinderte ihn, sich selbst als Beispiel anzuführen, aber natürlich wusste ich noch nicht, wie glücklich ich mich schätzen durfte, jemanden von seiner Klasse getroffen zu haben. Und das gleich am ersten Tag auf der Insel! Er war ganz baff über mein gutes Geschick. Ob man mir schon mal gesagt hatte, dass ich ein Glückskind sei? Im Posten von Negombo, den er mit den Familien seiner Kollegen teilte, werde mir seine Frau – »eine Schönheit«, wie er nebenbei anmerkte – ein Curry machen, an das ich mich noch in hundert Jahren erinnern würde. Sein Englisch war wie er selbst, pompös, ausufernd, geschwollen. Ich dankte ihm für seine Grossherzigkeit. Und fügte hinzu, ich möge Curry durchaus, aber das aus dem Süden sei etwas zu scharf für meinen Gaumen. Diese Worte erlitten dasselbe Schicksal wie die vorangegangenen.

»Das allerschärfste Curry, das Sie je gegessen haben!« Diese Konklusion unterstrich er mit einem monströsen Lachen und einem schallenden Schlag auf meine Schenkel. Dann begann er zu singen wie ein Teekessel, ganz trunken von der Tatsache, ein solcher Märchenprinz zu sein. Für einen Augenblick hoffte ich, er würde in die Lüfte entschweben.

Die Landschaft hatte sich gewandelt. Die Strasse war nur mehr ein tiefer Einschnitt zwischen zwei Wänden aus grünem Dschungel, der vom pfeilgeraden Flug der Papageien durchschnitten wurde. Faulenzerisch lenkte ich das Auto im Zickzack um frisch dampfende Elefantenfladen, jeder von der Grösse eines Bienenstocks. Unvermittelt fragte ich mich, ob mein Passagier in seiner Aufgeblasenheit wohl Ähnliches vollbringen könnte, stellte ihn mir schon vor, wie er über der Strasse kauerte, die Stirn vor lauter Anstrengung gefurcht … und begann vor mich hin zu lachen, während er mich mit einem perplexen und argwöhnischen Blick bedachte.

Negombo, später Nachmittag

Helle, leichte Bungalows, weit verstreut. Lackierte Dachziegel. Kleine Barockkirchen, abgeblättert unter dem hohen Federschmuck der Kokospalmen. An der Stirnseite des Meeres umschliesst ein Spitzensaum aus Kanälen eine alte, sternförmige Festung, die Brustwehr schimmert wie Leder im zimtfarbenen Licht. Aufgeregte Schreie von unsichtbaren Kindern, und mitten im blassen Himmel drei Drachen, tanzend wie jene Flecken auf der Netzhaut, die den Blick nach oben reissen.

Der Posten, das war ein grosses, buckliges Strohhaus, rauchgeschwärzt wie eine Pfeife, hälftig auf Pfähle gebaut, am Rand einer Lagune voller Korallen.

Die Gattin des Zöllners: ein kleines Geschöpf, engstirnig und schwatzhaft, mit ihren Absätzen fest in der Erde verankert, aber immer kurz davor, in die Luft zu gehen. Seine Selbstsicherheit war dahin, als es daranging, mich vorzustellen. Sie lähmte ihn mit einem tamilischen Wortschwall, ohne dass mir klarwurde, wer sie derart in Rage brachte, der Schwertfisch oder ich. Wohl wir beide: Sie musterte mich mit einer Schnute, als würde sie sich sagen: »noch so eine Trouvaille meines vertrottelten Gatten«. Er blieb kleinlaut: Die beiden Daumen, nach Art von d’Artagnan in den Gürtel gestemmt, gaben ihm etwas Halt. Mir schwante, dass er mich als Schmarotzer ausgab, den er nicht mehr abschütteln konnte. Egal: Es war eine Freude, mitanzusehen, wie er Schiffbruch erlitt, und wieder überkam mich Lachlust. Als sie merkte, dass es mit ihr bereits zwei waren, die sich über ihn lustig machten, und dass ich ein wenig in ihr Korsett schielte, änderte die kleine Frau flugs ihre Einstellung und lud mich mit höchst graziösem Lächeln zum Essen ein, und zur Nachtruhe. Ihr Curry hielt, was man mir versprochen hatte: rasch weg vom Tisch mit glühendem Gaumen, flammenspeienden Nasenlöchern, pochenden Schläfen. Kurz das Gesicht gewaschen, in einem zerbeulten Eimer und zwischen einer schwindelnden Schar von Schaben. Dann führte mich die kleine Frau zu meinem Bett: ein grosser Schaukelstuhl aus Peddigrohr, draussen auf der Veranda. Von dort überblickte man die Bucht, und ich musste nur noch meinen Schlafsack ausbreiten.

Die Nacht war königlich; das Meer ebbe und schweigestill. Wenige Schritte von mir entfernt schlief, auf die Ecke der Balustrade gestützt, ein Pfau, den Kopf unter seinem Flügel. Von Zeit zu Zeit lief ein Schauer durch sein Gefieder, vom Kopf bis zu den Pfauenaugen, als wäre er in einem schlechten Traum gefangen. In meinem Rücken lärmte das Zimmer schlimmer als eine Voliere. Der Zöllner und seine Kollegen spielten Domino, im Licht einer Ölfunzel, wobei die Gläschen nicht zu kurz kamen. Die Kompanie lichtete langsam den Anker: Knäbisches, schrilles Gelächter salutierte jeden Sechserpasch. Wenn sich einer der Spieler erhob, um seine Blase zu entleeren, sah ich einen riesigen Schatten vor mir über die Veranda wanken. Das Fieber – der Impfstoff des Vortags oder ein Rückfall in die Malaria – sowie der Tanz der Glühwürmchen über meinem Kopf liessen mich schwindeln. Ein Moment der Erschöpfung, da der Reisende jeglichen Boden unter den Füssen verliert. Ich fragte mich vage, was ich hier eigentlich machte. Auch den Pfau, auch ihn schaute ich an, als würde ich Betrug wittern. Trotz seines Rades und seines unerträglichen Rufes bleibt der Pfau ganz unwirklich. Weniger ein Tier als ein Motiv, von der mogulischen Miniaturmalerei erfunden und von den Dekorateuren der Jahrhundertwende wieder aufgegriffen. Selbst in der Wildnis – ich hatte ganze Schwärme auf den Strassen des Dekkan gesehen – geht ihm jegliche Glaubwürdigkeit ab. Sein plumper Flug ist ein Desaster. Man hat ständig das Gefühl, er werde gleich von etwas aufgespiesst. Selbst in vollem Flug erhebt er sich kaum bis auf Brusthöhe, ganz so, als könnte er sich jener Natur, in der er sich verstrickt hat, nicht entwinden. Man spürt wohl, dass sein wahres Geschick darin liegt, gigantische Fleischpasteten zu krönen, aus der zwergenhafte Drehleier-Spieler mit Narrenkappen voller Schellen hervorspringen. Ich werde sterben, ohne je zu begreifen, wie Linné ihn in seine Klassifikation aufnehmen konnte …

In meinem Rücken hatte man die Lampe ausgeblasen. Mächtiges und gleichmässiges Schnarchen, vermischt mit Dünsten von Curry, stieg sternenwärts. Ich war selig, allein zu sein, ich hatte es dringend nötig, wieder zu mir zu finden. Ich fühlte mich landlos wie schon lange nicht mehr. Seit zwei Jahren hatte mir die »kontinentale Kontinuität« als Leitfaden gedient. Die Landstriche, die Gesichter der Säufer, die Akzente, der Wuchs der Zwiebeln und der Geruch der Fladenbrote haben nie ohne Vorwarnung gewechselt. Jene tausend Details, die die »Art« eines Landes ausmachen, bildeten, am Wegrand gepflückt, eine sanfte, geflüsterte und zusammenhängende Lektion, die ich mir hundertmal vorwärts und rückwärts buchstabierte. Das blasse Grün und das Braun der Landkarte in all ihren Färbungen versöhnten Traum und Pädagogik. Wo zieht es uns morgen hin? Dieser Schule ohne Lug hatte ich mich verschrieben und wäre ohne die politischen Barrieren ostwärts gezogen, durch Burma und Südchina. Gestern hatte ich die weitgespannte Geographie Indiens verlassen, diese riesige Lunge. Heute Abend war ich auf einer Insel. Ich hatte keine Erfahrung mit Inseln, wo es andere Probleme gibt, und andere Lösungen. Was man auf eine Insel mitbringt, wird Metamorphosen unterzogen. Eine Insel ist wie ein Finger, den man an unsichtbare Lippen legt, und man weiss seit Odysseus, dass dort die Zeit verstreicht wie nirgendwo. Also aufgepasst, dass man hier nicht steckenbleibt wie eine Patrone in einer verrosteten Pistole. Das Auto bis Penang oder Singapur einzuschiffen würde mich ein Vermögen kosten, und noch wusste ich gar nicht, wie mein Leben hier aussehen würde. Wir hatten März. Letzte Weihnachten sass ich im Licht einer Blendlaterne neben meinem Topolino, auf der Strasse nach Shivpuri, von frechen grauen Langur-Affen umringt, die an meinen Hemdschössen zogen. Wo ich die nächsten verbringen würde, war noch offen. Das Knarren des Schaukelstuhls hinderte mich daran, Schlaf zu finden. Das Curry hatte meinen Magen in Brand gesetzt, und die kleine Frau kreuzte nicht auf, wie mich ein knöcherner und hitziger Fuss hoffen liess, der während des ganzen Essens gegen mein Bein gehämmert hatte. Ich sagte mir selbst den Abzählreim Fabelgesang auf:

Die Muräne
Die macht Pläne:
Ich besuch jetzt mal
Den Ganges und den Nil
Und reise ohne Zwang
Hinauf zum Jangtsekiang …

Und kurz bevor ich einschlief, fiel mir noch ein weiterer Vers von Desnos ein: Selbst ein Schloss wird, hinter Riegeln, zum Kerker.

III

Galle

Mein Freund mochte mir von einem postlagernden Brief zum andern noch so sehr beteuern, wie glücklich sie hier seien, ich sah, wie diese vertraute Schrift trotz aller Schwarmseligkeit mehr und mehr verkümmerte. Fiebrig ist sie, unregelmässig, von Hitze aufgedunsen. Sie zeugt von einer galligen Leber und einem Kopf voller Sorgen. Der Brief, den ich wohl zwanzigmal durchlas, bestand aus einem Toilettenpapier mit üblem Wasserzeichen und einem Plan. Es hiess: »Du kommst von dort, von Norden« (seit Baktrien kam ich schon mehrere Monate von dort, von Norden), »du folgst der gestrichelten Linie, durchs Stadttor hindurch, dann folgst du wieder dem Gestrichelten.« Folgen wir ihm also. Ganz oben auf der Skizze liest man:

Hinfahrt

Eigentlich unbedeutend: gerade genug, um den Motor in Leerlauf zu schalten, die Augen zu öffnen und die Ohren zu spitzen. Das Vergnügen in die Länge ziehen; seit Monaten schon versuche ich mir diesen Aufenthalt und diesen Ort vorzustellen.

Bahnhof

Man sieht nur ein klatschrotes Ziegeldach, einen hohen Wall Kokospalmen, drei Schnörkel von Rauchschwaden.

Kleiner Fluss

Ein Kanal mit Brackwasser zwischen zwei Böschungen aus bröckliger schwarzer Erde, wo Krabben zu Tausenden vor ihrem Loch hocken und mit ihren rechten Scheren in der Luft wedeln, eine ebenso einladende wie verdächtige Geste. Da muss ich mich noch kundig machen.

Grosse Anlage mit Rasen

Dient als Fussballplatz und grenzt an die Brustwehr eines Forts im Stil von Vauban. Mittendrin ein liegendes Zebu, seine Kruppe klebt in einer Kotkruste fest, und es hustet sich unter der sengenden Sonne die Lunge aus dem Leib. Es hat seinen Wassereimer umgeworfen und nichts mehr zu trinken. Zur Rechten, der Küste entlang Richtung Süden: ein kleiner Markt und ein Dorf aus Strohhütten ohne Sinn noch Ordnung, in der Hitze dampfend.

Festungsmauern

Oder sagen wir lieber: eine riesige Ausfallspforte, überwölbt von einem steinernen Wappen, auf dem sich zwei batavische Einhörner die Stirn bieten, vom Meersalz zerfressen.

Mächtiges Backsteinhotel im Innern des Forts

Ein riesiges viktorianisches Puppenhaus in Rosa, abgeblättert, es wirkt mit all seinen spindeldürren Kellnern in weissen Gewändern ganz gespenstisch, Mahagoni-Ventilatoren wirbeln versunkene Träume auf. Unter ihnen werde auch ich träumen, sobald ich wieder bei Kasse bin.

Dann liest man (an dieser Stelle ist die Schrift wirklich schrecklich):

Lange Gebäude mit Vorhallen

Es sind dies die stillgelegten Zolllager der früheren Oostindische Compagnie, wo Schildpatt, Zitronengras und Indigo gestapelt wurden. Ein Dutzend kleine schwarze Ziegen und ein paar ausgemergelte Bengel balgen sich, jagen kreischend durch diese Steinhalde.

Überwucherte Stelle

Ja, und zwar von dickem, schneidendem Unkraut. Von dort aus Blick in die Gassen des Forts, eng, mit Majolika-Farben übertüncht, alles duckt sich unter der barocken Kirche.

Guest House, 22 Hospital Street,
bei uns zuhause

Auf dem Plan ein dick angekreuztes Geviert. Ausrufezeichen. Die Herberge blickt auf einen gewaltigen Banyanbaum, den blendend weissen Leuchtturm und das Meer, das strichgerade und ohne jedes Gerede bis zum Südpol runterreicht.

Sie aber sind schon seit ein paar Monaten auf dieser Insel, seit ein paar Wochen hier einquartiert und seit zehn Tagen verheiratet. Dieses »bei uns zuhause« bringt mich zum Weinen. Ganz im Stil von Paul et Virginie.

Ich habe den Motor abgestellt, die Hupe betätigt, und der Herbergsvater kommt auf die Türschwelle wie eine Grille an den Rand ihres Lochs. Er hat den Knoten seiner Haare gelöst, um sie zu bürsten, schwarz, gewellt und bis auf die Hüften fallend. Hinter dieser wallenden Mähne eines Dämons erblicke ich ein kleines, scheues Gesicht, vom Schlaf noch geschwollen, sowie zwei wässrige schwarze Augen, die mich aufmerksam beobachten. Der engdrapierte Sarong verleiht ihm ganz die Anmutung einer jungfräulichen Märtyrerin auf einem flämischen Altar, mit Russ umrissen. Noch ein paar Handbewegungen, dann steckt er die Bürste in seinen Gürtel, faltet die Hände auf indische Art und verbeugt sich, indem er etwas von »such a fearless gentleman« murmelt. Meine Freunde – wo sind sie eigentlich? – haben mit meinen tollkühnen Abenteuern wohl übertrieben. Abgesehen von der Krankheit war diese Reise ein reines Vergnügen.

So genau er auch sein mag, ihr Plan ist nicht vollständig. In der »überwucherten Stelle« stösst man auf ein schreckliches kleines Spital, ganz von Betelspucke gerötet, und selbst in den Stunden der Siesta und Bruthitze dringt aus ihm ein unaufhörliches Gestöhn. Malaria, Frambösie, Bilharziose, Amöbiasis, eitrige Augen und klappernde Knochengestelle. Von ihm kündet ein Schild, dessen krummer Pfosten die Aufschrift »Silence Zone« trägt. Das nahm ich nur so nebenbei wahr, noch ganz berauscht von dem, was ich heute mit Recht meine Jugend nenne. In der Geographie wie im Leben selbst kann es dem unvorsichtigen Herumstreicher geschehen, dass er in eine Schweigezone gerät, in eine Windstille, wo die schlaffen Segel eine ganze Mannschaft zu Wahn und Skorbut verdammen. Meist meidet man es, davor zu warnen.

IV

Die hundertsiebzehnte Kammer

Ende März

Ich habe heute Morgen diejenige meiner Freunde bezogen. In junger Liebe verbrachten sie hier drei Monate mit Malen, lachend zwischen wilden Farben, und machten eine Ausstellung in der Hauptstadt, inmitten von Gleichgültigkeit und Taubsinn, dann hiess es, vom Klima ausgelaugt: zurück nach Europa, um die farbenprächtigen Früchte, die sie hier geerntet hatten, in unsere dumpfen Kantone voll grasigem Grün hinüberzuretten. Bevor sie verrotten. Abgemagert sind sie los, das Auge voll gelblicher Schlieren, die Nerven ein Wrack. Zur Wegzehrung liessen sie mir:

–  Eine kleine Leinwand, auf der ein Dampfer verduftet, mit mütterlich schaukelndem Heck und dick umkringelten Kaminen, schwarz und ockererdig, wie von einem Kind, das seit kurzem einen Buntstift halten kann.

–  Drei Ausgaben von Paris Match und an der Wand ein noch ganz grünes Büschel Bananen, der Nagel, an dem es hängt, ist so mächtig und kantig, dass er als jener vierte Nagel vom Kreuze durchgehen könnte, den schon manch einer gefunden zu haben glaubte.

–  Eine Karte mit der gestrichelten Geschichte ihrer Badeausflüge zwischen Riesenschildkröten, Sirenen, Delphinen, auf die selbst Flint und Morgan neidisch gewesen wären.

–  Eine Liste mit Adressen, Bekanntschaften, vielversprechenden (?) Kameraden: endlos lange Namen, in denen es von W wie von Wespen wimmelt, und dahinter dann doch nichts als leere Luft. Nur allzu oft stellt sich das Klima – oder die Armut – zwischen Wunsch und Tat: und trägt den Sieg davon.

–  Einen Campingkocher und eine Petroleumlampe, die mit ihrer dichten Wucht etwas Halt geben.

Ihre Gesellschaft wird mir fehlen. Gott segne sie!

Heute Morgen möchte ich die Karte, die mich vor ein paar Wochen in dieses Gasthaus führte, erweitern.

Man geht über eine Veranda, die der Küstenwind mit feinem Sand stäubt. Rechts steigt man eine hölzerne Wendeltreppe hoch. Fünf Stufen: die letzte knarrt, und doch wird sie, wie ich weiss, nicht oft knarren, solange ich hier lebe. Hier also, ja, hier.

Haben Sie eine billige Kammer, meine Schöne?

Sie kostet weniger als die Sonne, mein Freund!

Und Wanzen?

Voller Wanzen, gottseidank!

Dylan Thomas

Die Kammer kostet eine Rupie im Tag. Die Sonne nichts: Sie erhellt den Raum, spaziert darin herum, ertrinkt im Verputz der Wände, dessen Ultramarin alle Worte übersteigt, dazwischen als Zier die dunklen Flecken der Feuchtigkeit. Und unsere mickrige Bettwanze (Cimex lectularius)?, sie wurde von der Natur nicht gut genug gerüstet, um all dem gewachsen zu sein, was sie da erwartet. »Gottseidank!«

Acht Schritt lang, vier Schritt breit. Die Patina der Bretter reicht bis zu Schwarz. Die russgeschwärzten Balken verschwinden im Dunkel des Dachs und erinnern an einen gekenterten Schiffsrumpf oder den Schnürboden eines kleinen, ausgebrannten Theaters. Ein Balkon unter einem Wetterdach aus glasierten Ziegeln, von ihm aus schaut man in den Innenhof mit seinem Brunnen hinunter und erblickt über dem Zickzack eines Daches: das sanfte und beklemmende Schaukeln des Meereshorizonts.

Das Bett ein Holzrahmen, mit Stricken überspannt. Schubladentisch, Stuhl, Anrichte, darauf thront, handhoch, ein Buddha, das gewitzte Gesicht schon halb zerfressen. Das wär’s auch schon. Sauber ist es, festlich, rätselhaft, jedenfalls scheint es mir perfekt zu dem wenigen zu passen, aus dem mein Leben hier gemacht sein wird.

Richtet man sich für eine Woche, einen Monat, ein Jahr gar in einer Kammer ein, so ist das ein ritueller Akt, von dem vieles abhängt und den man nicht mit wirrem Kopf erledigen darf. Man sollte die Kargheit – heilsam, wie sie ist