Für Patricia H., Jan P, Claudia P. und Matthias K., meine ehemaligen Patienten, die mir die Augen und die Seele geöffnet haben für Borderline.

M. A.

Mein Dank gilt insbesondere den Eltern, die in Beratungsgesprächen und den Trialogen offen und ehrlich über ihre Gefühle gesprochen haben und mich so lernen und verstehen ließen.

A. L.

Vorwort

Als der Junfermann Verlag im Frühsommer 2013 an mich (M. A.) herantrat mit der Frage, ob ich Interesse hätte, ein Buch über die Borderline-Störung zu schreiben, reagierte ich zuerst zurückhaltend. Ich erwiderte, dass es ja schon so viele Bücher zu diesem Thema gebe, sowohl aus professioneller Sicht als auch aus der Perspektive der Betroffenen, ließ mich dann jedoch überzeugen, dass ein Buch mit trialogischer Grundausrichtung etwas Neues und eine Bereicherung sein dürfte. Völlig klar war auch sofort, dass dieses Projekt nur zusammen mit Anja Link, der Mitbegründerin des Borderline-Trialogs, erfolgen konnte. Wir kennen uns seit über zehn Jahren, zahlreiche Begegnungen und Kooperationen zum Thema Borderline fanden in dieser Zeit statt.

In diesem Buch sollen die wesentlichen Informationen zum Thema Borderline vermittelt werden, und zwar aus der Perspektive sowie zum Nutzen aller drei beteiligten Gruppen: Betroffene, Angehörige und Praktizierende.

Bei der Darstellung der einzelnen Themen aus den verschiedenen Blickwinkeln treten mitunter gewisse inhaltliche Wiederholungen auf. Dies wurde bewusst so konzipiert, da die Themen aus unterschiedlichen – trialogischen – Perspektiven und auch in unterschiedlicher inhaltlicher Gewichtung dargestellt werden, je nachdem, für wen und durch wen ein besseres Verstehen erreicht werden soll. Die trialogische Grundidee ist durch die unterschiedlichen Blickwinkel gut repräsentiert, und inhaltliche Wiederholungen unterstreichen zudem die Wichtigkeit der jeweiligen Themen.

Wie an der einen oder anderen Stelle deutlich werden wird, haben wir unterschiedliche Stile in der Darstellung der Inhalte gewählt. Auch dies ist im Sinne des Trialogs gewollt.

Zu den Inhalten gibt es folgende Vorbemerkungen: Wir stellen in diesem Buch den Stand im Sommer 2015 vor, der sich in Bezug auf einige Themen wahrscheinlich ändern wird, z. B. bezüglich der psychosozialen Entwicklungsmöglichkeiten oder der Gewichtung der Therapieformen. In den jeweiligen Kapiteln werden mögliche Entwicklungsrichtungen angedeutet.

Zur Frage des Zusammenhangs von traumatischen Erfahrungen und Borderline gibt es sehr unterschiedliche Positionen, die engagiert diskutiert werden. Wir möchten an dieser Diskussion nicht intensiv teilnehmen, sondern äußern uns zurückhaltend, was schon hier im Vorwort betont werden soll. Wir gehen von der Position aus, dass Traumafolgestörungen ein eigenständiges Krankheitsbild darstellen, das zusätzlich zur Borderline-Störung bestehen kann. Zusammenhänge dieser beiden Störungen werden im Buch durchaus behandelt, für eine umfassende Darstellung der Traumafolgestörung sei jedoch auf andere Literatur verwiesen.

Ebenso wollen wir vorausschicken, dass manche unserer Ausführungen möglicherweise beim Leser einen deutlichen Perspektivwechsel erfordern. In erster Linie denken wir hier an die Stellung und Gewichtung der Angehörigen im gemeinsamen Prozess. Dies ist aus unserem trialogischen Blickwinkel aber ausdrücklich gewünscht.

Wir gehen davon aus, dass dieses erste „trialogische“ Buch noch nicht alle Themen abschließend abhandeln kann, sondern diesbezügliche Ergänzungen folgen werden. Gerade in den trialogischen Diskussionen ergeben sich immer wieder neue Erkenntnisse, sodass die Inhalte weiterentwickelt werden und gegebenenfalls in einer Neuauflage eingearbeitet werden können. Wie in den Inhalten deutlich wird, ist die Borderline-Störung und deren Behandlung vor allem in den letzten 20 Jahren großen Neuentwicklungen, zum Teil grundsätzlichen Neuauffassungen, unterworfen und wir hoffen, dass dies auch in Zukunft so weitergehen wird – zum Wohle aller Beteiligten.

Wir freuen uns über jede Rückmeldung, sei es von Betroffenen, Angehörigen oder professionell Tätigen. Wir wünschen uns eine Ausweitung der trialogischen Verständigung.

Bad Bramstedt/Nürnberg, Juni 2015 


Dr. Michael Armbrust

Anja Link

1. Trialogischer Austausch – den Blickwinkel ändern, verstehen und lernen

„Ich begreife es einfach nicht: Unsere Tochter hat 16 Wochen Therapie gemacht und es geht ihr nicht besser. Sie beteiligt sich nicht am Haushalt, obwohl sie den ganzen Tag nichts zu tun hat, und wenn ihr was nicht passt, schneidet sie sich die Arme auf! Zu Hause laufen wir alle wie auf rohen Eiern!“

(Mutter einer Betroffenen)

„Vielleicht fühlt sich Ihre Tochter unter Erfolgsdruck gesetzt? Bei mir hat es damals fast zwei Jahre gedauert, bis ich das, was ich in der Therapie gelernt habe, wirklich im Alltag umsetzen konnte. Aus dem ‚Schutzraum Klinik‘ entlassen zu werden ist ganz schön hart. Wichtig waren dort für mich die Ermutigungen durch die Fachleute. Eine Weile war ich sogar richtig darauf fixiert, weil ich die Vorstellung hatte, nur in der Klinik habe ich Menschen, die mich verstehen und die mir zeigen können, wie das Leben funktioniert. Für die Meinung von anderen interessierte ich mich lange Zeit nicht mehr.“

(25-jährige Borderline-Betroffene)

„Das war mir gar nicht so klar, dass die Betroffenen uns so sehen könnten. Denn ich kam mir oft genauso hilflos wie die Betroffenen selbst vor, gerade wenn Situationen auf Station eskaliert sind. Erst seit wir mit neuen Konzepten therapeutisches Handwerkszeug bekommen haben, fühle ich mich in meiner Profi-Rolle wieder handlungsfähiger; das ist für mich wichtig, um bei der Sache bleiben und Zuversicht vermitteln zu können.“

(Psychotherapeut)

„… und ich dachte immer, die Profis verstecken sich nur hinter ihren Therapiekonzepten. Immer, wenn es hieß, ich soll diese oder jene Übung machen, habe ich gedacht, das klingt fast wie eine Floskel, aber ich als Person werde gar nicht mehr wahrgenommen ….“

(25-jährige Borderline-Betroffene)

Diese – hier auszugsweise wiedergegebene – Diskussion zwischen einer Betroffenen, einer Angehörigen und einem Psychotherapeuten zeigt, wie die Teilnehmer eines Trialoges sich gegenseitig dabei helfen, die Situation des jeweils anderen besser zu verstehen. Durch dieses bessere Verstehen können Beziehungen sich verändern und mehr Offenheit und Akzeptanz entstehen. Das Konzept des Trialogs wird so zu einem Zugewinn für alle, die daran teilnehmen.

1.1 Betroffene, Angehörige und Fachleute an einem Tisch

Die Idee zu einem Borderline-Trialog wurde 2001 von Andreas Knuf im Nachwort des Buches „Leben auf der Grenze“ (2006) beschrieben. Zunächst aber schien ein Vonei­nander-Lernen auf gleicher Augenhöhe – in der Form, wie es seit 30 Jahren sehr erfolgreich in den Psychose-Seminaren geschieht – im Zusammenhang mit der Borderline-Störung nicht möglich. Kommunikation und Beziehungen sind nicht selten geprägt von heftigen Emotionen. Manchmal geht gar nichts mehr; die Beteiligten können nicht mehr miteinander sprechen, ohne in Streit und in gegenseitige Schuldzuweisungen zu geraten. Der Austausch auf einer sachlichen Gesprächsebene ist nicht mehr möglich. Hilfreich ist es dann, Abstand zu gewinnen, die Situation von außen zu betrachten und sich in die Lage aller Beteiligten hineinzuversetzen. Genau das geschieht im Trialog, wenn Betroffene, Angehörige und Fachleute sich auf gleicher Augenhöhe zum Austausch von Erfahrungen und Wissen an einen Tisch setzen. Das Motto lautet hier: „Lernen und Verstehen über einen Stellvertreter“. In den Trialogen geht man nicht mit dem eigenen Patienten, der eigenen Mutter oder dem eigenen Psychotherapeuten, sondern der Borderline-Betroffene begegnet beispielsweise einem Menschen, der Angehöriger eines anderen Borderliners ist und sich in einer ähnlichen Situation wie die eigene Mutter befindet. In diesem „neutralen“ Rahmen und dem konfliktfreien Kontakt kann eine klärende Diskussion stattfinden, Fragen offen gestellt und Antworten gefunden werden. Mit diesem neu gewonnenen Wissen kann wieder Begegnung stattfinden.

Den Trialog-Gedanken aufzugreifen und umzusetzen gelang gemeinsam in einem kleinen Initiatorenteam: Christiane Tilly und Anja Link – zugleich Betroffene und in psychosozialen Berufen ausgebildet – holten noch Heiner Dehner als Psychologen und Psychiatriekoordinator der Stadt Nürnberg ins Boot. Der Einladung zum ersten bundesweiten Borderline-Trialog folgten im Dezember 2004 mehr als 300 Betroffene, Angehörige und professionell Tätige. Diese Resonanz machte deutlich, wie stark das Interesse am gegenseitigen Verstehen war und nach wie vor ist. Vor allem aber wurden auch der Mut und die Motivation geweckt, diese Form des Austausches voranzubringen und zu etablieren.

Nachdem die ersten Schritte im mittelfränkischen Ansbach und Nürnberg getan waren und sich damit Befürchtungen zerschlagen hatten, dass eine trialogische Gruppe im Zusammenhang mit Borderline nicht funktionieren könne, begann die Idee sich weiterzuverbreiten. Engagierte Trialog-Teilnehmer der bundesweiten Veranstaltung aus ganz Deutschland fragten nach, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Mitteln die Umsetzung eines Borderline-Trialogs gelingen kann. In Telefonaten und Zusammenkünften mit Interessierten vor Ort wurde gemeinsam überlegt, geplant und jeweils von den bisher gemachten Erfahrungen profitiert, experimentiert und immer weiter voneinander gelernt.

Fortführung der Trialog-Veranstaltungen

Neben den jährlich stattfindenden bundesweiten Trialog-Veranstaltungen haben sich inzwischen in mehreren Städten Regionalgruppen gegründet, die ­regelmäßig zusammenkommen und teils schon über mehrere Jahre bestehen. In all diesen Treffen werden sehr offen von allen Beteiligten Fragen gestellt und vielfältige Antworten gefunden. Spannend ist, die Besonderheiten der einzelnen Regionalgruppen zu verfolgen, die an dieser Stelle nur kurz angerissen werden können. So schreiben beispielsweise die Teilnehmenden in Herborn Protokolle über ihre Zusammenkünfte, sodass die beeindruckenden gemeinsamen Erkenntnisse festgehalten und später nachgelesen werden können.

Durch die Rückmeldungen der Regionalgruppen wird auch deutlich, dass manchmal Kompromisse notwendig sind, um Prozesse überhaupt in Gang zu setzen. Manche gefundene Lösung erweist sich dann als praktikabler Weg, der beibehalten werden kann. So findet beispielsweise das Treffen des Borderline-Trialogs in Bad Bramstedt, den es seit 2007 gibt, in den Räumlichkeiten einer psychosomatischen Klinik statt. Damit wird zwar der ursprünglichen Trialogidee des „neutralen“ Ortes nicht entsprochen, für die Teilnehmenden scheint dies jedoch kein Hindernis zu sein. Nach Auskunft der Veranstalter kommen regelmäßig bis zu 60 Interessierte zum Regionaltreffen, dabei sind die Gruppen der Betroffenen, Angehörigen und Fachleute etwa gleich stark vertreten. Besonders ist dort, dass sich auch erwachsene Kinder von Menschen mit der Diagnose Borderline im Trialog einfinden.

Trialog – (wie) funktioniert das?

Die konkrete Umsetzung des Trialog-Gedankens und die Gestaltung der Gruppen hängen jeweils von den Vorstellungen und Wünschen der Teilnehmer und teils einfach auch von den vor Ort verfügbaren Möglichkeiten und Ressourcen ab. Bewährt hat sich, nach einer Initialveranstaltung zum Trialog, einen verlässlichen Rahmen für die Gruppentreffen anzubieten, Termine im Vorfeld festzulegen und die Gespräche durch eine Moderation zu begleiten. Gute Erfahrungen wurden inzwischen mit sogenannten Blockseminaren gemacht.

Ein Blockseminar ist ein „Paket“ aus drei bis fünf Sitzungen, bei denen der erste Termin stets ein Informationsabend ist. An diesem ersten Abend werden die drängendsten sachlichen Fragen zu Borderline und zum Trialog geklärt, und er bietet eine gute Gelegenheit, die Themenwünsche der Teilnehmer zu sammeln. Nach dem Info-Abend gibt es weitere vier Abende, in denen die trialogischen Gesprächsrunden zu den ausgewählten Themen stattfinden. So kann das Vorbereitungsteam nach Abschluss des „Blocks“ entscheiden, wann der nächste Borderline-Trialog stattfinden wird. Rücksicht nehmend auf die Kapazitäten der Organisator/inn/en lässt sich so ein Block mit etwa fünf Abenden leichter umsetzen als eine kontinuierlich angesetzte Veranstaltungsreihe. Die Pause zwischen den Seminaren kann kreativ genutzt werden, um dann wieder alle Energien für den nächsten Durchlauf zu bündeln.

Günstig ist, im Vorbereitungsteam die Regeln für den Trialog festzulegen und schon beim Informationsabend zu präsentieren oder sogar schon auf dem Info-Flyer der Veranstaltungsankündigung abzudrucken.

Entscheidend für eine offene Atmosphäre im Trialog ist eine Grundhaltung, die durch folgende Punkte gekennzeichnet ist:

In diesem Rahmen sind intensive, wechselseitige Lernprozesse möglich und nutzen allen Beteiligten: Fachleute berichten, dass sie im Trialog eine tiefere Ebene des Verstehens erreichen und ihre eigene Rolle als Helfer neu betrachten und definieren können. Betroffene beschreiben beispielsweise, dass sie durch Erzählungen der Angehörigen die Situation der eigenen Eltern oder Partner ganz anders reflektieren und deren Reaktionen auf eigenes Verhalten anders bewerten können. Dabei macht auch Mut, von anderen Betroffenen zu hören, welche Erfahrungen mit Selbsthilfe und Therapie gemacht werden. Gerade Eltern von Betroffenen haben im Trialog die Möglichkeit, Fragen zu stellen, die die eigenen Kinder selbst noch nicht beantworten können. Durch diese „Übersetzungsarbeit“ entsteht wieder mehr Verständnis, und die Bereitschaft zur Meisterung des gemeinsamen Alltags wird gestärkt.

1.2 Trialog weitergedacht

Das hohe Interesse am Borderline-Trialog, die intensive Arbeit in der Regionalgruppe, viele Anfragen nach Vorträgen, um von den Erfahrungen des Initiatoren-Teams zu profitieren, – all dies machte sehr schnell deutlich, dass diese Arbeit allein auf ehrenamtlicher Basis nicht lange geleistet werden kann. Darüber hinaus ist der Trialog-Gedanke nicht auf Veranstaltungen und Gruppentreffen beschränkt, sondern beschreibt viel mehr eine Haltung, mit der einander begegnet wird. Er zeichnet einen neuen Rahmen, in dem Unterstützung stattfinden kann. Die trialogische Arbeit im Kontext der Borderline-Störung bedeutet beispielsweise, dass Hilfsangebote auch für Angehörige erarbeitet werden, Erfahrungswissen in Fortbildungen für Fachleute genutzt wird und Betroffene eine Vorbildfunktion für jüngere Betroffene einnehmen können.

Seit 2006 gibt es in Nürnberg, unter Trägerschaft des Fördervereins Ambulante Krisenhilfe e. V., ein Informations- und Beratungsangebot mit trialogischem Konzept: die bundesweit tätige Borderline-Trialog Kontakt- und Informationsstelle. Mit diesem Vorhaben sollte eine Anlaufstelle geschaffen werden, für Menschen, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erkrankt sind, und Personen, die im beruflichen oder persönlichen Kontext mit der Erkrankung konfrontiert sind.

Ziel der Arbeit ist, das Verständnis für Borderline-Betroffene auf individueller und gesellschaftlicher Ebene zu verbessern, um neue Lösungswege für einen gelingenden Alltag zu finden und einer Stigmatisierung entgegenzuwirken. Dies soll unter dem besonderen Aspekt gelingen, bei dem die Perspektive, das Wissen und die Erfahrungen von Betroffenen, professionell Tätigen und Angehörigen berücksichtigt werden.

Die übergeordnete Aufgabe der Stelle ist, zum besseren Verständnis der Borderline-Störung beizutragen und dabei das Wissen und die Erfahrungen, die im Trialog gesammelt werden, zu bündeln. Der Trialog-Gedanke soll dabei weiter Verbreitung finden und neue Lösungswege im gemeinsamen Alltag ermöglichen. Umgesetzt wird dies u. a. durch Gespräche mit Betroffenen und Angehörigen, dialogische Fortbildungen und Fallkonferenzen, Informationsveranstaltungen und nicht zuletzt dem Trialog selbst.

Mit dem ersten bundesweiten Borderline-Trialog 2004 ist ein gewinnbringender Prozess in Gang gekommen, der vielfache Möglichkeiten eines tieferen Verständnisses und mehr Toleranz für die Situation aller Beteiligten ermöglicht. Die Begegnungen und Erkenntnisse im Trialog wecken Mut und Zuversicht sowohl bei den Betroffenen als auch bei Angehörigen und professionell Tätigen. Der Trialog leistet einen erheblichen Beitrag für die Bildung einer Lobby der Borderline-Betroffenen und ihres Umfeldes; jeder einzelne Schritt in diese Richtung ist lohnenswert.

Kürzlich erreichte die Autorin direkt im Anschluss an ein Gründungstreffen zum Trialog eine Mail von einer Betroffenen. Darin schreibt sie, dass sie nach anfänglichem Zögern allen Mut zusammengenommen und sich bereiterklärt habe, sich an der Moderation und Koordination der Borderline-Trialoge zu beteiligen. Was sie zum ersten Treffen unter ihrer Leitung schreibt, lässt vielleicht „den Funken überspringen“:

„Wie gut, dass wir noch Ersatzstühle mitgebracht haben, denn wir haben sie alle gebraucht, es waren ca. 40 Leute da! Davon 6 Fachleute, ca. 6–8 Angehörige und der Rest alles Betroffene. Wir haben erst mal die Regeln aufgestellt, die wir wichtig fanden, dann haben wir Themen gesammelt und das mit dem Duzen oder Siezen geklärt. Die Kommunikation klappte reibungslos, ich musste nur ein-, zweimal als Moderatorin eingreifen. Ich war am Anfang ziemlich aufgeregt, aber alle machten gut mit, und ganz schnell waren wir mitten im Gespräch! Ich bin aufs nächste Mal gespannt und mache auf jeden Fall weiter.“

2. Zum Grundverständnis der Störung

2.1 Borderline trialogisch betrachtet

Das Erleben der Betroffenen

Für die Betroffenen handelt es sich bei der Borderline-Störung um ein sehr komplexes Leiden, das auch nach jahrelangem Verlauf oft nur schwer (be-)greifbar ist. Bestimmte Symptome, durch die sich die Störung äußert, werden über lange Zeit hinweg nicht akzeptiert. Das führende subjektive Gefühl ist Verzweiflung. Betroffene1 äußern sich dazu so oder in ähnlicher Weise:

„Früher war Borderline für mich vor allem Wut oder etwas, was ich Gefühlsmatsch nenne, weil es zu viel war. Heute ist es eher Trauer und Erschöpfung. Am schlimmsten finde ich den Zustand des absoluten Nichts.“

(Alex, 46-jährige Betroffene)

„Am schlimmsten für mich ist der Kontrollverlust. Ich gerate von einem Extrem ins nächste und fühle mich dann handlungsunfähig.“

(Marion, 27-jährige Betroffene)

Im Vordergrund des Erlebens steht für die Betroffenen oft die weitreichende Unfähigkeit, ein Verlassenwerden auszuhalten. Das bezieht sich weniger auf ein grundlegendes Alleinsein, sondern auf das Weggehen, Nichtkommen oder Vermissen einer Person, zu der eine Gefühlsbindung besteht. Es ist also mehr der Prozess gemeint als der Zustand. Die Unfähigkeit, diesen Prozess auszuhalten, kann sich durch verschiedene psychische Störungen äußern, wobei Ängste und innere Anspannung am häufigsten auftreten. Diese Symptome können aber auch in aktuellen, nicht lösbaren Konflikten – mit sich oder anderen – begründet liegen.

Hinzu kommen Selbstabwertungen bis hin zu Selbsthass und starken Selbstzweifeln, meist verbunden mit der Frage, ob man überhaupt liebenswert sei. Die Betroffenen verneinen dies meist und sehen darin auch die „Begründung“ für das Verlassenwerden durch andere. Die eigenen, in der Regel unerfüllten Bedürfnisse nach Nähe, Zuwendung und Geborgenheit werden als Schwäche wahrgenommen und deshalb abgewertet. Daraus resultiert psychologische wie auch physiologische (Bedürfnis-)Frustration. Die resultierenden Anspannungszustände werden als „Druck“ erlebt mit der Notwendigkeit, sie möglichst schnell zu beseitigen, z. B. durch selbstschädigendes Verhalten oder Substanzeinnahme. Mittel- bis langfristig entwickeln sich zusätzlich Verhaltensmuster, die den „Zweck“ haben, Gefühle zu vermeiden, also „Gefühle wegzumachen“, wie die Betroffenen es oft ausdrücken: häufigeres Dissoziieren, regelmäßige Einnahme bestimmter Substanzen, sozialer Rückzug etc. (All diese Verhaltensweisen werden später genauer erläutert und erklärt.)

Neben den Anspannungszuständen entwickeln sich aus dem frustrierenden Verlauf der Störung auch Unsicherheiten und Ängste und damit verbunden große Probleme mit der Selbsteinschätzung. Letzteres führt regelmäßig zu Schwierigkeiten bei der Beantwortung der Frage „Was gilt?“, also dem sicheren Einschätzen, was für einen selbst angemessen und richtig ist, was nötig ist, was gebraucht wird usw. Das kann von basalen Fragen wie „Möchte / muss ich jetzt schlafen?“ oder „Möchte ich jetzt essen?“ bis zu tiefer gehenden Fragen reichen wie: „Möchte ich jetzt wirklich Nähe?“, und sogar: „Möchte ich wirklich diesen Beruf ausüben?“

Aufgrund dieser Unsicherheit – die direkt mit Selbstinvalidierung (vgl. ­Abschn. 2.4.3) zusammenhängt – entstehen komplexe Grübeleien und Selbstzweifel, die ohne Unterstützung von den meisten Betroffenen nicht lösbar sind. Sie führen zu sozialer Isolation, dem freiwilligen Verzicht auf Gesellschaft oder Partnerschaften. Dieses Vermeidungsverhalten hat den „Vorteil“, schwierige Gefühle, die ja meist an Kontaktsituationen geknüpft sind, nicht erleben zu müssen. Etwas salopp, aber wohl treffend ausgedrückt, handeln die Betroffenen nach dem Motto: Wenn ich keine Bindung eingehe, kann ich nicht verlassen werden.

Oft werden bestehende Bindungen auch spontan beendet – als Schutz vor dem befürchteten Verlassenwerden –, was die Betroffenen später bereuen und erneut als Anlass für Selbstabwertungen erleben. Nicht selten werden die Bindungen dann wieder erneuert – bis zum nächsten spontanen Ende. Nachvollziehbarerweise ist diese Achterbahnfahrt für die Partner der Borderline-Betroffenen eine riesige Herausforderung.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Betroffenen mit sich selbst, vor allem mit ihren Gefühlen hadern, ihre Beziehungen nicht so gestalten können, wie sie es sich wünschen, und keine stabile Orientierung in die Aktivitäten ihres Lebens bekommen. Manche Betroffenen vergleichen ihr Erleben mit einer Flipper-Kugel, die hin und her gestoßen wird – von den eigenen Gefühlen.

Das Erleben der Angehörigen

Für Angehörige stellt die Störung oft ein großes Rätsel dar, da sie immer wieder mit dem unverständlichen Verhalten ihrer Kinder, Eltern oder Partner konfrontiert werden. Da im Regelfall auch keine Erklärung gegeben wird und selbst Gespräche kein Verständnis schaffen, sind die Angehörigen stark verunsichert. Sie ahnen zwar, dass die Betroffenen große emotionale Probleme haben, wissen aber nicht zu helfen oder zu unterstützen.

Und je nach Beziehung haben die Angehörigen ein großes Bedürfnis danach. Diese eigentlich positive Absicht der Angehörigen kann aber die Situation auch verschlechtern, da die Hilfs- und Unterstützungsangebote von den Betroffenen nicht unbedingt als solche erlebt werden, sondern unter Umständen als bedrängend, fordernd oder abwertend. Die aktuelle Beziehungssituation läuft dann womöglich ganz aus dem Ruder – mit sehr starken Gefühlsreaktionen auf beiden Seiten. Es ist fast unvermeidbar, dass die Angehörigen sich durch die Verhaltensweisen der Betroffenen „angegriffen“ fühlen und dann mit ihren eigenen Verhaltensmustern, z. B. mit Rückzug oder Gegenangriff, reagieren.

Insgesamt ist herauszustreichen, dass sämtliche Beziehungen mit Angehörigen stets sehr emotional verlaufen, häufig impulsive Verhaltensweisen auftreten und ein gegenseitiges Verständnis sehr schwer herzustellen ist. Gerade in Bezug auf diesen Aspekt kann der Trialog zu einer allgemeinen Verbesserung des Zwischenmenschlichen führen.

Das Erleben der Fachleute

Professionell Tätige sind sich nach jahrzehntelanger Auseinandersetzung über die Einordnung und das adäquate Verständnis der Störung inzwischen einig darin, dass es sich im Kern um eine Störung der Gefühlsregulation handelt. Als Hauptursachen werden angesehen:

Aus professioneller Sicht ist die Vielfältigkeit der auftretenden Symptome immer zurückzuführen auf die grundlegenden Gefühls- und Beziehungsprobleme der Betroffenen, die dann im Einzelfall genau herausgearbeitet werden müssen.

Fachleute erleben Betroffene als vielfältige und komplexe Persönlichkeiten mit vielen Problemen. Nicht wenige fühlen sich davon überfordert und lehnen eine Behandlung ab. Eine Untersuchung in München ergab, dass 22 Prozent der niedergelassenen Psychotherapeuten die Behandlung von Borderline-Klienten grundsätzlich ausschließen (Jobst, 2010). Deren Einstellung gegenüber den Betroffenen dürfte nicht gerade positiv sein. Letztlich „hilft“ diese Ablehnung den Betroffenen aber dabei, den für sie richtigen Therapeuten zu finden, denn mit einer negativen oder ambivalenten Einstellung der Ärzte oder Psychologen zu ihren Klienten ist keine effektive Therapie durchführbar.

Die meisten Fachleute und professionell Tätigen, sogar BPS-erfahrene, haben widersprüchliche Erfahrungen mit Borderline-Patienten gemacht und vertreten entsprechend ambivalente Haltungen. Noch vor nicht allzu langer Zeit galten Betroffene in Fachkreisen als unheilbar, ja, als nicht auszuhalten. Im günstigen Fall wurde man als Betroffener einfach ignoriert. Das bedeutete zum Beispiel, dass man aus Kliniken möglichst schnell einfach wieder entlassen wurde, auch wenn die Perspektive völlig unklar war.

Meistens kam es aber zu Konflikten, die beiden Seiten nicht lösbar erschienen und nicht selten in Machtdemonstrationen endeten. Die entsprechenden Mittel der psychiatrischen Kliniken sind bekannt, also Verbringung in geschlossene Bereiche, auch gegen den Willen der Betroffenen, ggfs. dort auch Fixierung oder Zwangsmedizierung. Nach Erfahrung der Autoren ist dies erst in den letzten zehn Jahren in der Praxis weitgehend verschwunden.

Aber auch Betroffene hatten ihre Möglichkeiten. Der Autor erinnert sich an ein drastisches Beispiel, bei dem ein Betroffener, den er später behandelte, in suizidaler Absicht auf einem Dach stand und von dort die BILD-Zeitung anrief, sein Leid schilderte und als Grund für den geplanten Suizid seine Therapeutin angab, deren Personalien er dann auch der Zeitung nannte.

In den letzten Jahren hat sich das Verhältnis zwischen Betroffenen und Behandelnden gewandelt, vor allem durch Erkenntniszuwachs und bessere störungsspezifische Ausbildung der Fachleute. Die immer effektiver werdenden Therapiemöglichkeiten tragen wesentlich dazu bei.

Der Anteil der Therapeuten, die Borderline grundsätzlich behandeln, steigt stetig und dürfte inzwischen sicher bei weit über der Hälfte aller Praktizierenden liegen. Die allermeisten nehmen aber nur ein bis drei Betroffene an, und diese sind oftmals genau ausgesucht. Als Grund wird die stark herausfordernde Arbeit genannt, die vor allem die hohe Suizidgefährdungsrate mit einschließt, aber auch die besonderen Beziehungsprobleme.

Die Versorgung muss deshalb immer noch als schlecht gelten, besonders für „schwere Fälle“. Hierzu rechnen weniger die Klienten mit schweren Borderline-Symptomen, sondern die mit bestimmten Komorbiditäten (s. hierzu auch Kapitel 7). Wenn zusätzlich eine Zwangsstörung besteht oder ein Suchtproblem, ist es fast unmöglich, einen ambulanten Therapeuten zu finden, der sich dieses Klienten annimmt.

Aus eigener Erfahrung kann der Autor sagen, dass die Behandlung von Borderline eine Lebensaufgabe ist, die den Ehrgeiz, sich mit besonderen Problemstellungen auseinandersetzen zu wollen, erfordert. Auch der große Respekt für das mühselige Ringen der Betroffenen um Verbesserung und Entwicklung von mehr Lebensqualität sollte Grund genug sein, seine professionelle Unterstützung anzubieten.

2.2 Historische Aspekte

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung wurde schon vor fast 100 Jahren in Einzelfällen beschrieben. Eine klare Zuordnung in die damals in Entwicklung begriffene Krankheitssystematik gelang nicht, d. h., das Störungsbild konnte vor allem weder den Neurosen (damaliger Begriff für leichtgradige psychische Störungen, die durch einen sogenannten neurotischen inneren Konflikt verursacht werden) noch den Psychosen (schwere psychische Störungen mit zeitweiligem weitgehendem Verlust des Realitätsbezugs) zugeordnet werden. Letztlich behalf man sich damit, dass man die Störung in einen Grenzbereich verwies, auf eine Art Grenzlinie zwischen anderen Störungen, sodass sich dann der Begriff Grenzlinien-Syndrom durchsetzte – borderline syndrome im Englischen. Vereinzelte Fallstudien, Definitionsversuche über Kriterien (Gunderson, 1978) und vor allem die gründlichen Forschungsarbeiten von Otto Kernberg führten zu einer klaren Beschreibung der Störungsanteile und der störungstypischen Verhaltensweisen.

Es wurde dann versucht, sie gegenüber anderen Diagnosen wissenschaftlich abzugrenzen, vor allem gegenüber der schizotypen Störung, was weitgehend gelang (u. a. durch Spitzer & Endicott, 1979), sodass 1980 die Diagnose offiziell eingeführt werden konnte. Dies geschah erstmalig in der amerikanischen Klassifikation der psychischen Störungen, dem DSM-III (Diagnostic and Statistical Manual) als borderline personality disorder.

DSM-5: Klassifika­tionssystem in der Psychiatrie, das von der American Psychiatric Association herausgegeben wird, um psychiatrische Diagnosen reprodu­zierbar und statistisch verwertbar zu machen.

Das DSM wurde weiterentwickelt und führte im Jahre 1997 zur Einführung der Diagnose „Emotional-instabile Persönlichkeitsstörung“ in die Klassifikation der WHO, der ICD-10 (International Classification of Diseases). Die dort beschriebenen diagnostischen Kriterien gelten weltweit, entsprachen den Kriterien des DSM-IV von 1996 und des 2015 (in Deutschland) herausgegebenen DSM-5. Bis heute wurden sie kaum noch verändert.

Fünf von neun Kriterien müssen erfüllt sein, damit eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert werden kann (vgl. Kasten).

Borderline-Persönlichkeitsstörung – Diagnostische Kriterien – F60.3

Ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter, und das Muster zeigt sich in verschiedenen Situationen. Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:

  1. Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. (Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind.)
  2. Ein Muster instabiler und intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.
  3. Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung.
  4. Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen (Geldausgaben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, „Essanfälle“). (Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind.)
  5. Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten.
  6. Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z. B. hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern).
  7. Chronische Gefühle von Leere.
  8. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren (z. B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen).
  9. Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome.

(Aus: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5® in der deutschen Fassung von Falkai und Wittchen, mitherausgegeben von Döpfner, Gaebel, Maier, Rief, Saß und Zaudig (2015). Hogrefe Verlag, Göttingen.)

Rechnerisch ergeben sich durch diese Konstruktion 256 Kombinationsmöglichkeiten, was deutlich macht, dass es sich um ein vielfältiges Symptomgeschehen handelt. Hinzu kommen die häufigen Überschneidungen mit anderen Persönlichkeitsstörungen, z. B. der dependenten oder der narzisstischen, sowie den Symptomstörungen, z. B. Angst- oder Essstörungen, und der Ausprägungsgrad der einzelnen Kriterien.

Es wird somit klar, dass es sich um ein sehr komplexes klinisches Bild handelt und die Diagnosestellung manchmal schwerfällt. Letzteres trifft besonders zu, wenn sich die emotionale Instabilität hinter einem andern Problem „versteckt“, wie es z. B. für Menschen mit Zwängen oder Süchten gilt.

Hinsichtlich der Häufigkeit der Störung, der sogenannten Prävalenz, gibt es einige methodisch gute Untersuchungen, die trotzdem zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.

In zwei europäischen Studien lag diese Prävalenz bei 0,7 Prozent, in fünf amerikanischen bei 0,5–5,9 Prozent (Übersicht bei Zanarini & Hörz, 2011).

Das DSM-5 (2015) führt aus, dass der Median, also der statistische Mittelwert der Prävalenz, bei 1,6 Prozent geschätzt wird. Der Anteil der Borderline-Betroffenen wird bei ambulanten psychiatrischen Patienten bei 10 Prozent, bei stationären bei 20 Prozent gesehen.

Zum Langzeitverlauf nennen Zanarini und Hörz (2011) Zahlen, die ein deutlich positiveres Bild erkennen lassen, als lange Zeit gedacht wurde: Bei 88 Prozent der Betroffenen sind die Kriterien (s. o.) nach zehn Jahren – für viele auch deutlich früher – für das Stellen der Diagnose nicht mehr erfüllt. Da aber manche weiterhin Bestand haben und einige Symptome bestehen, ist derzeit in intensiver Diskussion, was diese Ergebnisse hinsichtlich einer möglichen „Gesundung“ genau bedeuten. Hier wird es darauf ankommen, diese „Gesundung“ genauer zu definieren. Dieser Prozess ist bereits angestoßen. Wenn nur manche Kriterien noch erfüllt sind, kann das aber auch bedeuten, dass der Betroffene trotzdem beschwerdefrei ist, weil ihn die „Rest“-Störung nicht beeinträchtigt.

2.3 Aspekte der Neurobiologie

Sehr früh wurde davon ausgegangen, dass die Störung der Emotionsregulation sich auch in neurobiologischen Befunden zeigen muss, da die Regulation der Emotionen sich ja in den Mechanismen der Neurophysiologie vollzieht. Da dies kein medizinisches Lehrbuch sein soll, wird für die Grundlagen auf weiterführende Literatur verwiesen (z. B. Goldenberg et al., 2014; Berking, 2010; Holodynski, 2012; LeDoux, 2001).

Es sei aber darauf hingewiesen, dass einige neurobiologische Funktionen bei Vorliegen einer Borderline-Störung abweichend ablaufen. Dies ist keinesfalls als Ursache zu verstehen, sondern als ein zeitgleicher Vorgang der psychopathologischen Auffälligkeiten und der neurobiologischen Abweichungen. Diese Abweichungen betreffen die Funktionen in den Zentren der Gefühlsregulation, zeigen sich aber auch in Veränderungen der neurovegetativen Reaktionen, d. h. des vegetativen Nervensystems und dessen Regulation.

Berichte zu Veränderungen der Gehirnstrukturen selbst waren bisher nicht eindeutig; zum Teil gab es gegensätzliche Befunde, sodass zum jetzigen Zeitpunkt keine verbindliche Aussage möglich ist.

Festzuhalten ist, dass psychologisch gestörte Abläufe der Gefühlsregulation bestehen, die sich durch psychische Symptome und Verhaltensauffälligkeiten bemerkbar machen. Zeitgleich bestehen in den für die Gefühlsregulation zuständigen Strukturen des Gehirns Abweichungen der Funktionen. Hier sind vorrangig die Mandelkerne zu nennen, die bei Borderline stärker reagieren und für Erregungsanstieg, emotional wie physiologisch, sorgen, aber auch die kontrollierenden und steuernden Funktionen des Großhirns dämpfen können.

2.4 Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung

Zu diesem Thema gibt es eine sehr große Anzahl an psychologischer und psychiatrischer Literatur, die in den kommenden Jahren sicher noch weiter ausgebaut werden wird. Grund dafür ist, dass sich die klassische, vorrangig biologische Psychiatrie mit Persönlichkeitsentwicklung lange Zeit wenig befasst hat. Durch die in Abschnitt 2.3 beschriebenen Auffälligkeiten traten jedoch interessante Zusammenhänge zutage und weckten das Interesse auch der neurobiologisch orientierten Psychiater.

Die Literatur von psychoanalytischer und tiefenpsychologischer Seite zum Thema Persönlichkeitsentwicklung und deren mögliche Besonderheiten ist kaum zu überblicken, da es für viele Forscher und Autoren oft eine zentrale Aufgabe war, hierzu differenzierte Vorstellungen, Modelle und Hypothesen zu entwickeln. Eine einheitliche Meinungsbildung besteht zwischen den verschiedenen psychoanalytischen Ansätzen nicht.

Auch auf dem Gebiet der vor allem universitär geprägten psychologischen Grundlagenforschung gibt es beim Thema Persönlichkeitsentwicklung keine eindeutige Meinung. Für Interessierte wird deshalb auf grundlegende Lehrbücher der Entwicklungspsychologie verwiesen, z. B. das von Schneider & Lindenberger (2012; vormals Oerter & Montada).

Einig sind sich alle, dass die Persönlichkeitsentwicklung jedes einzelnen Menschen beeinflusst wird durch die genetisch bedingten Anlagen einerseits und die Lebenserfahrungen andererseits.

Für den trialogischen Blick ist es entscheidend, für den Einzelfall sehr genau herauszuarbeiten, wie die Entwicklung verlaufen ist, also welche Anteile die Betroffenen „mitgebracht“ haben, welchen Einfluss Angehörige auf die Entwicklung hatten und wie die Wechselwirkung zwischen Betroffenen und Angehörigen weiterverlaufen ist. Nicht selten spielen auch Fachleute in dieser Wechselwirkung eine Rolle: etwa der schon früh von Eltern einbezogene Kinderarzt, der das „schwierige“ Kind „korrigieren“ soll, über bei Krisen hinzugezogene (Not-)Ärzte oder Sozialarbeiter bis hin zu – als Elternersatz – fungierende Pädagogen oder Kinder-Therapeuten, die neben dem pädagogischen / therapeutischen Einfluss auch die trialogischen Wechselwirkungen dann hoffentlich bewusst steuern.

Für den jeweiligen Einzelfall bedeutet dies, Prozesse, bei denen auch das Erfahrungswissen der Fachleute erforderlich ist, stets gründlich zu analysieren. Im trialogischen Sinne ist dies ein sehr lohnendes Unterfangen.

Im Weiteren sollen nun einige grundlegende Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung diskutiert werden, immer mit dem Hinweis darauf, dass sie die unter Umständen mühsame, aber lohnenswerte Einzelfallanalyse nicht ersetzen können.

2.4.1 Bindungserfahrung

Stabile Bindungserfahrungen sind für die Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit wesentlich. Im Entwicklungsprozess gibt es entscheidende entwicklungspsychologische Aufgaben wie z. B. das Erlernen von Objektkonstanz, d. h. der Fähigkeit, ein Objekt psychischen Erlebens konstant zu halten, auch wenn dieses Objekt, z. B. die Mutter, nicht physisch anwesend ist. Diese grundlegende entwicklungspsychologische Aufgabe ist bei Borderline-Betroffenen oftmals nicht bewältigt worden.

Bindungserfahrungen sind auch für die Bewältigung von unangenehmen Gefühlen, wie z. B. Trauer und Schmerz, entscheidend. Über die Bindung wird Trost gespendet, aber auch Orientierung in der jeweiligen Krise geboten und modellhaft Gefühlsbewältigung vorgelebt.

Bindungserfahrungen bestimmen auch sehr stark die Entwicklung der Gefühle, die für das Beginnen und Aufrechterhalten von späteren Beziehungen entscheidend sind, also Zuneigung, Liebe, Vertrauen, Geborgenheit, Verbindlichkeit und anderes. Darüber hinaus sind die Bindungserfahrungen zentral für die Ausbildung von grundlegenden Verhaltensmustern in der Beziehungsgestaltung.

Nicht zuletzt sind Bindungserfahrungen wesentlich für die Entwicklung von Selbstbild und Identität. Borderline-Betroffene haben oft instabile Bindungserfahrungen erleben müssen: Wichtige primäre Bezugspersonen wie die Eltern waren z. B. nicht präsent – emotional oder auch physisch – oder verhielten sich willkürlich zu reglementierend oder grenzüberschreitend. Aufgrund eigener Probleme verhielten sie sich evtl. nicht wie verantwortungsvolle Erwachsene. In diesem Sinne können im Einzelfall so gut wie immer Entwicklungsbeeinflussungen eruiert werden, die auf das Bindungsverhalten Auswirkungen hatten. Eindeutige übergreifende Erklärungsmuster finden sich aber nicht.

Bindungstheorie: Unter anderem vom britischen Kinderpsychiater John Bowlby entwickelte Theorie, nach der Menschen ein angeborenes Bedürfnis haben, enge und emotionale Beziehungen zu Mitmenschen aufzubauen. Vier Bindungsqualitäten werden bei Kindern unterschieden: sichere, unsicher-vermeidende, unsicher-ambivalente und die desorganisierte Bindung.

Oft resultieren der unsicher-ambivalente oder der desorganisierte Bindungstyp gemäß der Bindungstheorie von Bowlby, der zuletzt wieder stärker ins Forschungsinteresse geraten ist (zu Bowlby s. Holmes, 2002).

Auch die Objektsbeziehungstheorien der Psychoanalyse, vorrangig von Kernberg (1992), und die Invalidierungshypothese der DBT (Linehan, 1996) widmen sich diesen Prozessen. In jüngerer Zeit hat auch die Schematherapie (Arntz, 2010) hierzu Hypothesen entwickelt.

Die sich aus den instabilen Bindungserfahrungen ergebende Instabilität der Gefühle, der Identität und der Beziehungsgestaltung als Kern der Störung ist also nicht überraschend.

Für Angehörige ist dieser Punkt auch im Trialog natürlich enorm wichtig, da sie an den Bindungserfahrungen stark beteiligt waren und diese geprägt haben. Auch hier kommt es auf die Einzelfallanalyse an und – wenn möglich – auf eine gemeinsame Bearbeitung der gegenseitigen Bindungserfahrungen im Rahmen einer Therapie oder eines trialogischen Gesprächs.

Der für Angehörige oft sehr belastende Aspekt der Schuldfrage wird später aufgegriffen und diskutiert (s. Abschn. 2.4.9).

2.4.2 Identitätsbildung

Wie gerade schon ausgeführt, ist die Identitätsbildung abhängig von Bindungs- und Beziehungserfahrungen. Alle Menschen beschäftigen die Fragen „Wer bin ich?“, „Wie bin ich?“, „Wie will ich sein?“, „Wo führt mein Weg hin?“, und es ist letztlich ein lebenslanger Prozess, Antworten auf diese Fragen zu finden, ein Prozess, dessen Anfänge in frühen Erlebnissen wurzeln und durch spätere Erfahrungen weitergeführt oder auch umgestaltet werden können. Identität ist somit nie eine statische Größe, aber der wesentliche Strang jeder Persönlichkeitsentwicklung. Grundlegend bei diesem Prozess sind die Wechselwirkungen der Identität mit ihrer Umwelt und die hieraus resultierenden Erfahrungen. Daraus werden die zentralen Anteile eines Selbstbilds geformt, das vom Fremdbild, d. h. wie die anderen einen sehen, nicht wesentlich abweichen sollte.

2.4.3 Validierung und Invalidierung

Für Entstehung und Behandlung der Borderline-Störung ist die Validierung sehr wichtig. Dieser Begriff stammt aus der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) und beschreibt eine psychotherapeutische Strategie und dazugehörige Techniken. Darauf wird in Kapitel 8.1.3 noch ausführlich eingegangen.

Der Begriff Validierung wird in vielen Lebenszusammenhängen verwendet und stammt vom lateinischen Wort „validus“ ( = stark, wirksam, gesund) ab, welches sich wiederum von dem lateinischen Verb „valere“ ableitet und „gesund sein“, „stark sein“, „kräftig sein“ bedeutet. Es bedeutet aber auch „wert sein“, „Bedeutung haben“, „gültig sein“, „Einfluss haben“. Vor allem in dieser zweiten Bedeutung wird der hohe psychologische Wert der Validierung deutlich.

Mit dem Begriff Validierung ist ein subjektiver Vorgang gemeint, bei dem ein Mensch sein psychisches Erleben mit Gefühlen, Gedanken, Verhaltensweisen und sogar Körperreaktionen als gültig erlebt, als passend, stimmig, angemessen und letztlich auch „wert-voll“. Dies verleiht dem psychischen Erleben Stabilität und wird als Selbstvalidierung lebenslang praktiziert.

Diese für seelische Gesundheit notwendige Selbstregulation muss durch Validierungserfahrungen gelernt werden, etwa indem sich die spontane Freude eines Kindes in der Mimik und dem Verhalten der Bezugsperson abbildet, z. B. durch die Mutter, die lächelt, strahlt, lobt usw. Auch eine Trauerreaktion als entgegengesetztes Beispiel wird validiert durch die Reaktion der Bezugsperson, die auch Trauer zeigt, sich dem Kind zuwendet und es tröstet.

Borderline-Betroffene haben in der Regel zu wenige solcher Erfahrungen gemacht oder problematische. Problematisch meint, dass falsche Validierung erfolgte, also Verhaltensweisen validiert wurden, die gar nicht angemessen waren, sich aber dadurch im Verhalten „festgesetzt“ haben. Ein typisches und häufiges Beispiel ist das Verstecken oder Überspielen von Trauer durch bestimmte Verhaltensweisen wie z. B. Herumalbern oder Selbstdisziplin. Dieses Verhaltensmuster wurde sich angeeignet, weil hierauf Zuwendung durch die Bezugspersonen erfolgte, nicht aber auf die tatsächlich empfundene Traurigkeit.

Theory of Mind: Fähigkeit, eine Annahme über Bewusstseinsvorgänge in anderen Personen vorzunehmen und diese in der eigenen Person zu erkennen, also Gefühle, Bedürfnisse, Absichten etc. des Gegenübers zu vermuten.

Die Validierungserfahrungen erfolgen zumindest zu Beginn der Entwicklung durch Rückmeldungen von außen. Hier sind vor allem die primären Bezugspersonen wichtig, später aber auch Erzieher, Lehrer und die Peergroups, d. h. die altersgemäßen Bezugsgruppen.

Spiegelneurone:
Nervenzellen, die im Gehirn von Primaten beim Betrachten eines Vorgangs das gleiche Aktivitätsmuster zeigen wie bei der tatsächlichen ­Ausführung.

Innerpsychisch sind an diesem Prozess viele Phänomene beteiligt, die zum Teil erst in den letzten Jahren erkannt und erforscht wurden, so zum Beispiel die sogenannte Theory of Mind, die Spiegelneurone, das Mentalisieren (vgl. auch Abschn. 8.3.3), aber auch schon lange bekannte lernpsychologische Phänomene wie Lernen am Modell oder das sogenannte Shaping, das Ausformen eines gewünschten Verhaltens.

Shaping: bezeichnet in der Lernpsychologie den Vorgang, bei dem jede Annäherung an gewünschte Verhaltensweisen (mittels Belohnung) verstärkt wird.

Zusammengefasst ist also wichtig zu wissen, dass für eine stabile seelische Entwicklung ein über viele Jahre hinweg laufender Prozess der Validierung erforderlich ist bzw. die Grundlage für eine mögliche stabile Entwicklung darstellt. Die für die Entwicklung einer Borderline-Störung wesentlichen Invalidierungserfahrungen und ihre Auswirkungen auf das seelische Gefüge und Handeln müssen in der Therapie bearbeitet werden.

2.4.4 Selbstwertregulation

Menschen mit einer Borderline-Störung haben neben ihren grundlegenden Problemen mit der Gefühlsregulation und den Beziehungen auch beträchtliche Probleme mit der Identitätsbildung und der Selbstwertregulation. Dies wurde zu Beginn in der DBT nicht ganz so stark bewertet wie etwa die Bemühung um Verbesserung der Anspannungs- und Interaktionsprobleme. Nach den Erfolgen der heute breiter eingesetzten Therapieverfahren konnten die Schwerpunkte der therapeutischen Aktivitäten weiterentwickelt werden und die Selbstwertproblematik rückte stärker ins therapeutische Interesse.

Das Selbstwertproblem bedeutet für Betroffene, dass sie sich als weitgehend „unwert“, als nicht wertvoll erleben. Dies kann sich als Selbstinvalidierung mit fast beständiger Unsicherheit bezüglich der eigenen Gefühle, Reaktionen, Denkweisen und Entscheidungen äußern.

Betroffene erleben sich selbst im Vergleich zu anderen Mitgliedern der Peergroup schon sehr früh als „anders“. Vor allem in der Schule ist dies der Fall. Sie spüren sehr eindrücklich, dass sie Probleme haben, die andere offensichtlich nicht haben, und empfinden sich deshalb als fremd, abweichend und nicht zugehörig. Viele Betroffene sprechen deshalb auch davon, dass sie sich wie ein „Alien“ fühlen.

Dieses Fremdheitsgefühl ist für sich alleine genommen schon äußerst unangenehm und sehr belastend für die Betroffenen. In der Regel kommt noch eine starke Tendenz hinzu, sich für dieses Fremdsein-Gefühl zusätzlich abzuwerten. Sie vergleichen sich mit anderen und machen sehr schnell und übergreifend die Erfahrung, dass die Verhaltensweisen der anderen „gehäuft“ auftreten, dass diese deshalb wohl richtig sind und gelten und deshalb auch wertvoll sind. Die eigenen Verhaltensweisen werden dann zwangsläufig abgewertet.

Die Grundlagenforschung (v. a. Wilkinson-Ryan & Westen, 2000) hat ergeben, dass die Identitätsproblematik sowie die Schwierigkeiten der Selbstwertregulation bei Borderline-Betroffenen hauptsächlich drei Formen annehmen können, die nachstehend ausgeführt werden sollen:

1. Funktionszustände