Cover

Über dieses Buch

Wie schafft es eine ehrgeizige Mittelstandsgattin aus einer nicht ganz so schicken Vorstadt in die High Society von Rio de Janeiro? Was tut ein karriereversessener Bankangestellter, wenn er eines Morgens ein Aktfoto seiner Frau auf dem Titelbild einer Regenbogengazette entdeckt? Wo ist der umschwärmte französische Fotograf mit den blauen Augen? Warum scheitert der Putsch des Generals Gouvêa? Welche Rolle spielt die terroristische »Organisation Anarchistischer Bankangestellter«?

Den skandalumwitterten Aufstieg der gutbürgerlichen Hausfrau Dionisia zur »Amazone«, der Präsidentschaftskandidatin der Alternativen Partei, erzählt diese pralle Parodie auf die brasilianischen Telenovelas. Macht, Korruption und Gewalt, Leidenschaft, Sex & Crime – der literarische Jongleur Sérgio Sant’Anna mixt daraus einen gepfefferten Cocktail. Mit seinem guten Instinkt für Dosierung (immer gerade ein bisschen zu viel) kitzelt er die in uns allen schlummernde Lust am Trivialen hervor und veredelt die Kolportage zum verbotenen Leckerbissen.

»Eine gelungene Parodie, die auf sämtliche politischen Systeme passt. Und ein Highlight für alle, die Spaß haben an Biss, Bösartigkeit und einer Geschmacklosigkeit, gegen die unsere Denver- und Dallas-Szenarios harmlos wirken wie Vorschulspiele in einem Nonnenkloster.« (Sender Freies Berlin)

Der Autor

Sérgio Sant’Anna, geboren 1941 in Rio de Janeiro, ist Autor von mehreren Romanen, Erzählbänden, Theaterstücken und Geschichten. Seine Schriftstellerkarriere begann in den sechziger Jahren mit der Gründung einer (später von der Militärdiktatur verbotenen) Zeitschrift für experimentelle Literatur; in den siebziger Jahren zählte er zur literarischen Avantgarde Brasiliens, die das Formexperiment mit dem revolutionären Engagement zu verbinden suchte. Sant’Anna war lange Dozent für Kommunikationswissenschaft an der Universität von Rio de Janeiro. Für seine Werke erhielt er mehrere brasilianische Literaturpreise, darunter 1986 den Prêmio Jabuti für »Amazone«.

Der Übersetzer

Frank Heibert, geb. 1960, übersetzt vor allem aus dem Englischen und Französischen, u. a. Don DeLillo, Richard Ford, Lorrie Moore, Tobias Wolff, Neil Labute und, zusammen mit Hinrich Schmidt-Henkel, Yasmina Reza. 2006 erschien sein erster Roman »Kombizangen«. 2012 erhielt er den Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis für sein Gesamtwerk.

Sérgio Sant’Anna
Amazone

Roman

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Frank Heibert

Edition diá

Inhalt

Teil I

1. Party im Hause des Bankiers
2. Liebelei
3. Eheliche Liebe
4. Wie man einen Komplex loswird
5. Eine Frau wird geboren oder Im Studio des Fotografen mit den blauen Augen
6. Eine Illustrierte
7. Ghost-thinker
8. Amazone
9. Ehemann in der Krise
10. Stellungen
11. Die Illustrierte Flagranti
12. Die Illustrierte Flash
13. In der Leitung
14. Gaunerliebe
15. Historisches
16. Der Same geht auf
17. Eros und Thanatos
18. Die Organisation
19. Noch ein ausgehungerter, schutzloser Mann
20. Überfahrt
21. Frauen
22. Gott
23. Billig-Metaphysik
24. Leben
25. Rio de Janeiro by night

Teil II

26. Klärungen
27. Gespräche
28. Weitere Klärungen
29. Was den Franzosen betrifft
30. Die Andere
31. (Intermezzo: Eine Katze)
32. Die Justiz kommt zu spät und irrt
33. Die hierarchischen Kanäle der Macht
34. Draußen im Lande
35. Das Elend mit der Macht
36. Schmerz … und Lust!
37. Eine Flut von Schmutz
38. Pressekonferenz
39. Der Tote hatte blaue Augen
40. Bankierstochter vom eigenen Vater entführt
41. Geht es am Gerichtsmedizinischen Institut mit rechten Dingen zu?
42. Noch etwas Billig-Metapyhsik
43. Staatspräsidenten, Teil I
44. Staatspräsidenten, Teil II
45. Der Putsch des Generals Gouvêa
46. Tod einer Figur
47. Am Gerichtsmedizinischen Institut geht es mit rechten Dingen zu
48. Schicksale
49. Die Amazone

Impressum

Teil I

1.
Party im Hause des Bankiers

Ihr Mann stand in der Runde des Vorstandsvorsitzenden und schwafelte, den Mund voller Kroketten, unablässig weiter. Der Vorstandsvorsitzende war die höchste der anwesenden Autoritäten und hatte sich strategisch unter den Kronleuchter des Salons postiert. Über dem Vorstandsvorsitzenden schwebte ein Heiligenschein, als wäre er im Fernsehen. »Übrigens, Delfim …«, setzte ihr Mann gerade an, als Dionisia sich gelangweilt entfernte.

Gedankenverloren griff sie nach einem Glas Champagner, blieb einen Augenblick allein mitten im Salon stehen und genoss ihre Verfügbarkeit. Dann beschloss sie, sich der Runde um den Fotografen mit den blauen Augen anzuschließen. Der Fotograf mit den blauen Augen war überaus gefragt, fast so gefragt wie der Vorstandsvorsitzende. Nur dass in seiner Runde die Frauen vorherrschten.

»Es hängt nicht einfach von einem schönen Gesicht oder einem schönen Körper ab«, sagte der Fotograf mit den blauen Augen in seinem Akzent, »sondern vielmehr von einem Leuchten, das die Frau genau in dem Augenblick in ihrem Innern entfacht, wo das Foto gemacht wird. Aber das merkt man erst richtig beim Entwickeln. Als würde das Foto eine innere Wirklichkeit des Modells bannen.«

In diesem Augenblick hatte der Champagner in Dionisias Hirn eingeschlagen, und sie war sich ganz sicher, dass sie genau dieses Leuchten in sich trug. Der Fotograf mit den blauen Augen fing das Signal auf und musterte sie von Kopf bis Fuß, als zöge er sie aus.

Dionisia erschauerte vor Lust, was aber gleich darauf von einem Gefühl des Abscheus verdrängt wurde. Denn eine gewisse Schweißhand griff von hinten besitzerisch um ihre nackten Schultern. Und ein Gedanke, der seit Langem über Dionisias Kopf geschwebt hatte, ohne sich einzunisten, traf sie mit voller Wucht, wie ein Backstein: »Ich kann meinen Mann nicht ausstehen und bin ganz verrückt danach, mit einem anderen ins Bett zu gehen.« Das Bild des anderen nahm ganz von allein Gestalt an: der Fotograf mit den blauen Augen.

»Komm mal eben, ich möchte dir Dr. Ribeiro vorstellen«, sagte ihr Mann. »Dr. Ribeiro ist unser Direktor. Dr. Ribeiro, meine Gattin.«

Im Nu hatten die Augen von Dr. Ribeiro, so schien es, die Gestalt eines Periskops angenommen, das sich in Dionisias Dekolleté versenkte. Dieses Kleid hatte ihr Mann höchstpersönlich ausgesucht: Es war schwarz, bauschig und saß weit genug, dass Dr. Ribeiro, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, gerade noch die rosigen kleinen Knospen von Dionisias Brüsten erspähen konnte.

»Angenehm«, sagte sie: »Dionisia.«

Ihrem Mann gefror das Lächeln auf den Lippen, und er wurde bleich. Schon mehrfach hatte er sie inständig gebeten, sie möge ihren wahren Namen nicht in der Öffentlichkeit sagen. Er fand, dass er neureich klang, nach Vorstadt. Und wenn man außerdem bedachte, dass sie immer noch in Niterói wohnten, konnte schließlich ein Eindruck entstehen, der für seine Karriere in der Bank gar nicht vorteilhaft war. Bis vor Kurzem war Moreira bloß ein kleiner Filialleiter gewesen, und er hatte sich sogar einen Namen für Dionisia ausgedacht, eine Ableitung: Diana. Den fand er hübsch, zärtlich, ja, sogar elegant. »Diana, Göttin der Jagd«, so nannte er sie manchmal, wenn er besonders scharf auf sie war.

»Diana heißt doch auch die Braut vom Phantom«, meinte Dionisia einmal im Bett. Ihr Mann war sofort abgeschlafft, und sie musste sich ausgiebiger Liebkosungen befleißigen, bis er wieder stand. Ihr Mann war ein extrem sensibler Typ.

Dionisia ihrerseits hasste es, als »meine Gattin« vorgestellt zu werden. Das fand sie lächerlich, vorgestrig, steif, possessiv, auch wenn ihr Mann ihr erklärt hatte, dass Männer bei formellen Anlässen ihre Frauen nun einmal so nannten.

Aber heute war Dionisia viel zu sauer, um darauf Rücksicht zu nehmen, denn ihr Mann hatte genau in dem Augenblick dazwischengefunkt, als sie und der Fotograf mit den blauen Augen gerade auf der gleichen Wellenlänge waren. Vom weiblichen Standpunkt aus betrachtet war der Fotograf mit den blauen Augen – dort in seiner Ecke, mit seinem zynischen Lächeln, wie er sich hofieren ließ – eine wesentlich beeindruckendere Gestalt als Dr. Ribeiro, beeindruckender sogar als der Vorstandsvorsitzende.

Ihr Mann fasste sich erst wieder, als Dr. Ribeiro sagte: »Eine schöne Frau, Ihre Gattin. Sie sind vielleicht ein Glückspilz.« Er platzierte eine Hand auf Moreiras Schulter, die andere auf Dionisias, wobei er ihre samtene Haut leicht tätschelte. Dr. Ribeiro war in der Bank als alter Lustmolch verschrien, und die besonders verklemmten unter den subalternen Angestellten pflegten die Frage zu erörtern, ob bei Dr. Ribeiro nun tote Hose war oder nicht.

Inzwischen schaute sich ihr Mann das Ganze mit wohlgefälligem Blick an, aber das war es gar nicht, was Dionisias Hass schürte, die gewohnt war, Zugeständnisse machen zu müssen, wie wir alle, wenn wir im Leben vorwärtskommen wollen. Ihr Mann zum Beispiel sagte immer, er habe sich durchs Leben geboxt. Und die Art und Weise, wie er sich jetzt gerade auf einen Kellner mit einem Tablett voller Kroketten zubewegte, zeugte auch davon: Als Junge hatte er zwar nicht gerade Hunger gelitten, aber doch bei Tisch immer mit seinen Brüdern um das Stück Fleisch kämpfen müssen, das am wenigsten ledrig war. In der Gruppentherapie, an der ihr Mann gelegentlich teilnahm, war schon herausgefunden worden, dass sein Trieb im psychoanalytischen Sinne sich darauf richtete, jenes ledrige Stück Fleisch so weit wie möglich hinter sich zu lassen. Und die delikate Krabbenkrokette, die Francisco Moreira in diesem Augenblick verspeiste, bewies, dass er auf dem richtigen Weg war, falls er nicht durch Übereifer alles aufs Spiel setzte.

Ein Übereifer, wie er sich beispielsweise in der hastigen Bewegung äußerte, mit der Moreira die Hand nach dem einzigen Glas Whisky, das auf einem Tablett vorbeikam, ausstreckte, nur damit ihm ein anderer Herr um Sekundenbruchteile zuvorkam. Da geschah es, dass Dionisia eine zweite Erleuchtung kam, die ihren Hass nur noch steigerte: Sie hatte nichts gegen das Geld, das ihr Mann verdiente, aber sie fand die Art und Weise, wie er es verdiente, ziemlich widerlich.

»Entschuldige mich, ich muss mal Pipi«, sagte Dionisia zu einem Gatten, der sein Whiskyglas nur deshalb nicht fallen ließ, weil er keins hatte in seiner leeren Hand, die in der Luft stak, als wäre ihr etwas entgangen …

Dionisia entfernte sich, und auf halbem Wege drückte ihr jemand noch ein Glas Champagner in die Hand, das sie jetzt mit einer Geste trank, die sich in dem verspiegelten Badezimmer vervielfachte. Dionisia kam sich vor, als lebte sie in einer Zauberwelt voller Spiegel, wo die Leute puren Champagner pissten. Und als sie schon auf dem Bidet saß, erhob sie das Glas und prostete sich selbst zu.

In genau diesem Augenblick drückte jemand die Klinke der Tür, die nicht verschlossen war, und überraschte sie in dieser Haltung, mit hochgerecktem Glas.

»Prost«, sagte der Fotograf mit den blauen Augen und erhob sein eigenes Glas. Und bevor die überraschte Dionisia irgendwie reagieren konnte, machte er die Tür wieder zu, nachdem er noch einen draufgesetzt hatte: »Das ist das Foto meiner Träume. Eine Frau in einem Luxusbadezimmer, mit hochgezogenem Kleid auf dem Bidet. Im Spiel der Spiegel würde sie zu hundert Frauen, eingefangen unter hundert verschiedenen Blickwinkeln. Und ich würde sie Amazone taufen.«

Dionisia kam aus dem Bad heraus und näherte sich der Menschenmenge, die sich aufgeregt um den Tisch drängte, auf dem, noch bedeckt mit einer Serviette, eine riesige Torte thronte. Der Bankier hatte schon seinen Platz eingenommen, mitten vor der Torte, rechts daneben stand der Vorstandsvorsitzende. Dionisias Mann war es gelungen, sich strategisch zu seiner Linken zu platzieren.

Und ihr Mann war es auch, der die Serviette lüftete, als enthüllte er eine Gedenktafel. Ein hingerissenes »Oh« erscholl einstimmig aus aller Munde. Die Torte war eine detailgetreue Reproduktion des Hauptsitzes der Bank, und obendrauf war sie mit dreißig Kurzen verziert. Tatsächlich nicht mit Kerzen, sondern wirklich mit Kurzen, genauer gesagt mit alten Mütterchen, die wie Hexen auf Besenstielen ritten, eine handwerklich hübsche Arbeit. Einige erkannten in diesen Mütterchen sogar die Gesichtszüge der Frau des Bankiers, die recht klein geraten und schon ziemlich tatterig war und von den zuvor bereits erwähnten verklemmten Subalternen als »Die Hexe« oder auch »Die Kurze« apostrophiert wurde. Möglicherweise war diese hier zur Schau gestellte handwerkliche Arbeit bloßem Zufall, einem Überschuss an schöpferischem Eifer seitens der Konditoren zu verdanken. Man hätte, vielleicht nicht ganz frei von Paranoia, aber genauso gut die Handschrift der OAB (Organisation der Anarchistischen Bankangestellten) darin erkennen können, welche sich solchen kleinen, geschmacklosen Racheaktionen verschrieben hatte und auf diese Weise einen psychologischen Feldzug gegen die Chefetage führte, wovon später noch die Rede sein wird.

Von Interesse ist im Augenblick nur, dass Dionisias Mann mit unglaublicher Geistesgegenwart, wie sie den Ehrgeizlingen eigen ist, das Licht zu löschen befahl und »Happy Birthday to You« anstimmte. Sodann machte er sich daran, mit dem Feuerzeug die Kurzen anzuzünden, wobei er bei jeder einzelnen so lange verweilte, bis die Flamme das Wachs schmelzen ließ und das Missverständnis rasch aus der Welt schaffte, ganz wie sich schlechte Träume verflüchtigen, um uns wieder in die heimelige Wirklichkeit eines vertrauten Zimmers zu entlassen, jedenfalls, wenn wir anständige Bürger sind.

Die Festgesellschaft intonierte schon zum zweiten Mal »Happy Birthday to You«, aber Dionisia sang nicht mit. Aus sicherer Entfernung, im Schutze der Dunkelheit, beobachtete sie nur, wie ihr Mann alle anderen im Schleimen überbot. Und von Neuem gingen ihr abträgliche Gedanken in Bezug auf ihr Eheleben durch den Kopf.

Aber kaum ist ein weiterer Augenblick vergangen, da verketten sich auf erstaunliche Weise die Dinge zu einer ganz bestimmten Geschichte. Zum zweiten Mal an diesem Abend wurden die Schultern Dionisias berührt, diesmal allerdings versetzte die bloße Berührung dieser Hand, untermalt von einem gewissen Tonfall der dazugehörigen Stimme, sie in einen derart angenehmen Traum, dass die Wirklichkeit einem klebrigen Albtraum glich.

»Na, wie gefällt Ihnen diese Bankiersparty?«, fragte der Fotograf mit den blauen Augen, mit einer so neutralen Betonung, dass nur ein intelligenter Mensch eine Spur von Ironie heraushören konnte.

»Wunderbar«, antwortete Dionisia im gleichen Tonfall. »Ich finde bloß den Bankier ein bisschen ramponiert für dreißig. Das war doch eine Torte mit ungefähr dreißig Kerzen drauf, oder?«

»Mit Kurzen, meine Teure, mit Kurzen. Und nicht der Bankier, sondern die Bank hat Geburtstag.«

»Happy Birthday« war nunmehr verklungen, und der kurzatmige Bankier versuchte, mit der Unterstützung von Dionisias Mann die dreißig Kurzen auszupusten. Der Fotograf mit den blauen Augen griff nach Dionisias Hand, um dort eine Visitenkarte zu hinterlassen, auf die, wie sie später lesen würde, geprägt war: Jean, Fotograf. Und, in kleinerer Schrift, die Adresse des Studios.

Plötzlich gingen mitten im rauschenden Applaus alle Lichter wieder an, und ihr Mann konnte gerade noch die Hand des Fotografen sehen, die sich taktvoll Dionisias Hand entwand. Der Fotograf mit den blauen Augen ging zur Tochter des Bankiers hinüber, die ihrem Vater einen Kuss gab. Mit einem scharfen Blick auf Dionisia, die gerade das Kärtchen in den Ausschnitt steckte, klatschte ihr Mann immer weiter.

2.
Liebelei

Der Ehemann schaltete mitten auf der Avenida Niemeyer in den Vierten hoch. Dionisia wusste, dass es bei der schmalen Fahrbahn und den äußerst engen Kurven lebensgefährlich war, dort nicht in langsamem Tempo zu fahren. Sie hatten die Wohnung des Bankiers in der Barra da Tijuca um zwei Uhr morgens verlassen, wenn auf den Straßen der Stadt die betrunkenen Autofahrer das Sagen haben. Auch Dionisia war berauscht, allerdings von ihren jüngsten Erinnerungen.

Es war eine helle Vollmondnacht, und vom Wagen aus konnte man sehen, wie die schäumenden Wogen gegen die Felsen brandeten. Angstvoll sah sich Dionisia schon da unten liegen, wie ihr das Blut in einem dünnen Rinnsal aus der Schläfe lief. Sie sah ihren schönen, nahezu unversehrten Körper im Schein des Mondlichts glänzen: diese prachtvollen Brüste, die vollen, muskulösen Schenkel und der Flaum ihrer Schamhaare, entblößt vor der Menschenmenge, die sich oben an der Brüstung drängte, und dahinter die im Stau steckenden Autos, vom Joá-Tunnel bis zur Avenida Delfim Moreira. Und Dionisia überkam jener Schauer aus Lust und Angst, wie er sich jedes Mal einstellt, wenn wir uns in eine Situation mit Gewalt und Sex hineinfantasieren. Es war beinahe wie im Film.

Die Reifen sangen auf dem Asphalt, und ihr Mann zischte um Haaresbreite an der Mauer vorbei, so knapp, dass Dionisia ihre Hand aufs Herz presste, dessen Klopfen sie direkt unter dem Kärtchen des Fotografen mit den blauen Augen spürte. Nein, jetzt wollte sie nicht sterben.

»Der Fotograf bumst die Tochter vom Bankier«, sagte ihr Mann, als hätte er die Gedanken Dionisias erraten. Und trat noch fester aufs Gaspedal. Ihr Mann wusste, dass sie diesen Ausdruck nicht ausstehen konnte: »eine Frau bumsen«. Dadurch wurde diese zu einem bloßen Objekt, und das lassen Frauen nur unter ganz bestimmten Umständen zu.

Ihr Mann war gefährlich betrunken, und deshalb wollte sich Dionisia auf keine riskante Diskussion einlassen, nicht zu einem Zeitpunkt in ihrem Leben, da sich gewisse Möglichkeiten vor ihr auftaten.

»Mach doch das Radio an, Schatz«, bat sie, damit er herunterschalten musste. Während sie mit einer blitzschnellen Bewegung das Kärtchen in ihrer Handtasche in Sicherheit brachte.

Dionisia hatte aber auch wirklich Pech. Nicht wegen des Kärtchens, von dessen Existenz ihr Mann niemals erfuhr. Sondern wegen des Radios, aus dem in diesem Augenblick die Stimme von Gal Costa ertönte:

Wenn du das meinst, was ich meine,

denk daran, ich bin so eine,

die sagt Ja zu jedem Mann.

Ich hab nie lang nachgedacht,

und ’ne heiße Liebesnacht

macht mich erst so richtig an.

Zwar mochte ihr Mann die Stimme von Gal, aber Chico Buarque, der das Lied geschrieben hatte, konnte er nicht leiden. Denn nicht nur Dionisia, alle Frauen, die er kannte, fuhren auf Chico ab.

»Ach, diese grünen Augen, die er hat, dieses Lausbubengesicht!« Das hatte ihr Mann schon Dutzende Male von Dionisia zu hören bekommen. Und jetzt, in einer naheliegenden Assoziation, erinnerten ihn die grünen Augen von Chico an die blauen Augen des Fotografen mit den blauen Augen. Ihr Mann hatte, obwohl er nicht unansehnlich war, bloß die normalen braunen Augen des Durchschnittsbrasilianers zu bieten.

Nun hatte er grundsätzlich nichts gegen die Verführungskünste der Frauen einzuwenden, unter bestimmten Umständen nicht mal gegen einen Seitensprung; er fand bloß, dass Liebe und Sex edleren Zielen dienen sollten, zum Beispiel der Ehe, der Zeugung von Nachkommen – und den wirtschaftlichen Interessen. Eine bestimmte Art der Romantik bei Frauen fand er kindisch, da fühlte er sich unterlegen. Und wer war überhaupt dieser Fotograf mit den blauen Augen, dessen Hand sich vorhin mit Dionisias zärtlich verschränkt hatte? Da brauchte man doch nicht zweimal hinzusehen, um zu merken, dass der nichts weiter war als ein Flegel oder gar ein Gigolo. Einer von den Männern, die den Frauen mehr schaden als nützen, und demnach auch deren Ehemännern.

Und so standen die Dinge, als sie mit diesen Gedanken im Kopf, begleitet von Gal Costa, die im Radio »Liebelei« von Chico Buarque de Holanda sang, um jene berühmte Kurve der Avenida Niemeyer bogen, von der aus sich der Blick auf die ganze Bucht von Leblon und Ipanema eröffnet.

»Die Musik geht mir auf die Nerven«, sagte Dionisia diplomatisch. »Soll ich einen anderen Sender suchen?«

Der Zorn ihres Mannes war nunmehr ebenso kontrolliert wie der dritte Gang, den er endlich eingelegt hatte.

»Nein, lass ruhig«, sagte er. Der kleine Geschwindigkeitsrausch hatte ihm, wie es für den brasilianischen Mann typisch ist, ganz gutgetan. Und da sie schon an den Favelas von Rocinha und Vidigal vorbei waren, die ihn immer ein wenig unruhig machten, so wie die Armut überhaupt, konnte Moreira nunmehr ganz gelassen über die Avenida Vieira Souto dahingleiten.

Nicht nur die Frauen, auch die Männer sind launische und zwiespältige Wesen. Mitten auf der Avenida Vieira Souto, in seinem Wagen und neben ihm seine schöne Frau, gestattete er sich, die Gedanken schweifen zu lassen, zu seiner Karriere in der Bank und in eine Zukunft, in der er selbst einmal hier wohnen würde, auf den teuersten Quadratmetern der Welt, so hieß es jedenfalls.

Im Radio lief jetzt ein Lied von Roberto Carlos, und wenn Moreira in diesem Augenblick die Hand nicht auf Dionisias Schenkel legte, so lag das allein daran, dass er nicht einlenken wollte. Da kostete er lieber die möglichen Gewissensbisse seiner Frau wegen ihres Benehmens auf der Party noch ein bisschen länger aus. Die Erfahrung lehrte ihn, dass heute Nacht womöglich eine schöne und kooperative Frau zu seiner Verfügung stehen würde.

Als sie die Rodrigo-de-Freitas-Lagune hinter sich hatten, verschluckte sie plötzlich der Rebouças-Tunnel. Ohne die Hintergrundmusik – denn im Rebouças verstummen auch die Radiosender, als hätte sie die gleiche Angst ergriffen, von der die Menschen in langen, heißen und verräucherten Tunneln befallen werden – war es Dionisia, als verschlänge sie ihr eigener »Tunnel«, ihr Gewissen, das keineswegs frei von Schuld war. Und sie schmiegte sich an die Schulter ihres Mannes, wie ein ganz normales kleines Frauchen, das nach einem guten Manne verlangt, der es ernährt und beschützt.

Von dort bis Niterói geht die Fahrt nur noch über Viadukte und Schnellstraßen, vorbei an verlassenen Häuserblöcken, Skeletten von Stadtvierteln, die mittendurch geschnitten sind, und schließlich kommt man über die große Brücke. Für die Menschentiere ist das eine Art Entwurzelung, nicht nur in Bezug auf ihre Natur, sondern auf die eigene Stadt, die sie gebaut haben, um dort Schutz und Geborgenheit zu finden. Auf der großen Brücke selbst hängt man in der Schwebe zwischen zwei Städten, die man, umgeben vom Lärm der Autos, in der Ferne erkennen kann, zwischen einem startenden Flugzeug und der durchdringenden Sirene eines Frachters. Dionisia und ihr Mann waren beide in Schweigen versunken, ein wenig niedergeschlagen und verängstigt angesichts der Einsamkeit in der Welt ringsum und auch zwischen ihnen. Nur eines verband sie: der Wunsch, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Und die Geschwindigkeit, die Francisco Moreira dem Wagen abverlangte, barg eine nahezu vollkommene Sicherheit.

3.
Eheliche Liebe

Zwar bringt der Liebesakt zwischen den Menschen, wenn er ohne Liebe, Sympathie oder gar gegenseitigen Respekt vollzogen wird, einige Unannehmlichkeiten mit sich, doch bietet er auch unleugbare Vorteile. Einer davon ist, dass man keinerlei konventionellen oder vorbedachten Verhaltensregeln folgen muss, um dem Partner zu gefallen. Da wäre zum Beispiel der Zungenkuss. Jedes Ehepaar weiß, dass nach den ersten Verzückungen des gegenseitigen Kennenlernens der Zungenkuss nurmehr ein leeres, lästiges und zuweilen sogar abstoßendes Ritual ist. In diesen Fällen ist der Kuss auf andere, intimere Körperteile schon wesentlich akzeptabler, da er den wahren Kern, das Wesen des Menschen nicht entblößt. Deshalb ist es auch so schwierig, einer Prostituierten einen Zungenkuss abzutrotzen. Dort konzentriert sich ihre ganze Scham, ihre Selbstachtung, kurz: ihr Schatz. Ihre Seele, könnte man fast sagen.

Und jeder drittklassige Psychologe – einer etwa, der in der Bank, wo Dionisias Mann arbeitet, Persönlichkeitstests durchführt –, ja, jeder Mensch mit einiger Erfahrung in Sachen Zusammenleben weiß genau, dass die besten Nummern im Bett – Marke unvergesslich – oft dann stattfinden, wenn Mann und Frau eine Stinkwut aufeinander haben. Wie viel Blödsinn ließe sich vermeiden, zum Beispiel Diskussionen über Ingmar Bergman oder D. H. Lawrence, wenn die Leute ihr eigenes Verhalten aus einer gewissen kritischen Distanz beobachteten.

Nehmen wir zur Demonstration einmal dieses Ehepaar, das sich gerade hinter einem der wenigen erleuchteten Fenster im Morgengrauen von Niterói befindet, einer Stadt, deren Hauptattraktion, wie es heißt, der schöne Panoramablick auf Rio de Janeiro ist.

Beim Hereinkommen legten sie gleichzeitig mit der Kleidung Stück für Stück alle Masken ab, die sie an diesem Abend hatten tragen müssen, auch wenn man das unkonventionelle Benehmen Dionisias während einiger Momente der Party berücksichtigt.

Außerdem hatten sie beide mehrfach ihren Ärger über das Auftreten des anderen unterdrücken müssen. So hätten sie jetzt eine jener endlosen ehelichen Diskussionen anfangen können, in deren Verlauf versucht wird, die Bilanz des soeben Geschehenen zu ziehen, wobei man die Verantwortung für die Meinungsverschiedenheit meistens dem anderen anhängt. Was wie im Kalten Krieg damit endet, dass aus Gründen des Gleichgewichts der Kräfte ein endgültiger Bruch vermieden wird.

Doch heute, nach einer langen Party und einer nächtlichen Fahrt von der Barra da Tijuca nach Niterói, waren sie selbst zum Streiten zu müde. Der Gatte musste um halb zehn Uhr morgens in der Bank sein, und abgesehen davon ist es immer vorteilhafter, ein hochmütiges Benehmen beizubehalten, jenes schweigende Missbilligen, das wir alle so gut kennen, falls wir schon einmal verheiratet gewesen sind.

Dionisia ihrerseits wusste – eher intuitiv –, dass sie an diesem Abend etwas zu weit gegangen war und jetzt geschickt manövrieren musste. Mit der natürlichen Unbefangenheit der Frau vor dem Mann, der sie intim kennt, schleifte sie schon beim Eintreten ihr Kleid hinter sich her, das sie dann liegen ließ, damit es das Hausmädchen am nächsten Tag wegräumte. Und als sie, nur im Höschen, durch den Flur lief, blieb sie einen Moment stehen, um sich einen der hochhackigen Schuhe auszuziehen und dann den anderen, mit einer Bewegung, die sogar ihr Mann niedlich finden musste. Dann trat sie ins Bad, wo sie auch das Höschen auszog und es schnell durchwusch, eine bescheidene Gewohnheit, die sich jede Nacht wiederholte und auf ihre Kindheit in einer Vorstadt von Rio zurückging.

Der Ehemann, der sich nach dem Ausziehen der Schuhe und dem Lockern des Gürtels aufs Bett gelegt hatte, rauchte eine Zigarette und beobachtete Dionisia durch den Türspalt zum Badezimmer.

Noch hegte Moreira gewisse Ressentiments wegen Dionisias Benehmen auf der Party. Doch in einem anderen Winkel seines Hirns, vielleicht dem am meisten alkoholgetränkten, nahm er ganz neutral nichts als eine schöne, nackte Frau wahr. Der Blick durch den Türspalt war wie ein Blick durchs Schlüsselloch, wo sich eine Unbekannte bewegte und so mal das eine, mal das andere Detail ihres Körpers darbot. Wie eine leidenschaftslose Kamera erfassten die Augen des Mannes nacheinander eine Brust, ein Gesicht, eine Pobacke, einen Schenkel, das Geschlecht, das Dionisia im Bidet wusch. Wobei sie nicht umhinkonnte, an den Fotografen mit den blauen Augen zu denken. Und eine etwas verspätete Erregung durchschauerte sie.

Dieses letzte Detail blieb ihrem Mann jedoch verborgen, als er sie in strahlender Nacktheit aus dem Bad kommen sah. Er stand auf, um seinerseits ins Badezimmer zu gehen, und setzte fast zu einer zärtlichen Geste an, um seine Frau zu umarmen und ihr alles zu verzeihen. In diesem Augenblick liebte er sie beinahe wahrhaftig. Doch wenn er seinen zärtlichen Impulsen nachgäbe, käme das einer stillschweigenden Hinnahme ihres Betragens auf der Party gleich, was ihn letztlich zu einem Spielzeug der weiblichen Launen machen würde, wo er doch in dieser Nacht ganz egoistisch seine Überlegenheit auskosten wollte, die Überlegenheit der beleidigten Ehemänner. Das Leben, einschließlich der Ehe, ist ein Kampf um die Macht. Und dafür, seien wir gerecht, besaß dieser Ehemann eine Waffe: Willenskraft.

Als er zurückkam, erblickte er Dionisia im Bett. Sie hatte sich noch nicht für die Nacht angezogen und presste nur ihr Nachthemd an die Brust. Mit geschlossenen Augen sah sie aus wie ein kleines Mädchen, das vor lauter Müdigkeit eingeschlafen war, bevor es sich fertig angezogen hatte.

Ohne das Licht zu löschen und so leise, wie es irgend ging, legte sich ihr Mann ebenfalls hin, allerdings andersherum. Auf diese Weise konnte er sie so nah, so intim wie möglich ansehen. Und danach, sobald sie entwaffnet und ihm ausgeliefert war, besitzen. Genau wie man ein entseeltes Objekt besitzt, dachte er befriedigt. Eine Schaufensterpuppe, eine Nutte, eine Blinde. Und, ganz tief unten, ein Gedanke, den er sich nicht einzugestehen wagte: wie man eine Leiche besitzt.

Nun ist aber die Beziehung zwischen Beherrscher und Beherrschtem doch recht subtil, und in diesem Punkte haben die Asiaten recht: Hier handelt es sich um nichts anderes als die beiden untrennbaren, vielleicht identischen Seiten ein und derselben Wirklichkeit.

Die halb eingeschlafene Dionisia ließ die Augen zu. Doch als wäre sie eine äußerst versierte Blinde, hatte sie nicht nur eine absolut präzise Vorstellung von der Position ihres Mannes im Bett, sondern auch davon, welchen Teil ihres Körpers er jeweils genau musterte. Und sie verspürte das alte Gefühl der Sklavin, die alle Begierden ihres Herrn beherrscht.

Mit dem typischen Seufzer derjenigen, die noch ein bisschen tiefer in den Schlaf sinken, bewegte sie sich ein klein wenig, um weiter aufzumachen. Nur einen Spaltbreit weiter. Gerade genug, damit er, von unwiderstehlicher Geilheit überfallen, sich im Bett umdrehen und in sie eindringen konnte.

Und als er auf diese Art in sie eindrang, langsam, damit sie nur nicht erwachte, da gab sie sich wirklich dem Schlaf hin. Einem Schlaf, der nur dem Hirn und seiner unablässigen, gehetzten Arbeit etwas Schlummer gönnte; ihr fleischiges Fötzchen jedoch, mit dem sie – eindeutig klitorianisch – ihren Mann besaß, blieb hellwach.

Im Gemenge von Schlaf und Wachen galoppierten Gestalten durch Dionisias benebeltes Hirn, ihr Mann etwa, ihr alter Vater, der schon lange tot war, der Fotograf mit den blauen Augen und weitere, eher abstoßende Figuren dieses und anderer Abende, Dr. Ribeiro zum Beispiel. Vor allem aber war in diesem inneren Kino Dionisia selbst zu sehen, die im Wind daherritt, ihr Gesicht in Ekstase, ihr Körper ein einziges Stöhnen, auf etwas, das so steif und pulsierend war wie ein Pferd.

Was ihren Mann betraf, so brauchte er, wenn er angetrunken war, immer eine Weile bis zum Höhepunkt. Und diese Weile genügte Dionisia, um in ihrem wachnahen Traumzustand einen stillen Orgasmus zu erleben, den Höhepunkt ihres gesamten ehelichen Sexuallebens. Paradoxerweise – oder vielleicht auch nicht – gerade zu dem Zeitpunkt, da diese Ehe in die Brüche ging. Einen Orgasmus, der gemeinsam mit den anderen Ereignissen jenes Abends (und denen, die noch folgen sollten) eine tiefe Verwandlung in ihr auslöste. Als wären Liebe und Lust plötzlich nicht mehr etwas von außen, von jemand anderem, sondern etwas aus ihr selbst Kommendes. Und wenn es ein Wort der Liebe gäbe, an dem sie voll und ganz Gefallen fände, wenn man sie mit einem Wort erfassen könnte, das zu ihr passte, so wäre dies ohne jeden Zweifel ein weiteres Mal: Amazone.

4.
Wie man einen Komplex loswird

»In Niterói zu wohnen, ist bestimmt der Hit«, sagte die Tochter des Bankiers. »Hier in Ipanema ist nicht nur dauernd Chaos, hier überfallen sie dich am helllichten Tage.«

Die Wohnung lag an der Avenida Vieira Souto, und vom Balkon aus – sogar vom Wohnzimmer – konnte man aufs Meer sehen. Die Tochter des Bankiers hatte sich gerade auf das Sofa gesetzt, zwischen Dionisia und den Fotografen mit den blauen Augen.

»Ach, in Icaraí ist es genau dasselbe, meine Liebe«, sprach Dionisia. »Neulich hat’s eine Freundin von uns erwischt, nicht wahr, Francisco?«

Mit den Augen schickte Dionisia einen Hilferuf an ihren Mann. »Und der Überfall war noch nicht das Schlimmste. Sondern was die Typen danach mit ihr gemacht haben.«

Dionisia legte Wert darauf, »Icaraí« hervorzuheben, genauso wie die Tochter des Bankiers »Niterói« betonte. Icaraí war der schönste Strand von Niterói und klang viel besser als einfach bloß »Niterói«.

Dionisia machte eine kleine Kunstpause, um die Spannung zu steigern und sich von »Niterói« zu erholen. Wer konnte der Tochter des Bankiers das bloß gesteckt haben? Alle, die in der Nähe waren, schauten auf sie und warteten auf den Überfall. Die Tochter des Bankiers aber war wesentlich schneller.

»Sieh mal einer an, und ich dachte, Niterói wär noch nicht so ’n harter Streifen. Eines Tages verkriech ich mich noch in meinem Loch und komm nicht wieder raus. Das Schlimmste sind die Mücken, die kann ich nicht ab.«

Mit einem Blick reinster Unschuld sah sie Dionisia an: »Wie war noch gleich dein Name, meine Liebe?«

»Dionisia«, antwortete die andere leise, in der Hoffnung, nur wenige würden sie hören. Der Zufall wollte es jedoch, dass in genau diesem Moment die ganze Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war. Wann immer jemand von einem Überfall erzählte, hörten alle erwartungsvoll zu, um danach ihre eigenen Überfallerlebnisse zum Besten zu geben. Die Bourgeoisie war von den Banditen in die Enge getrieben worden, als handelte es sich um eine nicht ausgerufene Revolution. Und sie redeten gerne davon, es war wie ein Exorzismus gegen die Angst. Doch Dionisia empfand diese schweigende Aufmerksamkeit, als wollten alle Anwesenden sie anklagen, weil sie so einen Namen trug. Und sie bereute, nicht »Diana« gesagt zu haben, wie es ihr Mann wollte. Mit den Augen suchte sie nach ihm, doch der hatte sich heimlich mit einem Glas in der Hand auf den Balkon verdrückt. »Feigling«, dachte sie. Während die Tochter des Bankiers Dionisias hypnotisierte Reglosigkeit nutzte, um ihr den Todesstoß zu versetzen.

»Ist ja drollig, ich hab noch nie jemanden mit diesem Namen getroffen. Komm doch mal, Schatz«, rief sie ihrem Mann zu. »Wie heißt dieses Kindermädchen von der Tochter vom Góes?«

Ihr Mann stand beim Schwiegervater, der sich eben in einen Sessel gesetzt hatte. Da der Bankier eine dunkle Brille trug, konnte man nicht sagen, ob er dem Gespräch folgte oder gar schlief. Wie einige Generäle trennte der Bankier sich niemals von seiner Sonnenbrille; das war ein Weg, seine Gesprächspartner bei Verhandlungen zu verwirren und einen Anschein von Grimmigkeit zu erwecken, der im Übrigen den Tatsachen entsprach.

»Dioclecia. Das Kindermädchen von der Tochter vom Góes heißt Dioclecia, Liebling«, sprang ihr Ehemann pflichtschuldigst bei. Er war sehr beflissen im Umgang mit seiner Frau. Selbst die höchsten Angestellten der Bank pflegten ihre Witze über Antonio Augusto zu machen, den Schwiegersohn des Bankiers. Sie sagten, er sei ein vorbildlicher Ehemann. Und treu. Bloß dass diese Treue nicht der Gemahlin, sondern dem Schwiegervater galt.

Von der Tochter des Bankiers ließ sich das allerdings nicht behaupten. Sie hatte keinen Grund, treu zu sein. Über sie wurde ansonsten auch nicht geredet, aus Angst, selbst die geringste Bemerkung könnte zum Präsidenten der Bank durchsickern, bei seinem engmaschigen Netz aus Schleimern.

»Ach klar. Dioclecia«, fuhr die Tochter des Bankiers mit gleichbleibender Unschuld fort. »Ich war mir ganz sicher, dass es nicht Dionisia war. Entschuldige, meine Liebe, es ist hoffnungslos, ich kann mir einfach keine Namen merken. Was hast du gerade noch erzählt, Dionisia?«

Dionisias Stimme kam erstickt heraus, als wollte sie jeden Moment die Waffen strecken und losheulen. Sie wusste ganz genau, die Tochter des Bankiers kannte ihren Namen schon, als die Party anfing.

»Ach, die haben das gemacht, was sowieso jeder kennt. Sie hatte bloß Glück, dass sie da lebend wieder rausgekommen ist.«

Das solchermaßen abgewürgte Ende einer Geschichte, die Dionisia gehofft hatte, in allen Einzelheiten erzählen zu können, würgte auch all das ab, was sich in ihr abspielte. Sie wäre am liebsten in ihrem Stuhl versunken, verschwunden, gestorben. Und erst recht wagte sie nicht, ihrem Mann ins Gesicht zu sehen, der vom Balkon aus die ganze Szene beobachtete.

Dabei hatte das Ganze doch so gut angefangen.

Am Vorabend war ihr Mann euphorisch nach Hause gekommen, der Groll über den Partyabend war verraucht.

»Weißt du, wo wir eingeladen sind?«, fragte er, gab seiner Frau einen Kuss auf die Stirn und setzte sich aufs Sofa.

Dionisia, neugierig und immer noch mit einem leichten Schuldgefühl, tat etwas, das sie seit Langem nicht mehr getan hatte: Sie setzte sich ihrem Mann auf den Schoß und sah ihm mit einem antrainierten Ausdruck fragender weiblicher Dämlichkeit in die Augen.

»Auf eine Party im Haus der Tochter des Präsidenten meiner Bank. Und sie war es höchstpersönlich, die uns eingeladen hat. Anscheinend haben alle erzählt, dass du eine sehr spontane Frau bist. Das hat mir der Dr. Ribeiro im Vertrauen gesagt. Es sind nämlich nur ein paar enge Freunde eingeladen.«

Ihr Mann sagte das voller Stolz, und Dionisia erwiderte seinen Kuss auf die Stirn, mit einer fast echten Spontaneität, wodurch sie dem von Dr. Ribeiro übermittelten Eindruck entsprach. Der Fotograf mit den blauen Augen war bestimmt einer der engen Freunde. Schließlich bumste er die Tochter des Bankiers.

In einer anderen Wohnung aber – ebenjener der geplanten Party – dachte zur gleichen Zeit, zwei Abende zuvor, jemand anders sehr besorgt über den Fotografen mit den blauen Augen und Dionisia nach. Dieser Jemand war Silvia Avelar, die Tochter des Bankiers, die sich ebenfalls auf ungewohnte Weise an ihren Mann geschmiegt hatte. In Wahrheit verachtete sie ihren Mann. Sie hatte ihn sogar aus diesem Grunde geheiratet: um einen Mann an ihrer Seite zu haben, den sie verachten und treten konnte. Außerdem konnte unter bestimmten Umständen ein Fußabstreifer sehr nützlich sein.

»Wer ist dieser Mensch, der zusammen mit Papa die Kerzen auf dem Kuchen ausgepustet hat?«

»Ach, das ist Moreira, ein Schleimer.«

Antonio Augusto verfolgte mit einer gewissen Besorgnis den Aufstieg von Dionisias Mann in der Bank. Er misstraute ihm, so wie man Personen misstraut, die die gleichen Fehler haben wie wir selbst. In diesem Falle waren die Fehler Ehrgeiz und Schleimertum. Und die Tatsache, dass seine Frau sich nach dem Rivalen erkundigte, beunruhigte ihn noch mehr.

»Ja, das ist Moreira, ein Typ, der nur an seine Karriere denkt. Und wieso willst du das wissen?«

»Ach, unwichtig. Ich fand bloß seine Frau so oberspießig. Eine aus der Vorstadt.«

Ihr Mann streichelte erleichtert ihre Brüste.

»Stimmt, sie wohnen in Niterói.«

»Und wie heißt sie?«

»Ihr Frauen seid manchmal komisch. Woher soll ich das denn wissen?«

In Wahrheit wusste er den Namen, aber er zog es vor, ihn vorerst nicht zu enthüllen, in der Annahme, seine Frau wäre eifersüchtig, womit er recht hatte. Nur dass diese Eifersucht aber auch nicht das Geringste mit seiner Person zu tun hatte.

Jetzt streichelte die Tochter des Bankiers ihren Mann über die Hose. Als erregte sie das Bild der anderen vor ihrem geistigen Auge.

»Ich kann den Ribeiro ja mal fragen«, meinte Antonio Augusto. »Der weiß alles, was mit der Bank zusammenhängt. Vor allem, wenn es um Frauen geht.«

Der Schwiegersohn des Bankiers zwinkerte seiner Frau zu und ließ, ohne jegliche Furcht, abgewiesen zu werden – eine Furcht, die in seiner Ehe stets gegenwärtig war –, seine Hände über ihre Schenkel gleiten. Sie knöpfte seinen Hosenlatz auf und schlüpfte mit ihrer Hand hinein:

»Wenn ich dich um etwas bitte, schwörst du mir, dass du Ja sagst?«

»Kommt drauf an«, erwiderte ihr Mann.

Sie hob ihr Kleid hoch und setzte sich auf seinen Schoß. Das gehörte zu den Dingen, die Antonio Augusto am liebsten mochte und die sie fast nie machte.

»Es ist eine Lappalie, aber schwörst du’s?«

»Ich schwöre«, sagte er, denn er hielt es nicht mehr aus. Er dachte bloß noch daran, sich und ihr die Kleider vom Leib zu reißen und an Ort und Stelle, vor dem Fernseher, auf dem Sofa zu bumsen. Die Gestalten und Stimmen vom Video erregten ihn, denn es war, als beobachteten ihn andere Leute beim Liebesakt.

»Übermorgen haben wir ein paar Gäste hier, und ich möchte, dass du die beiden einlädst.«

Antonio Augusto wollte wegen Moreira protestieren. Er wollte ihn nicht im engsten Kreis der Familie, das heißt: des Schwiegervaters, haben. Aber Silvia hatte sich soeben das Kleid über den Kopf gezogen. Und sie fügte hinzu, als hätte sie die Einwände ihres Mannes erraten:

»Überlass das mal mir, Liebling, ich erteile ihm eine Lektion und der Frau auch. Oder traust du mir das nicht zu?«

Nunmehr war sie ihrem Mann dabei behilflich, sich von seiner Hose zu befreien, und er konnte nur noch sagen:

»Aber natürlich tue ich das, Liebling. Am Ende mache ich doch immer alles, was du willst.«

Silvias Plan zur Vernichtung Dionisias hätte möglicherweise Erfolg gehabt, wäre da nicht Carlinhos der Ästhet gewesen. Silvia wollte Dionisia in den Augen des Fotografen mit den blauen Augen fertigmachen, aber es hätte sie auch keineswegs gestört, wenn Moreiras Karriere in der Bank zusammen mit seiner Frau einen Dämpfer bekäme.

Der Ästhet hatte ein loses Maul, er war unrasiert, ein halber Zwerg und Krüppel, der sich in Ipanema herumtrieb. Es hieß, er sei ein Schriftsteller, obgleich niemand je von der konkreten Existenz eines Buches von ihm gehört hatte. Jedenfalls galt er als Intellektueller, und da er nicht an linken Vorurteilen litt, wurde er gern zu den Partys der überzeugten Bourgeoisie gebeten.

Aufgrund eines für die Trunksucht typischen Phänomens, wobei es dem Betroffenen nicht mehr gelingt, sich auf beiden Beinen zu halten oder auf einen Gesprächspartner zu konzentrieren, der ihm direkt gegenübersteht, wohingegen es ihn aber in die Lage versetzt, ferne und flüchtige Wellen aufzufangen, empfing der Ästhet, der ganz hinten an der Bar des Apartments stand und Unverständliches vor sich hinbrabbelte, praktisch aus der Luft den Namen Dionisia.

»Dionysos«, tönte er mit seiner teigigen Stimme, und keiner beachtete ihn. Er war wie ein weiteres eklektisches Stück der Innenarchitektur dieser Wohnung. Taumelnd und mit der Hartnäckigkeit der Trunkenbolde bewegte er sich auf die Gruppe zu, wo das verkrampfte Schweigen nur ab und zu von förmlichen Phrasen unterbrochen wurde, und blieb schwankend vor der versammelten Mannschaft stehen:

»Dionysos«, wiederholte er, erhob sein Glas zu einem feierlichen Toast und fixierte Dionisia.

Diese, vielleicht, weil sie darin einen Notausgang sah oder weil sie sich verpflichtet fühlte, auf eine derartige Geste zu reagieren – sie kannte den Ästheten nicht, es konnte sich ja um eine wichtige Figur in diesem verwickelten Gesellschaftsschach handeln –, reckte ihren eigenen Kelch empor wie am Abend der ersten Party. Und gemeinsam mit dem Ästheten trank sie, ein Prosit nur für sie beide, vereinigt in ihrem Außenseitertum auf diesem Empfang. Und ein weiteres Mal tat der Champagner seine magische Wirkung. Denn für Dionisia waren die Worte, die dem Munde des Ästheten entströmten, magisch:

»Dionysos oder Bacchus. Gott der Fruchtbarkeit, des Weines und der Bühnenkünste.«

Carlinhos der Ästhet gehörte zu jenen potenziellen Künstlern, von denen man immer ein geniales Werk erwartet, während dieses Werk in Wirklichkeit aus dem Leben des Künstlers selbst besteht sowie aus den tönenden Worten, die es begleiten.

Mit einer Flasche Dimple in der Hand, deren Nektar sich in sein Glas ergoss, machte Carlinhos eine theatralische Pause, während alle – sogar der Bankier – sich in der Erwartung sammelten, seine nächsten Worte zu schlürfen.

»Ein dionysischer Mensch ist unbezähmbar, unaufhaltbar, orgiastisch«, verkündete er und zeigte mit der Flasche auf Dionisia: »Maestro – Musik!«

Irgendjemand hinten im Zimmer schaltete die Anlage ein.

»Die Dionysien«, vervollständigte Carlinhos, obwohl ihm keiner mehr zuhörte, »waren orgiastische Darbietungen und Feierlichkeiten zu Ehren des Bacchus.«

In der Mitte des Salons tanzte Dionisia schon mit dem Fotografen mit den blauen Augen.

5.
Eine Frau wird geboren oder Im Studio des Fotografen mit den blauen Augen

Der Fotograf mit den blauen Augen war ein erfahrener Mann: in Herzensdingen. Und obwohl er selbst dies nicht an die große Glocke hängte, denn er war nicht so ein Flegel, wie Dionisias Mann annahm, waren einige der schönsten Frauen Brasiliens durch seine Arme gegangen, was sich durch seine strategische berufliche Stellung und einen europäischen Charme erklären ließ, der ihm ein gewisses Prestige in der Gesellschaft eintrug.

Abgesehen von der Provinzialität der brasilianischen Gesellschaft, die – seit kolonialen Zeiten – in jedem Abenteurer aus Übersee sofort einen Prinzen sieht, hing Jeans Anwesenheit bei zahllosen Ereignissen damit zusammen, dass der Franzose, der hauptsächlich Frauen für eine künstlerisch angehauchte Nacktgazette fotografierte, seinen Boss auch bei dessen gesellschaftlichen, politischen und künstlerischen Wallfahrten begleitete und ablichtete.

Denn obwohl die Illustrierte Flash den Hauptteil ihrer Einnahmen aus den nackten Frauen bezog, versäumte Senhor Oscar Goldstein es nicht – wie die Chicagoer Gangster, die Wäschereien eröffneten –, als Fassade ein bisschen in- und ausländische Literatur zu veröffentlichen; Texte zu Theater und Film und außerdem Interviews mit bedeutenden Personen des öffentlichen Lebens, was nicht nur eventuelle Zusammenstöße mit der Zensur abfederte, sondern ihm auch bei den Machthabern Beliebtheit verschaffte. Senhor Goldstein war schließlich auch aufgrund des bemerkenswerten Umstands bekannt geworden, dass er in seinen achtunddreißig Pressejahren sämtliche brasilianischen Regierungen unterstützt hatte. Ob sie demokratisch waren oder nicht, betrachtete er als Detail, das ihm wenig Kopfzerbrechen bereitete. Goldstein, der sich täglich – und immer voller Befriedigung – selbst analysierte, qualifizierte diese seine Eigenschaft als Pragmatismus, abgerundet durch einen patriotischen Geist der Versöhnlichkeit, obwohl selbst der einfachste Laufbursche seiner Zeitung nicht gezögert hätte, ihn als hemmungslosen Karrieristen zu bezeichnen. Eine Annahme, die vermutlich den bei Angestellten so verbreiteten Ressentiments entsprang, zumal schlechte Bezahlung für Goldstein schon eine Frage des Prinzips war. Er war ein Mann, der auf seinem harten Weg von den Niederungen nach Ganz Oben keine Zeit gehabt hatte, seine Kultur zu vervollkommnen, und so verwechselte er möglicherweise den Mehrwert mit irgendeinem Moralkodex, den es rigoros zu befolgen galt.

Und wenn er so weit ging, einen seiner Assistenten angemessen zu entlohnen, wie etwa das Akademiemitglied Aldásio Coimbra, ghost-writer seiner Leitartikel, dann handelte es sich dabei nicht um verdammenswürdige Freizügigkeit, er sah in diesem Assistenten vielmehr einen unverzichtbaren Tragebalken, damit er, Goldstein, nicht einbrach und zurück in die Niederungen stürzte; wie abträglich es dort war, wusste er ja. So lag der Fall auch bei dem Fotografen mit den blauen Augen, der ein Händchen dafür entwickelt hatte, die Aufnahmen von seinem Chef so feinfühlig zu retuschieren – und durch ein Spiel von Licht und Schatten Doppelkinn und Falten zu bändigen –, dass Goldstein selber glaubte, auf Jeans Fotos sei wirklich er zu sehen, lediglich von einem fähigeren Profi fotografiert als sonst.

Doch wie lässt sich erklären, dass Jean, ein derart in den Kämpfen des Berufs und des Gefühls gestählter Mann, sich so plötzlich und so aufrichtig von Dionisia betören ließ, der es hinter ihrer Schönheit noch nicht ganz gelang, einen gewissen Hang zum Ordinären zu unterdrücken?