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Lotte Minck (*1960) ist von Geburt halb Ruhrpottgöre, halb Nordseekrabbe. Nach 50 Jahren im Ruhrgebiet und etlichen Jobs in der Veranstaltungs- und Medienbranche entschied sie sich, an die Nordseeküste zu ziehen. Erst kürzlich überkam sie heftiges Heimweh nach dem Ruhrpott, als sie nach Jahren auf dem Land zum ersten Mal in einen echten Stau geriet, der aus mehr als sieben Autos vor einer Ampel bestand und sich diese Bezeichnung dank einer halben Stunde totalen Stillstands redlich verdient hatte. Ihre Heldin Loretta Luchs und alle Personen in Lorettas Universum sind eine liebevolle Huldigung an Lotte Mincks alte Heimat.

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Ruhrpott-Krimödien mit Loretta Luchs bei Droste:
Radieschen von unten
Einer gibt den Löffel ab
An der Mordseeküste
Wenn der Postmann nicht mal klingelt

Lotte Minck

Tote Hippe an der Strippe

Eine Ruhrpott-Krimödie mit Loretta Luchs

Droste Verlag

Figuren und Handlung dieses Romans sind frei erfunden.
Ähnlhckeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 Droste Verlag GmbH, Düsseldorf
Umschlaggestaltung: Droste Verlag unter Verwendung einer Illustration von Ommo Wille, Berlin
Illustration: © rashadashurov – Fotolia.com
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7700-4119-0

www.drosteverlag.de

Kapitel 1

Warum sich manchmal der schönste Plan in Chaos und Sabber auflöst, und warum Loretta sich modisch verändern muss

Ich lag in einem Ruderboot, das der Strömung eines träge dahinfließenden, im Sonnenlicht funkelnden Flusses überlassen war. Milder Frühlingswind strich wie Samt über meine Haut. Unfassbar graziös in den Bug drapiert, ließ ich meine rechte Hand durchs Wasser gleiten, den verträumten Blick auf die Trauerweiden am Ufer gerichtet. Deren Äste tauchten beinahe so anmutig ins Gewässer wie meine Hand. Aber nur beinahe. Ohne hinsehen zu müssen, wusste ich, dass der Blick des braunäugigen Mannes, der im Heck des Bootes saß, sehnsüchtig auf mir ruhte und …

Rums.

Etwas ziemlich Schweres, das plötzlich direkt neben meinem Kopf aufs Bett sprang, riss mich aus meiner romantischen Fantasie.

So nicht, Freundchen, dachte ich und tat so, als hätte ich nichts gemerkt. Ich rührte mich nicht, und meine Augen blieben so fest geschlossen wie die Tür eines Tresors.

Lautstark schnurrte es an meinem Ohr, dann spürte ich eine sanfte Katzenpfote in meinem Gesicht. Ganz zart, ohne Krallen. Einfach nur taps-taps – Baghiras unmissverständliche Aufforderung, doch jetzt bitte aufzuwachen.

Ich wusste, Widerstand war zwecklos.

Jeder Katzenbesitzer weiß das.

Baghira würde so lange weitertapsen, bis ich reagierte. Und ehrlich gesagt: Seine Pfote roch nicht besonders gut, da er offenbar kurz vor seinem Besuch bei mir noch auf seinem Klo gewesen war und sein Morgengeschäft erledigt hatte. Braver Kater. Eine gute Verdauung ist Gold wert.

Ergeben blinzelte ich und sah in seine grasgrünen Augen, woraufhin sein Schnurren sich sofort verstärkte. Dann fiel mein Blick auf das Lätzchen aus Haushaltspapier, das Pascal ihm umgebunden hatte. Frühstück! stand darauf, mit Filzstift geschrieben. Ich fragte mich, wie Pascal diesen Kater dazu brachte, sich als Bote instrumentalisieren zu lassen. Aber er brachte mich ja auch dazu, in romantischen Tagträumen zu schwelgen, also warum wunderte ich mich eigentlich?

»Sag ihm, ich komme gleich«, flüsterte ich und gab Baghira einen Klaps.

Folgsam sprang er vom Bett und trabte aus dem Schlafzimmer. Braver Kater, sag ich doch.

Es war ein strahlender Sonntagmorgen im April, und ich konnte mich langsam in den Tag treiben lassen. Beim Aufwachen vorhin hatte ich unwillkürlich neben mich gefasst. Der Platz war leer gewesen, aber noch warm. Die dunkelroten Vorhänge ließen nur wenig Sonne durch, sodass der Raum gleichermaßen in schummriges wie schmeichelhaftes Licht getaucht war. Nicht ganz unwichtig, wie ich fand.

Wurde ich etwa auf meine alten Tage noch eitel? Na ja, nicht wirklich, aber trotzdem nahm ich jede schmeichelhafte Beleuchtung mit, die sich mir bot, aber hallo.

Ich lauschte den Geräuschen aus der Küche und stellte einmal mehr fest, dass die Hitliste meiner Lieblings-Soundtracks eine neue Nummer 1 hatte, die sich jetzt schon seit einigen Wochen unangefochten an der Spitze hielt. Die Komposition bestand aus Radiomusik und leisem Geschirrklappern sowie einer dunklen Männerstimme im Zwiegespräch mit einem Kater. Pascal sagte etwas, Baghira antwortete. Oder vielleicht auch umgekehrt. Manchmal dachte ich, die beiden hätten einen Debattierklub gegründet, so angeregt unterhielten sie sich. Ergänzt wurde der Sound durch eine olfaktorische Zugabe aus würzigem Kaffeeduft und dem unwiderstehlichen, appetitanregenden Hauch frischer Brötchen, die gerade im Backofen knusprig wurden.

Ich musste gestorben und im Himmel sein, ganz sicher.

Noch immer staunte ich darüber, wie geschmeidig sich Pascal in meinen Alltag einfügte. Nach anderthalb Jahren Single-Dasein hatte ich mir einen Mann in meinem Leben irgendwie kompliziert vorgestellt, aber nix da. Das Schicksal hatte ihn in meine Arme manövriert, und dort war er einfach geblieben.

»Los, geh die olle Penntüte holen«, hörte ich ihn zu Baghira sagen, was mich zum Grinsen brachte.

Ganz schön frech, der junge Herr.

»Die olle Penntüte kommt gleich, und dann zieht sie dir den Hosenboden stramm für diese Unverschämtheit!«, rief ich, während ich mich aus der betörenden Kuscheligkeit des Bettes verabschiedete.

Ich hörte sein Lachen, dann rief er zurück: »Das ist hoffentlich ein Versprechen!«

»Darauf kannst du deinen kleinen, süßen Hintern verwetten!«

Ja, ich gebe es zu: Pascals kleiner, süßer Hintern hatte es mir angetan, was sollte ich machen. Ich war halt verliebt. Und zumindest bei seinem Hintern bestand nicht wirklich die Gefahr, dass der schönfärbende Schleier der Verliebtheit sich irgendwann einmal heben und mir einen riesigen, schlaffen Arsch präsentieren würde, blindmachende Hormone hin oder her.

Als ich tropfend aus der Dusche trat, sah ich mich mit Baghiras kritischem Blick konfrontiert, dem ich tapfer standhielt. Der Kater saß auf der Waschmaschine und musterte mich, wie ich mir einbildete, von Kopf bis Fuß. Also, Katzen können dich wahrlich anstarren, dass dir mulmig wird und du dich unwillkürlich fragst, was in ihrem Kopf vor sich geht. Ob er mich wohl zu fett fand?

»Ein Kater mit beinahe 8 Kilo Gewicht sollte nicht über die Speckrollen anderer Leute zu Gericht sitzen«, warf ich ihm an den Kopf, was ihn allerdings ungerührt ließ, bis auf ein wenig Gewackel mit den Ohren. Wie zu erwarten war.

»Baghira findet, ich bin zu fett«, verkündete ich, als ich in die Küche kam.

Pascal starrte mich einen Moment lang verdutzt an und brach dann in schallendes Gelächter aus. Es schüttelte ihn derart, dass er den Inhalt der Kaffeetasse in seiner Hand quer über die Arbeitsplatte verspritzte. Als er sich wieder beruhigt und seine Handlungsfähigkeit zurückerlangt hatte, riss er einige Blätter von der Rolle mit Haushaltspapier und wischte die Bescherung auf. »Von allen Blödsinnigkeiten, die du bisher von dir gegeben hast …«, setzte er an.

Mein Blick verdüsterte sich. Er stockte.

»… und die ich überaus liebenswert finde«, schob er dann hastig hinterher, räusperte sich und fuhr fort: »Also, von all den Blödsinnigkeiten war das eben die mit großem Abstand blödsinnigste. Das zu sagen, muss erlaubt sein, liebe Loretta.«

»Du hast nicht gesehen, wie er mich angestarrt hat, als ich aus der Dusche kam. Nackt.«

»Du oder er?«

»Du oder er was?«

»Nackt.«

»Sehr witzig, Pascal. Sein Blick war so … so … abschätzig.« Ich schaffte es, ernst zu bleiben.

Pascal musterte mich. Dann sagte er: »Das ist der plumpste Versuch von fishing for compliments, den ich je erlebt habe. Hut ab.«

»Man kann’s ja mal probieren. Aber ich hätte wissen müssen, dass ich bei dir damit nicht landen kann.«

Kichernd lümmelte ich mich an den Tisch und sah meinem Liebsten dabei zu, wie er unser Frühstück machte. Seit es Pascal in meinem Leben gab, genoss ich meine Wochenenden besonders. Besser gesagt: unsere gemeinsamen Wochenenden. Zusammen mit dem Liebsten aufwachen, frühstücken, das Miteinander erleben … herrlich.

Manchmal fuhren wir spontan zu meiner ehemaligen Mitbewohnerin und besten Freundin Diana und ihrem Okko an die Nordsee, manchmal lümmelten wir nur herum und lebten in den Tag hinein. Und manchmal – so wie heute – hatte er etwas vor, das mich nicht einschloss.

»Willst du direkt nach dem Frühstück los?«, fragte ich.

Er nickte. »Vielleicht habe ich ja heute mal Glück.«

Ich wusste, was er meinte. Wenn er zu seiner Schwester Emily fuhr, wusste er nie, ob sie ihn auch wirklich sehen wollte. Selbst, wenn sie sich verabredet hatten. Es konnte vorkommen, dass er nach drei Stunden Autofahrt damit konfrontiert wurde, dass sie sich doch nicht in der Lage sah, Besuch zu empfangen, und dann fuhr er halt wieder nach Hause. Mit Bedauern, aber ohne Groll. Er hatte sich mit der Situation versöhnt, und das imponierte mir.

Zu meiner großen Freude fügte sich Pascal naht- und reibungslos nicht nur in mein Leben, sondern auch in meinen Freundeskreis ein. Alle hatten ihn mit offenen Armen empfangen, trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – der unglücklichen Vorgeschichte mit seiner Schwester.

Nachdem er losgefahren war, trödelte ich eine Zeit lang herum, dann rief ich Diana an. Sie hob ab, bevor auch nur das Klingelsignal ertönte. Im Hintergrund hörte ich Musik dudeln und Okko mit seinem Hund Heini sprechen.

»Herrje. Dein Kerl redet also auch mit Tieren«, sagte ich statt einer Begrüßung. »Ob wir uns Sorgen machen müssen?«

»In der Apotheke haben sie gesagt, dass es dagegen kein Medikament gibt. Wir werden damit leben müssen.« Diana kicherte und fuhr fort: »Ist übrigens witzig, dass du anrufst. Du kommst mir praktisch um eine Sekunde zuvor. Hatte das Telefon schon in der Hand. Du, ich habe Neuigkeiten!«

Um genau zu sein, tirilierte sie das letzte Wort ungefähr so: Neeeeeu-iiiig-keiiiiiiten!!!!!, und es hingen noch gefühlt 25 weitere Ausrufezeichen in der Luft.

»Oh mein Gott – du bist schwanger«, entfuhr es mir spontan, was am anderen Ende der Leitung einen so lauten Lachanfall auslöste, dass ich den Hörer ein Stück vom Ohr weghalten musste.

»Neiiiiin!«, prustete sie schließlich. »Du kommst ja auf Sachen … also wirklich. Besser! Nein, anders. Warte mal kurz. Das muss ich dir in Ruhe erzählen.«

Die Hintergrundgeräusche wurden leiser, dann wurde eine Tür geschlossen, und es war still.

»So«, sagte sie dann, »bei dem Theater, das die beiden veranstalten, kann sich ja kein Mensch konzentrieren. Und ich muss mich konzentrieren, damit ich kein Detail auslasse. Kerle, tss. Alle in einen Sack und mit dem Knüppel draufhauen, triffste immer den Richtigen.«

Auch wenn es sich gerade anders anhörte: Sie liebte ihre beiden Kerle, daran konnte kein Zweifel bestehen. Okko, den jungen, smarten Anwalt, der uns im letzten Sommer an der Nordsee über den Weg gelaufen war, weil er unserem Kumpel Frank aus einer ziemlichen Klemme geholfen hatte, und Heini, Okkos kleinen, struppigen Hund. Ich hätte nicht sagen können, wer von den beiden Dianas Herz zuerst erobert hatte.

»Also«, fuhr sie fort, »es folgt die große Neuigkeit, die keine Schwangerschaft ist, tut mir leid. Los, rate weiter.«

»Hmmm … ihr habe euch einen Esel angeschafft, und es hat sich rausgestellt, dass er Golddukaten scheißt.«

»Nein, auch nicht«, erwiderte sie, »obwohl das tatsächlich eine hübsche Vorstellung ist. Besser.«

»Machst du Witze? Was könnte besser als ein Goldesel sein? Los, sag schon. Lass mich nicht zappeln.«

»Also gut.« Sie senkte verschwörerisch die Stimme und fuhr fort: »Okko hat mir gestern …«

»Einen Heiratsantrag gemacht?«, fiel ich ihr ins Wort.

Nein, eigentlich sprachen wir es synchron aus, und dann kreischten wir um die Wette wie die Blöden, bis bei ihr im Hintergrund eine Tür aufging und ich Okkos Stimme hörte: »Muss ich einen Arzt rufen, oder geht es?«

»Mädchengespräch!«, jubilierte Diana fröhlich, und die Tür schloss sich wieder. »Also, was sagst du?«, fragte sie mich dann atemlos.

»Na, was soll ich sagen? Glückwunsch! Wann ist es denn so weit? Habt ihr schon einen Termin?«

»Ende September, Anfang Oktober. Steht noch nicht genau fest. Und ich wünsche mir, dass du meine Trauzeugin bist, Loretta. Willst du?«

Ich musste nicht lange nachdenken. »Ja, ich will«, antwortete ich feierlich, »natürlich will ich.«

»Perfekt. Du musst mir natürlich helfen, ein Kleid auszusuchen, das gehört zu deinen Aufgaben.«

»Ein Kleid aussuchen. Ich. Von allen Menschen auf der Welt ausgerechnet ich. Du traust dich was.«

Diana kicherte. »Natürlich ausgerechnet du. Wer könnte perfekter sein als eine ausgewiesene Kleiderphobikerin namens Loretta Luchs? Hast du in deinem Leben überhaupt schon mal so etwas getragen?«

»Als ich noch zu klein war, um mich zu wehren.«

»Auf meiner Hochzeit wirst du eins tragen, das wünsche ich mir von dir. Und du wirst wundervoll aussehen.«

»Na ja, das sehen wir dann«, erwiderte ich ausweichend.

Ich im Kleid, das wüsste ich aber. Mit Rüschen dran und Blümchen drauf und was weiß ich noch für Gedöns. Darin fühlte ich mich einfach nicht wohl. Natürlich war mir klar, dass meine Lieblingsuniform – Jeans und Ringelpulli – sich neben einer nach allen Regeln der Hochzeitskunst aufgebrezelten Braut nicht sonderlich gut machen würde, aber es sollte doch möglich sein, einen Kompromiss zu finden.

Hoffte ich wenigstens. Jeans mit Rüschen oder so.

»Wie war denn überhaupt der Heiratsantrag?«, fuhr ich hastig fort, um sie von der leidigen Kleiderfrage abzulenken.

Diana holte tief Luft. »Also: Gestern Morgen war das. Er und Heini haben Brötchen geholt, ich habe währenddessen den Tisch gedeckt. Als sie zurückkommen, schickt Okko mich in die Küche, weil er gern ein weiches Ei hätte. Da ich ein braves Frauchen bin, erfülle ich seinen Wunsch. Als ich mit seinem Frühstücksei ins Wohnzimmer komme, sitzt der Kerl da und grient über beide Backen. Was ist los?, frage ich. Nix, wieso?, fragt er zurück und gießt uns Kaffee ein. Das Croissant ist für dich, hab extra ein schönes großes ausgesucht, sagt er dann und legt mir so ein Ding auf den Teller, das aussieht, als wäre es bei der Tschernobyl-Katastrophe dabei gewesen und deshalb zu monströser Größe mutiert. Es ist nicht immer die Größe, die zählt, sage ich, weil mir das Ding irgendwie unheimlich ist. Ehrlich, das hätte in Harry Potters Zauberschule auf Hagrids Teller liegen sollen, aber nicht auf meinem. Auf jeden Fall tunke ich das Teil in meinen Milchkaffee und beiße die Spitze ab, und Okko ist plötzlich reichlich nervös.«

Sie machte eine Kunstpause, und ich hauchte: »Oh mein Gott. Ich ahne, was los ist.«

»Und weil du das cleverste Mädchen bist, das ich kenne, ahnst du vermutlich richtig«, sagte Diana. »Okko rutscht also auf seinem Stuhl herum und piepst: Aber sonst belegst du Croissants doch immer mit Käse. Sieh mal, hier ist Käse. Er zeigt auf den Camembert, aber ich schüttle den Kopf. Mir ist einfach nicht nach Käse. Als ich das Croissant wieder eintunke und abbeißen will, holt er aus und schlägt es mir aus der Hand.«

»Schlägt es dir aus der Hand«, wiederholte ich perplex.

»Genau. Das verdammte Ding fliegt also quer durchs Zimmer, und Heini kommt wie ein Torpedo aus seinem Korb geschossen, um sich die Beute zu schnappen, was dem kleinen Scheißer auch gelingt. Im Flug, verstehst du? Blöderweise ist die Terrassentür einen Spalt offen, und natürlich flitzt er nach draußen, um sich und seinen unverhofften Snack in Sicherheit zu bringen. Okko springt auf und rast hinterher. Lass ihn doch, sage ich noch, aber er ist schon im Garten und brüllt immer: Aus! Aus! Heini, aus!!! Heini ist selbstredend tausendmal schneller als er und hat sich längst unter einem Busch verschanzt, wo er wie ein Besessener buddelt, um seinen Schatz zu vergraben.«

»Großartig. Das hätte ich zu gern gesehen. Und was hast du gemacht?«

»Was denkst du wohl? Ich sitze am Tisch und denke, jetzt sind sie endgültig bekloppt geworden. Ich verstand einfach nicht, warum Okko so ein Theater um dieses bescheuerte Croissant machte. Also, mittlerweile liegt Okko auf dem Bauch und robbt unter den Busch, um an Heini ranzukommen. Ich höre Geschrei, Okko fliegt Erde um die Ohren, Heini bellt, ich höre Kampfgeräusche …«

»Na, na, na, nicht übertreiben.«

Diana gluckste. »Na gut. Aber es war so unglaublich hysterisch, und ich habe echt nicht geschnallt, was da abging. Wie auch immer: Okko gewinnt den Kampf. Er ist von Kopf bis Fuß völlig verdreckt, als hätte er sich mit bloßen Händen zum Erdkern durchgegraben. Eine Spur aus Erdkrümeln hinterlassend, kommt er mit ziemlich grimmigem Gesichtsausdruck auf mich zu, fällt auf die Knie und blafft: Ich möchte, dass du mich heiratest. Mit diesen herzerweichenden und romantischen Worten hält er mir das matschige, vollgesabberte, dreckige Croissant unter die Nase. Ich hab natürlich losgelacht, weil ich dachte, er veräppelt mich! Aber dann sah ich, dass er Tränen in den Augen hatte. Okko! Tränen!«

»Ist das rührend!«

Ich musste glatt schlucken, ehrlich. Armer, lieber Okko.

»Und endlich sehe ich es: In das Croissant ist ein Kästchen eingebacken, aber das hast du dir selbstverständlich bereits gedacht.«

»Selbstverständlich.«

»Der Ärmste hat befürchtet, ich zerbrösele mir an dem Ding die Zähne, wenn ich es weiter in den Kaffee tunke und abbeiße. Und danach hatte er Angst, dass Heini sich die Zähne daran zerbröselt.«

»Er muss ja völlig mit den Nerven fertig gewesen sein.«

»Am Rande des Zusammenbruchs. Er zitterte am ganzen Leib, so tief saß der Schreck. Er war kaum zu beruhigen, weil seine schöne Planung derart schiefgegangen ist. Er hatte es sich so romantisch vorgestellt: dass ich das Croissant aufschneide, den Ring finde, vor Freude quietsche, ihm um den Hals falle … das ganze Programm halt. Wie man eben so reagiert.«

»Und stattdessen lachst du ihn aus und schickst ihn erst einmal zum Händewaschen.«

»Nee, der ganze Dreck war mir vollkommen egal. Ich bin ihm trotzdem um den Hals gefallen, und der schmutzige Heini ist bellend an uns hochgesprungen und hat seinen Sabber auf uns verteilt. Zur Belohnung hat er das labberige Croissant dann doch noch gekriegt, nachdem Okko den Ring daraus befreit hatte. Ende gut, alles gut.«

Ende gut, alles gut. Diana versprach mir, ein Foto vom Ring zu mailen, und gab mir den Tipp, zur Vorbereitung auf meine verantwortungsvolle Aufgabe als Trauzeugin einschlägige Websites und Hochglanzmagazine zu studieren.

Seufz.

Kapitel 2

Dennis Karger lässt sich gehen – und offenbart bisher Unbekanntes aus seinem Privatleben

Montag – nicht mein Lieblingstag. Zumal nach einem schönen Wochenende. Ganz früh am Morgen hatte ich mich von Pascal verabschiedet, denn er war für ein paar Tage unterwegs wegen eines Jobs. Es war immer schön, wenn er hier vor Ort als Tontechniker arbeiten konnte, aber manchmal sollte es eben nicht sein. Wir telefonierten dann abends, wenn es sich ergab, aber auch das war zuweilen schwierig, wenn er auf einem Konzert jobbte.

Die Ersten, die mir im Callcenter begegneten, waren ausgerechnet Zwergin Belinda und Hippe Jeanette, war ja klar. Hätten zwischen ihnen nicht geschätzte 30 Zentimeter Höhenunterschied bestanden, hätte man sie glatt für siamesische Zwillinge halten können. Als schier unzertrennliches Pärchen sahen sie allerdings ziemlich lustig aus, denn ich hatte noch nie von siamesischen Zwillingen gehört, bei denen die Hüfte der einen an der Schulter der anderen hing.

Wie üblich sahen sie durch mich hindurch, als wäre ich Luft. Aber so verhielten sie sich allen gegenüber. Ich konnte mich nicht entsinnen, sie jemals mit irgendwem plaudern gesehen zu haben. Schon seit sie vor einigen Monaten bei uns angefangen hatten, fragte ich mich, warum Dennis sie nicht endlich rauswarf. Er achtete doch sonst so aufs Betriebsklima, und wenn ich je zwei Fremdkörper in unserem Team erlebt hatte, waren es diese beiden Zicken. Die einzige Erklärung war, dass die beiden am Telefon Granaten sein mussten und ihm so viel Geld einbrachten, dass er über ihre unterentwickelten sozialen Fähigkeiten großzügig hinwegsah.

Natürlich ging mich seine Geschäftspolitik nichts an, und es wäre wohl auch ein bisschen viel von mir verlangt gewesen, dass mein Chef nur Leute einstellte, die ich nett fand. Oder vorher eine Betriebsversammlung abhielt.

Belinda und Jeanette stöckelten wortlos an mir vorbei und kontaminierten mich mit der Duftwolke ihres viel zu süßen Parfüms und ebensolchen Deos, die sie stets umwaberte. Wenn ich vergaß, die Luft anzuhalten und die Lippen fest aufeinanderzupressen, konnte es passieren, dass sich der Mief buchstäblich wie ein nasser Lappen auf meine Zunge legte und ich ihn den ganzen Tag nicht mehr aus der Nase kriegte, ekelhaft. Ich versuchte möglichst, sie zu ignorieren, und Gott sei Dank waren ihre Plätze weit weg von meinem.

Die baumlange Jeanette war höchst geschmeidig in die Lücke geschlüpft, die Diana hinterlassen hatte. Wie ihre Vorgängerin auch arbeitete Jeanette ausschließlich als Domina, allerdings sah sie im Gegensatz zur blonden, engelhaften Diana auch aus, wie dem Handbuch für Klischees entsprungen: scharfe Gesichtszüge, kalter Blick und pechschwarzes Haar. Hatte das tatsächlich Dennis überzeugt? Nicht zu fassen. Vielleicht hatte es die beiden ja nur als Doppelpack gegeben, und so hatte mein Chef halt beide angeheuert.

Lustigerweise kleideten sie sich trotz der unterschiedlichen Größe in einer Art Porno-Partnerlook, den sie offenkundig bevorzugt in Sexshops einkauften. Immer zu knapp, immer zu grell, immer zu billig. Dazu falsche Haare, die ihnen aalglatt bis auf den Hintern hingen, und eine solche Masse an Schminke im Gesicht, dass ich todsicher war, sie ungeschminkt niemals erkennen zu können. Auf turmhohen Absätzen staksten sie morgens ins Callcenter und abends wieder hinaus.

Ich blickte ihnen hinterher und sah sie vor dem Gebäude haltmachen. Vor Schichtbeginn rauchten sie noch schnell eine Kippe, wobei sie ihre Zigaretten geziert zwischen den dünnen, mit ellenlangen Plastiknägeln verunzierten Fingern hielten. Sie redeten nicht miteinander, standen einfach nur da und glotzen desinteressiert aneinander vorbei, während der milde Frühlingswind ihre Extensions wehen ließ.

Tatsache blieb: Ich traute den beiden nicht weiter, als ich sie hätte werfen können.

Ich winkte rüber zu Doris, die schon einsatzbereit an ihrem Platz saß und grüßend ihr unvermeidliches Stickzeug hob. Sie würde ausflippen, wenn ich ihr von Dianas und Okkos Hochzeitsplänen erzählte. Hoffentlich musste ich nicht bis zum Feierabend damit warten, weil unsere Pausen zu unterschiedlichen Zeiten waren.

Der Vormittag war Routine mit den üblichen Verdächtigen, ein paar Stammkunden und einigen, mit denen ich noch nie telefoniert hatte und denen es egal war, welche weibliche Stimme ihnen zu dem Genuss verhalf, für den sie bezahlten.

Einmal mehr fiel mir auf, wie beliebt es bei Männern war, eine Phantasie auszuleben, in der sie ein Chef waren, der sich eine Untergebene vornimmt, bis sie vor Wonne stöhnt. Na ja, wer darauf stand, von einer herrischen Frau dominiert zu werden, verlangte nach Jeanette. Dennoch war auffallend, dass es so gut wie nie ein Szenario gab, bei dem sich Mann und Frau auf Augenhöhe begegneten.

Während ich in ein Gespräch vertieft war, bei dem ein Boss mich zum Diktat bat und mir dann unter den Rock ging, ploppte auf meinem Monitor ein Fenster mit einer Nachricht von Dennis auf: Er bat darum, dass ich mich nach dem laufenden Gespräch ausloggte und in sein Büro kam. Während sich eine Hirnhälfte routiniert weiter mit dem Kunden beschäftigte, fragte ich mich mit der anderen, was er wohl von mir wollte. In letzter Zeit wirkte er fahrig und abwesend. Ich dachte schon länger darüber nach, was wohl mit ihm los war, aber er wich privaten Gesprächen konsequent aus – und das war definitiv neu. Einem Plausch mit ein wenig Tratsch war er nie abgeneigt gewesen.

Nachdem ich meinem Kunden den gewünschten Spaß bereitet hatte, klinkte ich mich aus und verließ meinen Platz. Als ich Doris passierte, stand auch sie gerade auf und schloss sich mir an.

»Pause?«, fragte sie.

»Dennis hat mich zu sich bestellt«, sagte ich.

Doris zog erstaunt die sorgsam gezupften Augenbrauen hoch. »Echt? Mich auch! Hat er dir gesagt, was er will?«

Ich schüttelte den Kopf. Wir hatten seine Bürotür erreicht, und ich klopfte.

Dennis hatte die Jalousien halb geschlossen, aber auch im Dämmerlicht konnte ich erkennen, dass er geradezu verhärmt aussah. Er hatte stets auf sein Äußeres geachtet, und jetzt fiel mir auf, dass er sich vernachlässigte. Sein Haar, sonst penibel frisiert, war zerzaust. Zwar war er wie üblich im Stil der 70er-Jahre gekleidet, aber seine Schlaghose hatte keine Bügelfalte, und sein Hemd war zerknittert. Gab es nicht mal ein Chanson, das Du lässt dich gehn hieß? Das fiel mir bei Dennis’ Anblick unvermittelt ein. So kannte ich ihn nicht. Man mochte über seine Vorliebe, sich wie eine Ruhrpott-Version von Shaft zu kleiden, denken, was man wollte, aber sein Outfit war immer picobello gewesen.

Ich machte mir ernsthafte Sorgen.

Mit einer Handbewegung bat er uns in seine Besprechungsecke, die mit einem Sofa und zwei Sesseln ausgestattet war. Aha – also ging es nicht um unsere Arbeit, denn dann würden wir jetzt auf den Stühlen vor seinem Schreibtisch Platz nehmen.

Doris warf sich in ihrer ganzen glitzernden und klimpernden Pracht auf das Sofa, ich nahm einen Sessel.

»Kaffee?«, fragte Dennis und stand irgendwie verloren in seinem Büro herum.

Ich lehnte dankend ab und bat um ein Mineralwasser, denn ich fand das Gebräu aus seiner Maschine, die mit Kapseln gefüttert wurde, grauenhaft. Doris war da deutlich härter im Nehmen und bestellte eine Karamell-Latte. Unter anderen Umständen hätte ich ihre Wahl für ein paar kesse Scherze genutzt, aber Dennis’ Zustand hielt mich davon ab.

Wir bekamen also ein Getränk, soso. Die Sache wurde immer spannender. Dennis machte sich nervös an der Kaffeemaschine zu schaffen, während Doris und ich erstaunte Blicke wechselten und unsere Augenbrauen fragend wandern ließen.

Als er sich zu uns gesellte, trugen unsere Gesichter wieder unverbindlich-neugierige Mienen, um ihn nicht noch zusätzlich zu verschrecken. Mit einem Seufzen ließ er sich in den anderen Sessel fallen und verfiel in brütendes Schweigen.

»Was ist los, Dennis? Warum möchtest du uns sprechen?«, fragte ich vorsichtig.

Er starrte auf seine Knie. Endlich sagte er: »Es geht um das Callcenter. Es … es ist ernst.«

Mit einem Klirren stellte Doris ihre Tasse auf den Tisch. »Jesses, wir sind pleite. Ist es das? Willst du uns eröffnen, dass du die Bude dichtmachen musst?«

Müde schüttelte Dennis den Kopf. »Ja. Nein. Aber das ist es nicht. Es ist anders. Es ist schlimmer.«

Es folgte: Schweigen.

Doris und ich sahen uns an. Was bitte schön konnte schlimmer sein als eine Pleite? Hatte er etwa die Steuerfahndung an den Hacken? Oder hatte er vor, das Callcenter aus Kostengründen nach Polen auszulagern, und suchte nach Worten, um uns zu eröffnen, dass wir in ein Kaff mit unaussprechlichem Namen umsiedeln mussten, wenn wir weiterhin für ihn arbeiten wollten?

Dennis stierte auf die metallbeschlagenen Spitzen seiner Cowboystiefel und biss sich auf die Unterlippe. Mehrmals setzte er zu sprechen an, atmete tief durch, schloss den Mund wieder, holte erneut Luft …

»Dennis!«, keifte Doris. »Du sagst uns jetzt, was los ist, oder wir gehen wieder!«

Erschrocken zuckte er zusammen, dann sagte er leise: »Ich bin in Schwierigkeiten. Schon länger. Die wollen ans Callcenter.«

Bämm. Das hörte sich gar nicht gut an.

»Ich brauche eure Hilfe«, fügte er hinzu. »Deine, Loretta, und die von Erwin. Doris, kannst du mal mit ihm sprechen? Bitte.«

»Wie – in Schwierigkeiten? Was heißt das? Und wer sind die?«, fragte ich entgeistert.

Er sah mich verwirrt an. Zu viele Fragen auf einmal.

»Die Schweine haben … also, ich wurde überfallen. Dann haben sie mein Auto beschädigt. Ein paar Wochen später brannte meine Scheune.«

»Du hast eine Scheune?«, fragte ich, während Doris gleichzeitig sagte: »Vor ein paar Tagen, oder? Stand in der Zeitung. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass das bei dir war.«

Dennis nickte. »Nicht viel passiert, Gott sei Dank. Meine Freundin hat es bemerkt, weil sie mitten in der Nacht zum Klo musste. Die Feuerwehr kam und hat Schlimmeres verhindert. Das Feuer hätte sonst aufs Haus übergreifen können und …«, er grinste schief, »wer weiß, vielleicht würde ich dann nicht mehr hier sitzen.«

Dennis wohnte in einem Haus mit einer Scheune dran? Das musste dann ja auf dem Land sein, oder? Ich fasste es nicht. Irgendwie war ich immer davon ausgegangen, er würde mitten in der Stadt leben, in einem karg möblierten Loft oder so.

»Dann lagen meine Zuchthühner tot im Gehege«, fuhr er fort. »Bis auf ein einziges. Nur Clarissa hat überlebt.«

»Du züchtest Hühner?«, entfuhr mir prustend. »Und die haben Namen?«

Diese Reaktion war nicht wirklich sinnstiftend, aber ich konnte nichts dagegen machen. Dass er auf dem Land lebte, war schon erstaunlich genug, fand ich. Und jetzt auch noch Hühnerzüchter, also wirklich.

Doris warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Woher weißt du, dass es kein Fuchs oder Marder war, Dennis?«, fragte sie sanft.

»Weil Füchse und Marder überaus selten Nachrichten hinterlassen, die mit Blut an die Wand des Hühnerstalls geschrieben sind«, gab Dennis düster zurück.

Nun, damit hatte er zweifellos recht.

Er ging zu seinem Schreibtisch und holte sein Smartphone. Nachdem er ausgiebig darauf herumgewischt hatte, präsentierte er uns einige Fotos: zuerst das einer hellgrün getünchten Holzwand, auf die jemand die Worte Dein Haushuhn ist das Nächste! geschmiert hatte.

»Wie – dein Lieblingshuhn lebt bei dir im Haus?« Man möge mir diese Frage verzeihen, aber sie lag einfach nahe.

»Nein«, erwiderte Dennis ernst. »Damit ist meine Freundin gemeint, schätze ich.«

Ups. Fettnäpfchen.

Ich sah mir das Foto genauer an. Die Buchstaben leuchteten blutrot und liefen tropfenförmig nach unten aus wie die Titelschrift im Vorspann eines billigen Horrorfilms. Entweder, jemand hatte das mit viel zu viel Farbe am Pinsel geschrieben, oder …

Diese Frage beantwortete sich von selbst, als Dennis das nächste Foto aufs Display wischte: Ich starrte entsetzt auf fünf Hühnerleichen, kleine weiße Federbälle, aufgeschlitzt und mit Blut besudelt. Grauenhaft. Es folgte ein Porträt der einzigen Überlebenden: Sie war ein kleines Tier, dessen Gefieder wie flauschiges Fell aussah und das auf dem winzigen Schädel einen absurden Afro-Schopf trug. Auch die Beinchen waren bis zu den Krallen gefiedert.

Unter anderen Umständen hätte mich der Anblick des Hühnchens vor Lachen umgeworfen, aber ich riss mich zusammen. »Was ist das für eine Rasse?«

»Zwergseidenhühner«, murmelte er zärtlich. »Ich bin froh, dass Clarissa überlebt hat. Sie ist mein besonderer Liebling.«

Ich musste aufstehen, um nicht die Fassung zu verlieren.

Hatte ich irgendwann heute Morgen rote Glitzerschuhe angezogen, dreimal die Hacken zusammengeschlagen und war statt in Oz im Königreich Skurrilistan gelandet?

Ich warf einen schnellen Blick zu Doris hinüber, aber die verzog keine Miene, sondern hielt mitfühlend Dennis’ Hand. Innerlich dankte ich ihr dafür und schämte mich ein bisschen, dass ich mich nicht besser im Griff hatte. Dennis war sichtlich erschüttert, und das war auch für mich absolut nachvollziehbar. Warum konnte ich mich trotzdem nicht zusammenreißen und nahm ausschließlich die komischen Aspekte dieser tragischen Geschichte wahr?

Weil Tragik und Komik stets nur um Haaresbreite auseinanderliegen, deshalb.

Aber Dennis hatte verdient, dass ich ihn ernst nahm. Ich setzte mich wieder und sagte: »Also, was können wir tun?«

Dennis zuckte mit den Achseln. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber irgendwas muss passieren. Ich kann denen doch nicht einfach meinen Betrieb überlassen. Ich hatte gehofft, dir fällt etwas ein, Loretta. Du und Erwin, ihr seid doch so ein gutes Gespann. Ihr jagt Verbrecher und kriegt sie auch.«

Da war es wieder: Loretta jagt Verbrecher.

Das klebte an mir wie ein Kaugummi unter der Schuhsohle. Ich hasste es. Lief ich etwa in der Gegend herum und suchte nach Verbrechen, die ich aufklären konnte? Nein. Ich geriet in Verbrechen, die in meinem Umfeld passierten, das war etwas vollkommen anderes. Und Doris’ Gatte Erwin war ein Exbulle und konnte das Ermitteln einfach nicht lassen. Er und ich, wir waren Minipli-Man und Hornbrillen-Girl. Bei Bedarf wurde das Team um ein paar Mitstreiter erweitert, aber nur im Notfall.

Würde mir das wirklich Spaß machen, hätte ich längst den Beruf gewechselt und wäre Privatdetektivin oder so. Dass ich nach wie vor im Callcenter an der Sexhotline arbeitete, dürfte wohl eine deutliche Sprache sprechen.

Jetzt war ich also zum ersten Mal in der Situation, dass ich einen Auftrag bekommen sollte. Falls ich ihn annahm. Ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte. Einerseits fühlte ich mich unwohl damit, andererseits war Dennis eindeutig in einer Notlage. Er wurde angegriffen und bedroht – und es ging offenbar um seine Existenz. Und damit nicht zuletzt auch um meine.

»Und das geht schon länger?«, fragte ich.

Dennis nickte. »Deswegen würde ich gerne mit dir und Erwin«, er sah Doris bittend an, »ganz in Ruhe sprechen. Euch alles erzählen, von Anfang an. Vielleicht habt ihr ja eine Idee.«

Doris quatschte nicht lange rum, sie handelte. Zack, hatte sie ihr Handy gezückt. »Wann?«

»So schnell wie möglich.« Dennis rutschte an die Sesselkante und beugte sich aufgeregt vor. »Am liebsten noch heute. Nach Feierabend vielleicht? Loretta?«

»Geht von mir aus klar. Ich habe keine Pläne.«

Musste Baghira halt ein wenig auf sein Abendessen warten, das würde er verkraften.

Doris tippte eine Nummer in ihr Handy. »Schatz, ich bin’s. Wir fahren heute nach Feierabend zu meinem Chef. Dennis hat ein Problem und braucht Hilfe. – Das erkläre ich dir später, okay? Aber es gibt was zu tun. Für dich und Loretta. – Geduld, Schatz. Viel weiß ich auch noch nicht, aber es geht um Erpressung. Und tote Hühner. Dennis wird uns heute Abend alles sagen. – Ja, bis später. Ich liebe dich auch.«

Sie beendete das Gespräch und tätschelte Dennis’ Hand. »Jetzt wird alles gut, Dennis. Keine Angst.«

Ihre Zuversicht rührte mich, wenn ich sie auch etwas vorschnell fand. Noch hatten wir keinen Schimmer, in was Dennis da hineingeraten war und mit wem wir es zu tun haben würden.

Falls wir aktiv wurden.

Ich seufzte innerlich.

Gab es daran wirklich einen Zweifel? Wenn Erwin Blut leckte, war ohnehin alles zu spät.

Wir waren schon halb zur Tür hinaus, als Dennis uns aufhielt. Er ging um uns herum und schloss die Tür wieder. Dann sagte er leise: »Ich weiß, ich muss es eigentlich nicht sagen, aber bitte bewahrt Stillschweigen über die Sache. Vor allem im Callcenter. Verhaltet euch unauffällig. Das ist extrem wichtig. Ihr werdet es verstehen, wenn ich euch alles erzählt habe.«

Na, das hoffte ich doch sehr.

Kapitel 3

Dennis weiß nicht weiter – wie wehrt man eine Parkuhr in Plateauschuhen ab?

Bis zum Feierabend ergab sich für Doris und mich keine Gelegenheit mehr, miteinander zu sprechen – war vielleicht auch besser so. Es wäre alles andere als unauffällig gewesen, in einer Ecke die Köpfe zusammenzustecken oder im Pausenraum schlagartig zu verstummen und schuldbewusst aus den Plünnen zu gucken, wenn jemand den Raum betrat.

Wie jeden Tag stand Erwin auf der Einfahrt und wartete auf sein Täubchen. Eilig stöckelte Doris auf das Auto zu und gab ihm wie immer einen Begrüßungskuss durchs Fenster an der Fahrertür. Erst dann trippelte sie um die Motorhaube herum und stieg in den Wagen. Dennis hatte mich gebeten, mit ihm zu fahren, also wartete ich, bis er mit seinem stilechten tomatenroten BMW aus den 70ern vorfuhr. Er beugte sich herüber und öffnete mir die Beifahrertür.

»Sieht doch tipptopp aus, dein Auto«, sagte ich, als er losfuhr. »Ich dachte, es wäre beschädigt.«

Er vergewisserte sich im Rückspiegel, dass Erwin ihm folgte, dann erwiderte er: »Nicht dieses Auto. Der Mustang. Ist aber sowieso egal, denn der Brand hat ihm den Rest gegeben.«

Da Dennis alle naselang andere Autos fuhr, hatte ich nicht weiter darüber nachgedacht, weshalb er seit einiger Zeit diese Kutsche unter dem Hintern hatte. Jetzt wusste ich den Grund. Und was ich ebenfalls wusste, war, dass er seinen Mustang, ein tipptopp restauriertes Prachtstück, abgöttisch liebte. Geliebt hatte.

»Schicket Auto«, sagte ich anerkennend und meinte es auch so. Im Innenraum gab es hellbraunes Leder, hellbraunen Teppich sowie Lenkrad und Armaturenbrett aus Holz. Das hatte echt Klasse, fand ich. Obwohl Nichtraucherin, entzückten mich die Klappaschenbecher in Fahrer- und Beifahrertür über alle Maßen.

Wir durchquerten die Innenstadt und die Randgebiete, dann wurde es entschieden ländlich. Es soll ja noch immer Leute geben, die den Ruhrpott für einen grauen, qualmenden Moloch mit Dauer-Smog und ohne auch nur einen einzigen Baum halten, aber dem ist natürlich nicht so. Es gibt unzählige Naherholungsgebiete und geradezu dörfliche Gegenden mit Feldern, Flüssen und idyllischen Seen.

Dennis schwieg, also hielt ich auch die Klappe und genoss die Fahrt durch die schöne Landschaft. Nach ein paar Landstraßen-Kilometern bog er in einen Waldweg ab, den ich glatt übersehen hätte. Vorsichtig steuerte er sein kostbares Auto über den Schotter. Schließlich erreichte unser Mini-Konvoi ein kleines Gehöft mit gepflastertem Vorplatz.

Staunend sah ich aus dem Autofenster. Das war also Dennis’ Haus. Es handelte sich um ein niedriges Gebäude, dessen Mauern mit Fachwerk durchzogen waren. Die Rahmen der Sprossenfenster, die man nur als niedlich bezeichnen konnte, waren weiß gestrichen, die antike hölzerne Eingangstür naturbelassen. Alter Baumbestand umgab das kleine Anwesen.

Nachdem wir aus den Autos gestiegen waren, führte Dennis uns ein paar Schritte um das Haus herum und deutete auf die rußgeschwärzte Fensterhöhle der angrenzenden Scheune. »Da. Jetzt habe ich ein eigenes Mausoleum.«

»Na, na, na, das klingt aber dramatisch«, sagte Doris. Sie stockte und fügte leise hinzu: »Oder waren da auch Tiere drin?«

Dennis schüttelte den Kopf. »Keine Tiere. Autos.« Dann ging er hinüber zu Erwin und schüttelte ihm die Hand. »Danke, dass Sie mitgekommen sind, Herr …«

»Ich heiße Erwin, mein Junge«, erwiderte Erwin. »Und Förmlichkeit liegt mir nicht so. Lass uns reingehen, und du erzählst uns alles.«

Wir folgten Dennis ins Haus, dessen Ausstattung in eklatantem Gegensatz zur traditionell-bäuerlichen Idylle des Außenbereichs stand. Die meisten Wände waren entfernt worden, sodass wir uns in einem großen Raum befanden, der durch Möblierung und Pflanzen in verschiedene Bereiche unterteilt wurde. Hier entdeckte ich den Dennis, den ich kannte, endlich wieder: Von der Sitzecke bis zur offenen Küche war alles in schlichtem skandinavischem Schick aus den 70ern eingerichtet.

Wir setzten uns um den großen Esstisch, nachdem Dennis für uns ein paar Flaschen Bier aus dem Retro-Kühlschrank geholt hatte. Irgendwie schien es bei dem ernsten Thema unangemessen, dass wir es uns auf Sofa und Sesseln bequem machten.

Erwin trank einen großen Schluck und eröffnete das Gespräch. »Mein Täubchen sagt, du wirst erpresst?«

Dennis zuckte zusammen und sah ihn erschrocken an, als bekäme diese Tatsache dadurch noch einmal mehr Gewicht, dass jemand anderer sie aussprach.

Er nickte zögernd. »Ja. Nicht nur das. Ich … es gab Anschläge. Die Scheune, meine Hühner … und die Drohung gegenüber meiner Freundin. Ich habe Angst um sie.«

»Ist sie das?« Ich zeigte auf das gerahmte Porträt einer hübschen, für meinen Geschmack etwas zu sehr aufgedonnerten Blondine, das über dem Sofa hing.

Dennis blickte auf das Foto und seufzte. »Ja. Sandra.« Erneutes Seufzen, schwerer diesmal. »Vermutlich wird sie nicht mehr lange meine Freundin sein. Wir sind erst seit wenigen Monaten zusammen, und jetzt wird sie meinetwegen in diese Scheiße reingezogen.«

Stimmt – diese Frau war neu in Dennis’ Leben. Vor einiger Zeit hatten er und seine langjährige Partnerin sich getrennt, und ich hatte zunächst gedacht, seine Niedergeschlagenheit hinge damit zusammen. Dass es bereits eine Neue in seinem Leben gab, wusste ich erst seit heute: seit er nämlich erzählt hatte, sie hätte zufällig den Brand bemerkt. Es musste buchstäblich ein fliegender Wechsel gewesen sein. Oder hatte er sich wegen dieser Sandra von der Vorgängerin getrennt?

»Mein Täubchen sagt, irgendwer will an dein Callcenter?«, fragte Erwin weiter. »Hast du die Polizei schon eingeschaltet? Die Brandstiftung und deine Hühner …«

Dennis hob abwehrend die Hände. »Nein, natürlich nicht. Ich bin doch nicht verrückt.«

»Aber es muss doch ermittelt werden, ob es Brandstiftung war«, sagte Erwin. »Allein vonseiten der Versicherung. Deine Autos waren doch bestimmt versichert?«

»Schon …« Dennis zögerte, dann murmelte er: »Ich habe keine Ansprüche geltend gemacht, sondern mich selbst der Fahrlässigkeit bezichtigt. Ein Oldtimer mit überhitztem Motor, den ich in einem hölzernen Gebäude untergestellt habe. Also: Eigenverschulden.«

»Aber was genau ist denn nun los?«, fragte ich ungeduldig. Dennis blickte unglücklich in die Runde, dann stand er auf und lief durch den Raum. Er blieb an einem Fenster stehen und starrte auf seine ramponierte Scheune.

»Alles begann mit Belinda und Jeanette …«, setzte er an.

»Waaaaas?«, kreischten Doris und ich synchron.

Fast wäre ich vom Stuhl gefallen. Hatte mich mein Gefühl, keiner der beiden über den Weg trauen zu können, also nicht getrogen.

»Kurz, nachdem sie bei uns angefangen hatten, ertappte ich beide dabei, dass sie Anrufer zu echtem Sex überreden wollten«, fuhr Dennis fort. »Ich hatte mich in ihre Gespräche eingeklinkt, natürlich nur aus Gründen der Qualitätskontrolle …«

Er stockte und streifte erst mich, dann Doris mit einem unsicheren Blick, aber Doris wedelte unwirsch mit der Hand. »Wir wissen, dass du das manchmal tust, Chef. Weiter im Text. Und etwas präziser, bitte. Was meinst du mit echtem Sex? Irgendwelche Perversitäten, die wir nicht machen? Tiere? Kinder?«

Ja, das interessierte auch mich brennend.

Dennis schüttelte den Kopf. »Na, echten Sex halt. Ein echtes Treffen mit echtem Sex, nicht nur am Telefon.« Er sah Erwin an und erklärte: »Das ist natürlich strengstens verboten. Wer Freier sucht, soll sich von mir aus auf die Straße stellen oder in einem Puff anheuern. Ich betreibe ein seriöses Unternehmen. Die Dienstleistung, die wir anbieten, ist keine Prostitution.«

»Natürlich nicht, Herzchen«, sagte Doris. »Das wäre ja auch noch schöner. Dann würden Loretta und ich auch nicht bei dir arbeiten. Bäh.«

Ich nickte bestätigend und fragte Dennis: »Und was hast du gemacht, nachdem du das rausgefunden hattest? Und wo sollte dieser echte Sex stattfinden? In ihrer Wohnung?«

»Oh nein – sie versuchten, die Anrufer in einen Puff zu locken. Irgendwo in der Pampa muss der sein, außerhalb der Stadt. Natürlich habe ich die beiden darauf angesprochen, aber …« Er schwieg und blickte wieder aus dem Fenster.

»Warum hast du die beiden Schnepfen nicht einfach rausgeworfen?«, wollte Doris empört wissen.

Dennis kam zurück an den Tisch und setzte sich. »Das habe ich natürlich versucht, was denkst du denn? Aber sie haben mich ausgelacht, die waren rotzfrech. Ich hätte ja keine Ahnung, mit wem ich mich anlege, sagten sie und lachten mir ins Gesicht. Am selben Abend wurde ich überfallen, als ich gerade in meinen Mustang steigen wollte. Jemand nahm mich von hinten in den Schwitzkasten, und ein Mann verlangte von mir, ich solle die beiden ja wieder arbeiten lassen, sonst würde ich es bereuen. Ich kriegte zwei Hiebe in die Nieren und ging zu Boden. Sie gingen weg, und ich hörte sie lachen. Sie schienen es nicht besonders eilig zu haben.«

»Sie?«, fragte Erwin. »Es waren mehrere?«

Dennis nickte. »Einer hielt meine Arme fest, ein anderer fixierte meinen Kopf, sodass ich mich nicht umdrehen konnte. Der Typ, der mit mir gesprochen hat, schien ein paar Schritte abseits zu stehen. Und er hatte seine Stimme verstellt oder so. Die klang so seltsam. Ich dachte zuerst, es wäre eine Frau, die versucht, wie ein Mann zu sprechen. Viel habe ich natürlich nicht mitgekriegt. Ich war zu sehr damit beschäftigt, nicht zu ersticken.«

»Du Armer.« Wieder einmal tätschelte Doris die Hand ihres Chefs, wie schon heute Vormittag im Büro.

»Am nächsten Morgen fing ich die beiden vor der Agentur ab und ließ sie nicht rein. Ich wollte mir von denen doch nicht meinen guten Ruf kaputt machen lassen. Belinda und Jeanette diskutierten nicht, zuckten nur mit den Schultern und schoben wieder ab. Aber wenn ich gedacht hatte, die Sache sei damit erledigt, hatte ich mich natürlich getäuscht.«

»Die Männer kamen wieder«, sagte Erwin.

Dennis nickte. Sein Blick war auf die Tischplatte gerichtet, und er drehte die Flasche zwischen den Händen. »Natürlich kamen sie wieder. Ich hatte den Wagen extra nicht in der hintersten Ecke geparkt, aber ich hatte an dem Tag lange mit der Buchführung zu tun und machte sehr spät Feierabend. Sie zogen die gleiche Nummer wie am Abend zuvor ab: Zwei hielten mich fest, der Dritte redete. Warum ich denn so dumm wäre, die beiden nicht ihre Arbeit machen zu lassen. Ob mir meine Gesundheit denn so wenig wert wäre. Außerdem wüssten sie, wo ich wohne, und dort sei es ganz schön einsam. Und gefährlich. Wieder kriegten meine Nieren etwas ab. Als sie weg waren, wollte ich losfahren, aber als ich die Tür vom Mustang öffnete, sah ich die Bescherung: Sie hatten sämtliche Scheiben zertrümmert, außerdem Scheinwerfer und Blinker.« Er sah uns an, einen nach dem anderen. »Ist jetzt klar, warum ich die Polizei nicht eingeschaltet habe? Ich habe einfach Schiss. Die mussten mich nicht einmal davor warnen.«

Ich fragte mich, warum ich von alldem nichts bemerkt hatte. Aber wie sollte ich mitbekommen, was nachts auf dem Parkplatz hinter der Agentur vor sich ging?

»Am nächsten Tag trabten diese beiden feinen Damen also wieder zur Arbeit an, und du hast sie reingelassen«, sagte Erwin.

»Darauf bin ich nicht besonders stolz«, erwiderte Dennis, »aber ich hatte das Gefühl, ich brauchte etwas Zeit. Ich redete mir ein, dass mir schon etwas einfallen würde, wenn ich nur lange genug nachdachte. Hätte ich Sandra nicht gehabt …«

Er sah zu dem Bild an der Wand hinüber, und so etwas Ähnliches wie ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Zumindest versuchte er es, aber es blieb bei einer gequälten Grimasse.

Er tat mir leid.

»Wie habt ihr euch kennengelernt?«, fragte ich, um ihn zumindest für kurze Zeit von seiner Misere abzulenken.