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Patricia Spadaro

ACHTE

DICH

SELBST!

Die innere Kunst
des Gebens und
Annehmens

Aus dem Amerikanischen von
Sabina Trooger und Vincenzo Benestante

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Titel der amerikanischen Originalausgabe:
HONOR YOURSELF. THE INNER ART OF GIVING AND RECEIVING
Embracing the Power of Paradox in Your Life

Copyright © 2009 by Patricia Spadaro

Besuchen Sie uns im Internet:
www.AmraVerlag.de

Deutsche Ausgabe:
Copyright © 2010 by AMRA Verlag
Auf der Reitbahn 8, D-63452 Hanau
Telefon: + 49 (0) 61 81 – 18 93 92
Kontakt: Info@AmraVerlag.de

Herausgeber & Lektor

Michael Nagula

Umschlaggestaltung

Murat Karaçay

Layout & Satz

nimatypografik

Druck

CPI Moravia Books

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INHALT

TEIL EINS
FINDEN SIE ERFÜLLUNG und RESPEKTIEREN SIE IHRE INNEREN BEDÜRFNISSE

1 Das Spiel des Paradoxen

2 Die Suche nach dem Gleichgewicht

3 Grenzen setzen

4 Unterstützung annehmen und allein fliegen

TEIL ZWEI
VERSCHENKEN SIE SICH und RESPEKTIEREN SIE IHR HERZ

5 Besser als größer

6 Was geben wir und wann geben wir?

7 Die Magie des Fließens

TEIL DREI
BEFREIEN SIE SICH SELBST und AKZEPTIEREN SIE ES, WENN ETWAS ZU ENDE GEHT

8 Weit geöffnete Augen

9 Ehrlich mit den eigenen Gefühlen umgehen

10 Wenn der Weg zu Ende ist

11 Die Last ablegen und losfliegen

TEIL VIER
FEIERN SIE SICH SELBST und RESPEKTIEREN SIE IHRE EIGENE STIMME

12 Ihre ganz besondere Note

13 Tragen Sie Schuhe, die Ihnen passen, und bestimmen Sie Ihr Tempo selbst

14 Immer wundervoller

15 Erweitern Sie Ihre Vision des Möglichen

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ZUR REFLEXION
SCHLÜSSEL ZUM GLEICHGEWICHT

Achten Sie auf Warnsignale

Mit sieben Schritten im Gleichgewicht bleiben

Machen Sie den Lackmus-Test

Mit sieben Schritten gesunde Grenzen setzen

Soll ich um Hilfe bitten oder muss ich es allein schaffen?

Sechs Werkzeuge, um Ihr Herz durch Geben zu achten und zu respektieren

Den eigenen Gefühlen begegnen

Überprüfen Sie Ihre Vitalzeichen und respektieren Sie das Feedback

Reue abstreifen

Die eigene Stimme achten und respektieren

Sieben Strategien, um im Zweifelsfall für sich selbst zu stimmen

Danksagung

Anmerkungen

Über die Autorin

Gewidmet den Weisen aus Ost und West,
die mich lehrten, dass das größte Geschenk,
das ich jemandem machen kann,
ich selbst bin
.

Die Namen und einige Einzelheiten der Geschichten in diesem Buch wurden verändert, um die Privatsphäre der Menschen zu schützen, die die Lektionen ihres Lebensweges mit uns geteilt haben. Die Informationen und Einsichten in diesem Buch geben lediglich die persönliche Meinung der Autorin wieder und sollten in keiner Weise als Therapie, Anweisungen, Belehrungen, Diagnose und/oder Heilbehandlung aufgefasst werden. Diese Informationen sind kein Ersatz für medizinische, psychologische oder sonstige fachmännische Erläuterungen, Beratungen oder Pflege. Alles, was mit Ihrer Gesundheit zusammenhängt, sollte von einem Arzt oder professionellen Heilkundigen überwacht werden. Weder die Autorin noch der Verlag übernehmen die Verantwortung oder haften in irgendeiner Weise für die Käufer oder Leser dieses Buches.

TEIL 1

FINDEN SIE ERFÜLLUNG und
RESPEKTIEREN SIE
IHRE INNEREN BEDÜRFNISSE

Man kann die ganze Welt absuchen und wird doch
niemanden finden,
der mehr Liebe verdient hat als man selbst
.

BUDDHA

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Wir sind dazu berufen zu geben, und zwar freudig, aber das Leben fordert uns zugleich auf, die Kunst des Gleichgewichts zu meistern. Wir haben die Pflicht, nicht nur anderen etwas zu geben, sondern auch uns selbst – und zugleich müssen wir anerkennen, dass wir diese Gaben ebenfalls verdient haben. Wir haben die Pflicht, sowohl andere als auch uns selbst zu achten und zu respektieren. Warum ist das so schwierig? Wir haben eine falsche Auffassung vom Geben geerbt, einen Irrglauben, der tief in uns verwurzelt ist und uns zwingt, einseitig an das Leben heranzugehen. Es ist, als versuchten wir, in einer Zwangsjacke auf dem Seil zu tanzen: Wir können uns nicht frei in die eine oder andere Richtung neigen, um unser Gleichgewicht wiederzuerlangen. Doch es gibt einen Ausweg aus diesem Dilemma, der über die alten, abergläubischen Auffassungen hinausführt, hin zu der Magie, die darin liegt, sich selbst zu achten und zu respektieren. Um diesen Weg zu gehen, müssen wir durch die Tür treten, die zu jeglicher Weisheit führt: die Tür des Paradoxen.

KAPITEL 1

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DAS SPIEL DES PARADOXEN

Widerspreche ich mir selbst? Na schön, dann widerspreche ich mir eben. (Ich bin grenzenlos, in mir ist Unendliches enthalten.)

– WALT WHITMAN

Das Leben ist selten oder sogar niemals eine Gleichung, die aus »entweder oder« besteht. Sowohl theoretisch als auch praktisch ist das Leben voller Widersprüche – paradox. Es ist ein Balanceakt zwischen rivalisierenden Spannungen, die um unsere Zeit, unsere Energie und unsere Aufmerksamkeit buhlen und uns unbedingt davon überzeugen wollen, dass wir nur entweder das eine oder das andere wählen können.

Jeden Tag werden wir mit diesem Dilemma konfrontiert. Sollen wir mehr Zeit mit unserer Familie verbringen oder unsere Karriere aufbauen? Sollen wir experimentieren und Risiken eingehen, oder sollen wir alles genauso machen, wie man es schon immer gemacht hat? Brauchen unsere Kinder mehr Freiheit oder mehr Aufsicht? Sollen wir von zuhause wegziehen oder in der Nähe unserer Lieben bleiben? Was ist besser: Zusammenarbeit oder Konkurrenz? Sollen wir über andere bestimmen, oder ist es besser, sie zu fördern? Sollen wir alles im Alleingang schaffen oder um Unterstützung bitten? Großzügig sein oder uns abgrenzen? Ruhig bleiben oder einen Gegenangriff starten?

Uralten Überlieferungen nach sind Spannungen nicht nur ein natürlicher Teil des Lebens, sondern das Leben selbst. Es ist die dynamische Spannung von Gegensätzen, die die sich ständig verändernden und sich weiterentwickelnden Komponenten des Universums gebiert und erhält. Die Interaktion der Gegensätze, symbolisiert vom wirbelnden schwarzweißen Kreis des T’ai Chi, ist ein Beispiel für das universelle Prinzip, demzufolge die eine Hälfte des Ganzen nicht ohne die andere existieren kann.

Beide Aspekte dieses Bildes vervollständigen den Kreis der Ganzheit. Wir brauchen beides: Tag und Nacht, männlich und weiblich, Bewegung und Ruhe, die linke und die rechte Gehirnhälfte, die Einzelheiten und die Gesamtheit, Zielgerichtetheit und Flexibilität. Ohne das dynamische Zusammenspiel dieser machtvollen Paare gibt es nur Stagnation, Verfall und letzten Endes den Tod. Die kreative Spannung, die ich als das Spiel des Paradoxen bezeichne, ist für Leben und Wachstum absolut notwendig.

DER ROTE FADEN

Was ist ein Paradoxon? Zu einem Paradoxon gehören zwei Elemente, Wahrheiten, Prinzipien oder Aspekte, die einander zu widersprechen scheinen, aber beide gültig sind. Sprichworte wie: »Es war die beste und die schlimmste Zeit«, »Alle guten Anführer sind Diener« oder »Je mehr man lernt, desto mehr begreift man, wie wenig man weiß« sind paradox. Das Geheimnis und die Bedeutung, die Komödien und die Tragödien des Lebens beruhen auf dem Paradoxen. Seine leidenschaftlichsten Verfechter sind Wissenschaftler (die immer noch versuchen, die Paradoxa der Physik zu lösen), Komödianten (die sich ihren Lebensunterhalt damit verdienen, auf die Widersprüche des Lebens hinzuweisen) und Mystiker, die glauben, dass wir einen Blick auf die spirituelle Welt erhaschen können, obwohl wir uns auf der physischen Ebene befinden: das größte Paradoxon von allen.

Östliche und westliche Weise sprechen oft davon, wie es ist, innerhalb eines Paradoxons gefangen zu sein. Sie beschreiben dies dergestalt, dass wir gezwungen werden, über unser enges Denken hinauszugehen. Sie sagen uns, dass die widersprüchlichen Spannungen des Lebens einander gar nicht widersprechen, sondern ergänzen, und dass sie einander nicht ausschließen, sondern einschließen. Das Leben, sagen sie, besteht nicht aus diesem oder jenem, sondern aus diesem und jenem.

Das Paradoxon zieht sich wie ein roter Faden durch die spirituellen Überlieferungen der ganzen Welt. Der heilige Franziskus spielte zum Beispiel darauf an, als er sagte: »Nur durch das Geben empfangen wir, und nur durch den Tod werden wir ins ewige Leben geboren.« Buddha erklärte seinen Schülern, dass es für ihr spirituelles Wachstum notwendig war, sich ins Sangha (in die Gemeinschaft) zu flüchten, aber rätselhafterweise riet er ihnen zugleich auch: »Suche in niemandem außer in dir selbst nach Zuflucht.« Lao-Tse, der chinesische Weise und Gründer des Taoismus, lehrte: »Wer leer ist, ist erfüllt ... Wer nichts besitzt, ist reich.« Jesus warnte: »Seid darum klug wie die Schlangen und unschuldig wie die Tauben.«

Waren diese großen Lehrer etwa nur verwirrt? Hat jemand bei der Übersetzung ihrer Worte Fehler gemacht? Absolut nicht. In den Schriften und im Leben der Weisen überwiegt das Paradoxe. Es ist sogar eine ihrer wichtigsten Lektionen, dass wir die Spannung der Gegensätze nicht ignorieren oder leugnen können, denn auf ihr beruht das ganze Universum. Der Sufi-Mystiker Rumi fasste es folgendermaßen zusammen: »Gottes Lehrmethode ist der Gegensatz, damit wir statt nur einem Flügel zwei zum Fliegen haben.«

Paradoxa wird es immer geben. Wir können ihnen nicht entkommen, wir können sie nur akzeptieren und uns mit ihnen vereinigen. In Wirklichkeit sind die scheinbaren Gegensätze nämlich zwei Seiten derselben Münze und wurden dazu geschaffen, harmonisch miteinander zu wirken.

Das Prinzip des Paradoxen hat nichts mit Konfessionen zu tun. Egal, welchem kulturellen Hintergrund oder welcher Tradition wir auch entstammen – wir werden immer damit konfrontiert werden. Unsere Aufgabe besteht laut den Weisen darin, zu lernen, wie man sich dem Fluss, dem Auf und Ab des Lebens überlässt, denn das Universum fordert uns dazu auf, zuerst der einen und dann der anderen Seite des Paradoxons zur rechten Zeit und am rechten Ort unsere Aufmerksamkeit zu widmen. Wie ein erleuchteter Pandit einst sagte: »Selig sind die Flexiblen, denn ihre Form wird nicht gesprengt werden.«

DURCHBRÜCHE SCHAFFEN, NICHT ZUSAMMENBRÜCHE ERLEIDEN

Was geschieht, wenn wir nicht beide Seiten des Paradoxons bejahen? Dann erzeugen wir statt eines Durchbruchs einen Zusammenbruch. Wenn wir uns weigern, unsere körperlichen Bedürfnisse zu respektieren, klappt unser Körper vielleicht zusammen und befördert uns in ein Krankenhausbett, wo wir dann gezwungen sind, auf ihn zu hören. Wenn wir andererseits unsere ganze Aufmerksamkeit unseren materiellen Bedürfnissen widmen und unseren Geist nicht ernähren, beginnt unsere Seele zu schmerzen, und wir gleiten in Depressionen ab, ohne zu wissen warum. Kurz gesagt: Wenn wir aus dem Gleichgewicht geraten, werden wir einseitig. Es ist, als säßen wir auf dem einen Ende einer Wippe, die plötzlich herunterkracht, weil unser Spielkamerad davonrennt und uns allein lässt. Wir fallen auf den Boden, weil auf der anderen Seite nichts mehr ist, was Bewegung erzeugen könnte.

Ich glaube, der häufigste Stressauslöser ist unsere Unfähigkeit, das Spiel des Paradoxen zu erkennen und daran teilzunehmen. Oft bleiben wir aufgrund des Irrglaubens, den man uns beigebracht hat und der uns geläufig ist, auf der einen oder anderen Seite des Paradoxons stecken. Wir wissen nicht einmal, dass es sich dabei um einen Irrglauben handelt, weil wir ihn automatisch als wahr akzeptieren. Er beruht auf dem, was wir für den grundlegenden Arbeitsmechanismus der Welt halten, und hindert uns wie eine Zwangsjacke daran, uns umzudrehen und die andere Seite der Gleichung zu betrachten. Er bringt uns dazu zu glauben, dass wir keine andere Wahl haben.

Wenn wir aus dem Gleichgewicht geraten, schickt uns das Leben Botschaften in Gestalt von Umständen, Menschen oder Ereignissen, um uns beim Wiedererlangen der Balance zu helfen. Zweifelsohne entspricht es der menschlichen Natur, dass wir dann in die entgegengesetzte Richtung rennen wollen oder die Boten sogar »umbringen«, damit wir nicht auf ihre Botschaften hören müssen. Aber das funktioniert niemals. Die Boten kommen so lange, bis wir innehalten und zuhören und ihre Einladung zum Tanz annehmen.

Dieses Buch erforscht eines der vielen Paradoxa des Lebens – das Paradoxon des Gebens und Annehmens. Wir sind dazu aufgerufen, das heikle Gleichgewicht des Gebens und Annehmens in buchstäblich jedem Bereich unseres Lebens zu meistern. Es begegnet uns, wenn wir uns mit Themen wie Überfluss, Selbstwertgefühl, Gesundheit, Beziehungen, Karriere und dem Aufspüren der eigenen Talente befassen – um nur einige zu nennen. Im Kern geht es beim Paradoxon des Gebens und Annehmens um ein einziges Hauptthema, das für so viele von uns ein Problem ist: Wie kann ich die Bedürfnisse der anderen mit meinen eigenen Bedürfnissen in Einklang bringen? Muss ich mich wirklich selbst aufgeben, wenn ich anderen etwas geben will?

Ich möchte von vornherein klarstellen, dass es ein großer Unterschied ist, ob man sich selbst respektiert oder ob man sich verhätschelt. Und es geht auch nicht darum, Menschen, die einen brauchen, die kalte Schulter zu zeigen. Das Thema des Gebens und Annehmens geht tiefer. Viel tiefer sogar. Wenn man sich selbst respektiert, dann hat man Achtung und Hochachtung vor sich und bringt das Beste in sich selbst zum Vorschein, und dadurch kann man auf eine kreative Weise geben, die auch die anderen respektiert.

Zugegeben: Die moderne Gesellschaft ist nicht allzu gut dafür gerüstet, uns wieder ins Gleichgewicht zu bringen, aber die Weisen aus Ost und West sind darin Experten. Auf den Seiten dieses Buches können Sie ihre praktischen und oft überraschenden Ratschläge zum Meistern der inneren Kunst des Gebens und Annehmens für sich erschließen. Sie werden lernen, den Irrglauben, der Sie wie eine Geisel gefangen hält, als solchen zu entlarven – als eine Art Aberglaube, der Sie wie durch Scheuklappen daran hindert, ein Leben voller Möglichkeiten und Leidenschaft zu leben. Sie werden lernen, was es heißt, Ihre Begabungen und Ihre eigene Größe zu feiern, und Sie werden erforschen, welche inneren Dynamiken gewissen Vorgängen zugrunde liegen – beispielsweise dem Geben mit dem Herzen statt mit dem Kopf, dem Ziehen von Grenzen, dem ehrliches Erkennen, welche Menschen einem schaden, wie man sich mit Hilfe seiner Gefühle treu bleibt, die eigene Stimme findet und akzeptiert, wenn etwas zu Ende geht.

Das Wichtigste ist: Sie werden praktische Schritte lernen, die Ihnen dabei helfen, im Gleichgewicht zu bleiben, denn sobald Sie die Schritte beherrschen, beherrschen Sie auch den Tanz – und dann fängt die Magie an.

WIEDER IN DEN RHYTHMUS GELANGEN

Wir sind alle in der Tanzschule und lernen, die eine oder andere Bewegung auszuführen. Wir sind alle Schüler des Lebens und lernen neue Möglichkeiten, uns harmonisch mit den Kadenzen der ständig wechselnden Lebensmusik zu bewegen. Jeder von uns ist auf seine Weise auch Lehrer, denn wir teilen anderen mit, was wir lernen. Und ja, es ist paradoxerweise wahr, dass wir oft anderen das beibringen, was wir selbst am dringendsten lernen müssten. Dies habe ich persönlich bei allen Themen erlebt, über die ich jemals Bücher geschrieben habe, und dieses Buch bildet da keine Ausnahme. Ich lerne jeden Tag, was es bedeutet, mich selbst und das höchste Potenzial meiner selbst zu achten und zu respektieren.

Je nachdem, wie der Tag und der Tanz verlaufen, stolpere ich immer noch und komme aus dem Takt. Ich muss immer noch innehalten, ein paar Mal tief durchatmen und dann wieder in den Takt der Musik kommen. Aber ich lerne, und nur darum geht es all den unglaublich geduldigen Lehrern, die mich auf die Tanzfläche locken (und manchmal auch zerren). Ich bin sicher, dass ich mit etwas mehr Übung besser tanzen werde, aber ich weiß auch, dass ich immer weiter lernen werde. Ich werde immer neue Tanzschritte erlernen, um meine Talente zu ehren und zu feiern.

In wahrhaft paradoxer Manier könnte man also sagen, dass ich dieses Buch ebenso für Sie wie für mich geschrieben habe. Bis zu einem gewissen Grad spiegelt es meine eigene Reise und die Entdeckungen wider, die mir wertvoll genug erscheinen, sie an Sie weitergeben zu wollen.

Kein Buch enthält alle Antworten oder kann Ihnen alle Tanzschritte beibringen, aber ich hoffe, dass Ihnen dieses Buch helfen wird, in all den Haarnadelkurven des Lebens einen Sinn zu entdecken. Ich hoffe, es wird Ihnen zeigen, wie Sie mit etwas leichterem Schritt reagieren können, wenn das Leben Sie umwirft. Und ich hoffe, es wird Ihnen dabei helfen, zu lächeln und etwas entspannter zu sein, damit Sie den Tanz einfach nur genießen können.

KAPITEL 2

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DIE SUCHE NACH DEM GLEICHGEWICHT

Wenn man nicht mit sich selbst in Berührung ist, kann man auch andere nicht berühren.

– ANNE MORROW LINDBERGH

»Ich bin gut, wenn ich anderen etwas gebe. Geben ist besser als Nehmen.« Irrglaube oder Magie?

Viele von uns sind in dem Glauben aufgewachsen, dass es unsere heilige Pflicht ist, anderen Menschen zu geben und zu geben und immer weiter zu geben, aber das ist nur die halbe Wahrheit – ein Irrglaube, der uns daran hindert, freudig zu leben und aus ganzem Herzen zu geben. Bedenken Sie, was die großen Weisen dieser Welt sagen: Man hat die Pflicht, sowohl anderen als auch sich selbst zu geben. Wer in Not ist, muss auch empfangen. Dieser Rat klingt nach einer Binsenweisheit, aber wer von uns hat sich selbst auch nur ins obere Drittel unserer endlosen Pflichtenliste geschrieben?

Die Prinzipien des Gebens und Annehmens in unserem Alltag unterscheiden sich in nichts von den Prinzipien, nach denen die Natur ringsum funktioniert. »Ein Feld, das brach lag, gibt reiche Ernte«, sagte der römische Dichter Ovid. Die Erde muss genügend Sonne, Wasser und Dünger empfangen, bevor sie aus den von uns gepflanzten Samen eine reiche Ernte hervorbringen kann. Nachdem die Erde die Ernte geboren hat, muss sie sich ausruhen und ihre Lebenskraft erneuern, damit sie erneut geben kann. Das Gleiche gilt für Ihr Leben. Wie können Sie anderen etwas geben, wenn Sie nicht zunächst sich selbst ernähren und auftanken?

Diese Frage bildet den Kern des ersten Grundsatzes, den man uns als Kind beigebracht hat – wenn auch auf eine Weise, die Ihnen bisher vielleicht nie aufgefallen ist. Es ist die sogenannte Goldene Regel. Die Goldene Regel findet sich in allen Traditionen dieser Welt. Im Mahabharata, dem ältesten Epos Indiens, steht: »Füge nichts anderen zu, was dir Schmerzen bereiten würde, wenn man es dir zufügte.« Der Islam bestätigt, dass ein wahrer Gläubiger »sich für seinen Bruder dasselbe wünscht wie für sich selbst«, und das Christentum lehrt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Wenn wir aber andere genauso lieben und sie so behandeln sollen, wie wir uns selbst lieben und behandeln, was wird dann aus ihnen, wenn wir uns selbst nicht mit Liebe und Zuneigung begegnen? Anders ausgedrückt: Wir können andere nicht wirklich respektieren, wenn wir uns nicht zuerst selbst respektieren.

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IRRGLAUBE

Es ist immer meine Pflicht, anderen zu geben.

MAGIE

Es ist meine Pflicht, mir selbst ebenso viel zu geben wie den anderen. Indem ich mir selbst gebe, gebe ich den anderen.

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Hier treffen wir auf das erste Paradoxon der inneren Kunst des Gebens und Annehmens: Wir können andere am besten lieben und am besten für sie sorgen, wenn wir zuerst uns selbst lieben und für uns sorgen. Wie bei allen echten Paradoxa schließen diese beiden scheinbaren Gegensätze einander nicht aus, sondern einander ein.

Sowohl Geben als auch Annehmen hat seine rechte Zeit. Das Buch Kohelet, auch unter dem Namen »Prediger« bekannt, sagt uns in Worten, die durch den Song Turn! Turn! Turn! von Pete Seeger weltberühmt wurden: »To every thing there is a season, and a time to every purpose under the heaven: A time to be born, and a time to die; a time to plant, and a time to pluck up that which is planted; a time to cast away stones, and a time to gather stones together; a time to embrace, and a time to refrain from embracing.« In der deutschen Fassung von Marlene Dietrich lauten diese Zeilen: Für alles Tun auf dieser Welt kommt die Zeit, wenn es dem Himmel so gefällt. Die Zeit der Fülle, die Zeit der Not. Die Zeit der Saat, der Erntezeit. Die Zeit zum Frieden nach all dem Leid. Denn Streit und Friede hat seine Zeit.

Wir müssen herausfinden, in welcher Zeit wir im Augenblick leben, und ihren Ruf achten.

LERNEN, SICH SELBST ZU GEBEN

Manche von uns können großartig geben, aber nur sehr schwer empfangen. Wir bitten andere nie um Unterstützung. Wir gestehen weder anderen noch uns selbst ein, dass wir Unterstützung brauchen. Wir nehmen nicht einmal gern Komplimente an. Wir leben auf der einen Seite des Paradoxons (»Ich habe die Pflicht, anderen zu geben«), aber wir haben die Kehrseite vergessen (»Ich habe die Pflicht, mir selbst zu geben«). Wenn dies geschieht, wird das Universum einschreiten, um uns aufzuwecken, das Gleichgewicht wiederherzustellen und uns zu zeigen, dass wir uns selbst ebenfalls achten müssen.

Wer wir auch sein mögen – das Leben akzeptiert uns automatisch als Lehrling in der Kunst des Gebens und Annehmens, und unsere Lektionen beginnen häufig mit dem, was wir sehen und anfassen können: mit unserem Körper. Sie beginnen mit den Fragen: Liebst du dich selbst genug, um auf die Bedürfnisse deines Körpers zu achten? Gibst du dir die Nahrung, Ruhe und Erholung, die du verdienst?

Wenn Sie sich diese Dinge nicht freiwillig geben, dann wird Ihr Körper früher oder später dafür sorgen, dass Sie es tun. Ich habe mit angesehen, wie dies einer Bekannten passierte, der ich jedes Jahr mehrmals auf Geschäftskonferenzen begegnete. Während eines Treffens fragte ich sie, wie es ihr ginge, da ich wusste, dass sie vor Kurzem eine Operation hinter sich gebracht hatte.

»Es geht mir gut, aber ich arbeite schon wieder so viel«, sagte sie mit gerunzelter Stirn. »Wenn ich mir nicht bald eine Zeit lang freinehme, muss ich einen weiteren Krankenhausaufenthalt einplanen!« Mein Herz tat einen Sprung, als mir klar wurde, dass sie ihre Prophezeiung womöglich selbst erfüllen würde. Sie hatte die Lektion nicht gelernt, die ihr Körper ihr beim ersten Mal beizubringen versucht hatte. Ich kenne solche Lektionen aus eigener Erfahrung. Als ich mich von meinem eigenen unerwarteten Krankenhausaufenthalt erholte, bestand eine Freundin, die Krankenschwester war, darauf, mehrmals täglich vorbeizukommen, um sicher zu sein, dass ich auch alles hatte, was ich brauchte. Sie merkte, dass es mir schwerfiel, still zu sitzen und die Tatsache zu akzeptieren, dass ich mich ausruhen musste, und deshalb ernannte sie sich für diese Woche zu meinem Schutzengel. Immer wieder sagte ich ihr, dass es mir gut ginge und dass ich keinen Grund hatte, nicht aufzustehen. Außerdem musste ich mich doch um so vieles kümmern. Sie kaufte es mir nicht ab. Sie sah mir tief in die Augen und sagte: »Deine Aufgabe besteht nun darin, still zu sitzen und dich zu entspannen.«

Dann sagte sie mir, dass sie mir nur eine Lektion weitergab, die sie gelernt hatte, als sie selbst krank geworden war. Genau wie ich hatte sie gleich aufspringen und wieder aktiv sein wollen. Eine ihrer Mentorinnen überraschte sie außerhalb des Bettes und schickte sie sofort unter die Bettdecke zurück. »Du bist schon so lange Krankenschwester, dass du glaubst, du müsstest immer nur den anderen etwas geben. Jetzt musst du lernen, selbst etwas zu empfangen.« Damit konnte ich mich identifizieren. Ich hatte den Verdacht, dass es zu einem gewissen Teil meine Neigung zu harter und ununterbrochener Arbeit gewesen war, die mich überhaupt erst ins Krankenhaus gebracht hatte. Nachdem meine Freundin gegangen war, lehnte ich mich zurück, schloss die Augen und schlief prompt ein. Sie hatte recht. Mein Körper war noch nicht bereit, wieder zu geben.

Wir haben zwar gelernt, dass es uns geistig förderlich ist, wenn wir unsere Aufmerksamkeit vom Körper und der materiellen Welt ab- und dem »Andersweltlichen« zuwenden, aber in dieser Logik steckt eine falsche Grundannahme, eine Fehlinterpretation, vor der die größten Lehrer der Welt uns gewarnt haben. Sie sagen uns, dass wir gut für unseren Körper sorgen müssen, wenn wir mit unserem inneren Potenzial in Berührung kommen wollen.

So sagte beispielsweise Rabbi Nachman aus Bratislava: »Stärke deinen Körper, bevor du deine Seele stärkst.« Über zweitausend Jahre davor inspirierte diese Erkenntnis den Begründer des Buddhismus dazu, einen der wichtigsten Grundsätze seiner Philosophie zu entwickeln – den mittleren Pfad. Siddharta Gautama, ein indischer Prinz, verließ seine Frau und seine kleinen Kinder, um nach etwas zu suchen, das über Reichtum und materielle Vergnügungen hinausging. Sechs Jahre lang lebte er als Asket und glaubte, dass die Zucht extremer Entbehrungen ihn seinem Ziel, der Erleuchtung, näherbringen würde. Er missgönnte sich die Nahrung, die er brauchte, und wurde so schwach, dass er beinahe verhungerte.

Zum Glück fand ein junges Mädchen Gautama und bot ihm eine Schüssel nahrhafter Reismilch an. Er begriff, dass sein Opfer und seine rigorosen Übungen ihn seiner Erleuchtung nicht nähergebracht hatten, und aß das Reisgericht dankbar auf. Gestärkt schwor er, so lange unter einem Baum zu meditieren, bis er die Erleuchtung erlangte. Während dieser Tortur musste er mit vielen Versuchungen kämpfen, aber da er nun Kraft besaß, gelang es ihm schließlich, sein Ziel zu erreichen. Nachdem er erwacht war, formulierte er seinen ersten Lehrsatz: Wir können die Erleuchtung (und auch alle anderen tiefempfundenen Ziele) nur erreichen, wenn wir den mittleren Pfad gehen und sowohl das Extrem des Sich-selbst-Verhätschelns als auch das Extrem der Selbstverleugnung meiden.

Das universelle Prinzip des mittleren Pfades hat für uns heute genauso viel Gültigkeit wie für die Menschen, die es zum ersten Mal aus dem Mund des Buddhas hörten. Auch wir müssen untersuchen, ob uns unsere extreme Selbstaufopferung und die Gewohnheiten, von denen wir glauben, dass sie uns »gut« machen, wirklich der Erfüllung und dem Sinn, den wir im Leben suchen, näherbringen. Vernachlässigen Sie die Bedürfnisse Ihres Körpers, weil Sie den Irrglauben für wahr halten, »meine einzige Pflicht ist es, anderen zu geben«? Ignorieren Sie die Warnsignale und die Botschaften, die sich bemühen, Sie wieder ins Gleichgewicht zu bringen? Denken Sie an Ihren Körper wirklich als an etwas, das Sie lieben müssen?

Die Biochemikerin Nora, ihres Zeichens Forscherin, erlebte, wie ihre Auffassung vom eigenen Körper ihr Leben veränderte. Jahrelang hatte Nora erfolglos mit allen möglichen Diät- und Fitnessprogrammen gekämpft. Als sie durch ein ernstes Gesundheitsproblem in Angst versetzt wurde, sagte sie sich, dass dies der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sie musste in Form kommen – jetzt oder nie.

Springen wir drei Monate in die Zukunft. Nun begegnete ich einer Nora, die ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen trug. Sie hatte sich und ihre Freunde damit überrascht, dass sie in dieser kurzen Zeit mehr abgenommen hatte, als sie je für möglich gehalten hätte. »Ich neige dazu, sehr kopflastig zu sein«, gab sie zu, »und darum habe ich mir nie die Zeit genommen, auf meinen Körper zu achten. Aber als ich anfing, Dinge zu tun, die körperlich gut für mich waren, merkte ich, dass es gar nicht ums Abnehmen ging, sondern darum, meinen Körper zu lieben. Das hat alles verändert. Wenn ich es mir recht überlege, dann ist es gar nicht so schwierig, bewusst zu essen.«

Man muss nicht übergewichtig sein, um sich mit Nora zu identifizieren. Unser Leben ist dermaßen hektisch, und wenn etwas zu kurz kommt, dann ist es meistens unser Körper – ob sich das nun darin äußert, dass wir Mahlzeiten überspringen oder dass wir unterwegs Fast Food hinunterschlingen oder dass wir allzu viele stimulierende Getränke zu uns nehmen oder dass wir nie dazu kommen, unsere Fitnessübungen zu machen. Das Problem ist: Wenn wir nicht dafür sorgen, dass unser Körper im Gleichgewicht ist, dann leidet auch der Rest von uns darunter – unser Denken, unsere Gefühle, unser Geist und unsere Beziehungen.

In dem Buch Zorbas der Grieche kommt eine Szene vor, die die Wichtigkeit, für unseren Körper zu sorgen, auf den Punkt bringt. Der erdverbundene Zorbas tut alles mit völliger Hingabe und Leidenschaft. Zorbas’ Chef dagegen muss erst lernen, wie viel Freude eine derart lebensbejahende Haltung macht. Als dieser Chef, die Nase in einem Buch und gedanklich in höheren Sphären, behauptet, nicht hungrig zu sein und das köstliche Mahl, das Zorbas zubereitet hat, nicht essen will, ruft Zorbas aus: »Aber Sie haben seit heute Morgen keinen Bissen mehr zu sich genommen! Der Körper hat auch eine Seele, haben Sie Mitleid mit ihm! Geben Sie ihm etwas zu essen, Chef, geben Sie ihm etwas: Er ist unser Lasttier, wissen Sie. Wenn Sie ihn nicht füttern, dann lässt er Sie mitten auf der Straße im Stich.«1

DIE ILLUSION, STARK GENUG ZU SEIN

Ein weiterer Irrglaube, der es uns erschwert, uns selbst die Aufmerksamkeit entgegenzubringen, die wir verdienen, ist die Vorstellung, dass Hektik Stärke ist: Je mehr Bälle wir gleichzeitig in der Luft halten können, desto stärker sind wir. Wenn wir scheinbar die Fähigkeit besitzen, uns selbst immer weiter anzutreiben – immer weiter und weiter –, dann, glauben wir, können wir alles erreichen. Wir glauben, dass wir zu einer ganz besonderen Sorte Mensch gehören, die zum Geben geschaffen wurde und sich nicht so oft ausruhen muss wie die anderen und seltener Ruhepausen einlegen muss als die anderen. Dabei machen wir uns nur selbst etwas vor. Die Wahrheit ist: Je getriebener wir sind, desto weniger Energie haben wir.

Brendan Kelly ist Akupunkteur und Kräuterkundiger, und sein Spezialgebiet ist die chinesische Fünf-Elemente-Akupunktur. Er erklärte mir, wie das vor sich geht, denn ich muss zugeben, dass ich zu den Menschen gehöre, die es geschafft haben, sich etwas vorzumachen. Wie bei allen Heilmethoden gibt es auch hier viele unterschiedliche Auffassungen darüber, wie die Energie in unserem Körper und in unserem Leben funktioniert, und was nun folgt, ist nur eine Auslegung der klassischen chinesischen Auffassung darüber, wie Körper, Seele und Geist zusammenwirken. Sie beruht auf dem Grundsatz, dass der Körper abwechselnde Zyklen der Aktivität und der Ruhe braucht, damit wir unsere Kraftreserven wieder auffüllen können.

Ein Übermaß an Aktivität in unserem Leben erzeugt im Körper das, was die chinesische Medizin als »Hitze« bezeichnet. Die Hitze, die wir durch unsere andauernde Hektik erzeugen, verbraucht das »Kühlelement« unseres Körpers, das wir brauchen, um unsere inneren Ressourcen und Reserven intakt zu halten. Wenn wir zu viele Reserven aufbrauchen und viel mehr Hitze als Kühlelemente haben, können wir eine ganze Reihe von Symptomen entwickeln – von innerer Unruhe und Schlaflosigkeit bis hin zu Hitzewallungen, Erröten und dem physischen Erhitzen irgendeiner Körperstelle. »Dieses Kühlelement ist das, was die Chinesen ›Yin-Energie‹ nennen, und es ist eine Quelle (wenn auch nicht die einzige) unseres inneren Friedens und auch der tiefen Weisheit«, erklärte Brendan. »Wenn wir dieses Kühlelement aufbrauchen, opfern wir die Möglichkeit des tiefen Friedens und der Weisheit zugunsten kurzfristiger Aktivität und Hektik.«

Mit anderen Worten: Wenn wir dafür sorgen, dass unser Leben von Aktivität erfüllt ist und uns keine Zeit zum Auftanken mehr bleibt, dann erzeugen wir »einen Mangel an innerem Frieden und verlieren die Fähigkeit, auf das zu hören, was wir sind«, sagte Brendan. »Ohne genügend ›Kühlung‹ können wir nicht wissen, wer wir tief im Herzen sind, und wir können auch das, was wir sind, nicht mehr auf harmonische Weise zum Ausdruck bringen.« Logischerweise können wir unser Yin-Element (unser Kühlelement) wieder aufbauen, indem wir uns entspannen und einen Zustand der Stille erzeugen – sei es, indem wir öfter eine Pause einlegen oder mehr schlafen, oder indem wir beten oder meditieren, oder indem wir bestimmte Heiltherapien anwenden.

Und auf diese Weise machen wir uns selbst etwas vor: Je weniger Kraft oder Reserven wir in uns spüren, desto stärker wird das Gefühl innerer Unzulänglichkeit, als hätten wir einfach nicht mehr genug Kraft, um weiterzumachen. Niemand spürt so etwas gern, deshalb neigen wir dazu, uns zum Ausgleich noch stärker anzuspornen. Wir pumpen uns mit Aufputschmitteln voll, stopfen unsere Tage randvoll mit Aktivitäten und erzeugen noch mehr äußere Betriebsamkeit. All dies verschleiert das Gefühl, dass wir ausgelaugt sind. Die Betriebsamkeit, die Aktivität, die stimulierenden Mittel verbergen unsere innere Erschöpfung und erzeugen die Illusion, dass wir mehr Energie besitzen, als wir tatsächlich haben. Unsere moderne, schnelllebige Kultur verstärkt diese Illusion noch, indem sie das ständige Summen der Betriebsamkeit fördert. Wir besitzen gewaltige Fertigkeiten bei der Herstellung aller möglichen Produkte, die uns dabei helfen, immerfort weiterzusummen. Aber in Wirklichkeit ist das innere Summen, das wir die ganze Zeit als Energie bezeichnen, gar keine Energie. Vielmehr ist es ein Anzeichen für einen Mangel an wahrer Energie.

»Die zusätzliche Körperhitze vermittelt uns den Eindruck, mehr Energie zu haben«, sagte Brendan, »aber wir haben gar nicht mehr Energie, sondern lediglich mehr Hitze. Wenn Sie Hitze statt echter Energie benutzen, um sich den ganzen Tag lang anzutreiben, dann geben Sie dafür das Gefühl Ihres inneren Wohlbefindens auf.« Worin besteht der Unterschied zwischen dieser Situation und einem Zustand, in dem wir in Wahrheit voller Energie und erfüllt sind? Wenn wir genügend innere Reserven haben, hetzen wir nicht herum, sondern wir empfinden Frieden und innere Stabilität, denn wir fühlen uns erfüllt und sicher. Wir tun alles, was getan werden muss, aber wir sind nicht besessen von dem zwanghaften Bedürfnis, über die Grenzen hinauszugehen, die uns unser Körper in diesem Moment setzt, denn wir wissen, dass wir anderen nichts zu geben haben, wenn wir selbst nicht erfüllt sind.

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IRRGLAUBE

Mein Antrieb zur Betriebsamkeit und meine Fähigkeit, immer noch mehr zu tun, bedeuten, dass ich stark bin.

MAGIE

Ruhe erschafft Kraft.

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Ein klassisches Bild, das manchmal als Symbol für diesen Vorgang benutzt wird, ist ein Feuer (die Hitze), das unter einem Gefäß (unserem Körper) brennt. Darin befindet sich Wasser (unser Yin-Kühlelement). Das Feuer erhitzt das Wasser und erzeugt Dampf, und dieser repräsentiert unsere Vitalenergie beziehungsweise unsere essentielle Lebenskraft, die die Chinesen Ch’i nennen. Ch’i ist die nährende Energie, die wir zum Leben brauchen. Wenn alles ausbalanciert ist, wirkt sich das Feuer auf natürliche Weise wärmend aus. Wird aber das Feuer zu heiß, beginnt das Wasser zu kochen. Hält dieser Zustand zu lange an, konsumiert die Hitze im wörtlichen Sinn das Wasser und vergeudet die Energie, die wir brauchen, um unser inneres Feuer zu erhalten. Ist das Wasser erst einmal weggekocht, können wir buchstäblich zusammenbrechen, weil wir nicht in der Lage sind, mehr Energie beziehungsweise Ch’i zu erzeugen. »Wenn das geschieht, sind die Resultate oft sehr dramatisch«, sagte Brendan. »Im einen Monat haben Sie das Gefühl, eine Menge Energie zu haben, und im nächsten Monat stürzen Sie ab: Sie liegen im Bett und können sich nicht bewegen.«

Läuft Ihr Motor mit vollem Tank, oder haben Sie lediglich die Illusion, Ihr Tank sei voll? Lassen Sie Ihren Tank leerlaufen, bevor Sie ihn wieder auffüllen, wodurch Sie riskieren, dass der Motor abstirbt? Lassen Sie Ihr Licht ausgehen, weil in Ihrer inneren Lampe nicht genügend Öl ist? Kurz gesagt: Wo stehen Sie selbst auf der Liste der Prioritäten, die Sie im Leben setzen? Allzu oft verbannen wir unsere Bedürfnisse an das Ende der Liste – falls wir überhaupt darauf vorkommen. Zunächst kümmern wir uns um unsere Pflichten und Verpflichtungen anderen gegenüber und verwenden dann die Energie, die noch übrig ist, für uns selbst. Aber, ganz ehrlich: Wie oft bleibt denn überhaupt noch Energie übrig?

Wie wäre es, wenn wir diese Reihenfolge umkehren würden? Wie wäre es, wenn wir uns zuerst davon überzeugen würden, dass unsere Lampe genügend Öl enthält, bevor wir anderen den Weg erleuchten? Würde uns das nicht dabei helfen, ein starkes Licht in unserer Lampe aufrechtzuerhalten, wodurch wir anderen mehr Licht geben könnten? Dazu müssen wir lernen, unsere inneren Bedürfnisse zu erkennen und gesunde Grenzen zu ziehen, damit wir genügend Zeit und Energie haben, diese Bedürfnisse auch zu erfüllen. Um uns selbst zu erneuern, damit wir weiterhin geben können, und zwar auf positive Weise, müssen wir mit ganzem Herzen das Paradoxon annehmen, dass es möglich ist, Ja zu sagen, indem man Nein sagt.

Falls Sie sich bei der Vorstellung, Nein zu sagen, innerlich zusammenziehen, sollten Sie wissen, dass dieses Prinzip direkt aus den spirituellen Lehren stammt. Die größten Lehrer wussten, wie man Nein sagt. Wie wir alle mussten auch sie Zeit allein verbringen, um sich wiederaufzuladen und zu erneuern. Selbst eine unermüdliche Missionarin des Mitgefühls wie Mutter Teresa lehrt, dass Erneuerung eine Voraussetzung für Kraft ist. Sie sagte, dass die Erneuerung uns die Kraft gibt, weiterhin anderen zu dienen. Sie wies darauf hin, dass »die kontemplativen Denker und Asketen aller Zeitalter und Religionen Gott in der Stille und Einsamkeit der Wüste, des Waldes oder der Berge gesucht haben«, und sagte, dass auch wir dazu aufgerufen sind, uns in gewissen Abständen zurückzuziehen.2 Wenn wir in der Stille allein mit Gott sind, sagte sie, »sammeln wir die innere Kraft, die wir weitergeben, wenn wir aktiv sind«.3

Sie folgte dabei dem Rat ihres eigenen Lehrers. Jesus tat dasselbe, als er die Menschenmenge mit Brot und Fischen gespeist hatte. Er wies seine Jünger an, schon voraus ins Boot zu steigen, »und als er die Menge fortgeschickt hatte, stieg er allein auf einen Berg, um zu beten, und als der Abend kam, war er dort allein«. In einem etwas leichteren Tonfall witzelte John Barrymore über dasselbe Thema: »Gott sagte, dass es nicht gut ist, wenn der Mensch allein sei, aber manchmal ist es eine große Erleichterung!«

Wir alle brauchen im natürlichen Auf und Ab unserer Woche Erleichterung. Und dann ist es richtig, Grenzen zu ziehen und Nein zu sagen (höflich natürlich). Sie werden dies im nächsten Kapitel noch näher erkunden. Wenn Ihre Energie abebbt, dann wird es Zeit, einen Gang runterzuschalten und von einer aktiven Ausrichtung, die Energie abgibt, zu einer rezeptiveren Ausrichtung zu wechseln, die auf Empfangen eingestellt ist. Dann wird es Zeit, sich wieder an die eigene Kraftquelle anzuschließen und das zu tun, was Ihnen am meisten Kraft gibt – ob Sie dafür nun in der Natur spazieren gehen oder Ihre Lieblingsmusik hören oder ein Spiel spielen oder einfach die Augen schließen und nichts tun und tief durchatmen.

SICH SELBST KENNEN LERNEN

Statt sich selbst über die eigenen Grenzen hinaus anzutreiben und sich mit stimulierenden Substanzen vollzustopfen, um noch mehr Pflichten anderen gegenüber erfüllen zu können, verlangt das Respektieren des eigenen Selbst nach einer anderen Art von Gewohnheit. Sie sind dazu aufgerufen, sich bewusst zu machen, was Sie brauchen, und zwar in diesem Moment, sowohl im Inneren als auch äußerlich. Um dieses Buch wegzulegen und das zu tun, was Sie tun müssen, damit Sie Ihr Gleichgewicht wiederfinden und sich daran erinnern, dies auch morgen und übermorgen und überübermorgen zu tun, müssen Sie sich zunächst selbst kennen lernen.

»Ich kenne mich selbst« ist eine der tiefsten Aussagen, die wir überhaupt treffen können. Selbsterkenntnis ist schließlich das von Mystikern und Meistern der ganzen Welt angepriesene letztendliche Ziel. Im Vorhof des Apollotempels in Delphi stand die Inschrift »Kenne dich selbst«. Im Buch des Athleten Thomas steht: »Wer sich nicht selbst erkannt hat, hat nichts erkannt«4, und das Buch Sohar aus der jüdischen mystischen Tradition der Kabbala ermutigt uns: »Geh in dich selbst, lerne dich selbst kennen, erfülle dich selbst.«5

Einer der Gründe dafür, dass Sie nichts unternehmen, um Ihre Bedürfnisse zu erfüllen, ist vielleicht, dass Sie sich selbst auf der fundamentalen Ebene gar nicht kennen. Sie wissen nicht, was Sie wirklich fühlen und brauchen. »Sich selbst erkennen« ist zwar eine lebenslange Aufgabe, die immer tiefere Bedeutungsebenen erschließt, aber Sie können täglich kleine Schritte auf dem Weg zu diesem Ziel tun. Hier folgt eine einfache Frage, die Ihnen dabei helfen kann, sich auf das zu konzentrieren, was Sie tun müssen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen: Was brauche ich in diesem Moment zum Glücklichsein?

Wenn ich mir selbst diese Frage stellte, antwortete ich oft, dass ich, um kreativ arbeiten zu können, Ruhe und eine regelmäßige Dosis frischer Luft in der Natur brauche. Aber es reicht nicht, sich dessen bewusst zu sein. Wenn ich mir nicht wichtig genug bin, um mich zu respektieren und diese Bedürfnisse auf meine Prioritätenliste zu schreiben, dann werde ich vergessen, diese Gegengifte zu mir zu nehmen, wenn ich gereizt oder nervös werde. Wenn ich mir nicht vorsätzlich immer und immer wieder diese Frage stelle, vergesse ich, meine Lungen mit frischer Luft zu füllen, sobald die Dinge aus dem Ruder laufen. Ich vergesse, die Kontrolle zu übernehmen und die Stille zu erschaffen, die ich brauche, indem ich das Telefon abstelle, meine E-Mails nicht lese oder mich physisch zum Arbeiten an einen ruhigen Ort zurückziehe.

Eine Freundin, die zuhause arbeitet, erinnerte mich daran, wie viel Kraft man daraus schöpfen kann, sich selbst zu kennen und dann aus diesem Wissen heraus zu handeln. Eines Tages fragte ich sie, wann für sie die beste Zeit für ein Treffen wäre. Sie antwortete sofort und sehr sachlich: »Für mich ist der Spätnachmittag am besten. Wenn ich morgens aus dem Haus gehe, werde ich dazu verführt, alles Mögliche zu erledigen. Ich halte dann auf dem Rückweg ins Büro hier und dort an, und dadurch schaffe ich mein Arbeitspensum nicht.« Sie wusste diese Dinge über sich und konnte deshalb einen Terminplan erstellen, der für sie am besten war. Wie viele der Methoden, sich selbst zu respektieren und zu achten, klingt dies nicht sehr schwierig, aber man braucht Übung dazu. Die Veränderung beginnt damit, dass Sie sich selbst beobachten und kennen lernen – und dann übertragen Sie dieses Wissen in praktische Handlungen, die auf Ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind.

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SCHLÜSSEL ZUM

GLEICHGEWICHT

Achten Sie auf Warnsignale

Der erste Schritt, Ihr Leben wieder ins Gleichgewicht zu bringen, besteht darin zu erkennen, wann Sie überhaupt aus dem Gleichgewicht geraten. Welcher Art sind die Warnsignale, die immer wieder in Ihrem Leben auftauchen, um Ihnen zu sagen, dass Ihr Leben zu einseitig wird? Hier folgen ein paar typische Warnsignale, die Ihnen helfen sollen, sich die Boten deutlicher bewusst zu machen, die in Ihr Leben getreten sind, um Ihnen zu zeigen, wo Sie etwas ausgleichen müssen.