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Mia Monocerus

Die Palominostute


Für alle, die den einstigen „PonyClub“ genauso sehr vermissen wie ich


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Kapitel 1: Gestüt Graf

Lachend parierte ich mein Pferd durch und klopfte ihm den Hals. Der dunkelgraue Kaltblutwallach schüttelte den Kopf und schnaubte freudig. Er liebte es genau wie ich, im Galopp durch den Wald zu preschen.

"Komm schon, Großer. Auf nach Hause!", rief ich. "Cheyenne macht sich bestimmt schon wieder Sorgen um uns." Der Wallach schnaubte enttäuscht und schüttelte erneut den Kopf.

Ich lachte. "Ich weiß ja, Herkules. Ich würde den Ausritt auch gern noch etwas ausdehnen, aber ich muss noch meine Stallarbeiten erledigen. Und außerdem wird es bereits dunkel."

Cheyenne Graf war siebenundzwanzig Jahre alt und meine älteste Schwester. Nach dem Tod meiner Eltern hatte sie mit ihrem Mann Jonas ohne zu zögern das Gestüt Graf in vierter Generation und die Vormundschaft über mich und meine jüngste Schwester Alice übernommen.

Im Grunde war sie uns allen stets eine gute Freundin und Chefin, wenn sie nicht immer so schrecklich übervorsichtig sein würde. Sie drehte förmlich durch, wenn eines ihrer Geschwister sich um ein paar Minuten bei einem Ausritt verspätete oder sich nicht abmeldete.

Und Cheyenne hatte einige Geschwister, um die sie sich Sorgen machen konnte.

Als sie gerade den dritten Sommer erlebt hatte, erblickten die Zwillinge Marc und Tobias das Tageslicht. Sie waren eineiige Zwillinge, doch das beschränkte sich scheinbar nur auf das Äußere.

Marc war der geborene Wirtschafter, er lebte und wirkte in Zahlen und wachte nach seinem Studium in Betriebswirtschaftslehre eisern über alle finanziellen Dinge, die das Gestüt betrafen. Gemeinsam mit Nathalie, seiner langjährigen Lebenspartnerin, bewohnte er die obere Hälfte des Nordflügels im Haupthaus.

Tobias dagegen waren Zahlen egal. Stattdessen hatte er solch ein Charisma, dass es ihm nicht besonders schwer fiel, Kontakte zu knüpfen - sowohl zu Frauen als auch zu anderen Züchtern, Ausbildern und Richtern. Wenn irgendwo etwas stattfand, war er stets zu Stelle und repräsentierte das Gestüt. Im Vergleich zu seinem Bruder wechselten die Freundinnen an Tobias' Seite. Zu Zeit lebte Johanna bei ihm unteren Teil des Nordflügels, denn er hatte sich geweigert, für sie das Gestüt zu verlassen.

Und dann war da noch Alexa, meine zwanzigjährige Schwester. Sie leitete die Reitschule des Gestüts und absolvierte eine Weiterbildung zur Reittherapeutin. Sie war der absolute Ruhepol des Gestüts, der uns alle zusammen hielt. Alexa war inzwischen mit Sven zusammen, der ebenfalls auf dem Gestüt Graf das Reiten gelernt hatte, um seine damalige Freundin zu beeindrucken. Nur dass diese nicht besonders beeindruckt war, als sie von den Reitstunden erfahren hatte. Ein paar Wochen nach seinem ersten Galopp hatte sie mit ihm Schluss gemacht.

Ich selbst trug den Namen Jennifer und hatte gerade mein neunzehntes Lebensjahr erreicht. Somit war ich Cheyennes zweitjüngste Schwester. Mein Leben war der Turniersport - sowohl mit den Pferden aus unserer Zucht, als auch mit Calista, meiner wunderschönen Palominostute. Sonst war ich eine absolut durchschnittliche Frau mit einem rotbraunen Kurzhaarschnitt. Kurze Haare waren einfach praktischer, wenn man jeden Tag über Stunden eine Reitkappe trug oder im Stall arbeitete. Mit gerade mal zwei Jahren saß ich zum ersten Mal auf einem Pony. Es hätte mich gewundert, wenn es anders gewesen wäre, da ich quasi im Stall aufgewachsen bin.

Das Schlusslicht in der Familie bildete die sechzehnjährige Alice. Sie war am wenigsten in den Betrieb eingebunden, da sie noch zur Schule ging und mit ihren Vorzeigenoten später Tiermedizin studieren wollte.

Alice war ebenso wie ich noch Single, obwohl sie bereits einige Beziehungen hinter sich hatte. Möglicherweise war sie deshalb auch meine engste Vertraute und beste Freundin. Wann immer mir etwas auf der Seele brannte, war Alice sofort zur Stelle und hielt mir den Rücken frei. Dafür konnte sie sich auch stets auf meine Hilfe verlassen.

Ich zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, als ich die Zufahrt des Gestüts entlang ritt. Die Jacke klebte an meiner Haut, das Wasser lief mir in die Stiefel und sickerte durch meine Socken. Was für ein widerliches Wetter!

Doch Herkules und ich waren diese Regengüsse gewohnt. Wir kamen lieber nass bis auf die Haut zum Hof zurück, als ganz auf unseren Ausritt zu verzichten.

"Jenny, du warst doch nicht wirklich bei diesem Mistwetter ausreiten, oder?", rief Alice mir entgegen. An ihrer Hand tänzelte eines der Jungpferde, welches sie gerade von der Halle in den Stall brachte. Ich lachte.

"Doch, natürlich. Es ist doch nur Regen", erwiderte ich.

Alice sah zum Himmel und zog die Kapuze ihres Regenmantels ins Gesicht. "Nur ein bisschen Regen, ja?", wiederholte sie. "Jenny, es gießt wie aus Kübeln!"

"Ich lebe noch", sagte ich und fuhr mit den Füßen aus den Steigbügeln. Sie schüttelte den Kopf und zupfte am Führstrick, bevor sie Richtung Stall marschierte.

"Ach ja, Cheyenne hat schon nach dir gesucht", teilte sie mir im Gehen mit.

"Cheyenne hat sich also tatsächlich Sorgen um mich gemacht", wiederholte ich leise, lenkte Herkules in den Stall und streifte mit meine Kapuze ab. Es tat mir irgendwie leid, dass sie sich immer um mich sorgen musste, dabei hatte ich doch im Grunde genommen nichts falsch gemacht. Ich hatte mich ordentlich abgemeldet und war pünktlich zurück auf dem Hof.

"Wann versteht sie endlich, dass ich gut auf mich allein achtgeben kann?", murmelte ich.

Geübt schwang ich mein rechtes Bein hinten über den Sattel und rutschte von Herkules' Rücken. Die Regenjacke ließ ich achtlos hinter mir fallen. Dann löste ich den Riemen meiner Reitkappe und brachte den Wallach in seine Box, wo ich ihm das Sattelzeug abnahm.

Der Herbst war hier in der Gegend schon immer sehr regnerisch gewesen, doch ich musste meine Pferde bewegen - egal bei welchem Wetter. Mit allen Pferden konnte man in die Reithalle ausweichen, doch der Kaltblüter fand daran keinen Spaß, weshalb ich ihn stets mit ins Gelände nahm.

Calista dagegen war anders. Sie liebte das Gelände, doch sie hasste den Regen. Sie hasste alles, was mit Wasser in Verbindung stand und nahm lieber riesige Sprünge in Kauf, als sich die Hufe nass zu machen.

Mich erstaunte es immer wieder, wie unterschiedlich meine beiden Pferde doch waren. Und egal, wie oft ich gefragt wurde: Ich wusste nicht, welches Pferd ich je dem anderen vorziehen würde. Ich liebte sie alle beide über alles.

 

*****

 

"Jennifer, was hast du dir dabei gedacht, bei diesem Wetter auszureiten!?", rief Cheyenne sogleich, als ich die Tür zu ihrem Büro öffnete.

"Es ist nass, es ist kalt und du erkältest dich bloß wieder, ganz zu schweigen von Herkules!"

"Cheyenne, beruhige dich", warf ich ein. "Ich bin neunzehn. Volljährig. Glaubst du nicht, dass ich auf Herkules und mich aufpassen kann?"

Meine Schwester schüttelte den Kopf. "Das ist es nicht. Du passt auf Herkules auf, aber kannst du bei solchem Wetter ..." Um ihre Wort zu unterstützen, zeigte sie zum Fenster. "... nicht die Halle benutzen?"

"Du weißt doch genau, dass Herkules die Halle hasst. Wir sind schließlich nicht aus Zucker", entgegnete ich leicht genervt. Wir führten diese Diskussion nicht zum ersten Mal.

Cheyenne schüttelte den Kopf. "Das weiß ich doch, aber... Ach, du weißt schon!", sagte sie. "Ich mache mir einfach nur Sorgen um dich, seit du damals diese zwei Nächte verschollen warst."

Ich konnte sie verstehen, auch wenn das Ereignis, welches sie angesprochen hatte, schon weit zurück lag.

Es hatte sie sehr geprägt. Ich war damals vierzehn und zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Cheyenne hatte mich begleitet, um auf mich aufzupassen. Doch ich hatte mich heimlich davon geschlichen und mit meinem besten Kumpel Shane Reichmann gewettet, dass ich den Mut hatte, zu spät nach Hause zu kommen.

Ich hatte gewonnen, doch meine Eltern waren schrecklich wütend gewesen. Und ich war wütend auf Cheyenne gewesen, weil sie mir hinterher eine Standpauke gehalten hatte.

Am Ende der Diskussion wurde mir jeder Kontakt zu Shane verboten, denn sie befürchteten, dass er einen schlechten Einfluss auf mich ausübte.

Als ich Hausarrest bekommen hatte, war ich nachts aus dem Fenster geklettert. Damals hatte ich so etwas regelmäßig getan, wenn ich nicht schlafen konnte oder wollte, um noch einmal heimlich zu den Pferden in den Stall gehen zu können.

Doch in jener Nacht ging ich nicht zu den Pferden, sondern lief weg. Nicht besonders weit weg, doch weit genug, um das Gestüt nicht mehr zu sehen. Mein Ziel war eine Hütte im Wald, welche Shane und ich aus alten Brettern gebaut hatten, als wir noch Kinder waren. Ich verharrte dort zwei Nächte, bevor Shane mich fand.

Cheyenne, geplagt von Schuldgefühlen, hatte damals Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um nach mir zu suchen. Schließlich hätte sie auf mich Acht geben sollen. Sie war grenzenlos erleichtert, als Shane mich nach Hause gebracht hatte.

Shane war noch immer mein bester Kumpel und Nachbar. Wir kannten uns seit dem ersten Lebensjahr, gingen gemeinsam in den Kindergarten und in die Grundschule. Sandkastenfreunde sozusagen.

Später wurde gemunkelt, wir wären ein Paar, doch das waren wir nie. Shane und ich, wir waren das lebende Beispiel, dass Jungen und Mädchen einfach nur befreundet sein konnten.

"Entschuldigung, Cheyenne", sagte ich schließlich. "Ich erledige jetzt meine Stallarbeiten, falls du nichts dagegen hast."

Sie schüttelte den Kopf. "Morgen soll es übrigens regenfrei bleiben", bemerkte sie, als ich mich umdrehte, um zu gehen.

"Ach, Jennifer, die Bestätigung für das Turnier am Wochenende ist gekommen. Trainiere noch ein wenig mit Calista und Karamell. Momentan laufen die Geschäfte nicht so besonders und ein wenig positive Werbung würde uns gut tun."

Wie immer startete ich nicht nur mit meiner eigenen Stute in der Vielseitigkeit, sondern auch mit einem der Jungpferde. Momentan war dies die neunjährige Karamell, welche sich vor allem im Springen hervorragend schlug. Ihre Erfolge sollten potenzielle Käufer und neue Reitschüler anlocken.

"Geht klar, Schwesterherz. Dann werde ich morgen auf die Geländestrecke mit Calista gehen, wenn diese nicht völlig überflutet ist", erwiderte ich und verließ das Büro.

 

****

 

Wir betrieben, wie gesagt, ein Familiengestüt, welches sich auf Fjordpferde spezialisiert hatte. Da wir nur einen fest angestellten Mitarbeiter von außerhalb der Familie hatten, nämlich den alten Georg, mussten alle mit anpacken. Jeder hatte zwei bis vier Jungpferde, die er versorgte und ausbildete.

In meinem Teil des Stalls standen neben meinen beiden eigenen Pferden Calista und Herkules auch drei Falben, die mich bereits neugierig ansahen, als ich mich ihnen näherte: der fünfjährige Golden Prince, die neunjährige Karamell und der dreijährige Faramir.

"Na, Fara", begrüßte ich den jungen Rotfalben-Wallach, schüttelte den Eimer mit seinem Futter in den Trog und prüfte die automatische Tränke, bevor ich die Box verließ.

Faramir, dessen Namensgeber eine Figur aus Der Herr der Ringe war, hatte gerade seine Reitausbildung begonnen. Seit gut zwei Wochen konnten wir ohne Longe einen mehr oder weniger schönen, jedoch nicht ganz ausbalancierten Galopp hinlegen.

Karamell schlug gegen die Boxentür und wieherte fordernd, als sie erkannte, was das für Eimer waren, die ich mitgebracht hatte.

"Ruhig, Kara", murmelte ich. "Schon gut, Süße, ich habe dich nicht vergessen." Karamell hasste es, wenn ich mich mit ihrem Abendessen auch nur um drei Minuten verspätete. Heute waren es zehn gewesen, wegen Cheyennes Standpauke.

Ich schob Karamells Nase zur Seite und schüttete den Eimer aus. Dann prüfte ich auch ihre Tränke und huschte aus der Box.

Der Eimer von Prinz stand noch in der Futterkammer. Georg war nicht nur als Pferdepfleger bei uns tätig, sondern auch als Futtermeister. Jede Mahlzeit für jedes Pferd stellte er ganz gewissenhaft zusammen. Diese Eimer trugen die Namen der Pferde, um Verwechslungen auszuschließen.

Prinz wieherte laut, als ich die Futterkammer wieder verließ. Er hatte keine Lust, auf sein Abendessen zu verzichten, während seine Kameraden genüsslich mampften. Ich stellte den Eimer ab und schob die Boxentür auf.

"Prinz, lass mich doch rein", murmelte ich. Doch das Fjordpferd dachte nicht daran und presste sein gelbfalbenes Hinterteil genau in die Tür, so dass ich nicht hinein konnte.

"Prinz, lass doch den Unsinn! Es geht hier um dein Abendessen...", säuselte ich. Der Falbe drehte den Kopf zu mir und guckte mich traurig an.

"Ich kenne dich schon, du Schauspieler", lachte ich und schlüpfte hindurch, sobald Prinz seine Stellung aufgab. Nun konnte das Pferd es überhaupt nicht mehr erwarten und stürzte sich über den Trog. Ich prüfte seine Tränke, strich Prinz über den Hals und verabschiedete mich dann von allen drei Pferden, bevor ich die leeren Eimer gegen die von Herkules und Calista tauschte und mich zu meinen Pferden aufmachte.

"Hey, ihr beiden", begrüßte ich das Kaltblut und die Palominostute. Ich gab beiden das Futter und ging dann zu Herkules, um ihn zu putzen. Nach dem Ritt war er zu nass dafür gewesen, so dass ich ihm nur eine Decke übergeworfen hatte.

Herkules war eines der wenigen Pferde auf dem Gestüt, die man zum Putzen nicht anbinden müsste. Im Gegenteil: Sobald man ihm den Führstrick einhakte und im Stall anbinden wollte, begann er, Theater zu machen und vergaß all seine guten Manieren.

Mit kräftigen, gleichmäßigen Strichen bürstete ich sein dunkelgraues Fell und kontrollierte jeden Zentimeter nach Druckstellen, Schürfwunden und Kratzern. Die Beine hatte ich gleich nach dem Ritt abgetastet. Es war alles in Ordnung. In einem seiner Hufe stak ein Stein, den ich rasch mit dem Hufkratzer entfernte.

"So, Großer. Wir sind fertig. Bis morgen", verabschiedete ich mich von Herkules und ging zu Calista. "Bis morgen, meine Schöne", murmelte ich und nahm ihren goldenen Kopf in die Hände. Ihr warmer Atem strich mir über das Gesicht.

Als ich die Box verließ, hörte ich Alice rufen: "Cookie!"

Sie klang verzweifelt und ich konnte mir denken, woran das lag. Ich wollte zu ihr laufen, um zu sehen, ob sie meine Hilfe brauchen konnte, doch da kam mir die schokoladenbraune Stute bereits entgegen.

Gemütlich schlenderte sie durch die Stallgasse. An ihrem Führstrick hing Alice, aber das schien Cookie nicht zu bemerken.

"Cookie! Halt. Brrrrr!", machte meine kleine Schwester, doch die Stute schüttelte nur den Kopf und schnaubte.

Ich breitete reflexartig die Arme aus. "Hey, Cookie", begann ich einen Singsang. "Sei schön brav und bleibt stehen, kleine Cookie."

Die Stute spitzte die Ohren und hielt genau vor mir an. Ich klopfte ihren Hals und Alice stöhnte erleichtert auf.

"Kaum zu fassen, was sie für eine Kraft hat. Und was für einen Dickschädel", sagte sie schwer atmend. "So, und du gehst jetzt wieder in deine Box." Die Stute bog den Hals und stupste Alice an, als wollte sie ihr zustimmen.

Cookie war schon immer so gewesen. Sie kannte sich mit dem Ausbrechen wie kein anderes Pferd auf dem Hof aus, bekam jeden noch so komplexen Riegel auf. Deshalb trug sie auch stets ein Halfter, um das Einfangen zu erleichtern.

Alice hatte es diesmal offensichtlich geschafft, den Führstrick einzuhaken, doch Cookie ließ sich selbst davon nicht immer beeindrucken.

Meine Schwester hatte die Stute schon fast vier Jahre. Sämtliche Erziehungsmaßnahmen waren gescheitert, doch Alice liebte das sonst ganz sanfte Pferd über alles, auch wenn sie immer wieder mit ihren Dickschädeln aufeinander prallten.

 

*****

 

"Jennifer!" Ich drehte mich um. Marc kam mir entgegen. "Ich habe die Post heute morgen durchgesehen", sagte er. "Die Bestätigung für das Turnier nächsten Samstag war dabei. Sind Calista und Karamell in Bestform?"

Ich nickte. "Das sind sie. Cheyenne hat mir von der Bestätigung bereits erzählt", antwortete ich. "Keine Sorge, ich schaffe das schon. Ich weiß, wie wichtig diese Werbung für uns ist."

"Nathalie wird dich begleiten", erklärte Marc. "Cheyenne hat einen Interessenten. Ein Vater, der ein liebes Pferd für seine Tochter sucht."

"Wen wird sie vorstellen?", fragte ich nach.

Marc überlegte kurz. "Ich glaube, sie hat Caspar erwähnt. Er ist ruhig und gut erzogen. Mit seinen fünfzehn Jahren sollte er gut als erstes eigenes Pferd geeignet sein, hat sie gesagt."

Ich nickte. "Eine gute Wahl", bestätigte ich. "Caspar ist ein Anfängerpferd, aber er wird vermutlich nie ein gutes Turnierpferd werden. Dafür ist er viel zu faul."

"Hoffentlich kündigen sich bald mehr Interessenten an. Alle Pferde, die älter als zwölf sind, sollten dringend verkauft werden. Wenn die Stuten nächstes Jahr abfohlen, kommen wir sonst mit der Arbeit nicht mehr hinterher", erklärte Marc. "Bis später beim Abendessen, Jennifer. Ich muss meine Pferdchen noch füttern."

"Bis später, Marc", verabschiedete ich mich. Ich wollte noch bei Shane anrufen und fragen, ob er mir morgen beim Training mit Calista helfen würde.

Gerade als ich die Tür zu meiner kleinen Wohnung im Haupthaus geöffnet hatte, rief Alice nach mir. "Jenny, bist du das?"

"Ja!", rief ich zurück und schloss die Tür wieder, bevor ich mich auf den Weg zu ihrem Zimmer machte. "Was gibt’s denn?"

"Nun ja, du musst mir noch mal bei meiner Seminarfacharbeit helfen...", begann sie und reichte mir eine ausgedruckte Seite. "Kann man das so schreiben oder klingt das total bescheuert?"

Alice schrieb über das Gestüt und die Fjordpferde. Ihre beiden besten Freundinnen - selbst begeisterte Reiterinnen, die täglich auf dem Gestüt waren - hatte sie schnell für dieses Thema begeistern können. Von der ersten Idee an waren Kerstin und Mandy Feuer und Flamme.

Als Betreuer gewannen sie Cheyenne für das Projekt, doch genau genommen halfen alle mit. Am meisten Alexa und ich. Vermutlich, weil wir ebenfalls beide Abitur hatten und ebenfalls Seminarfacharbeiten schreiben mussten. Marc hatte ebenfalls Abitur, sogar studiert, jedoch war er meist zu sehr mit der Buchhaltung des Gestüts beschäftigt, so dass wir ihn nicht bedrängen wollten.

Ich nahm die Seite in die Hand und begann zu lesen. Es war ein Auszug aus der Geschichte des Gestüts.

Hin und wieder machte ich sie auf Rechtschreibfehler aufmerksam und nickte zwischendurch. Es klang eigentlich ganz gut, doch etwas trocken. Allerdings war Geschichte immer trocken.

"Ja, das kannst du so lassen", meinte ich schließlich und gab ihr das Blatt zurück.

"Sag mal, Jenny, hast du gewusst, dass es vor hundert Jahren in der Nachbarschaft einen Brand gab, bei dem sogar der halbe Wald in Flammen stand? Es soll keine Überlebenden gegeben haben."

Ich schüttelte den Kopf. So intensiv hatte ich mich mit der Geschichte des Gestüts noch nicht befasst. "Keine Überlebenden? Woher stammen dann die Informationen?"

"Ich habe Aufzeichnungen in einem Buch über die Geschichte dieser Gegend von einem der Nachbarn geliehen bekommen. Der Hof soll komplett abgebrannt sein, mit allen Bewohnern und Tieren. Aber die Nachbarn waren wohl Zeuge des schrecklichen Ereignisses.

Das Buch stammt von einem unserer Vorfahren und seinem Freund. Zumindest vermute ich das. Mehr weiß ich nicht. Die Unterschrift unter dem Artikel lautet: L. Graf, C. Steinherz."

"L. Graf? Das können viele unserer Vorfahren sein. Laurenz, unser Großvater mütterlicherseits. Oder Lucas, dessen Bruder. Oder aber Ludwig, unserer Urgroßvater. Von einem C. Steinherz hab ich noch nie gehört."

Alice runzelte die Stirn. "Wohl war. Wobei Laurenz damals erst dreizehn Jahre alt war und Lucas nur vier Jahre älter", warf meine Schwester ein.

Ich zuckte mit den Schultern. "Zu doof, dass die Zeugen bereits alle gestorben sind", sagte ich. Alle drei Vorfahren waren im ersten oder im zweiten Weltkrieg gefallen.

"Auf alle Fälle werde ich weiter forschen. Vielleicht gibt es ja doch noch ein paar Informationen über diesen Brand, L. Graf und C. Steinherz. Irgendjemand muss doch davon wissen."

Ich klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. "Was immer du herausfindest, es würde mich sehr interessieren", meinte ich.

Alice lachte. "Natürlich! Schließlich ist das ja irgendwie auch unsere Vergangenheit!"

"Ich werde ebenfalls die Augen offen halten, Schwesterherz", versprach ich ihr und ging zurück in meine Wohnung. Wo ich mit der Suche anfangen sollte, wusste ich allerdings auch nicht so genau.

 

*****

 

Noch vor Sonnenaufgang war ich wieder auf den Beinen und stand Kaffee kochend in der Küche. Es war eine ungeschriebene Familienregel, dass der Erste, der morgens auf den Beinen war, das Frühstück vorbereitete und Kaffee kochte. Heute war ich das.

Pfeifend teilte ich die Messer aus, als Marc die Treppe herunter kam. "Morgen Jennifer", murmelte er. "Brauchst du Hilfe?"

Ich schüttelte den Kopf. "Nein, nein. Ich bin bereits fertig", erwiderte ich.

"Aber du darfst die anderen wecken, wenn du möchtest." Mein großer Bruder nickte und ging die Treppe wieder hinauf.

Das Haupthaus war ein großes, altmodisches Herrenhaus mit zwei Stockwerken, in dem jeder seine eigene Wohnung hatte. Marc lebte mit Nathalie im zweiten Stock des Nordflügels, sein Bruder mit seiner Freundin genau darunter. Im zweiten Stock des Ostflügels hatte ich meine kleine Wohnung, gleich daneben im zweiten Stock des Südflügels lagen die Zimmer von Alice. Die untere Etage des Ostflügels bewohnten Cheyenne und Jonas. Dort befand sich auch Cheyennes Büro. Alexa bewohnte das Erdgeschoss des Südflügels.

Im Zentrum des Herrenhauses lagen die Gemeinschaftszimmer: Im Erdgeschoss die Küche und das Esszimmer, welches gleichzeitig zur Beratung diente, und im Obergeschoss eine Bibliothek mit einem großen Fernseher und gemütlichen Sesseln für die seltenen gemeinsamen Videoabende.

Ich hielt einen Moment inne und betrachtete das Esszimmer. Es war groß, so wie alles an diesem Haus. Die Fenster reichten bis zum Fußboden, ein steinalter Kronleuchter aus den Zeiten meiner Urgroßeltern zierte die Decke. In der Mitte stand ein genauso alter Tisch aus Eichenholz. Nur der Fußboden war erneuert worden, aber ebenfalls aus dunklem Holz, um den Stil nicht zu brechen.

Alles an diesem Haus war alt. Sehr alt. Vermutlich hatten sich in all den Jahren Gegenstände angesammelt, die heute mehr Geld wert waren als manche unserer Pferde.

Waren wir reich? Nein, zumindest fühlte ich mich nicht so. All den Luxus hatten sich meine Vorfahren im Laufe der Jahre erarbeitet.

Ich mochte das Herrenhaus und das Gestüt. Es war ein Ort der Ruhe und der Freiheit für mich. Natürlich durfte man das nicht wörtlich nehmen. Es gab selten Tage, an denen hier wirklich Ruhe herrschte.

Es war für mich kein Lärm, wenn ein Pferd wieherte und fordernd gegen die Boxentür trat. Lärm war für mich die Stadt mit all ihren Autos und all ihrem Dreck.

Ich schüttelte mich angewidert. Nein, niemals wollte ich in einer Großstadt leben, in der man immer irgendwo war und sich nie nach draußen setzen konnte, um den Vögeln zu lauschen.

Außerdem waren Städte nicht sonderlich gut geeignet, um Pferde zu halten und auszureiten. Ein Leben ohne Calista und Herkules war für mich unmöglich.

Herkules kannte ich bereits von dessen Geburt an. Er gehörte früher einem Nachbarn, der mit seinen beiden Stuten Lissy und Bonnie seine Äcker bewirtschaftete. Irgendwann hatte er beschlossen, Bonnie decken zu lassen.

Ich war als Kind oft bei ihm, half ihm bei der Pflege seiner Kaltblüter und später auch bei der Ausbildung von Herkules. Der Nachbar überließ es mir, dem Fohlen einen Namen zu geben, und ich fand, dass der griechische Halbgott ein guter Namensgeber für einen Kaltblutwallach war.

Vier Jahre nach der Geburt von Herkules starb der Nachbar urplötzlich an Lungenkrebs und sein Hof und die Pferde wurden zur Auktion freigegeben, da er keine Erben hatte. Ich kratzte meine gesamten Ersparnisse zusammen und ersteigerte Herkules. Cheyenne akzeptierte das und half mir später auch auf der Suche nach einem guten Turnierpferd, welche bei Calista endete.

 

 *****

 

"Guten Morgen, Jennifer." Rasch kehrte ich in die Gegenwart zurück. Jonas kam gerade in das Esszimmer und streckte sich. Hinter ihm gähnte Nathalie.

"Guten Morgen, ihr beiden", grüßte ich zurück. "Wo bleiben denn die anderen?"

"Also ich bin hier", meinte Alexa und band sich die Haare zusammen. "Sven kommt erst am späten Nachmittag vorbei. Sein Chef möchte, dass alle Überstunden machen."

"Cheyenne sollte auch gleich fertig sein", erklärte Jonas. Alice huschte in die Küche. "Was auch immer für eine Besprechung ansteht - es ist Montagmorgen, die Schule ruft", erklärte sie und packte die Brotdose in ihre Tasche.

"Dann fehlt ja nur noch Marc", stellte ich fest. In diesem Moment blickte Marcs ungekämmter Wuschelkopf ins Zimmer. "Was ist mit mir?"

Ich lachte. "Wir haben davon gesprochen, dass du der Letzte bist, der das Esszimmer betreten hat", klärte ich ihn auf.

Marc schüttelte empört den Kopf. "Nein, stimmt nicht. Tobi fehlt auch!", rief er. "Wo ist meine Kirschmarmelade?"

"Hier drüben", antwortete Alexa. "Fang!"

Marc riss die Arme nach oben und schon flog das Marmeladenglas durch die Luft. Mühelos fing Marc es auf.

Ich zog die Kanne aus der Kaffeemaschine und schenke meinen Geschwistern ein. Alice hatte sich bereits ihren Cappuccino gemacht, denn sie hasste Kaffee.

"Seltsam, dass Tobias verschwunden ist", bemerkte ich. "Der wollte euch eigentlich wecken."

"Mich hat er nicht geweckt", erklärte Marc. "Aber ich würde mich freiwillig anbieten, ihn zu suchen."

"Ach was, der kommt schon, wenn ihn der Hunger ruft. Schließlich warten hier warme Brötchen auf ihn", sagte Cheyenne und hielt ihn zurück.

"Brötchen?", rief plötzlich eine Stimme und alle lachten. "Oh, Tobias, du hast ja doch noch zu uns gefunden", meinte Nathalie grinsend. "Wie recht Cheyenne doch immer hat."