Cover

Über dieses Buch

Der bekannte Theaterkritiker Antônio Martins, Junggeselle mit festen Liebschaften, gerät eines Tages in den Bann einer jungen Frau. Er verliebt sich leidenschaftlich in das Aktmodell Inês, jung, von zarter Schönheit und mit einem körperlichen Makel behaftet, der sie für Martins nur noch anziehender macht. Doch wird ihn diese Passion seinen guten Ruf kosten. Denn nach einer geheimnisvollen Liebesbegegnung mit Inês sieht er sich mit einer Anklage wegen Vergewaltigung konfrontiert. Martins bestreitet diesen Tatverdacht und gerät damit immer tiefer in die trügerische Zone, die Wirklichkeit und Selbstwahrnehmung, Kunst als inszenierte Realität und Realität als geschickte Inszenierung trennt. Ein hochintelligenter Kriminalroman, der den Leser in eine Großstadtwelt entführt, in der nichts mehr gewiss ist.

»Sein kompromissloses Werk macht Sant’Anna zu einer wesentlichen Quelle der Inspiration und zu einem bedeutenden Vertreter der überschäumenden aktuellen literarischen Szene in Brasilien.« (Le Monde)

Der Autor

Sérgio Sant’Anna, geboren 1941 in Rio de Janeiro, ist Autor von mehreren Romanen, Erzählbänden, Theaterstücken und Geschichten. Seine Schriftstellerkarriere begann in den sechziger Jahren mit der Gründung einer (später von der Militärdiktatur verbotenen) Zeitschrift für experimentelle Literatur; in den siebziger Jahren zählte er zur literarischen Avantgarde Brasiliens, die das Formexperiment mit dem revolutionären Engagement zu verbinden suchte. Sant’Anna war lange Dozent für Kommunikationswissenschaft an der Universität von Rio de Janeiro. Für seine Werke erhielt er mehrere brasilianische Literaturpreise, darunter 1986 den Prêmio Jabuti für »Amazone«.

Der Übersetzer

Enno Petermann, geboren 1964 in Berlin, studierte Lateinamerikanistik und Germanistik. Aus dem Spanischen und Portugiesischen übersetzte er unter anderem Romane von Sylvia Iparraguirre, Eduardo Belgrano Rawson und Adriana Lisboa. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Sérgio Sant’Anna
Die Wahrheit über den Fall Antônio Martins

Roman

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Enno Petermann

Edition diá

Inhalt

1

2

3

Impressum

1

Zunächst sollte ich klarstellen, dass sie, als ich sie zum ersten Mal sah, in dem Café an einem Tisch saß und ich sie nicht von Kopf bis Fuß betrachten konnte. Doch ich folgerte aus ihren feinen und zarten Gesichtszügen – und aus ihren kleinen, sich unter einer eleganten Bluse auf den ersten Blick nur undeutlich abzeichnenden Brüsten –, dass sie eine schlanke Frau mit einem wohlgeformten Körper war. Mich zogen vor allem das Gesicht und die hellen, gelockten Haare an, und ich musste unwillkürlich, vielleicht von zwei Gläsern Kognak animiert, an eine russische Fürstin denken.

Demnach wäre es übertrieben zu sagen, dass ich mich von Anfang an durch jene Sache angezogen gefühlt hätte, wie die späteren Ereignisse nahelegen könnten. Es sei denn, man hängt der Überzeugung an, dass der erste Blickwechsel zwischen zwei Menschen bereits alles enthält: das gegenseitige Erkennen, das der eine im anderen dann nur noch bestätigt findet, und das Schicksal, welches sie miteinander teilen werden. Und ich muss eingestehen, dass mich ihr melancholischer Blick und ihre keusche Einsamkeit in einem für seine lärmende Hektik bekannten, zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht voll besetzten Café regelrecht gefangen nahmen. Sie brachten mich auf Einfälle wie den mit der russischen Fürstin, nicht zuletzt deshalb, weil ich allein zu Abend aß und allein trank. Vielleicht bildete auch jene Sache den eigentlichen Grund für ihre Melancholie, allerdings konnte ich das noch keinesfalls wissen.

Ich bin niemals ein Mann gewesen, der aufdringliche Blicke auf jemanden richtet, und noch viel weniger einer, der unmissverständliche Angebote macht, weil ich das für geschmacklos halte und für eine Beleidigung sensibler Frauen, zu denen ich sie ohne Zögern zählte. Aber die Wände und Säulen des Cafés sind mit Spiegeln verkleidet. Und mithilfe dieser sich gegenseitig vervielfachenden Spiegel konnte ich meine Beobachtungen durchführen, ziemlich diskret und indirekt. Ja, tatsächlich hätte ich zwei- oder dreimal, als ich die Augen schnell von meinem Glas hob, schwören können, dass ich es war, der – auf dieselbe indirekte Weise – von jenen schwarzen Augen beobachtet wurde, die sich sofort wieder auf den Rotwein hefteten, den sie in winzigen Schlucken trank. Der Wein färbte ihre für ein so schmales Gesicht etwas zu fleischigen Lippen dunkel und verlieh ihren Wangen einen Hauch von jugendlicher Röte, die in einem interessanten Kontrast zu ihrem sonst überaus blassen Antlitz stand.

Bald darauf verließ ich das Café, das sich für meinen Geschmack zu sehr zu füllen begann. Außerdem wollte ich mich nicht betrinken, was den Strom meines Bewusstseins unverhältnismäßig beschleunigt hätte, ein entfesseltes Auf und Ab, das mich von einer Stunde zur nächsten und vor allem am folgenden Tag aus einer beinahe glücklichen Erregung in eine Niedergeschlagenheit voller schmerzlicher Vorstellungen und Gedanken stürzen lassen konnte. Die Wahrheit ist, dass ich einen Hang zum Alkoholismus habe, den ich zu kontrollieren versuche.

Oder vielleicht war das auch nur eine Ausrede, denn ein Mann hatte sich ohne Umstände an ihren Tisch gesetzt und begonnen, sich vertraulich mit ihr zu unterhalten, obwohl sie ihn anscheinend zu nicht mehr ermutigte als zu jener Bewegung, mit der er seine Hand für einige Sekunden auf die ihre legte.

Ich stellte fest, dass es ein Mann mittleren Alters mit wirrem grauen Haar war, der aber mit der Ungeniertheit eines jungen Burschen, dem Modefragen gleichgültig sind, eine abgewetzte Jeansjacke über einem weißen T-Shirt trug. Als ob er gemerkt hätte, dass ich sie beide beobachtete, warf er einen selbstbewussten Blick in meine Richtung, eher neugierig als feindselig. Ich zahlte und ging, ohne mich umzusehen.

Ich vergaß sie und kehrte an die Arbeit zurück, zu meinem Leben als alleinstehender Mann, der ein paar Freundinnen hat, die sich bei Gelegenheit in Geliebte verwandeln können – für einen Abend, eine Nacht, ein Wochenende –, ohne irgendein Band außer dem der Zuneigung, die umso ehrlicher ist, je freier sie sein darf. Und vielleicht sollte ich hinzufügen, dass ich auch den einen oder anderen männlichen Freund habe, Freunde, die ich jedoch wesentlich seltener treffe und von denen ich ein angenehmes Gespräch und Intelligenz erwarte. Bevor man mich des Machismus anklagt, was eine ungerechte und im Zusammenhang mit dieser Geschichte sogar falsche Beschuldigung wäre, versichere ich, die genannten Qualitäten beim weiblichen Geschlecht genauso zu schätzen.

Doch über alles liebe ich die Freiheit, auch wenn das nicht viel mehr bedeuten mag, als ein Ehebett zu meiner alleinigen Verfügung zu haben, wo ich stundenlang lesen oder einfach die Gedanken schweifen lassen kann. Darüber hinaus sorgt bereits meine Arbeit dafür, dass sich meine Kontakte zur übrigen Welt auf ein Mindestmaß beschränken.

Viele sehen in mir einen Exzentriker, ein finsteres Gemüt, und berücksichtigen dabei nicht, dass sich jemand in seiner eigenen Gesellschaft wohlfühlen kann, in der seiner Träume, Vorstellungen, Fantasien, obgleich diese – oder die sich im Geist widerspiegelnde Wirklichkeit – oft dazu führen, dass man schreckliche Landschaften durchqueren muss, die aber andererseits in bestimmten privilegierten Momenten die Vorstufe zum inneren Frieden, zur Erleuchtung und zu einem einsamen Glück darstellen, ohne dass man irgendeiner künstlichen Anregung wie der des Alkohols bedarf. Es kommt also nur darauf an, dem Bewusstsein freien Lauf zu lassen, und möglicherweise ist dieses Strömen das eigentliche Leben. Denn selbst wenn wir in große Abenteuer verwickelt werden, wie kann man sie erleben ohne die subjektive Wahrnehmung desjenigen, der sie durchlebt?

Jedoch gelingt es selbst dann, wenn man seinen Beruf während der meisten Zeit zu Hause ausübt, nicht vollständig, die Außenwelt, die Straße, zu vermeiden. Damit meine ich nicht den begrenzten Bereich der Bars und Restaurants mit ihren künstlichen Reizmitteln oder die verzauberte Wirklichkeit der Nacht, ihre Szenerien und Schauspiele. Nein, wenn ich von der Straße spreche, meine ich die Schlachten des Tages, die alltäglichen Mühen, Sehnsüchte und Kämpfe.

Und eines Nachmittags, als ich über den Largo do Machado ging, befiel mich eine Vorahnung, die ich zu verdrängen suchte, um meinen Weg fortsetzen zu können: Ein unmittelbar bevorstehendes Ereignis schien sich anzukündigen. Natürlich ist die Stadt so voller Gefahren und Spannungen, dass sich immerzu irgendein Zwischenfall ereignen kann. Und ein empfindsamer – in manchen Angelegenheiten sogar schwacher – Mensch wie ich rechnet pausenlos mit dem Eintreten eines solchen Ereignisses. Außerdem überquerte ich gerade jenen dicht bevölkerten und vom Verkehr umtosten Platz, wo sich mehrere Buslinien kreuzen und auf dem viele Arbeitslose und Leute, die von kleinen Dienstleistungen leben, herumlungern. Ich war zu einer Bank im Stadtzentrum unterwegs, ein Gang, den ich ohnehin hasse und der mich aufregt, aber ich befand mich in einem Alarmzustand, der den gewöhnlichen noch übertraf. Wie eine Wirkung, die ihrer Ursache vorausgeht, spürte ich eine Verstimmung im Magen, das Herz klopfte unregelmäßig. Ich beschleunigte meine Schritte, um im Schlund der Metro zu verschwinden, wie ein Tier, das in seinen Bau flieht. Zu spät. Oder angesichts der Umstände wäre es wohl besser zu sagen ›zu früh‹. Denn als ich die Treppen hinabfuhr, hörte ich in meinem Rücken empörtes Murren und kurze Aufschreie, das Geräusch gegeneinanderprallender Körper, und ich sah, wie die Blicke der Leute auf der anderen Seite der Rolltreppe, die aufwärtsfuhren, sich erschrocken auf etwas hinter mir richteten. Als ich mich instinktiv umdrehte, stürzte eine Frau auf mich. Immer noch instinktiv fing ich sie auf. Die Empfindung, die sich für alle Ewigkeit in meinem Inneren eingrub – ohne dass ich mir dessen in jenem Moment ganz bewusst gewesen wäre –, war, wie wenig ihr Körper wog.

Während einige hilfsbereite Personen von ihr wissen wollten, ob sie sich verletzt habe, klammerte sich die junge Frau mit aller Gewalt an meinen Arm, ein Zeichen, das ich als Bitte deutete, sie zu beschützen und die Treppe hinunterzuführen, was ich auch tat. Doch als wir den Gang zum Bahnsteig erreicht hatten, bohrte sie, statt mich loszulassen, die Fingernägel in mein Handgelenk, bis es schmerzte. Ich schaute mich verlegen um, weil ich befürchtete, an eine Geisteskranke geraten zu sein. Und tatsächlich beobachteten uns die Leute. Sie spürte meine Verwirrung und lockerte den Druck ihrer Hand auf meinem Gelenk.

»Wir wollen erst die Leute vorbeilassen«, sagte sie.

Ich begriff, dass das, was sie wirklich beunruhigte, nicht der Schreck, die Angst oder irgendeine andere Folge des gerade erlittenen Sturzes war, sondern die Neugier, die sie weckte. Und während wir uns mit sehr langsamen, fast unsicheren Schritten in Richtung der Fahrkartenschalter bewegten, um alle diejenigen sich entfernen zu lassen, die die Szene auf der Treppe miterlebt hatten, merkte ich, dass die Frau hinkte.

»Haben Sie sich verletzt?«, erkundigte ich mich und kam mir in Anbetracht einer so naheliegenden Frage vor wie ein Idiot.

»Nein, es ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Aber ich würde gern zurück nach Hause gehen.«

Ich hielt das für eine Aufforderung, sie zu begleiten, und reichte ihr demonstrativ den Arm, obwohl ich mir darüber im Klaren war, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wo sie wohnte, und ich mich außerdem erinnerte, dass ich dringend zur Bank musste, die bald schließen würde. Als ob sie meine Gedanken lesen könnte, beeilte sie sich hinzuzufügen:

»Nein, darum geht es nicht. Nur um die Treppe.«

Wir kehrten um, und vorsichtig half ich ihr, gleichzeitig mit mir den Fuß auf die Rolltreppe zu setzen. Ich nahm eine gewisse Aufgeregtheit an ihr wahr, besonders in dem Moment, als wir auf dem Largo do Machado mit einem kleinen Sprung das Pflaster betraten. Sobald sie in Sicherheit war, lächelte sie, wobei sie schüchtern die Augen senkte, und streckte mir die Hand entgegen, um sich zu verabschieden:

»Vielen Dank für alles.«

Ihre Zähne waren sehr weiß und klein wie die eines Kindes, ein Eindruck, der durch die feuchten Haare von jemandem, der vor Kurzem aus dem Bad gekommen ist, noch verstärkt wurde. Ohne zu reagieren, blieb ich vor ihr stehen und starrte in ihr unvergleichlich schönes Gesicht. Es schien mir, als hätte ich sie schon einmal gesehen. Doch erst als sie die Augen hob – vielleicht weil es dieses Mal nicht das Wechselspiel der Spiegel gab und die vom Kognak hervorgerufene erhöhte Aufnahmebereitschaft und auch weil ihr Haar wegen der Feuchtigkeit seine Locken eingebüßt hatte und weniger hell wirkte –, erst da erkannte ich sie wieder. Ich erkannte in ihr – die eventuellen Leser dieser Aufzeichnungen haben es sicher längst vermutet – die hübsche junge Frau wieder, die mich in dem Café so fasziniert hatte.

»Bitte«, sagte sie liebenswürdig, aber bestimmt, »erledigen Sie jetzt, was Sie um meinetwillen unterlassen haben.«

»Ach, das war nichts Wichtiges, nichts Wichtiges«, beeilte ich mich zu sagen. »Auf Wiedersehen und alles Gute«, fügte ich hinzu und reichte ihr abermals die Hand. Dann wandte ich ihr den Rücken zu, um von Neuem in den Eingang zur Metro abzutauchen, jetzt allerdings ohne Vorahnungen oder Fährnisse gewärtigen zu müssen, denn ich vertrete die abergläubische Überzeugung, dass ein Zufall uns für einige Zeit gegen weitere Zufälle immunisiert.

Doch bevor meine Gestalt ganz im Untergrund verschwunden war – und ich schaue mir selber zu, während ich erzähle –, kam ich auf die Idee, mich umzudrehen. Ohne diese Bewegung wäre mein Geschick möglicherweise ein anderes geworden. Oder sollten die Fatalisten etwa recht haben? Was ich sah, war jedenfalls, wie die Frau sich mühsam entfernte und ein Bein fast nachschleppte.

Meinem ersten Antrieb folgend, wollte ich sie ihrem Schicksal überlassen. Wie oft handeln wir im Leben nicht so, verzichten zum Beispiel darauf, einem Blinden, der sich nicht zurechtfindet, zu helfen, und erwarten, dass es irgendjemand an unserer Stelle tut? Demnach kann ich wenigstens annehmen – und alle werden mit mir darin übereinstimmen –, dass meine Geschichte anders verlaufen wäre, wenn ich mich in meinen gerechtfertigten Egoismus eingeschlossen hätte; nicht zuletzt weil es mich geschmerzt hatte, wie sie sich nach der ganzen Hilfe, die ich ihr geleistet hatte, auf der Straße meiner entledigte.

Aber der Ehrlichkeit halber muss ich zugeben, dass ich sicher nicht umgekehrt wäre, wenn die Frau nicht jene sehr weißen und kleinen Zähne besessen hätte, jene schwarzen Augen, kurz, eine unvergleichliche und etwas fremdartige Schönheit, die zu enträtseln mich reizte.

Tatsache ist jedenfalls, dass ich mit ausgreifenden Schritten umkehrte und sie an der Bordsteinkante einholte, wo sie zögernd stand, als brauche sie Unterstützung beim Überqueren der Straße. Da meine körperliche Verfassung nicht die beste ist, einmal abgesehen von der ganzen Aufregung, in die mich das Geschehen versetzt hatte, kam ich atemlos keuchend hinter ihr an.

»Sie haben sich ja doch verletzt«, stieß ich hervor. »Wäre es nicht besser, wenn ich Sie in ein Krankenhaus bringen würde?«

Sie zuckte vor Schreck zusammen und zeigte sich, als sie sich zu mir umdrehte, überaus irritiert:

»Haben Sie es denn immer noch nicht gemerkt?«

Ich glaube, ein Mensch kann intelligent sein und trotzdem langsam im Denken. Denn wenn ich keine Intelligenz besäße, wäre ich nicht in der Lage, diesen Bericht und andere Dinge niederzuschreiben. Und wenn ich nicht so langsam wäre, hätte es keines indiskreten Blickes auf die Beine dieser jungen Frau in ihren Jeans – die sie zu einer gestreiften, langärmeligen Bluse trug, was ihrem Äußeren eine sowohl schlichte als auch elegante Note verlieh – bedurft, um festzustellen, dass eines von ihnen etwas steif und verkümmert war. Die Worte, die ich anschließend überstürzt murmelte, verschlimmerten die Sache nur, denn sie müssen mitleidig geklungen haben:

»Oh, entschuldigen Sie.«

Mit eisiger Höflichkeit sagte sie mir, dass sie gleich hier in der Rua Paissandu wohne und dass ich bitte so nett sein möge, mir ihretwegen keine Unannehmlichkeiten mehr zu bereiten.

»Aber es war mir ein Vergnügen«, erwiderte ich noch unglücklicher. Sie schaute mich verblüfft an. In meiner Verlegenheit musste ich eine dermaßen linkische Figur machen, dass sie sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Es waren ihre Augen, die zuerst lächelten, bevor ihr Mund ein kurzes Auflachen von sich gab, das halb Sympathie und halb Verachtung für mich ausdrückte.

Ich befand mich in genau jener Situation, in der man sich entweder abwendet und rasch die Bühne verlässt oder sich endgültig in das heillose Durcheinander, das man angerichtet hat, hineinstürzt. Was ich dann tat, nachdem ich den Weg zur Bank bis auf Weiteres verschoben hatte, war nicht mehr und nicht weniger, als sie einzuladen:

»Möchten Sie nicht etwas im Lamas trinken?«

Wenn ich dieses Etablissement, das in der Rua Marquês de Abrantes liegt – nicht weit von dem Ort, wo wir gerade waren –, fast die ganze Zeit über als ›das Café‹ bezeichne, so geschieht das nur, um ihm etwas von dem pittoresken Charakter einer gewissen Art von Boheme in Rio zu nehmen und um ihm einen neutraleren Anstrich zu geben, der besser zur Sonderbarkeit, um nicht zu sagen zur Außergewöhnlichkeit meiner Geschichte passt.

Statt einer Antwort lachte Inês – denn so hieß sie, wie ich erfuhr, als wir uns förmlich bekannt machten – noch unverhohlener und sah mir direkt in die Augen, als ob die Erwähnung der Bar und des Cafés Lamas sie veranlasst hätte, mich wiederzuerkennen, oder auch weil sie ironisch darauf hinweisen wollte, dass sie mich längst wiedererkannt hatte, wer weiß.

»Warum nicht lieber morgen? Aber woanders, bitte«, sagte sie. Und während sie mir fröhlich den Arm reichte, setzte sie hinzu: »Wollen Sie mich nicht bis zu meiner Straßenecke begleiten?«

Als ich mit Inês dieses kleine Wegstück, das zufällig an dem Café vorbeiführte, zurücklegte, sie stützend und bemüht, mich ihren unsicheren Schritten anzupassen – wir konkretisierten dabei unsere Verabredung für den kommenden Tag –, wurde mein Inneres von einem einzigen Gefühl beherrscht: dem des Stolzes. Stolz vor allen anderen, weil ich es war, der sie begleiten durfte. Und nachdem ich sie an der Ecke Rua Paissandu verlassen hatte, sah ich mich nicht um, als wäre das eine unverzeihliche Indiskretion.

Ich bin Kritiker. Eine derartige Erklärung bringt mich, selbst angesichts der Tragweite bestimmter Begebenheiten, die hier erzählt werden sollen, wegen der Palette an Nebenbedeutungen des Wortes zum Lachen. Doch genau wegen dieser Vieldeutigkeit will ich mich so definieren, ich könnte schließlich auch sofort klarstellen, dass ich ein professioneller Theaterkritiker bin, wie viele Leute mittlerweile dank des von mir erlangten Bekanntheitsgrades wissen – berühmt wurde ich allerdings nicht in erster Linie, weil ich für verschiedene Zeitungen schreibe, sondern weil die Zeitungen am Ende über mich berichteten. Aber unter Umständen erklärt der Beruf manches an meinem Verhalten und an meiner Lebensweise, ja sogar an meiner Persönlichkeit, obwohl ich nicht zu sagen wüsste, ob es diese Persönlichkeit war, die mich naturgemäß zur Kritik geführt hat, oder ob es deren Ausübung war, die letztlich mein Verhalten und meine Persönlichkeit durchdrang.

Jedenfalls zwangen mich die beruflichen Pflichten dazu, an dem Abend, der auf die nachmittägliche Begegnung mit Inês folgte, ins Theater zu gehen, etwas, das ich der bloßen Unterhaltung wegen nicht tun würde. Mit noch größerer Sicherheit hätte ich es nicht getan, wenn Inês meine Einladung ins Café angenommen hätte, wo es, mindestens für mich, alkoholische Getränke mit ihren möglichen Ausweitungen und Konsequenzen gegeben hätte.

Ich gehe immer erst einige Tage nach der Premiere in die neuen Inszenierungen, um mich vor der künstlichen und komplizenhaften Atmosphäre dieser Ereignisse zu schützen, und nutze den Vorteil, sie in ihrem normalen Ablauf anschauen zu können. Daher habe ich die Möglichkeit, die Abende der ›Vorstellungen fürs Volk‹, wie ich sie nenne, mehr oder weniger nach meinem Gutdünken auszuwählen. Und an jenem Abend sah ich eine ausgesprochen textlastige Aufführung, in der sich ein noch junger Mann vor einer ebenfalls jungen Frau verkrampft abstrampelte, wobei er sie einerseits für seine existenziellen, künstlerischen oder sexuellen Enttäuschungen verantwortlich machte und andererseits nach einem Punkt auf seinem Lebensweg suchte, an dem er seiner Meinung nach glücklich mit ihr gewesen war. Er wollte in diese Zeit zurückkehren, von welcher der Autor und Regisseur selber, das muss man ihm zugestehen, vermittels der weiblichen Figur erkennen ließ, dass es sie niemals gegeben hatte, was in einer recht angestrengten Sprache geschah, die ich in meinen eigenen Text einfügen möchte:

»Diese Zeit hat es nie gegeben, Paulo. Du erschaffst sie jetzt. Warum versuchen wir nicht, sie wirklich zu leben?«

Und tatsächlich versuchten sie es, aber was von da an passierte, bei ihm – denn sie bemühte sich zumindest, sich mit würdevoller Generosität hinzugeben –, war nichts weiter als eine Simulation von Liebe, etwas, das an Impotenz grenzte und dabei die eigene Theatralität zur Schau stellen wollte, in einer vermeintlichen Metasprache, die, wie ich aufdeckte, bloß ein Alibi für eines dieser verlogenen, so oft und immer wieder gesehenen Dramen bildete, die dauernd mit modischen Marotten und zeitgemäßem Jargon aufgeputzt werden müssen, kurz, eine langweilige und mediokre Angelegenheit, hätte ich ihr nicht, im Halbdunkel verborgen, mit einem heimlichen Gefühl von Rührung und Vergnügen beigewohnt. Selbstverständlich nicht wegen der inneren Qualitäten der Aufführung, wie ich bereits erläutert habe, sondern wegen der kritischen Bezüge – oder sollte ich vielleicht sagen: ›Beziehungen der Kritik‹? –, die ich aufgrund einer durch die nachmittäglichen Ereignisse geschärften Empfänglichkeit zu dem Stück herstellen konnte, durch Ereignisse, deren Spuren noch auf meinem rechten, von Inês’ Fingernägeln gezeichneten Handgelenk zu finden waren, das ich ab und zu streichelte.

Nun ist Kritiker zu sein eine Übung des Verstandes gegenüber dem verführerischen Gefühl oder gegenüber der Versuchung einer ästhetischen Vereinnahmung, die wir möglichst elegant zergliedern, um nicht zu sagen denunzieren müssen. Was nicht bedeutet, dass wir gegen die Verführungskraft der Emotionen völlig unempfindlich wären. Aber wir müssen ihnen mit Wachsamkeit begegnen. Nebenbei bemerkt, diese ganze Einteilung ist ein bisschen schematisch, denn Gefühle können vom Glanz des Geistes ausgelöst werden und umgekehrt: Die Intelligenz kann unsere empfindsamsten Saiten anschlagen – und das hat nichts mit Sentimentalität zu tun. Doch wer von uns kann sagen, dass er niemals von Gefühlsdingen gefangen genommen worden wäre?

Wie man sieht, erkläre ich mich, verteidige ich mich. Aber warum eigentlich? Weil meine Urteilsfähigkeit – und nicht nur die kritische – unter dem Eindruck einer Art Erregung stand, die auf meinen Kontakt mit Inês und die Aussicht auf ein Treffen am nächsten Tag zurückzuführen war? Ich meine, ja, denn sonst würde ich mich, unabhängig von allem Narzissmus, nicht in Abschweifungen über Theorie und Theater verlieren, die nur in dem Maße hierhergehören, wie sie mit dem Fall Inês zusammenhängen. Oder meinem Fall mit Inês, wie man sehen wird.

Und während ich sicher sein konnte, dass meine Gedanken über das Stück, die ich gleich nach meiner Heimkehr – und bevor ich ein Schlafmittel schluckte, um meine Ungeduld abzukürzen – ausformulierte, ohne falsche Bescheidenheit sehr wohlbegründet waren, wenn sie am Autor und Regisseur eine beschränkte Vorstellung des szenischen Raums kritisierten, der bei ihm als Zwangskasten in Form eines Appartements erschien – das Ganze Ergebnis der dramaturgischen Unerfahrenheit oder Bequemlichkeit und vielleicht auch der knappen Mittel für die Produktion –, so konnte ich doch keine Gewissheit darüber erlangen, ob ich mich hinsichtlich der weiblichen Figur nicht von Träumereien davontragen ließ.

Dem jungen Dramatiker zeigte ich, natürlich nicht ohne Ironie, den Ausweg, den er selbst genommen hatte, um seinem Gefängnis zu entfliehen. Das Fenster. Allerdings nicht in der tragischen und melodramatischen Weise, die er gewählt hatte und die übrigens bereits durch die demonstrativen vertrockneten Blätter vorgezeichnet gewesen war, die man, einer europäisierten Inspiration folgend, immer wieder – während sich die Handlung oder Nichthandlung des Stückes über den Abend schleppte – hinter dem erwähnten Fenster fallen sehen konnte, als hätte der Titel des Werkes nicht genügt: Herbstblätter: