Peter Handke

Tage und Werke. Begleitschreiben

Suhrkamp Verlag

Statt eines Vorworts

Gestern, am Sonntagabend, dem 12. Oktober 2014, ist mir eine besondere Schönheit »begegnet«, nicht »angekommen«, wie NOFRETETE, sondern mir begegnend als Schönheit zugleich mich bewegend: Da stieg ich auf gut Glück in den Vorortzug nach Versailles, und mit mir im ziemlich leeren Abteil, da und dort, saßen drei eher junge Männer. Und sie alle drei lasen. Und sie lasen ein jeder ein Buch, und es war das jeweils ein ernstes Buch — es war, Schönheit der Bücher wie der drei Leser, offenbar die alte, die ernste, die ewig neue Literatur. Und es wurde so im Waggon Raum, wie selten ein Raum. Und als ich gegen Mitternacht zurückkam mit einem anderen Zug, da saß, gelehnt an die Bahnhofsmauer hier, noch ein so leuchtend ernster Leser, wartend auf den letzten Bus in die Garnison oben auf dem Plateau von Villacoublay.

Und so grüße ich alle ernsten Leser.

Die Wörter als Wirklichkeit

Der österreichische Schriftsteller Konrad Bayer hat sich 1964, im Alter von 32 Jahren, das Leben genommen. Er gehörte eine Zeitlang zu jener Wiener Dichtergruppe, deren Mitglieder noch H. ‌C. Artmann, Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner und Oswald Wiener waren. Diese Gruppe hatte eine kurze dogmatische Periode, in der sie fast streng nach den Lehren der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins vorging: die Sprache, die Wörter waren für sie das Ding an sich, sie wurden nicht mehr verwendet, um etwas Dahinterliegendes, eine sprachlose Wirklichkeit zu beschreiben, sondern sie genügten sich selber, indem sie nicht auf etwas außerhalb der Wörter Liegendes zeigten, sondern indem sie sich selber zeigten, die Wörter als Wirklichkeit, die Wörter als das Wirkliche an sich: nichts mehr war dahinter. In dieser Periode wurde vor allem zitiert: selbst der gar nicht dogmatische Artmann ging etwa in Gesellschaft seiner Freunde den Jargon von Sprachlehren durch und baute aus gefundenen Kuriositäten und sprachlichen Widersprüchen neue, konkrete Gedichte; harmlose Zeitungsnotizen wurden in allen Sprachspielarten durchgespielt, sinnlos gewordene Redensarten zeigten so ganz neuen Sinn oder Unsinn, einfach dadurch, daß mit dem Zitat auf sie gezeigt wurde. Später gingen die Dogmatiker entweder über zu einem sprachlichen Manierismus wie Artmann oder verbohrten sich um so mehr in die Besessenheit von der Fälschungskraft der Sprache wie der sicherlich bedeutendste der Gruppe, der heute 36jährige Oswald Wiener. Gerhard Rühm suchte sein Heil in Versuchen, aus der graphischen Anordnung von Wörtern zu neuen »Bildern« zu kommen, wobei er freilich eine konventionelle Grundhaltung nicht mehr verbergen konnte. Vor Oswald Wiener und dessen Romanversuch die verbesserung von mitteleuropa war es nur Konrad Bayer gewesen, der darangegangen war, vom bloßen Zitieren, Zeigen und Beschreiben der Sprache, das auf die Dauer, wenn die Technik einmal gefunden war, ja fast automatisch geschehen konnte, zu einem Aufbau und einer Neuordnung der jetzt hinlänglich durchschauten Sprache zu kommen. Er begann, wenn auch formal ironisiert, wieder Geschichten zu erzählen, freilich nicht Geschichten, bei denen sich ein Satz aus der inhaltsgemäßen Logik des vorhergehenden Satzes ergab, linear und eindeutig, sondern Geschichten, in denen die Sätze Sprünge machen, in denen kein Satz die inhaltliche Fortsetzung des vorangegangenen Satzes zu sein braucht und dennoch formal im Erzählrhythmus der Geschichte wie ein Fortsetzungssatz dasteht: es entstand ein Widerspruch zwischen ironisiertem Geschichtenrhythmus und aufgehobener Geschichte. Bayer verwendete auch bei diesen längeren Prosatexten, von der unbekümmerten Fiktionswut des traditionellen Geschichtenerzählers abgehend, Sätze aus bereits vorhandenen Geschichten (Heimatromanen, Wildwestromanen), die er in mehreren Schichten ineinander montierte. War mit dieser Montage noch nicht viel erreicht, so glückte es jedoch Konrad Bayer in seinen späteren Arbeiten, die entpersönlichten Texte gleichsam wieder persönlich zu machen, als Arbeiten eben von Konrad Bayer, indem er die vorgegebenen Sätze dazu verwendete, sich selber darin spiegeln zu lassen und so mit den Sätzen anderer eine Geschichte über sich selber zu erzählen. Er hatte wohl erkannt, daß er keine neue Sprache zu erfinden brauchte, um sein Bewußtsein zu beschreiben, sondern daß schon eine fertige Sprache vorhanden war, aus der er sich gewissermaßen sein Bewußtsein aussuchen konnte. Das Bewußtsein bestand aus der Sprache: er brauchte die Sätze nur zu suchen, sie waren schon vorgeformt, eine Erfindung war nicht mehr vonnöten. In dieser letzten Zeit hat Konrad Bayer einige längere Arbeiten angefangen: ein Roman, Der sechste Sinn, konnte nicht mehr vollendet werden, der Torso erschien im Herbst 1966 bei Rowohlt. Ein anderes Prosastück hat Konrad Bayer noch anschließen können: es ist dies Der Kopf des Vitus Bering, »ein Porträt in Prosa«: in der Reihe der Walter-Drucke des Walter Verlages, Olten und Freiburg im Breisgau, ist das Buch im Herbst 1965 erschienen. Der Kopf des Vitus Bering ist das Montage-Porträt eines Menschen, in dessen Kopf die Zeiten gleichsam aus und ein gehen: er kann die Zukunft vorwegnehmen und sich die nie erlebte Vergangenheit vergegenwärtigen; desgleichen erlebt sein Bewußtsein Räume, die es nie erfahren hat oder erfahren wird. Die realistische Motivation dafür gibt Bayer in einem dem Text angehängten Index, innerhalb dessen er mit Hilfe von Zitaten die Krankheit des historischen Vitus Bering, die Epilepsie, analysiert und aufzeigt, wie der Epileptiker die Fähigkeit habe, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schauen. Bayer stellt dann, mit Hilfe anderer Zitate, die Beziehungen der Epilepsie zum Schamanismus fest, der sich von der Epilepsie nur darin unterscheide, daß der Schamane den Zustand der Ekstase mit dem Willen erzeugen könne. Neben diese relativ ernsthaften wissenschaftlichen Zitate stellt Bayer dann Zitate etwa aus populären Gesundheitsbüchern, Fremdwörtererklärungsbüchern, Lexika für gebildete Stände, aus dem Spiegel und aus Life. Als eine Montage aus Reisebeschreibungen, Abenteuergeschichten, Ethnographien, Schiffahrtsregeln, wissenschaftlicher Analyse, logischem Gedankenspiel ist auch der eigentliche Text Der Kopf des Vitus Bering gebaut. Sprachformen, wie etwa Geschichtsschreibungsattitüde, philosophische Fragestellungen, Zeitungstitel werden auf ungewohnte Wirklichkeitsgebiete angewendet und so spielerisch verfremdet: einem scheinbar bedeutsamen Zwischentitel, groß gedruckt, zum Beispiel TRAUMA DES VITUS BERING, folgt der Text: »wenn ein kind acht stunden schläft, so kommt es in dieser zeit sehr viele stunden weges im himmelsraume voran«; oder dem Zwischentitel MONOLOG folgt nur: »ich bin vitus bering«, oder nach dem Zwischentitel HERALDIK steht: »auf gelbem grund …« und nach NOTIZ heißt es ganz kurz: »da schloß bering die augen.« Wer darauf besteht, kann aus dem Kopf des Vitus Bering auch eine übliche Geschichte herauslesen, den Lebenslauf des historischen Vitus Bering. Aber es geht Bayer nicht um diese Geschichte, denn sie ist nur als Unterlage für die eigentliche Geschichte verwendet, die Geschichte der Verwirrung und Auflösung von Zeit und Ort, die Geschichte eines verwirrten Bewußtseins und die Geschichte der Sprache eines verwirrten Bewußtseins. Hier, bei Konrad Bayer, scheint sich, endlich, eine neue Literatur anzubahnen: es werden Geschichten geschrieben, in denen nicht mehr der sogenannte längst entwertete, längst übermißbrauchte Sinn der Sätze nach und nach die Geschichte erzählt, sondern Sätze, die eine Geschichte erzählen, allein durch die formale Anordnung jedes einzelnen Satzes zu jedem andern, Geschichten, die ihren Inhalt und ihre Bedeutung nicht aus der Klischee-Bedeutung oder dem durch viele gleiche Geschichten vorbestimmten Inhalt von formlosen Aussagen gewinnen, sondern aus dem formalen Verhältnis der Sätze zueinander, Sätze also, bei denen die formale Anordnung zugleich die Bedeutung, meinetwegen den Inhalt, die Geschichte, erzeugt.

Maler aus Raumangst und Raumtreue

Gustav Januš, der Mann der Gedichte: ein Maler? (Den Lehrer kann man sich schon eher vorstellen — nicht durch die Gedichte, sondern durch die Welttheorien, die täglichen und nächtlichen, des Tischredners G. ‌J.) So habe ich damals, als ich die ersten Bildwerke Gustavs zu Gesicht bekam, diese eher für Spielwerke gehalten, Dinge der linken Hand — was nichts gegen die linke Hand sagt. Das war vor langer Zeit an einem bitterkalten Jännertag im slowenischen Kranj, und zwar in dem Haus des France Prešern (das frostige Sterbezimmer mit dem arg kleinen Bett des slowenischen Nationaldichters gleich neben dem Ausstellungsraum). Januš hatte dort aus schwarzem Gummi ausgeschnittene Schablonen an die alten traurigen Wände gehängt, Formen oder Profile, die sich erweitert auch in seinen jetzigen Malereien finden, mehr Messer- als Scherenschnitte, klein, verloren dort im tiefwinterlichen Totenhaus, und doch mit der dem Gustav Januš eigenen Frechheit, oder eher Selbstbehauptung und Weltbehauptung. Ich habe mir nach diesem schwarzen kalten Hahnenkämmen im Totenhaus gleich auf dem Markt von Kranj sehr gelbe Nudeln gekauft, von den ländlichen Verkaufsfrauen sichtlich handgewalkt und -geschnitten: noch jetzt fühle ich den restlichen Mehlstaub am Boden des Nudelpackpapiers, aber eben verbunden mit der vorigen Kälte im Prešern-Haus und der Zacken-Schwärze der Januš-Figuren wandwärts.

Und jetzt ein Sprung: Von Jahr zu Jahr wurde ich mehr Zeuge, wie die Schablonen aus Gummi sich hineingliederten in eine Farbenlandschaft — der Gemälde des Malers G. ‌J. —, und doch auf dem Schwarzen beharrten. Aus den Messerschnitten wurden Teile eines großen Ganzen, ob Sterbe- oder Geburtszimmer. Und das für mich große Wahr-Zeichen, daß aus dem Bilderspieler Gustav Januš im Lauf der Jahrzehnte ein nicht gerade zünftiger, vielmehr ernster, dramatischer, trotzdem spielerischer Maler geworden ist: Seine Leinwände sind gefährlich geworden, nicht bloß in dem Sinn, daß sie vor dem Betrachter dauernd umspringen (wohin stößt die Form vor? oder zieht sie sich zurück vor dem Schwarzen? oder gewinnt sie?), sondern vor allem gefährlich so: In Gefahr spürt man, von Bild zu Bild, den Schaffer selber. Er hat erfahren, daß die Bilder, die noch so beiläufigen, die noch so als bloßes Spielwerk angesetzt haben, Regeln haben, ja Gesetze, ja alttestamentarische. Es ist in Januš' Malerei inzwischen, Bild um Bild — in einem jeden — Angst zu spüren, aber eben nur als Spur oder Moment, oder Zögern, oder Zurückschrecken. Der Raum, als Bildfläche gewollt oder gewünscht vom Maler, schlägt zurück, sowie der Maler ihm nicht treu folgt. Aber selbst die Raumtreue ist keine Lebensversicherung — siehe Gustav Januš' »Gemälde«, Bild für Bild. Der Zuschauer zittert, je länger er schaut, desto mehr mit, nach, vor — und dann erst verdient er sich, wie wohl auch der Maler-Autor selbst, den Übergang ins Spiel. Dieses Spiel aber ist endlich wirklich frei, nicht das eines einzelnen mehr, eines Mutwilligen, sondern das, halbwegs, allgemeine, »unsereinige«. Verläßliches Drama, vom Geburts- zum Sterbezimmer … Und gerade fliegen die Kirschblüten durch meinen Garten im Donnerregen. Und wenn Sie weitere Fragen haben, fragen Sie am besten den Maler selbst; er lebt.

Der Hervorrufer Claus Peymann

C. ‌P., der Seidenhemdträger

C. ‌P., Theaterdirektor, der, wenn er telefoniert, mit gleichwem?, sich immer erst verbinden läßt: »Herr P. möchte Sie sprechen!« Dann lange nichts; dann jäh, aus diesem Nichts, die Stimme C. ‌P.'s; so plötzlich, daß dem am andern Ende fast der Hörer aus der Hand fällt.

C. ‌P., der junge: langes Blondhaar, Schnauzbart, schiefer Blick, halb von unten, wie ein Widersacher aus der Ilias, oder wie ein blondes Stierkalb, hängende Arme eines Boxers, der andeutet: »Los! Schlag zu — wir werden sehen.« Überhaupt Ähnlichkeit (trügerische, umdichtende Erinnerung) mit jenem Boxer, der sich »Prinz von Homburg« nannte und ein ganzes TV-Interview lang einmal kein Wort sagte — das letztere eine Utopie für den alten C. ‌P.?

C. ‌P., der Lichtempfindliche. Wie kränkelnd und fast erschlagen, wenn zu lange — dieses »zu lange« kommt jeweils bald — im Tageslicht. Ganz anders lichtempfindlich freilich in seinem Theaterlicht. Beim Bedenken seiner Inszenierungen: ein Licht, wie ich es von keinem sonstigen Theaterabend im Gedächtnis habe; ein Frühlicht, ein Vorfrühlingslicht; Licht einer nördlichen Hafenstadt. Bergen? Kiel? C. ‌P.'s Theaterlicht an seinen Arbeiten mir am stärksten nachgehend; dieses Licht für mich: »bleibend« — in dem Sinn, wie in einer Short story William Saroyans die Frau von ihrem Mann sagt: »Für mich bist du weltberühmt.« (= »Bleibend.«)

C. ‌P., der Provokateur. Unterschied zwischen C. ‌P., dem im Reden oft Sich-gehen-Lassenden (früher einmal zumindest), und C. ‌P., dem mit der Wahl der Stücke, dem Spielplan und der Entscheidung für zeitgenössische, für problematische Autoren Provozierenden (wobei »problematisch« und »Autor« für ihn — nur für ihn? — notwendig zusammengehören?). Der fruchtbar provozierende C. ‌P. Der geisterweckende Provokateur. Der streitgeisterweckende. Das Kunstwerk des Provozierens. Das Provozieren als Kunst. Provozieren und beleben, neubeleben. Es lebe solcherart Provozieren.

C. ‌P., der Erzähler. Episches Theater anders als in dem bekannten, zeigefingerkleinen, dogmatischen Sinn. Erzählerisches Theater, weiträumig, heimholend, märchenfremd und märchenvertraut, wie es mir mehr und mehr vorschwebt als das Theater — nicht der »offenen Tür«, sondern der offenen Tore, ohne Hemmschwellen, für jung und alt, links und rechts, blau- und schwarzäugig. C. ‌P., mein Regisseur (natürlich nicht nur er). C. ‌P., der Erzähler? Im Sinn des Skandierens und Klingenlassens von Zeiten und Räumen. C. ‌P., der Westerntheatermann.

C. ‌P., der Kuba-Kenner?

C. ‌P., der Spezialist für Sommerhäuser, von Schottland, Irland über die Bretagne bis Marokko und Hinterstoder.

C. ‌P., der Provokateur, der Beleuchter (nicht für Blender), der Erzähler.

C. ‌P., der Provokateur? Der Hervorrufer.

Nachbemerkung zu Dimitri T. Analis und Adonis

Ein Spätwinter- oder schon Vorfrühlingsabend in der rue de Lourmel, im 15. Pariser Arrondissement, dem bei weitem volkreichsten und auch völkervielfältigsten der ganzen Stadt. Zusammenkunft von drei Schreibern, einer syrisch-arabisch, einer griechisch-französisch, der dritte österreichisch-slawisch, in dem libanesischen Restaurant al-Wadi, Das Tal. Der Syrer wohnt in einem nordwestlichen Vorort von Paris, der Grieche kommt von der Porte d'Auteuil im nahen 16. Arrondissement, der Österreicher kommt von seinem Wohnort im Südwesten. Am Tisch, bei Hommos, Kefta und Libanonwein, reden lange vor allem die zwei, die ihren Ursprung am Mittelmeer haben, der eine im syrischen Dorf Kassâbîn, der andere in Athen. Sie sind beide mehr als bloß altbewährte Dichter und reden aber als Altvertraute; der zu ihnen dazugeschneite sogenannte Kontinentaleuropäer kommt von der Prosa und ist unterwegs zur Prosa und hört (und schaut) den zwei ergrauten, aber nicht alten Mediterranäern erst einmal nur zu. Sie führen keinen Dialog. Vielmehr halten sie abwechselnd ihre Monologe in dem beiden wohl gleich geläufigen Französisch, der syrische Araber mit der Souveränität des größeren Bruders, der Grieche, obwohl nicht gar viel jünger, mit dem Eifer des Nachzüglings. Zugleich wirkt dieser aber für Augenblicke nahezu weltverlassen, und dabei über die Fastweltverlassenheit auf der einen Seite so betroffen wie er auf der anderen Seite, im selben Moment, darüber zornig-vergnügt wirkt. Der Syrer-Araber dagegen spricht wie aus dem Zentrum einer Welt. Seine Ruhe, Gelassenheit und Leisheit verkörpert und vertritt eine ganze, freilich nicht tatsächlich oder gar real-politische Welt. Und ihrer beider Monologe, auch wenn ein jeder kaum eigens auf den anderen eingeht, sind zuletzt, in ihren Pausen, ihrem Rhythmus und ihrem Zusammenklang, doch Dialoge oder Zwiegespräche wie nur je welche. Gemeinsam ist beiden Dichtern, dem einen in seiner wütenden Aufgeregtheit, dem anderen in seiner so melancholischen wie unbesiegbaren Abgeklärtheit, eine Dringlichkeit, ein Sichwehren, ein auf den Herkunftsorten und -zeiten bestehendes, gegen die aktuelle Welt gerichtetes Sichabgrenzen und Auf-sich-und-dem-Orient-(als dem Morgenland-)Bestehen. So kommt dem Zuhörer am Ende der Mahlzeit im al-Wadi die Idee, welche dreieinhalb Jahre später zu diesem kleinen Buch hier geführt haben wird. »Was ihr da jetzt miteinander redet, gebt ihm die Zusatzdimension des Schriftlichen. Ich werde es übersetzen.«

Gesagt, geschrieben, übersetzt (ein bißchen spät).

Ein Malerfreund, inzwischen lange tot, sagte mir einmal zu Picasso: In seiner Malerei seien noch einmal sämtliche Küsten des Mittelmeers aufgeflammt, von Haifa über Aleppo, von Kappadokien über Athen und den Peloponnes, von Marseille über Barcelona und Valencia, von der Enge von Gibraltar bis Marokko, Algier, Tripolis und Alexandria. Und mir schien im Lesen als Übersetzer, auch in der Korrespondenz zwischen Adonis und Analis leuchteten die Mittelmeergestade im Kreise noch einmal auf, wenn auch auf eine andere — eine zage und zugleich »panische« Weise. Aber vielleicht kamen ja auch die Bilder des Malagensers Pablo Picasso aus einem ähnlichen Zagen und daraus folgendem panischem Ungestüm?

»… oft heißt es zu segeln mit einem anderen Blick.

Damit die Worte nicht wirkungslos sind«

(Analis)

»Ich steuere auf die Ferne zu, aber sie

bleibt fern. So komme ich zwar nicht an,

aber ich leuchte.«

(Adonis)

Über Dragan Velikić

Es ist eine schöne und rechte Pflicht, Dragan Velikić ein paar Zeilen (bei 39 Grad im Schatten) zum Danteov Trg zu schreiben. Es ist ein majestätisches und zugleich hilflos-trauriges, bitter-trauervolles Buch, und so soll Literatur ja wohl sein, und ist Literatur (während heute vorderhand zwischen Kraut und Rüben nicht mehr unterschieden wird, und die meisten so genannten Bücher nicht einmal Kraut — hoch der kupus! — abgeben, Arrangeure [s. ‌U. Eco] statt Schaffer, Schupfer und Schöpfer). Pula ist nun wie das Novi Sad von Aleksandar Tišma und das Višegrad von Ivo Andrić, eben weil der Ort ganz von Dragan V. oszilliert, so aus der Tiefe, daß der Dragan V. verschwinden darf in den Satzfolgen und -reusen. Die Personen, wie Labud I., dann der Briefträger und Physiker Furčić (Petar), die alternde Vesna, der Buchhändler vom Dunkelweg (samt Rosi), der Archivar auf der Frauenflucht, sie alle sind auf mich Leser übergangen und werden als kosmische Umrisse in mir weiterwirken, auch wenn ich den Namen Damjan etc. vergessen haben werde. Zwischendurch war ich doch leicht verdrossen, weil gar viel literarisches Imponiergehabe das Buch mit blinden Flecken zu verstopfen drohte — vor allem in den kurzen Kapiteln zwischen den Seiten 80 und 120 (auch später, wenn die Geschichte traurig-souverän in Fahrt kommt, schubst Gospodin Dragan mich Leser in die Schreibbezüge wie in Spinnfäden, aber da zum Glück nur noch hier und da). Da hätte der Verleger, samt seiner Übersetzerin, vielleicht ein bißchen dazwischenreden können — für das weltumspannende und die Welt doch wieder so herrlich freilassende Ganze scheinen mir diese Zwischenpassagen gefährlich. Der nachhaltige Eindruck vom Dante-Platz: Endlich wieder ein Buch, welches nicht öde Unterhaltung einem aufbrummt, vielmehr das unendliche Gefühl all der endlichen kleinen und größeren Lebensläufe hinterläßt — ein Buch, welches das Leben, bei all dem tragischen, auch selbst verschuldeten Scheitern, als etwas insgesamt Großes und Erhabenes spüren und sehen läßt und projiziert (in die Zukunft).

Es ist ein ganz und gar jugoslawisches Buch, jede der Personen (fast jede) verkörpert zugleich Jugoslawien als Universum vor allem im Zugrundegehen, und umgekehrt erscheint Jugoslawien selber, ohne das Zwangskleid eines historischen oder gesellschaftlichen Romans, als eine Roman-Person: Avstrija oder Francuska etc. könnten das nie sein (na vielleicht doch ein wenig in der Strudlhofstiege, die für mich in Danteov Trg ausklingt), und vielleicht ist ein von vornherein zum Sterben verurteiltes, dabei im Grunde doch nicht unedles, lebenswertes Land der große epische Vorwurf, welcher all den sich so kläglich und dabei würdig kreuzenden und versäumenden Gestalten in Pula und Medulin und sonstwo einen sprachlich-träumerischen Zusammenhang gibt.

Zu einem Bewohner des Inneren Schlosses

Wer, wie ich, Johannes Neuhardt, den Gelehrten, den Wisser, kennt, oder zu kennen meinte, wird mit diesem seinem Buch eines anderen belehrt, insofern, daß er in keinem einzigen Satz so etwas wie eine Belehrung erfährt. Und in ähnlicher Weise, simili modo (eines der wahrsten wie schönsten »Sprachspiele« der Liturgie), wird es auch dem Nichtkenner des Menschen und Priesters Neuhardt ergehen. Er wird lernen, ohne je belehrt zu werden. Ja, er wird sogar lesend lernen, ohne an sich je den Zwang des Lernens zu erfahren. Vor allem wohl kommt das aus dem vorsätzlich Lückenhaften, dem jeweils bloß Angerissenen, Angedachten der Texte, der Text-Facetten zu der »geistlichen Stadt« Salzburg. Jedes der kleinen Fragmente öffnet dem Leser einen Bild-, Denk-, ja Seelenraum, zeigt ihm die Schwelle oder Schneise, zu einem neuen Seelen- oder einfach Sehhorizont, örtlich wie zeitlich, der von Neuhardt so geliebten wie hier und da gerügten und mehr noch betrauerten Stadt — wobei ich zu dem »Sehhorizont« als Pleonasmus stehe. Die Texte, so gerafft sie sind, so brüsk sie enden, machen gerade auf diese Weise lernbegierig; der Leser bekommt Lust, lernen zu gehen — aufzubrechen, zu gehen, in die Salzburger Kreuz und Quer, im Gehen zu lernen, auf eigene Faust, weiterzugehen, ob nach Maria Plain oder auf den Nonnberg oder zu den Stadttoren — vor allem zu denen, die es nicht mehr gibt —, und dann weiter und weiter zu gehen und gehend weiterzulernen. Nicht gerade ein himmlisches Jerusalem wird einem durch Neuhardts knappe Scheinladungen vorgestellt, aber doch eine vielfältige raumzeitliche, im Ideal dem Himmel auserkorene Geistesstadt, die im Lesen dann und wann das Doppelbild einer anderen, dem äußeren Anschein ebenso kulissenhaften Stadt wird, nämlich Avila in Kastilien, im spanischen Hochland. Diese Art Verschwisterung, die sich dem Leser nicht etwa aufdrängt, vielmehr ihm sanft und anspielend, anspielungsreich nahekommt, rührt von keiner Äußerlichkeit, sondern von etwas Tiefinnerstem, hervorgerufen durch Neuhardts leise, feine Gehvorschläge: die Schriften der Teresa von Avila, worin sie, einleuchtender als je ein Psychogelehrter nach ihr, den verschiedenen Räumlichkeiten, moradas, der menschlichen Seele nachgeht, jeder dieser Räume grundverschieden vom anderen und doch als Ganzes, als ganze Seele, ein gewaltiges Schloß, ein Luft- oder Geistes- (nicht Geister-)Schloß ergebend, oder eben eine »geistliche« Stadt, wie sie im Buche steht, und so, simili modo, nicht bloß im Buche. Nicht Belehrung ist der Grundzug der Salzburgtiefenbilder Johannes Neuhardts, sondern Fürsorge, und insofern, ja doch, Seelsorge. Und seltsam, daß in diesem Sinne selbst manche wie absichtlich eingestreuten sogenannten Binsenweisheiten das da und dort in der Nacht der Zeiten und dem Schutt der Orte versunkene Luftschloß Salzburg mitheben helfen, als gehörten sie »notwendig« (ein vielbedachtes Wort in dem Buch) dazu. »Laßt euch erlösen, nicht erlöst euch selbst!«, wie es in dem Text zum Jedermann heißt? Oder vielleicht doch, auf den Leser bezogen, beides? Oder, frei nach Teresa aus der Schwesternstadt Avila, einfach: »Laßt euch!«

Zu Wolfgang Schaffler, Verleger

Es gehört sich wohl, daß ich, eingedenk der 50 Jahre Residenz Verlag, ein paar Zeilen zu Wolfgang Schaffler schreibe.

Hatte er »Leidenschaft« für Bücher? Es war etwas anderes — eine Art Gier, aber eine Gier, die etwas Kindliches hatte und Hand in Hand ging mit reiner Freude, und das nicht nur am Ding oder Produkt »Buch«, sondern, im Gegensatz zu dem, was ihm oft nachgesagt wurde, auch am Lesen, dem, so oder so, Entscheidenden. Seine leuchtenden Augen, nachdem er vom Lesen etwa des Gewichts der Welt gekommen war: als habe er gerade einen Landesrekord im Schwimmen aufgestellt oder als sei ihm gerade der Forellenfang seines Lebens geglückt, Glanz der Forellenhaut nicht nur in seinen, so oft eher melancholischen Augen, sondern übers ganze Schaffler-Gesicht.

Später war es nicht recht, daß er die Autoren im Stich ließ und sich und, anders, sie, die Autoren, an den Staat verschacherte. Aber was für mich bleibt: seine Leser-Fischer-Buchfreude-Augen (und das Schwimmen zu zweit in herrlich eiskalten Lungauer Bergseen).

Und so grüßt nach Ö.

— Peter Handke

Was ich nicht sagte
Eine Entgegnung auf die Kritik am Heinrich-Heine-Preis

Den Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. Mai 2006 zur Verleihung des Heinrich-Heine-Preises benutze ich, einige Richtigstellungen zu den der Zeitung unterlaufenen Irrtümern zu versuchen — im Bewußtsein (und aus der Erfahrung), daß jede einzelne meiner Berichtigungen wieder eine Mehr- oder Unzahl neuer und anderweitiger Irrtümer (hm) auslösen wird.

1. Ich habe nie eins der Massaker in den Jugoslawienkriegen 1991-95 geleugnet, oder abgeschwächt, oder verharmlost, oder gar gebilligt.

2. Nirgendwo bei mir kann man lesen, ich hätte Slobodan Milošević als »ein« oder »das Opfer« bezeichnet.

3. Richtig ist: Anläßlich des okzidentalen Diktats gegen Jugoslawien von Rambouillet, im Februar 1999, habe ich mich, wie die Welt seit damals weiß, vor der Kamera des Belgrader Fernsehens verhaspelt, wobei herauskam, in meinem Französisch, die Serben seien noch größere Opfer als die Juden — was ich dann, nachdem ich, ungläubig, das Band mit dem von mir produzierten Un-Sinn angehört hatte, schleunigst schriftlich korrigierte: Text, seinerzeit von Focus veröffentlicht und von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Wort für Wort, einmal ohne Kommentar, umgehend nachgedruckt.

Ein P. ‌S. noch für eine mir und vielleicht auch diesem oder jenem Leser wichtige letzte (versuchte) Berichtigung: Vor kurzem, wiederum in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in einer der wie gewohnt geistvollen, hochherzigen und einfühlsamen Glossen des Theatersachverständigen der Zeitung, die meine Person oder meinen Phantom-Titel »Der wilde Mann« zum Vorwurf nahm (P. ‌H., borniert, Kitschier, Befürworter von Kriminellen et cetera), war auch von meinem Stück Die Fahrt im Einbaum die Rede, worin ich angeblich das serbische Volk als eines schildere oder gar preise, welches Europa das Essen mit Messer und Gabel beigebracht habe, und überhaupt die Kultur. Richtig ist wieder, daß in dem Stück (Seite 65) eine Figur sagt: »Dabei waren wir es, die euch jahrhundertelang die asiatischen Horden ferngehalten haben. Und ohne uns würdet ihr immer noch mit den Fingern fressen. Wer war es, der in die westliche Welt Messer und Gabel eingeführt hat?« Nur: ist es nötig zu sagen, daß es sich hier um eine Parodie handelt? Nötig anzuführen jedenfalls der Rollenname jener kleinen Figur: »IRRER«.

Und in diesem Sinne wünsche ich, daß all meine (6) Aufzeichnungen, Erzählungen, Berichte, Stücke der letzten fünfzehn Jahre zu Jugoslawien Wort für Wort gelesen würden, und anders sachverständig: Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991), Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina (1996), Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996), Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999), Unter Tränen fragend (1999) und zuletzt Die Tablas von Daimiel (2006) (alle bei Suhrkamp). Mir dünkt, mich bedünkt, für diese Schriften ist der Heinrich-Heine-Preis. Es gibt noch Bücher zu lesen jenseits der Zeitungen.

»Ah, die alte Frau dort, meine Leserin, / die einzige, die mich noch grüßt? / Und wenn sie mich nicht grüßt? / Was für ein Abenteuer! / Und sie grüßte. / Und ein zweiter grüßte, ein Unbekannter. / Und ein Dritter dann« (Gedicht für H. ‌H., am 27. Mai 2006).

Versuch einer Antwort

Ich muß ernsthaft sein und ruhig antworten auf die Vorwürfe, die mir seit vielen Jahren und jetzt wieder, nach der Zusprechung (und der angedrohten Nicht-Vergabe) des Heinrich-Heine-Preises, entgegengehalten werden. Ich muß es für die Leser tun, für die redlichen Leser — übrigens eine Tautologie, denn ein unredlicher oder voreingenommener Leser ist nie ein Leser.

Also: Hören wir einander endlich an, statt uns aus feindlichen Lagern anzubellen und anzuheulen. Und tolerieren wir die bösen Wesen (?) oder Geister (?) nicht mehr, die im Zusammenhang mit dem tragischen Jugoslawien-Problem weiterhin mit Wort-Geschossen wie »Revisionismus«, »Apartheid«, »Hitler«, »blutige Diktatur« etc. ballern. Lassen wir, was die Kriege in Jugoslawien angeht, alle Vergleiche und alle Parallelen sein. Bleiben wir bei den Tatsachen eines von einem unredlichen oder wenigstens unwissenden Europa angezettelten oder wenigstens koproduzierten Bürgerkriegs, die auf allen Seiten schrecklich sind. Hören wir auf, Slobodan Milošević mit Hitler zu vergleichen. Hören wir auf, in ihm und seiner Frau Mira Marković Macbeth und seine Lady zu sehen oder Parallelen zwischen dem Paar und dem Diktator Ceauşescu und seiner Frau Elena zu ziehen. Und verwenden wir nie mehr für die während des Sezessionskriegs in Jugoslawien eingerichteten Lager das Wort »Konzentrationslager«.

Wahr ist: Es gab zwischen 1992 und 1995 auf dem Gebiet der jugoslawischen Republiken, vor allem in Bosnien, Gefangenenlager, und es wurde in ihnen gehungert, gefoltert und gemordet. Aber hören wir auf, diese Lager in unseren Köpfen mechanisch mit den Bosno-Serben zu verbinden: Es gab auch kroatische und muslimische Lager, und die dort und dort begangenen Verbrechen werden im Tribunal von Den Haag geahndet. Und hören wir schließlich auf, die Massaker (unter denen, im Plural, diejenigen von Srebrenica im Juli 1995 tatsächlich bei weitem die abscheulichsten sind) dem serbischen (Para-)Militär zuzuschreiben. Ich wiederhole aber, wütend, wiederhole voller Wut auf die serbischen Verbrecher, Kommandanten, Planer: Es handelt sich bei Srebrenica um das schlimmste »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, das in Europa nach dem Krieg begangen wurde.

Wahr ist: Ich war im Juni 1996 zum ersten Mal (und danach noch um die zehnmal) in Srebrenica und in den ebenfalls zerstörten serbischen Dörfern ringsum und habe danach ein kleines Buch geschrieben (Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise). Wahr ist, daß ich in diesem Nachtrag auch von den blühenden Bäumen erzähle, von den Erdbeeren auf den Hügeln um Srebrenica, aber natürlich (entschuldige, Leser, daß ich mich erkläre, aber die Beschreibung dieser Natur wird mir immer wieder vorgeworfen), um die furchtbare Zerstörung in und um Srebrenica und die Todesstille noch spürbarer zu machen. Und der Kern des Nachtrags: die endlosen Schreie eines serbischen Mannes aus Srebrenica, der, zwischen den Ruinen, am Sommerabend (Schwalben!) zu seinem Haus (?) zurückkehrt (?) und auf dem Weg gegen sein eigenes Volk anbrüllt, sein Volk verflucht und verflucht, und am Ende ist fast nichts mehr zu verstehen vor lauter Wut und Schmerz.

Hören wir auch — endlich — den Überlebenden der muslimischen Massaker zu, in den vielen serbischen Dörfern um das — muslimische — Srebrenica, jener in den drei Jahren vor dem Fall Srebrenicas wiederholt begangenen und von dem Stadtkommandanten befehligten Massaker, die im Juli 1995 — schreckliche Rache und ewige Schande für die verantwortlichen Bosno-Serben — zu dem großen Gemetzel führten, »dem größten in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg«. Fügen wir immerhin hinzu, daß alle Soldaten oder muslimischen Männer aus Srebrenica, die die Drina — die Grenze zwischen den beiden Staaten — überquerten und aus Bosnien in das damals von Milošević regierte Serbien flohen, daß all diese Soldaten, die in dem »feindlichen« Serbien ankamen, heil blieben — hier, kein Gemetzel, keine Massaker.

Ja, hören wir, nachdem wir »die Mütter von Srebrenica« gehört haben, auch die Mütter, oder auch nur eine Mutter des nahe gelegenen serbischen Dorfes Kravica, wenn sie von dem an der orthodoxen Weihnacht 1992/1993 von den muslimischen Streitkräften Srebrenicas begangenen Massaker erzählt, dem auch Frauen und Kinder zum Opfer fielen (und nur für ein solches Verbrechen trifft das Wort »Genozid« zu). Vielleicht irre ich mich in den juristischen Termini: aber die schreckliche Antwort, die abscheuliche Rache der serbischen Streitkräfte (nicht nur für die Morde in Kravica, sondern auch für die während dreieinhalb Jahren in circa dreißig Dörfern um das muslimische Srebrenica begangenen Verbrechen) ist, da sie sich ausschließlich gegen Soldaten und/oder muslimische Männer richtete, als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« zu bezeichnen: Nuance, die, Ausnahme unter den sonst so wichtigen »Nuancen«!, fast nicht zählt angesichts von Tausenden und Abertausenden bosno-serbischen Verbrechen, ja und ja, gegen die Menschlichkeit.

Und davon abgesehen — und das ist es, was die Leser in ihren Herzen endlich verstehen müssen — sind die Zahlen der jungen und weniger jungen Toten in den bosnischen Kriegen auf allen Seiten, bei den Muslimen, den Kroaten, den Serben, fast auf gleicher Höhe — warum nicht auch einmal den Friedhof von Višegrad besuchen, den riesigen Friedhof von Vlasenica? Und vor allem, ich wiederhole es voller Trauer: Ich wollte nie sagen, und habe an keiner Stelle gesagt, das Massaker von Kravica sei »der einzige Genozid« in Bosnien gewesen, sondern ein Verbrechen, auf das dieses Wort zutrifft — es gab andere bosno-serbische, muslimische, kroatische Massaker, die mit diesem Terminus bezeichnet werden können.

Und hören wir auf, die »Sniper« von Sarajewo blindlings mit den »Serben« zu verbinden: Die meisten der in Sarajewo getöteten französischen Blauhelme sind Opfer muslimischer Schützen geworden.

Und hören wir auf, die (furchtbare, dumme, unverständliche) Belagerung Sarajewos ausschließlich mit der bosno-serbischen Armee in Verbindung zu bringen: Im Sarajewo der Jahre 1992 bis 1995 blieb die serbische Bevölkerung zu Zehntausenden in zentralen Vierteln wie Grbavica gefangen, die ihrerseits — und wie! — von muslimischen Streitkräften belagert wurden. Und hören wir auf, die Vergewaltigungen ausschließlich den Serben zuzuschreiben. Und hören wir auf mit Worten à la Pawlowscher Hund.

Während der Vorbereitungen des Nato-Kriegs gegen Jugoslawien war ich mehrfach in Rambouillet, und am Ende, angesichts des voraussehbaren Scheiterns der »Verhandlungen«, des westlichen Diktats, von einem Belgrader Fernsehsender befragt, habe ich das serbische Volk (in meinem Herzen die Bombardierung, die Besatzung und die Lager, vor allem Jasenovac, das Nazi-Kroatien unter der deutschen Besatzung in Jugoslawien 1941 bis 1944) mit dem jüdischen Volk verglichen. Und da, in meiner, glaub' mir, Leser, Leserin, Not, in dem Durcheinander in meinem Kopf, habe ich tatsächlich einen Satz gesagt, der in etwa lautete »die Serben sind noch größere Opfer als die Juden …« Von den deutschen Medien später darauf angesprochen, konnte ich nicht glauben, eine derartige Dummheit tatsächlich ausgesprochen zu haben — zumal diese Dummheit überhaupt nicht zu meinem Gefühl im Moment des auf Französisch vor der Kamera abgegebenen Statements passte. Ungläubig hörte ich das Tonband an — und, indeed, ich hatte auf lächerliche Weise die Worte verwechselt. Aber Achtung! Ich habe mich sofort schriftlich korrigiert — und die deutschen Medien haben meine Korrektur veröffentlicht — die Frankfurter Allgemeine Zeitung Wort für Wort — ohne jeden Kommentar — die schriftliche Richtigstellung meiner Verwechslung wurde damals akzeptiert. Warum jetzt nicht mehr?

Ja, und ich war in Požarevac, bei der Beerdigung von Slobodan Milošević. Warum, habe ich im Focus vom 27. März 2006 erklärt: Es war die Sprache, die mich auf den Weg brachte, die Sprache einer so genannten Welt, die die Wahrheit wußte über diesen »Schlächter« und »zweifellos« schuldigen »Diktator«, dem noch sein Tod zur Schuld gereichen sollte, weil er sich »vor dem Schuldspruch, ohne Zweifel lebenslänglich, weggestohlen« habe — warum, fragte ich, bedurfte es da noch eines Gerichtes, um ihn schuldig zu sprechen? Solche Sprache war es, die mich veranlaßt zu meiner Mini-Rede in Požarevac — in erster und letzter Linie solche Sprache, nicht eine Loyalität zu Slobodan Milošević, sondern die Loyalität zu jener anderen, der nicht journalistischen, der nicht herrschenden Sprache.

Verbreitern wir die Öffnung. Auf daß die Bresche nie wieder von schlimmen oder vergifteten Worten verstopft werde. Hinaus böse Geister. Verlaßt endlich die Sprache. Lernen wir die Kunst des Fragens, reisen wir ins sonore Land, im Namen Jugoslawiens, im Namen eines anderen Europas. Es lebe Europa. Es lebe Jugoslawien. Živela Jugoslavija.

Ein Brief

Ihre freundliche Stimme noch im Ohr, möchte ich Ihnen sagen, welch gute Überraschung dieser Heinrich-Heine-Preis war, erst einmal für mich, der sich überhaupt keinen Preis mehr erwartet hatte, und wie er solch eine Überraschung weiterhin ist, gut vielleicht weniger für mich persönlich als für ein endliches allgemeines Auftauen, so scheint es inzwischen zumindest, der gefrorenen Blicke und Sprache in Hinsicht auf das jugoslawische Problem, einschließlich des Prozesses gegen Slobodan Milošević, wie das ja wohl auch Sie sich gewünscht haben. Doch ich schreibe Ihnen heute zusätzlich, um Ihnen (und der Welt) die Sitzung des Düsseldorfer Stadtrats (heißt das so?) zu ersparen, womit der Preis an mich für nichtig erklärt werden soll, zu ersparen auch meiner Person, nein, eher dem durch die Öffentlichkeit (?) geisternden Phantom meiner Person, und insbesondere zu ersparen meinem Werk oder meinetwegen Zeug, welches ich nicht wieder Pöbeleien solcher wie solcher Parteipolitiker ausgesetzt sehen möchte. Ich bitte Sie — so das in Ihrer Macht steht —, die Sitzung oder Veranstaltung auf den Nimmerleinstag zu verschieben und statt dessen die Stadträte an die frische Luft zu entlassen, z. ‌B. zu einem Picknick an den Rhein. Schade ist vielleicht nur, daß ich im Dezember einiges hätte darlegen können zum Unterschied zwischen journalistischer und literarischer Sprache und daß ich nun in Düsseldorf-Rath sowie in der Gartenstraße beim Hofgarten meine Streunereien vor 35, 40 Jahren nicht wiederholen kann. Aber dafür werde ich bald wieder einmal vor dem Grab Heinrich Heines auf dem Friedhof von Montmartre stehen — der Friedhof ist nicht weit von meinem Kaff hier. Und seien Sie nochmals bedankt, lieber Joachim Erwin, für Ihre Aufgeschlossenheit — die Sie sich für Ihr Tun und Lassen bewahren mögen.

Herzlich,

Ihr

Peter Handke

So fordernd die Person — so beschenkend die Gedichte. Angesichts der Statue für einen Dichter

Zu Rolf Dieter Brinkmann

So viel geht mir durch den Sinn, wenn ich an diesen Dichter — so was gab's damals noch — denke, daß ich es nicht in ein paar Sätzen fassen kann. Zudem mischen sich persönliche Begegnungen, vor allem im Sommer 1971 in Köln, noch am Rudolfplatz, wo ich den Kurzen Brief zum langen Abschied