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Susanne Fülscher

B. Cool

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Copyright dieser Ausgabe © 2013 by Edel eBooks,
einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.

Copyright © 2008 by Susanne Fülscher

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-108-8

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Eine schöne Wette
an einem unschönen Ort

Irgendein Genie hat mal gesagt, Liebe sei verwirrender, als bei Nebel durch ein Labyrinth zu laufen. Laut meiner besten Freundin Tini war ich selbst dieses Genie, womit sie Recht haben mag. Dieser ganze Gefühlswirrwarr ist aber auch mehr als beunruhigend. Liebe macht blind, unzurechnungsfähig, schwachköpfig, und ich will schließlich nicht an chronischer Hormonüberflutung leiden wie meine wertgeschätzte Mutter alle paar Wochen aufs Neue. Seit der Scheidung meiner Eltern vor einigen Jahren flattert sie nämlich wie eine Hummel von Liebschaft zu Liebschaft. Und das in ihrem biblischen Alter von fast fünfzig Jahren.

Tini meint, ich solle ihr das Vergnügen lassen, ich sei ja schon moralischer als eine Nonnenvorsteherin, aber das stimmt nicht. Ich kann es bloß nicht ausstehen, wenn sich weibliche Wesen à la Mami oder Tini, schrille Gluckser ausstoßend, auf alles Männliche stürzen, was bei zwei nicht auf dem Baum ist. Ebenso hasse ich es, mich vor Schulfesten und anderen Partys aufzustylen. Für Tini ist das allerdings ein absolutes Muss. Meistens steht sie zwei Stunden vor Abflug samt prall gefüllter Klamottentasche und Schminktäschchen bei mir vor der Tür und zwingt mich das ganze Theater mitzumachen. So auch an diesem Freitag. Unsere Schule feiert Halbjahreszeugnisse. Büffet, Discokugel, Lametta. Für die musikalische Beschallung sorgt unser Referendar Herr Helmig, der in seinem früheren Leben DJ war.

»Du ziehst am besten das hier an.« Tini zerrt einen lilafarbenen Fummel mit psychedelischen Kreisen aus ihrer Adidastasche und breitet ihn wie einen Gebetsteppich vor meinem Bett aus.

»Danke, mir ist schon schlecht«, erwidere ich.

»Das Kleid würde dir aber hervorragend stehen!« Tini hält es mir an, um mich dann wie seinerzeit die Hexe ihre beiden Opfer Hänsel und Gretel zu taxieren. »Beim Knutschen lässt es sich übrigens ganz leicht hochschieben.«

»Sehr witzig.« Ich stopfe das Teil zurück in Tinis Sporttasche und erkläre ihr, dass ich so gekleidet bleibe, wie ich bin. Jeans, T-Shirt und Pullover – zumal so ein nuttiges Outfit nun wirklich nicht mein Stil wäre.

»Aber Jeans und Pulli – das nennst du Stil!« Tini, die schon in voller Partymontur ist, will sich vor hämischem Gelächter ausschütten.

»Auf jeden Fall ist es geschmackvoller als das, was du da anhast.«

Ganz im Ernst: Tini sieht aus, als wolle sie zum Karneval. Sie trägt ein brombeerfarbenes Longsleeve mit Strassbesatz zu einem kurzen hellgelben Tellerröckchen, unter dem dünne froschgrüne Wollstrumpfhosenbeine hervorlugen, ihre Füße stecken in ausgetretenen Sneakers und an greller Schminke hat sie auch nicht gespart. Nur ihre haselnussbraunen Haare fallen glatt und schlicht auf ihre Schultern.

»Komm schon, Luisa, lass uns wenigstens was Witziges mit deinen Zotteln anstellen.« Grob wühlt sie sich durch mein feines, aschblondes Haar. Dumm nur, dass es viel zu fisselig ist, um überhaupt irgendetwas damit anfangen zu können, geschweige denn, dass es sich zu witzigen Frisuren stecken, binden oder flechten lässt.

»Autsch, lass das!«, protestiere ich.

»Aber du siehst total langweilig aus!«, quäkt Tini.

Besser langweilig als wie eine Witzfigur, denke ich ein bisschen gehässig.

Tini hat meine Haare inzwischen bis auf ein paar Strähnen vorne und im Nackenbereich hochgenommen und mit einer Glitzerspange am Hinterkopf festgesteckt. »Guck mal, wie findest du das?«

Ich trete vor den Ganzkörperspiegel, der gleich neben meiner Zimmertür im Flur angebracht ist.

»Gar nicht so übel«, räume ich ein. »Aber deine Schminksachen kannst du gleich wieder wegstecken.« Auch wenn mich Tini langweilig wie Toastbrot findet – um mich für Lidschatten & Co begeistern zu können, müsste ich schon ziemlich wehrlos sein, um nicht zu sagen: im Koma liegen.

Nebel. Ich sehe nichts als Nebel, in dem sich Arme wie Schlingpflanzen bewegen; das Wummern der Bässe hallt dumpf in meinem Magen wider. Erst nach einer Weile, als sich der Dunst schon ein wenig verzogen hat, erkenne ich einzelne Gesichter. Ben aus der Oberstufe rappt wie ein Profi, Annika aus meiner Klasse tanzt steifbeinig neben ihm, unsere Sportlehrerin Frau Rüttgers groovt im Rhythmus … dann teilt sich plötzlich die wogende Menge und Alex schlendert erhobenen Hauptes, die Hände in den Gesäßtaschen seiner Jeans vergraben, zur Bar rüber.

»Meine Güte, sieht der göttlich aus!«, stöhnt Tini wie beim Anblick einer besonders köstlichen Torte.

Alex geht noch nicht lange auf unsere Schule, genau gesagt seit drei Wochen, und ist in der Jahrgangsstufe über uns. Äußerlich gleicht er (O-Ton Tini) einer Mischung aus Sahneschnittchen und Nougatglacé. Seine goldblonden, leicht gewellten Haare reichen ihm bis auf die Schulter, seine Haut schimmert bronzefarben, und er hat ein Zuckerwattelächeln, das selbst die stärkste Frau umhaut. Theoretisch. Praktisch stolziert er blasiert durch die Gegend, die Nase ein paar Zentimeter in die Luft gereckt, und ergeht sich in Schönheit. Vielleicht will er uns deutschen Bleichgesichtern demonstrieren, dass er uns nicht nur in Sachen Aussehen haushoch überlegen ist. Die letzten zwei Jahre hat er angeblich mit seinen Eltern in einer noblen Diplomatengegend in Dubai verbracht und dort ein ebenso nobles, wahrscheinlich multilinguales Gymnasium besucht.

»Den würde ich ja gern mal vernaschen.« Tini ist stehen geblieben und starrt Alex’ knackigem Jeans-Po nach. »Du auch?«

»Wenn er ein Osterhase wäre, vielleicht. So aber nicht.«

»Verstehe.« Sie fährt sich durch ihre Haare, wohl um sie ein bisschen aufzuplustern. »Dann anders: Hättest du ihn gerne als Freund? Als Mann fürs Leben?«

»Keine Ahnung«, entgegne ich. »Ich kenne ihn ja nicht mal. Und nur gutes Aussehen reicht mir nicht, das weißt du doch.«

»Du bist echt ein hoffnungsloser Fall!« Tini rollt demonstrativ mit den Augen. »Wetten, du endest noch mal als alte Jungfer?«

Tini hat gut reden. Nur weil sie vor ein paar Monaten mit unserem Ex-Schulsprecher Peter, auch Mister große Klappe genannt, geschlafen hat, meint sie anderen als Liebesexpertin kluge Ratschläge erteilen zu können. Dabei erinnere ich mich noch allzu gut an ihr Geflenne, als ihr Auserwählter nach bereits fünf Tagen mit ihr Schluss gemacht hat.

Kurz entschlossen greift sie nach meiner Hand und zieht mich zum DJ-Pult, das von den Mädchen aus unserer Klasse umringt wird. Wenn man nicht wüsste, dass Herr Helmig wie aus der Geisterbahn aussieht (Piercings, Glatze, schlechte Zähne), könnte man meinen, sie würden ihn wie die Groupies anhimmeln. Der Reihe nach schreien sie ihm etwas ins Ohr, Annika beugt sich sogar so weit vor, dass es aussieht, als würde sie ihn am Hals küssen.

»Luisa! Tini! Kommt mal!«, ruft Kathrin und wedelt mit den Armen. »Gleich geht hier was richtig Cooles ab!«

Bloß einen Herzschlag später wummern E-Gitarren, dann piepst eine Frauenstimme Je t’aime. Klarer Fall. Helmig hat sich breitschlagen lassen das ultimative Stöhnlied aufzulegen. Dabei finde ich es nur albern, wenn die Paare eng aneinandergeklammert über die Tanzfläche schaukeln und den innigen Moment nutzen, um sich zu küssen oder anzugrabbeln.

Ich wundere mich noch, dass Annika, Kathrin und nun auch Tini in albernes Gelächter ausbrechen, als Thommie geradewegs auf mich zusteuert. Thommie, seines Zeichens Bastler, Tüftler und Technikfreak, wohnt im selben Haus wie ich und ist seit Urzeiten in mich verschossen, ich aber nicht in ihn. Er ist einfach nicht mein Typ. Trotzdem gehe ich manchmal zu ihm hoch, wenn mein Computer spinnt oder mein E-Mail-Programm nicht so will wie ich. In diesem Punkt ist er nämlich ein kleines Genie.

»Was machst du denn hier?!«, erkundige ich mich mit einer völlig unnatürlich klingenden Stimme.

»Tini hat gemeint, ich könnte auch ruhig kommen.«

»Aber das ist unsere Schule und nicht deine!« Ich traktiere Tini mit giftigen Blicken.

»Nun stell dich mal nicht so an«, schaltet sich Annika ein. »Wir haben die Schule schließlich nicht gepachtet.«

»Und er würde bestimmt total gerne mit dir tanzen«, kichert Katrin.

Thommies Wimpern flattern aufgeregt, als er der Decke zunickt; gleichzeitig graben sich seine Hände tiefer in die Taschen seiner ausgebeulten Jeans.

»Sorry, aber ich bin jetzt nicht in Stimmung«, wimmele ich ihn ab.

»Später vielleicht?«

»Weiß noch nicht. Ich muss erst mal aufs Klo.« Schwups, bin ich weg und höre nur noch, wie mir Kathrin nachruft, ich sei eine prüde Spielverderberin.

Das haben die Mädchen ja fein ausgeheckt. Beknien den armen Helmig, den heißesten Song aller Zeiten aufzulegen, nur damit ich mich vor versammelter Mannschaft blamiere. Aber ohne mich, liebe Leute! Zumal sich das abgekartete Spiel nicht nur gegen mich, sondern auch gegen meinen Nachbarn richtet. Thommie leidet unter Akne. Thommie riecht manchmal nach Schweiß. Und er trägt einen Idiotenpony. Kein Wunder, dass ihn kein Mädchen anfassen will. Ich will das auch nicht, trotzdem tut er mir leid. Weil er einer der nettesten und hilfsbereitesten Kerle ist, die ich kenne. Da hat er es nicht verdient, auf so üble Weise verarscht zu werden.

Keine zwei Minuten später fliegt die Toilettentür auf und Tini flattert, von Zigarettenqualm umweht, herein.

»Also witzig war das eben nicht«, gifte ich sie an.

»Bleib mal locker!« Tini legt ihr Kinn auf meiner Schulter ab und klimpert mit den Wimpern. »Wir wollten dich nur …« »… verarschen«, ergänze ich mit eisiger Stimme.

»Quatsch. Das sollte bloß eine kleine Provokation sein!« Gewitterwölkchen brauen sich auf ihrer Stirn zusammen. »Ich meine, so asexuell, unsexy, frigide, wie du bist … Das ist doch nicht normal.«

Asexuell, unsexy, frigide … Wütend nehme ich die Klammer aus meinen Haaren und wische die Reste vom Lipgloss ab, den Tini mir doch noch auf den letzten Drücker aufgedrängt hat.

»Sich auf Kosten anderer lustig zu machen, das ist nicht normal!«

Tini prüft erst eine Weile ihr Make-up im Spiegel, bevor sie unter größter Anstrengung hervorpresst: »Okay, tut mir leid. Vielleicht war es wirklich eine Schnapsidee.«

»Oh ja! Allerdings!«

»Warum bist du auch immer so megawahnsinnsprüde?« Tini nimmt ein kleines Döschen aus ihrer Schminktasche und tupft sich himbeerrotes Gloss auf die Lippen.

»Ich bin nun mal, wie ich bin. Und verknalle mich nicht gleich in den Erstbesten, der mir über den Weg läuft.«

»Das mache ich auch nicht. Aber mit 17 noch völlig ohne Erfahrungen zu sein … Das ist total uncool und …« Statt den Satz zu Ende zu führen, entweicht ihr bloß ein missbilligender Zischlaut. Sie will, dass ich mich rechtfertige, das merke ich an ihrem forschenden Blick, aber den Gefallen werde ich ihr nicht tun.

»Wenigstens Küssen hättest du schon mal auf die Reihe kriegen können«, setzt sie noch eins obendrauf. Wenn sie gleich wieder mit der Geschichte ankommt, wie sie damals, im gerade mal zarten Alter von zwölf, im Wartezimmer ihres Zahnarztes von einem blendend aussehenden Typen geküsst worden ist, wohlgemerkt mit Zunge, werde ich ihr die Freundschaft kündigen. Doch Tini löst sich jetzt von ihrem hinreißenden Spiegelbild, legt ihren Arm um meine Hüfte und meint: »Ich will doch nur, dass es dir gut geht. Und dazu gehört nun mal ein Freund.«

Wenn ich ehrlich bin, bezweifle ich das. Wir leben schließlich nicht mehr in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, wo jede Frau froh war, wenn sie einen Kerl abgekriegt hat, um dann ihrer wahren Bestimmung als Heimchen am Herd nachzugehen.

»Oder zumindest ein Schwarm«, rudert Tini zurück, als sie mein Stirnrunzeln bemerkt. »Irgendwas, das dir ein bisschen den Alltag versüßt.«

»Weißt du, was ich langsam glaube? Dass du dir deinen Alltag versüßen willst! Weil dein Leben spannender wird, wenn ich mich mit dem anderen Geschlecht rumschlagen muss.«

Tini sieht mich aus murmelrunden Augen an. Sie ist sprachlos – was einem kleinen Wunder gleichkommt. Eigentlich plappert sie ständig, so als hätte sie einen eingebauten Sprechautomaten.

»Aber damit du nicht vor Langeweile verendest«, erkläre ich und lege eine Pause ein, »mache ich dir einen Vorschlag.«

»Wie? Was?

« Da gerade ein paar Mädchen hereingekommen sind, schiebe ich sie in eine der Kabinen. Dort zische ich ihr leise ins Ohr: »Alex.«

»Alex? Was ist mit Alex?«

»Psst, nicht so laut!«

»Okay«, dämpft Tini sofort ihre Stimme. »Also, was ist mit ihm?«

»Ich werde mich an ihn ranmachen.«

»Wie bitte?«, fragt sie, als wäre sie ein bisschen schwer von Begriff. »Du – ausgerechnet du willst unseren Schönling angraben?«

»Genau!« Die Idee ist mir ganz spontan gekommen. Vielleicht ist sie idiotisch, aber damit geradezu ideal, um Tini aus dem Konzept zu bringen. Ich, die prüde, mausgraue Luisa, schnappe mir das Sahneschnittchen, das Nougatglacé.

»Hör mal, das ist ja der Brüller!«, kreischt Tini, während ihr Blick an mir rauf- und runtergleitet.

»Du meinst wohl, nur Mädchen in Hulahularöckchen und schrillen Strumpfhosen haben Erfolg bei den Jungs«, kontere ich. Ich bin jetzt so richtig schön in Fahrt, und da Tini nichts tut, um mir zu widersprechen, setze ich dem Ganzen noch die Krone auf und erkläre: »Wetten, ich kriege ihn rum und gehe mit ihm ins Bett?«

Jetzt ist Tini zum zweiten Mal an diesem Abend dermaßen perplex, dass erst mal kein Ton mehr über ihre Lippen kommt. Im Vorraum wird gekichert, die Tür klappt zu und eine Welle aggressiver Beats schwappt zu uns rüber.

»Du willst dich von ihm entjungfern lassen?«, hakt sie mit bebenden Lippen nach.

Ich nicke. »Also. Bist du dabei?«

Tini braucht einen Moment, bis sie sich wieder gefasst hat, dann erklärt sie gespielt gelangweilt: »Okay, von mir aus.« Dabei lege ich meine Hand dafür ins Feuer, dass es gerade mächtig in ihr brodelt. »Und worum wetten wir?«

»Um … um eine Konzertkarte für die Bones?« Ich weiß, dass Tini für die Soulgruppe ihr letztes Hemd hergeben würde. Sie würde sogar zum Mond jetten, bloß um Bob Springer einmal live zu sehen.

»Gut. Abgemacht.« Ihr Kopf wackelt hin und her. »Du und Alex – ihr geht miteinander in die Kiste. Wann?«

»Gib mir einen Monat Zeit.«

»Okay. 31 Tage.« Tinis Hand fühlt sich schwitzig an, als sie einschlägt. Oder ist es meine? Denn wie um Himmels willen soll ich es anstellen, diesen Götterjungen, den ich wie fast alle Mädchen an unserer Schule zwar süß finde, in den ich aber keineswegs verliebt bin, vom Olymp zu pflücken? Und falls er tatsächlich auf meine Avancen eingehen sollte, könnte ich überhaupt mit einem ins Bett steigen – ausgerechnet beim ersten Mal –, für den ich gar keine echten Gefühle habe?

Einen Moment lang wird mir schwummerig, doch dann rede ich mir gut zu, alles halb so schlimm, die Sache wird jetzt durchgezogen. Allein um Tini zu beweisen, dass ich nicht das megawahnsinnsprüde Mauerblümchen bin, für das mich alle Welt hält.

013 Hier geht’s weiter

Von genialen oder
weniger genialen Strategien

Als ich am nächsten Morgen in die Küche komme, sitzt ein Mann mit Dreitagebart an unserem Frühstückstisch. Erst bei genauerem Hinsehen fällt mir auf, dass ich ihn kenne. Es ist Nick Rosenberg, der Typ, mit dem meine Mutter bereits vor einem halben Jahr liiert war. Damals hat das Techtelmechtel ganze zwei Wochen gedauert. Ich bin gespannt, wie lange die beiden es diesmal miteinander aushalten werden.

»Guten Morgen, Luisa!«, flötet Nick. Zum Glück trägt er Jeans und Hemd, und eine Rasierwasserwolke liegt in der Luft. Ich habe schon Zeiten erlebt, wo er mich ungeduscht und mit nacktem Oberkörper beglückt hat.

»Müsli? Ein Ei?« Meine Mutter strahlt, als wäre unsere bescheidene Dreizimmerwohnung ein Palast und der kahle Baum vorm Fenster eine Palme unter karibischer Sonne. Allerdings hat das nicht viel zu bedeuten. Nach der ersten Liebesnacht mit einem neuen (oder abgelegten Kerl) ist sie jedes Mal von Glückshormonen nur so durchflutet und daher nicht ganz zurechnungsfähig.

Ich schüttele bloß den Kopf und schnappe mir ein Croissant. Gestern Abend ist es spät geworden. Sehr spät. Wir haben getanzt, eine Schulkameradin ausgehorcht, die frisch von ihrem Austauschjahr aus den USA zurückgekehrt ist, aus der Ferne Alex beobachtet, und Tini wollte sich wegen unserer Wette gar nicht mehr einkriegen. Bloß unter Androhung von SMS-Entzug konnte ich sie davon abhalten, den anderen etwas zu verraten.

»Wie war das Schulfest?«, erkundigt sich Mami, ohne ihr Glücksrauschgesicht abzulegen.

»Ganz nett.«

»Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?« Sie plinkert mit ihren getuschten Wimpern. Wenn wir nur zu zweit frühstücken, würde sie nie auf die Idee kommen, sich vorher zu schminken.

»Nein, keine besonderen Vorkommnisse«, erwidere ich monoton, obwohl das, was gestern vorgefallen ist, in Wahrheit in die Kategorie Oberhammer! fällt. Ich, Luisa Stern, beschließe einfach mal eben so, das Sahneschnittchen Alex aufzureißen. Das Mädchen, das in Tinis Schwarz-Weiß-Welt bloß die graue Maus ist, das Aschenbrödel, das Neutrum. Aber damit ist jetzt Schluss.

»Und was liegt bei euch so an?«, frage ich das frisch erblühte Pärchenglück. Am besten gebe ich mich so normal wie möglich. Als wäre es gar nichts Besonders, Nick über ein viel zu weiches Frühstücksei gebeugt vorzufinden.

»Na ja.« Meine Mutter greift nach ihrem Eierlöffel und dirigiert damit ein imaginäres Orchester. Gleichzeitig tauscht sie mit ihrem Lover Liebesblicke aus, die für meinen Geschmack über jede Sitte und jeden Anstand hinausgehen. »Nick und ich denken gerade über einen Kurztrip nach Sylt nach.«

Nick und meine Mutter … Sylt … Und was ist mit mir?

»Natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht, ein paar Tage allein zu bleiben«, fügt sie hinzu, als könne sie Gedanken lesen.

»Nein, nein!« Ich vergewaltige mein Croissant mit einem Klacks Butter. Natürlich macht es mir nichts aus, länger als eine Nacht oder ein Wochenende sturmfreie Bude zu haben, ganz im Gegenteil, aber eigentlich wollten meine Mutter und ich in den Frühjahrsferien nach Mailand jetten. Was damit ja wohl ins Wasser fallen würde. Sylt und Mailand übersteigt bei weitem unsere finanziellen Möglichkeiten.

Trotz allem lasse ich mir nichts anmerken und plaudere locker über die Wetterverhältnisse an der Nordsee, doch kaum habe ich das Croissant runtergewürgt, sehe ich zu, dass ich wieder in mein Zimmer komme. Ich stehe nicht auf fremde Männer beim Frühstück. Auch nicht auf bekannte, eigentlich kann ich es grundsätzlich nicht leiden, wenn Unbefugte in Mamas und mein Reich eindringen.

Statt mich wie geplant ans Bioreferat zu setzen, rufe ich Tini an. Zunächst ist ihre Mutter dran, dann ihr kleiner Bruder, schließlich gähnt Tini mir ins Ohr: »Was willst du? Es ist mitten in der Nacht!«

»Reg dich ab, es ist elf Uhr und in unserer Küche sitzt der Ex meiner Mutter! Ich glaub, er hat die Nacht mit ihr verbracht.«

»Ja und? Gönn ihr doch den Spaß. Sie ist alt

Das Wort alt klingt aus Tinis Mund, als befände sich meine Mutter bereits pflegebedürftig in einem Altenheim. Außerdem hat sie gut reden! Sie mit ihrer intakten Familie. Mutter, Vater, Schwester, Bruder, Katze, Meerschweinchen, und an Weihnachten gibt es sogar einen echten Tannenbaum. Bei uns ziert immer nur ein aufblasbarer Gummibaum das Wohnzimmer (meine Mutter findet das skurril).

»Kann ich jetzt weiterschlafen oder hast du endlich einen Alex-Plan, den du mit mir durchdiskutieren willst?« Tini gähnt schon wieder in den Hörer. Diesmal ganz ausführlich. Ganz schamlos. »Oder willst du etwa doch kneifen?«

»Natürlich nicht«, entgegne ich mit fester Stimme, wobei mir ein wenig mulmig wird. Das war gestern Abend, als die Idee in der Schultoilette spontan das Licht der Welt erblickt hat, noch nicht der Fall. Erst heute Morgen beim Aufwachen wurde mir schlagartig das Ausmaß meines Vorhabens klar. Den Schulschwarm erobern … Den Typen, den alle Mädchen toll finden … Den süßesten Jungen, der je an unserer Schule gesichtet wurde … Das ist, als würde Thommie versuchen Scarlett Johansson rumzukriegen.

»Und wie willst du’s anstellen?« Langsam scheint Tini wach zu werden.

»Keine Ahnung. Ist das denn so wichtig?« Ich bin wahnsinnig! Total verrückt!

»Nicht so wichtig?!« Tini lacht höhnisch auf. »Hör mal, das ist das A und O! Ohne Plan kein Alex!« Ihr Gelächter verebbt.

»Aber ohne Alex komme ich wenigstens gratis an eine Konzertkarte, das wäre auch nicht übel.«

»Freu dich nicht zu früh.« Von draußen dringt pubertäres Liebesgeturtel herein. Kichern, schnalzen, schmatzen, kreischen – Himmel! »Das mit Alex wird sich schon irgendwie finden«, erkläre ich mit vorgespieltem Selbstbewusstsein.

»… und dann lebten sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage – und Luisa würde auch endlich, endlich – was für ein Segen! – ihre Jungfräulichkeit loswerden.«

»Du bist wirklich blöd, weißt du das?«

Tini hüstelt bloß und kichert ebenso blöde wie die Frischverliebten auf dem Flur. »Trotzdem brauchst du einen Schlachtplan, irgendeine richtig geniale Strategie … Andernfalls kannst du dir das Sahneschnittchen nämlich abschminken.«

»Luisa, wir gehen mal eben eine Runde spazieren!«, erschallt Mamis Stimme von draußen. »Willst du mit?«

»Nein, danke!«, rufe ich zurück, wohl ein wenig zu laut, denn Tini beschwert sich sofort, ich solle nicht so brüllen, ihr Trommelfell wäre überaus sensibel.

Kurz darauf klappt die Haustür zu und Tini erklärt: »Also ich an deiner Stelle würde Alex morgen nach Schulschluss abpassen und ihn einfach anquatschen.«

»Das nennst du genial? Sorry, das ist … einfach nur einfallslos.«

»Nicht, wenn du einen intelligenten Aufhänger findest.«

»Zum Beispiel?« Langsam beginne ich meine Blitzidee von gestern Abend zu bereuen.

»Du könntest sagen: Hi, Alex. Falls du’s noch nicht weißt, ich bin Luisa aus der Zehnten. Meine Schwester geht demnächst für ein Jahr nach Dubai, da wollte ich dich mal fragen …«

»Ich habe aber keine Schwester«, unterbreche ich Tinis Gefasel.

»Du hast vor allem keine Fantasie! Das ist dein Problem.« Tini seufzt und schnaubt und gurgelt, dann verabschiedet sie sich übereilt mit den Worten, mir helfen zu wollen sei vergebliche Liebesmüh. Ich würde ohnehin immer alles besser wissen.

Völlig geschwächt lege ich Sekunden später auf und frage mich, welcher Teufel mich gestern eigentlich geritten hat.

Am nächsten Tag in der Schule geht es mir um weitere 100 bis 200 Prozentpunkte schlechter und ich gäbe einiges drum, mich irgendwo wie ein Maulwurf eingraben zu können. Aber ich selbst habe den Alex-Eroberungsplan angeleiert und muss die Sache nun auch angehen – vorausgesetzt, ich will meine Ehre nicht ganz verlieren. Wie viel lieber würde ich jetzt auf den Knien robbend unsere Wohnung putzen, bis mir der Rücken wehtut, Einkäufe nach Hause schleppen, von mir aus auch die Hemden von Mamas Lover bügeln. Stattdessen sitze ich neben Tini in der ersten Reihe, kann dem Unterricht jedoch kaum folgen, weil mein Herz wie ein Formel-1-Wagen rast und es wie verrückt in meinem Bauch rumort.

Tini hat Recht! Nicht nur dass ich keinen Schimmer habe, wie ich es überhaupt anstellen soll – der heimliche Blick in meinen kleinen Taschenspiegel bestätigt, dass ich ein Nichts bin, ein graues, unscheinbares Etwas im Universum …

In der ersten großen Pause ist mir so hundeelend, dass ich mich im Klo einschließe, in der zweiten dasselbe Spiel, und als nach der sechsten Stunde der Klingelton ertönt, sacke ich mit meinem Kopf aufs Schreibpult und möchte mich einfach nur noch entmaterialisieren.

Tinis blumiges Parfüm umweht mich, bloß einen Atemzug darauf kitzelt sie mich am Ohr: »Und? Kneifen wir doch?«

Himmel, was soll ich jetzt bloß tun?! Über meinen Schatten springen und Alex anbaggern?
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Oder rasch die Flucht ergreifen und mich zu Hause einbunkern?
019 Hier geht’s weiter

Sieh mich mal an

»Ach, lass mich doch!«

Wütend auf mich selbst, auf Tini und auf den Rest der Welt stopfe ich meine Bücher und Hefte in die Tasche und stürme los. Mein Blick fällt auf die große runde Schuluhr, die wie ein Mahnmal über der Tür zum Sekretariat prangt. Sieben nach eins. Wenn ich mich beeile, schaffe ich vielleicht noch den Bus um zehn nach eins.

»Luisa!«, höre ich Tini krähen, doch ich spurte wie von siebenschwänzigen Ungeheuern verfolgt los. Üblicherweise nehmen wir gemeinsam den Bus um 20 nach, aber ich habe heute keine Lust auf ihr Schlaumeiertum. Warum hast du nicht … Hihi … Hab ich’s nicht gleich gesagt … Alex ist eben eine Nummer zu groß für dich … Übe doch erst mal an Exemplaren wie Thommie … Du hast es eben nicht drauf … Guck dich bloß mal an. Du bist doch unscheinbarer als ein tarnfarbener Gecko …

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