Die verlorenen Kinder

Sommer 1973

Sara

Manchmal, wenn sie zu traurig war, um mit sich selbst zu sprechen, schrieb sie Gedichte in ihr Tagebuch, das sie unter ihrem Kopfkissen verbarg. Wenn ihre Mutter zum Aufräumen hochkam, steckte sie es in den kleinen Spalt zwischen Kleiderschrank und Wand, obwohl sie nicht wirklich glaubte, ihre Mutter würde darin lesen wollen. Ihre Mutter interessierte sich ausschließlich für die neuen Versandkataloge, die jeden Monat im Briefkasten lagen. Neue Kleider, neue Schuhe, die sie sich nicht leisten konnte.

»Nur wegen dir muss ich rumlaufen wie eine verfluchte Vogelscheuche«, sagte sie, wenn sie zu viel getrunken hatte. Das kam zwar nicht allzu oft vor, aber es gibt Worte, die müssen nur einmal ausgesprochen werden, um niemals vergessen zu werden.

Martha Ascher wäre gerne eine von diesen Frauen gewesen, die an Sommertagen mit einem neuen Badeanzug den Rasen inspiziert hätte. So wie ihre Nachbarin, bei der zweimal in der Woche der Postbote vor der Tür stand. Eine Zeit lang erzählten sich die Leute, die Nachbarin würde etwas mit diesem Postboten haben, was auch immer das heißen mochte. Sara jedenfalls fand, dass er aussah wie ein Tintenfisch.

Ihr Vater Michael arbeitete wie die meisten in der Stadt in der Zigaretten-Fabrik, diesem beeindruckenden Gebäude mit den dunkel verglasten Fenstern, in denen sich die Wolken spiegelten – aber auch die Gewitter und die schlechten Träume. Eigentlich lebte ihr Vater in der Garage, den dunkelblauen Ford in die Einfahrt gerollt, das schwere Eisentor halb geschlossen. In den Wintermonaten war es hier so kalt, dass einem der Rotz in der Nase gefrieren konnte, was ihn jedoch nicht weiter zu kümmern schien.

Er sammelte allerlei Krempel, den er – wohl um möglichst lange in der Garage bleiben zu können – umständlich reparierte. »Mir ist was runtergefallen«, hörte man ihn rufen, wenn es wieder einmal laut gescheppert hatte. »Du bist einfach ein Trottel«, sagte seine Frau dann, den Kopf auf jene Art schüttelnd, wie man es tat, wenn man längst alle Hoffnungen aufgegeben hat. »Hätte ich es nur mit dem Postboten getrieben«, murmelte sie, so leise, dass es niemand hören konnte. Aber vermutlich wäre ihr das egal gewesen. Der Postbote war wenigstens ein Mann und kein linkischer Vollidiot.

Von Zeit zu Zeit ging Sara zu ihrem Vater in die Garage, um ihm ein wenig zu helfen, oder einfach nur auf dem alten Sofa zu sitzen, das ölverschmiert in der Ecke stand. Wenn das Sommerlicht durch die kleinen Ritzen des Anbaus strömte und den Staub tanzen ließ, vermengt mit dem Geruch von Benzin, Schmieröl und Aftershave. Wenn er sicher war, dass seine Frau ihn nicht beobachtete, zündete sich Saras Vater eine Zigarette an und trank aus dem rostfarbenen Becher Kaffee, den er sich am Morgen gemacht hatte.

»Weißt du«, sagte er eines Morgens zu seiner Tochter, »es sollte immer Orte geben, die nur einem selbst gehören.«

»Wie die Garage?«

Sara saß auf dem alten Sofa, die Beine angezogen und mit den Armen umschlungen. Der Sommer war in seiner besten Zeit, die Luft flirrte und der Staub auf den Straßen hatte die Farbe von Mehl angenommen. Efeu hatte sich den Weg durch die alten Bretter der Garagenwand gebahnt, und durch einen kleinen Schlitz im Holz konnte Sara den Hinterhof sehen, ein wenig weiter weg die Straße. Zwei Stühle, hastig reparierte scheußliche Teile, standen gegenüber. Sie bemerkte einige Flaschen Limonade, in denen Wespen surrten, die sich von den süßen Getränkeresten hatten anlocken lassen.

»Ja, wie die Garage. Das alles hier.« Ihr Vater lächelte und trat die Zigarette aus. »Das ist vielleicht nichts Besonderes, ich weiß. Nur eine lausige Garage, kein Herrenzimmer oder so was. Aber das macht nichts. Jeder Ort hat Geheimnisse. Auch eine Garage.«

Sara lächelte, und für einen Augenblick war es so, wie es eigentlich hätte immer sein sollen. Alles war gut.

»Soll ich dir mal mein Geheimnis zeigen? Du wirst es ihr doch nicht verraten, oder?«

Ihr Vater drehte seinen Kopf in Richtung Garten, den man durch einen kleinen Schlitz in der Wand sehen konnte. Beide hörten das Wasserrauschen eines Gartenschlauchs, hörten das gedämpfte Kreischen der Rasenmäher, hörten die auf- und zugehenden Türen dieser merkwürdigen Welt dort draußen.

Sara schüttelte den Kopf. »Versprochen.«

»Indianer-Ehrenwort?«

»Indianer-Ehrenwort!«

Leise schob ihr Vater den alten verbeulten Ölofen zur Seite, lehnte ein Brett an die Werkbank mit den tausend Werkzeugen, beugte sich hinunter und kroch durch eine kleine Öffnung. Sie alle hatten den kleinen schmalen Verschlag hinter dem Haus längst vergessen, sogar Sara, obwohl sie als kleines Mädchen dort manchmal gespielt hatte.

Ihr Vater kam zurück. Als er sich aufrichtete, konnte Sara sehen, was er in den Händen hielt. Was genau es war, wusste sie jedoch nicht.

»Setz dich«, flüsterte ihr Vater, und plötzlich schien es, als wäre er ein anderer Mensch. Seine Augen hatten sich verändert. Sie waren heller. Und sie leuchteten. »Ich wollte immer ein Kino haben. So ein richtiges Kino mit schönen Stühlen und Popcorn und Cola und Bogart und dem ganzen Zeug. Deine Mutter hält nichts davon. Natürlich nicht.«

Er stellte den Kasten auf eine Holzkiste. Sara beobachtete das merkwürdige Ding mit wachsender Neugier.

»Ist nur ein Dia-Projektor. Der Alte von der Müllhalde hat ihn mir vorbeigebracht, muss jetzt so um die zehn, elf Jahre her sein. Auch die ganzen Bilder, ich glaube es sind über ein Dutzend Kisten. Löwenzahn, nur Löwenzahn. Mehr gibt es nicht zu sehen, aber was soll’s. Ich mag die Bilder trotzdem. Soll ich dir noch etwas verraten?«

Sara würde diesen Moment nie vergessen. Die Welt dort draußen war verschwunden, nur die Vögel auf dem Dach waren zu hören. Sie nickte.

»Sie helfen gegen die Traurigkeit. Jedes einzelne davon.«

Dann schaltete er den Projektor ein.

Sara aber schloss die Augen. Sie hatte nur einen Gedanken: Sie musste die Hexenkarte finden. Damit könnte sie soviel Geld verdienen, dass sie weggehen konnten. Vater, Mutter und sie. In eine andere kleine Stadt mit kleinen Häusern. Und einem großen Kino.

 

Alfons

Die Leiche hatte er zum ersten Mal unten im Keller gesehen. Seine Mutter hatte ihn hinuntergeschickt, ein Glas Bohnen zu holen. Diesen Tag würde er nie vergessen. Es war Ende November, der erste Schnee längst schon gefallen und die Straßen vereist. Dies führte zu den üblichen Unfällen, und verbeulte Autos, die man erst wieder im Frühjahr herausziehen würde, steckten in den Straßengräben fest. Die Bachläufe waren mit einer dünnen Schicht Eis bedeckt, das Kinderland kahl und gespenstisch.

Das Licht im Keller war immer schon spärlich gewesen, eine nackte Osram, die zwischen Kellertreppe und Kartoffelkeller hing. In den Sommermonaten gab es hier fette Ratten, die durch die Kanalrohre kamen und sich in den Wäschekörben versteckten. Das Rattengift schimmerte grün in alten Blechdosen. Manchmal fand man eines der Tiere mit aufgerissenem Maul und starren, blutunterlaufenen Augen.

Der Junge stieg in den Keller, während sich draußen ein Schneesturm gegen die Fenster drückte. Verkehrsschilder flogen durch die Luft und streiften die Dächer. Vor drei Wochen war das Unger-Mädchen, sechs Jahre alt, nahe der Schule überfahren worden, als es die Straße überqueren wollte. Alfons hatte seine Eltern davon reden hören, als er nach dem Essen in seinem Zimmer saß. Den Atem anhaltend, damit er die Gesprächsfetzen zuordnen konnte, die wie böse Gewitterwolken durch das Haus zogen.

»Dumme Kinder. Zu nichts zu gebrauchen«, hatte sein Vater gesagt, während er in der Zeitung blätterte. Seine Mutter, die am Herd saß und aus dem Fenster blickte, nickte zustimmend. Das fahle Licht der Lampe, der Geruch des Abendessens noch im Raum, die geputzten Schuhe neben der Tür. Alfons fragte sich, ob er wohl auch einer von diesen dummen Kindern war, die man zu nichts gebrauchen konnte.

Vermutlich erschrak er deshalb auch nicht sonderlich, als er an jenem Tag das tote Mädchen im Keller sah. Sie saß auf dem alten Stuhl, den seine Mutter längst zum Sperrmüll hatte bringen wollen. Der Kopf unnatürlich schief, die Haare nass vom Regen und vom Blut. Am einen Fuß einen Schuh, am anderen eine schmutzige Socke.

»Es geht ihnen jetzt viel besser, weißt du?«, flüsterte das Mädchen. Ihre Lippen schmatzten, und als Alfons hinsah, bemerkte er, dass sie aufgerissen waren und Hautfetzen bei jedem Wort nach vorne schnappten.

Wie Schlangen, wie verrückt gewordene Schlangen, dachte Alfons.

»Meine Mama sagt, sie wird jetzt jeden Samstag mein Grab gießen. Im Sommer vielleicht sogar täglich.«

Alfons nickte, und eine Sekunde lang war ihm, als würde er gleich in die Hose machen, so stark war der Druck auf seiner Blase.

Ihre Augen schlossen sich nicht mehr, ihr Gesicht so weiß wie Neuschnee. Er konnte sie riechen, altes geronnenes Blut, Kupfer und feuchte Graberde .

»Du bist tot«, sagte Alfons schließlich, so leise, dass er nicht sicher war, es überhaupt gesagt zu haben.

»Ich bin tot, du bist tot. Alle Kinder hier sind tot. Wusstest du das nicht?«

Ein Schrei formte sich in seiner Kehle, aber bevor dieser seinen Mund verlassen konnte, schloss er so fest er nur konnte die Augen und fing an, rückwärts zu zählen. Sein Vater würde ihn schlagen, wenn er hier unten schreien würde wie ein kleines Kind. Vielleicht nur mit der Handfläche, aber wer weiß, vielleicht sogar mit der Faust

Acht, sieben, sechs.