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Angela Eßer (Hrsg.)

 

Tatort Oberbayern

 

 

12 Kriminalgeschichten

 

 

 

ars vivendi

 

Die Geschichte »Die Geburt des Herrn J.« erschien in:

Friedrich Ani, Unterhaltung, © 2014 Droemersche Verlagsanstalt Th.Knaur. Nachf. Gmbh & Co. KG, München

 

Die Geschichte »Krankheit der Jugend (1919)« erschien in:

Robert Hültner, Tödliches Bayern. Kriminalfälle aus zwei Jahrhunderten, © 2014 btb Verlag, München, in der Verlagsgruppe

Random House GmbH

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Juni 2015)

 

© 2015 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Stephan Naguschewski

Umschlaggestaltung: Caroline Orth

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-568-7

 

Inhalt

Friedrich Ani · Die Geburt des Herrn J.

 

Janet Clark · Die erste Geige

 

Nicola Förg · Ausg’stopft is!

 

Uwe Gardein · Seitenstiche

 

Christine Grän · Gisele Bündchen minus zwanzig Zentimeter

 

Robert Hültner · Krankheit der Jugend (1919)

 

Bernhard Jaumann · Magda und Mario

 

Harry Kämmerer · Kostümzwang

 

Lotte Kinskofer · Wie damals beim »Kommissar«

 

Elke Pistor · Ludwig

 

Oliver Pötzsch · Das Horoskop

 

Irene Rodrian · Mord auf Krankenschein

 

Friedrich Ani · Die Geburt des Herrn J.

»Das musste jetzt mal sein«, sagte Carl Jeckel am Tresen der Gaststätte Postgarten in Maibach, einem Dreitausend-Einwohner-Ort im Schatten der Voralpen. Am Stammtisch brannten die vier roten Kerzen des Adventskranzes. Der Wirt, Leonhard »Hardy« Beck, blickte weniger gästeverachtend als gewöhnlich drein, und Monika, die mit ihren ständigen Hektikattacken auch den geduldigsten Gast brutal nervende Bedienung, hatte heute ihren freien Tag.

Das Leben aus der Sicht von Carl Jeckel hätte an diesem vierten Advent kaum besser sein können.

»Musste sein«, wiederholte Jeckel.

Hardy nickte. Er war dreiundsechzig, seit mehr als dreißig Jahren Wirt und konnte sich nicht erinnern, jemals einem seiner Gäste mehr als fünf Sätze lang zugehört zu haben, inklusive seiner Stammgäste, wie dem Jeckel Charly, dessen Redseligkeit nach Überzeugung des Wirts eine einzige Redunseligkeit war, besonders an Sonntagen.

Heute war Sonntag und Jeckel seit halb elf auf seinem Platz, und nichts deutete darauf hin, dass er seinen Hocker vor acht Uhr abends verlassen würde.

»Du kennst ja meinen Vater«, sagte er zum Wirt, zum Tresen, zu der Ansammlung von Gläsern auf dem abgeschabten Holzregal, zu seinem Weißbierglas. Weder Mensch noch Ding hörte ihm zu. »Er redet nicht viel, hockt beim Essen, schaufelt in sich rein, und meine Mama verzweifelt an ihm. Seit fünfundzwanzig Jahren. War übrigens nett, die Feier, die du zu ihrer Goldenen Hochzeit ausgerichtet hast, hab ich dir das schon gesagt? Hab ich mich schon bedankt, die Zeit vergeht so schnell. War wirklich nett bei dir, war ja zu erwarten.«

Der Wirt nickte, die Gläser im Regal standen kopf vor Begeisterung, das Weißbierglas salutierte.

»Schon wieder zwei Wochen her, der zweite Advent.« Er trank einen Schluck, und die Wahrheit schäumte ihm über die Lippen. »Jedenfalls, du kennst ja die Geschichte, er beschwert sich ständig über die Arbeit vom Paul, und der Paul lädt seinen Frust bei mir ab und wirft mir vor, ich würde meinen Laden schlecht führen und mich nicht kümmern. Mich nicht kümmern! Sepp-da-Depp. Wenn sich einer kümmert, dann ich. Ist das nicht so? Ich hab extra sonntags geöffnet, damit die Leute, die auf den Friedhof gehen, frische Blumen mitbringen können. Ist das nicht so? Seit wie lang hab ich mein Geschäft am Sonntag auf? Sag’s mir, Hardy. Sag auch mal was, los.«

Hardy sagte: »So ist das.«

»Und das ist die Wahrheit, Herr Barheit. Aber bei uns lädt jeder seinen Müll beim anderen ab. Das war früher schon so, in der Kindheit, du weißt das, du kennst unsere Familie, deine Frau hat bei uns in der Gärtnerei eingekauft, später auch in meinem Laden noch. Die Gärtnerei hatte ihre kritischen Phasen. War das nicht so? Was sagst du? War das nicht so?«

Hardy sagte: »So war das.«

»So und nicht anders. Sepp-da-Depp. Und ich sitz am Tisch, zwischen meiner Mama und meinem Vater und hör mir das Gezeter an. Gezeter ist gut gesagt. Gebrüll und Gemüll.«

Jeckel lachte, allerdings so kurz, dass weder der Wirt noch die Männer am Fensterplatz einstimmen konnten. Jeder der beiden Gäste saß am eigenen Tisch, Wilhelm »Bremser« Bertold und Roland Fuchs kannten sich gut, aber wenn sie in den Postgarten gingen, vermieden sie übertriebene Gesten der Freundschaft. Bremser war Frührentner, früher bei der Berufsfeuerwehr in München gewesen, Fuchs arbeitete seit knapp vierzig Jahren auf dem Postamt, höhere Ziele hatte er nie gehabt, irgendwann wäre er beinah Dienststellenleiter geworden, und die Gründe, die seinen Karrieresprung verhindert hatten, lagen im Dunklen, und dort sollten sie auch bleiben.

»Was für eine Kindheit, oder, Hardy? Ich hasse Maibach. Hab ich dir das schon mal so deutlich gesagt? Ja? Nein? Ich hasse Maibach, seit ich geboren bin. Ich war ein lausiger Skifahrer, erinnerst dich? Schuss runter, fertig. Im Sommer Schwimmen in diesem verseuchten See. Damals hatten wir noch keine Ringkanalisation, das waren noch Zeiten. Und was mach ich heut? Verkauf Blumen. Und wenn ich tot bin, bin ich immer noch umzingelt von Blumen. Dann ist’s aus mit dem Blumeneinkauf am Sonntag, so blöd wie ich ist niemand. Abgesehen davon, dass mein Laden dann nicht mehr existiert. Darf ich dir ein Geheimnis anvertrauen? Ich wollte zusperren. Die Sache hat sich dann erledigt. Vor drei Jahren war das. Und dann? Was dann? Sag was. Dann war ich so blöde, mit meinem Bruder darüber zu reden. Und du kennst den Paul, du kennst diese Arschgeige von Bruder. Der hat sich seit seinem elften Lebensjahr nicht verändert, auch im Hirn nicht. Besonders im Hirn nicht. Im Hirn hat der einen Fußball ohne Luft. Da bewegt sich nichts. Und ich geh auch noch zu dem hin und sag: Ich muss mit dir reden. Bin ich irre geworden? Was meinst du, Hardy? Ende der Fahnenstange? Die Maibach-Pest? Das Dorftrottel-Syndrom. Sepp-da-Depp. Geh ich zu meinem Bruder und will mit dem ein ernsthaftes Gespräch führen. Wer ist jetzt der Debilere von uns zwei? Wer ist in dieser Runde der Mega-Debili? Sag mir das, sag’s mir.«

Hardy sagte: »Schwer zu sagen.« Zwischendurch brachte er dem Bremser ein frisches Dunkles und Fuchs eine Rotweinschorle.

»Wir sind zu dir gekommen, weißt noch, oder? Saßen da bei der Tür, denkwürdiger Abend. Paul hörte mir zu, dann grinste er mich an, wie als Elfjähriger, schlug mir auf die Schulter, bestellte zwei Enzian, grinste weiter, als hätte er eine Gesichtslähmung, schob mir den Schnaps hin, trank seinen aus und sagte: ›Träum weiter, Bruderherz.‹ Soll ich dir verraten, seit wann ich diesen Spruch kenne? ›Träum weiter, Bruderherz.‹ Den hat der zu mir gesagt, da war er elf und ich acht. Ich schwör’s dir, Hardy.«

Hardy stellte ein weiteres Weißbier vor Jeckel auf den Tresen und sagte, als meinte er es ernst: »Zum Wohl.«

Augenblicklich tunkte Jeckel seinen Mund in den Schaum, hob dann das Glas und kippte es. Erfüllt von nährstoffreicher Hefe, setzte er seine Ansprache fort, fast beschwingt, mit gelegentlich von der Theke froschartig weghüpfenden Händen, die er danach wieder um das Glas legte, wie zur Beruhigung des Weißbiers.

»Dieser Mann ist ein angepasster Wurm, der ist innerlich aus seiner Muttererde nie rausgekommen. Begreifst du mich? Das ist mir plötzlich klargeworden, da hinten bei der Tür. Kannst du dir so was Ungeheuerliches vorstellen? Ich sitze bei dir an einem Montagabend, gemeinsam mit meinem hirnverwesten Bruder, trinke Schnaps und habe eine Erkenntnis. Und die Erkenntnis lautet: er der Wurm, ich der Schmetterling.«

Er senkte den Kopf. Dann machte er eine schnelle ausholende Handbewegung, verharrte, riss den Kopf in die Höhe. »Ich wiederhole das jetzt nicht. Damit du nicht denkst, ich schnapp über oder mach mich wichtig. War nur ein Gedanke. Aber eine Erkenntnis schon auch. Mein Bruder hat mit fünfzehn beschlossen, ich werde Gärtner wie mein Vater und ich werde die Gärtnerei übernehmen, im Dorf bleiben, heiraten, Kinder kriegen, mich im Einheimischenmodell einkaufen und ein schönes Leben haben, arbeitsam, aber schön. Wie ist’s gekommen? Genau so. Er hat’s hingekriegt, hat seine Lehre gemacht, stieg in den Betrieb ein, expandierte, belieferte irgendwann sämtliche Pfarreien im Landkreis, vielleicht nicht alle, aber die meisten, freundet sich mit Bürgermeistern an, wickelt Geschäfte mit Rathäusern und Standesämtern ab, cleverer Bursche, der Paule. Und ich? Was mach ich? Ich geh zur Polizei. Du weißt das, große Sache: Der Charly trägt jetzt eine Uniform, war schon was. Polizeiobermeister. Ich wollt nach München, zur Kripo. Da schaust du. Das habe ich für mich behalten. Hab eh das meiste im Leben für mich behalten, was geht das die Arschgeigen an. Was? Sag’s mir. Sag was.«

Hardy sagte nichts, legte dafür viel Ausdruck in seinen Blick. Jeckel empfand Zufriedenheit und Geborgenheit.

»Das war der Plan. Gehobener Dienst, raus aus Maibach und nie mehr zurück. Was erleben. Ist das verboten? Wie hört sich das in deinen Ohren an? Gut hört sich das an, selbstverständlich gut. Sepp-da-Depp. Sagt der zu mir: Träum weiter, Bruderherz. Ich hab zu ihm gesagt, zu meinem Fünfzigsten ist Schluss mit dem Laden in der Bahnhofstraße, soll ihn die Evelin übernehmen, hab ich zu ihm gesagt, die Evelin und ihr Mann, die kriegen das hin, das wird sich für die beiden lohnen. Und ich bin weg. Er fragt mich, was ich vorhabe, und ich sage: Berlin. Schaut er mich dermaßen blöde an, dass ich dachte, er brunzt gleich aus der Nase. Berlin. Als hätte ich einen Fluch ausgesprochen, verstehst du? Was ist schlimm an Berlin? Ich geh in die Hauptstadt, sage ich zu ihm, und dann schauen wir mal. Er fragt mich, ob ich spinne, ich sag zu ihm: Wenn hier einer spinnt, dann du, und zwar seit der Kindheit. Er wurde langsam wütend. Erinnerst du dich? Da hinten saß er, an der Wand, mit dem Gesicht zu dir, sensationell verwirrt. Auf meinem Konto sind achtunddreißigtausend Euro, die haben sich angesammelt im Lauf der Jahrhunderte, die ich jetzt hier leb. Die reichen eine Zeit lang, was meinst du? In Berlin kann man billig durch den Alltag kommen, davon hat der Gärtner natürlich keine Ahnung, dem mangelt’s vollständig an Vorstellungskraft. Der Paul hat die Fantasie eines Aschenbechers. Das weißt du so gut wie ich. Der Paul hat seine Birgit zu Haus sitzen, die kocht und hält das Haus in Ordnung, und seine zwei Buben schrei­ben gute Noten und fahren Ski im Winter und gehen im Sommer tauchen oben im Kolbsee. Mehr braucht er sich nicht vorzustellen. Sagt er zu mir, was das werden soll, ich hätte ja schon als Polizist auf ganzer Linie versagt. So reden die über mich, seit jeher. Ich hab aber nicht versagt, das weißt du so gut wie ich. Ich war auf Streife, und wir fuhren ganz Bad Hochstädt ab, die Einkaufsstraßen wegen der Einbrüche in letzter Zeit, und da ist plötzlich ein Lichtschein in der Jugendherberge, obwohl die eigentlich geschlossen war, und ich sag zum Haberl Werner, wir müssen rein, nachsehen, der Werner zögert noch, da knallt ein Schuss, wir aus dem Wagen, vorsichtig näher ans Objekt, wieder ein Schuss, wieder ein Lichtschein, unübersichtliche Situation, war doch alles nicht abzuschätzen, Sepp-da-Depp, was hätt ich machen sollen, hätt ich warten sollen, bis der einen von uns abknallt, kein Mensch wusste, was der für eine Waffe im Dunkeln auf uns richtet, es war Mitternacht, oder etwa nicht? War das vielleicht taghell? War da was zu sehen. Sag was. War da was zu erkennen in dem Haus? Nichts. Dann taucht das Gesicht hinter dem Fenster auf, und der Schein der Taschenlampe leuchtet, und ich seh die Pistole und dann? Was hättst du denn getan? Was hättst denn du getan, Bremser? Und du, Fuchsi? Ihr hättet alle dasselbe getan wie ich. Geschossen. Was denn sonst? Notwehr. Im Dunkeln. Der Einbrecher richtete eine Waffe auf uns, den Haberl und mich. Ein Schuss. Hinterher schreiben die Journalisten, ich hätt das realisieren müssen, dass der Junge bloß eine Schreckschusspistole hatte, das hätt ich hören müssen, ich hätt das merken müssen, dass nirgends eine Kugel einschlägt. Dass der bloß blufft. Hinterher haben alle Augen im Dunklen und sehen alles und wissen alles und sind clever, wie mein Bruder. Auf der ganzen Linie versagt. Stimmt. Er hat recht. Die haben doch recht seit jeher, findest du nicht? Ich find schon. Rechter hat kein Mensch. Keine Anklage, klare Notwehrsituation. Die haben demonstriert in Bad Hochstädt, gegen mich, hast du das vergessen? Kann man nicht vergessen, die haben den Rechtsstaat beschimpft, die Justiz, uns alle. Die Eltern des toten Jungen vornweg. Er war siebzehn, er hatte eine Pistole, ich war im Dienst, da waren die Einbrüche in den vergangenen Monaten, der Schaden ging in die Hunderttausende, wir sollten patrouillieren, schauen, dass die Serie endlich aufhört, wieder für Ruhe sorgen, dafür wurden wir bezahlt. Kapierst du das, Hardy? Ist das angekommen in diesem deinem Gehirn? Sehr gut. Im Gehirn meines Bruders ist nämlich nichts angekommen, nie, und im Gehirn meines Vaters und meiner Mutter genauso wenig. Wenn ich denen erzählt hätte, dass ich zur Kripo will, hätten die gewiehert.«

Er wartete, bis der Wirt das frische Glas hinstellte, und packte ihn dann am Handgelenk. »Ich hab meinen Laden nicht zugesperrt, aber nicht wegen meinem Bruder, garantiert nicht. Ich hab meinen Laden nicht zugesperrt, weil’s mir egal war. Das ist die Wahrheit, Herr Barheit. Es war mir alles bloß noch egal. Und in vier Tagen ist Weihnachten. Sehr schön. Fehlt nur noch der Schnee. Wahrscheinlich fällt der Schnee heuer aus, die Klimaerwärmung ist schuld. Oder der liebe Gott. Oder du. Oder du, Bremser. Ausgebremst. Ich muss jetzt nachdenken.«

Er verstummte, und der Wirt und die beiden Männer am Fenster überlegten, ob Jeckel tatsächlich nachdachte oder nur so tat. Für sie machte das keinen Unterschied, da ihnen egal war, was dabei herauskam.

Nach einigen Minuten, in denen ein adventliebes Schweigen den Postgarten erfüllte, glitt Jeckel vom Barhocker, verrückte ihn ein paar Zentimeter erst nach der einen, dann nach der anderen Seite und stützte beide Hände auf die Sitzfläche. »Ich fühle mich wie neugeboren«, sagte er zum Wirt, zu den Gläsern im Regal, zu seinem halbvollen Weißbierglas. »Und wenn ich genau nachdenk, fühle ich mich eigentlich wie überhaupt erst geboren. Nicht schlecht. Wie spät? Haufen Zeit schon wieder vergangen, das zermürbt einen. Hab ich zu meinem Vater gesagt: Rackerei zeitlebens, und die Zeit vergeht ohne dich. Hat er nicht verstanden. Meine Mutter saß mit am Tisch, schmierte sich ein Brot mit Marmelade, du kennst sie ja, sie kocht die Marmelade selber ein, seit meiner Kindheit geht das so, Brombeer, Himbeer, Erdbeer, die ganze Palette. Ich hasse Marmeladenbrote. Dann kam Paul, zu spät, hatte Streit mit seiner Birgit wegen der Kinder, der übliche Kram. Meine Mutter war selig, als die Familie wieder vereint am Tisch saß, Adventsfrühstück, selig sind die Adventsfrühstücker. Sehr wichtige Gespräche. Essen an Heiligabend, Würstel mit Kartoffelsalat, Gans am ersten Feiertag, völlig überraschend. Gegen das Blaukraut meiner Mutter kannst du nichts sagen, das sag ich dir, nichts kannst du sagen, also sag auch nichts. Mein Bruder rauchte, meine Mutter schnorrte eine, Ritual. Paul ging aufs Klo. Ich wartete, bis ich hörte, wie er die Tür verriegelte, dann nahm ich den vollen Aschenbecher, und die Kippen rieselten auf den schönen Teppichboden. So war das, mein Freund, schöne Sauerei alles in allem.«

Hardy sagte: »Wie geht’s eigentlich der Miriam?« Den Satz hatte er für fast jeden seiner Stammgäste parat, der Wortlaut war jedesmal der gleiche, bis auf den Namen der Frau, den wechselte er aus, damit keine Unstimmigkeiten aufkamen.

»Zu der geh ich jetzt«, sagte Jeckel. »Wir haben nichts mehr miteinander, aber manchmal kocht sie was, einen Braten, Hähnchen, sehr angenehm. Ideal für meine Verhältnisse. Ich zahl dann mal, wenn’s dir keine Umstände macht.«

»Einundzwanzig siebzig«, sagte Hardy ungezwungen.

Wie die Kripo rekonstruierte, schlug Carl Jeckel zuerst zweimal mit dem schweren Kristallaschenbecher auf seine Mutter ein, dann ebenfalls zweimal auf seinen Vater, und als Paul Jeckel aus dem Badezimmer kam, zertrümmerte er ihm mit zwei gezielten Schlägen den Schädel. Seinen Vater erdrosselte Carl Jeckel daraufhin mit dem Telefonkabel, und als seine Mutter aus dem Zimmer kriechen wollte, auch sie mit einem Verlängerungskabel, das zum Fernseher führte. Als der Erste Kriminalhauptkommissar Peters ihn fragte, warum er das getan habe, sagte Carl Jeckel: »Das musste jetzt mal sein.«

Am 24. Dezember schneite es dann doch noch im oberbayerischen Maibach.

 

Janet Clark · Die erste Geige

»Ja, leck mich am Arsch!«

Die quäkende Stimme ihres Chefs ließ Valentina den Kopf zur Seite drehen. Fett und schwitzend, die feisten Finger um sein patriotisch bayerisches Rautenmustertaschentuch geballt, quetschte er sich durch die noch lichten Stuhlreihen des Fürstenfelder Veranstaltungsforums. Hoffentlich kam er nicht auf die Idee, sich neben sie zu setzen. Das wäre wirklich das i-Tüpfelchen dieses zwangsverordneten Besuchs des Benefizkonzertes. Gesicht zeigen für die Witwen und Waisen. Dass sie nicht lachte. Als ob ihren Chef die Witwen und Waisen auch nur im Ansatz interessierten. Er wollte doch nur zeigen, wie gut er seine Abteilung im Griff hatte.

Er deutete auf zwei geigenbewaffnete Frauen in der ersten Reihe des Kammerorchesters. »Seit wann spielen Weiber die ersten Geigen?«

Valentina rollte die Augen. Wenn es nach ihm ginge, würde eine Frau niemals die erste Geige spielen. Weder in einem Orchester noch im wahren Leben und schon gar nicht in seinem Zuständigkeitsbereich, dem Flugmedizinischen Institut.

»Ach, schau an«, er winkte ihr zu, »da ist ja die Frau Doktor Valentina Kühl.«

Unwillkürlich zog Valentina den Kopf ein. Bitte nicht. Wo blieb Schachinger nur? Er wollte diesmal doch pünktlich sein. Sie konnte nur hoffen, dass ihm kein Mord dazwischengekommen war.

»Sie haben sicher nichts dagegen, wenn wir uns zu Ihnen setzen?«

Wir? Sie lächelte gequält, da bemerkte sie den Mann hinter ihm. Gut aussehend. Ungefähr ihr Alter, Mitte dreißig, dunkle, für den Militärbetrieb etwas zu lange Haare. Sie hatte ihn noch nie gesehen. »Bitte.« Valentina deutete auf die freien Plätze links von ihr. Der Platz rechts war für Schachinger reserviert.

Schwer atmend ließ ihr Chef sich neben ihr auf den Stuhl plumpsen und wandte sich an den Mann. »Sie kennen Frau Doktor Kühl?«

Der Unbekannte musterte sie und reichte ihr die Hand. »Es ist mir eine Freude.«

Sie nahm an und lächelte. »Und Sie sind?«

»Bauer. Frisch importiert aus unserer schönen Landeshauptstadt.«

Bauer? Dann war das der neue Staatsanwalt, über den Schachinger sich letzte Woche so aufgeregt hatte. Einen opportunistischen Schleimbeutel hatte er ihn genannt, wenn sie sich recht erinnerte, einen, der andere über die Klinge springen ließ, wenn es seinem Fortkommen förderlich war. Abrupt zog sie ihre Hand zurück, eine zu schnelle Bewegung, die den neugierigen Schweinsäuglein ihres Chefs natürlich nicht entgangen war.

»Vorsicht, Bauer, verkühlen Sie sich nicht.« Ihr Chef grinste anzüglich, sichtlich zufrieden ob seines abgelutschten Wortwitzes auf ihre Kosten. »Eiswürfel sind angenehm temperiert verglichen mit Frau Doktor Kühls Charme, wenn es um kollegiale Avancen geht.«

»Keine Sorge!« Der Staatsanwalt hielt grinsend seine Hand hoch und zeigte auf den goldenen Ring am Ringfinger. »Wer will sich schon verkühlen, wenn zu Hause eine heißblütige Schönheit wartet?«

Hitze breitete sich in ihr aus. Was für ein unerträglicher Mensch ihr Chef war. Schlimm genug, dass er sie mit diesen feisten Fingern zu begrapschen versucht hatte, aber ihr jetzt seine Übergriffigkeit als Prüderie anzulasten – das war an Dreistigkeit kaum zu überbieten. Am liebsten wäre sie aufgestanden und gegangen. Ihr Chef lachte, als hätte Bauer den Witz des Tages gerissen. Valentina spürte die Röte in ihren Wangen. Sie durfte sich nicht aufregen, sonst klappte sie noch vor ihm zusammen. Hastig zog sie ihre Pillendose hervor und steckte sich eine Pastille in den Mund. Irgendwann würde er bezahlen. Dafür, dass er ihr Forschungsprojekt gestoppt hatte, obwohl er wusste, wie lebenswichtig die Entwicklung des Medikaments für sie und viele andere mit dem gleichen Herzfehler war. Dafür, dass er sie in den Keller des Instituts verbannt hatte, wo sie ihre Tage mit den Leichen verbrachte, die die chronisch überlastete Münchner Rechtsmedizin zu ihr schickte. Ein kleiner Gefallen zwischen Golfpartnern und ein genialer Schachzug: das Institut verdiente an den Leichenschauen, und ihre Karriere lag seit ihrem Abzug von der Forschungsarbeit auf Eis.

Sein Lachen verwandelte sich in Husten, ein raues Bellen, das in akuter Atemnot mündete. Sie öffnete ihre Pillendose und bot ihm eine Pastille an. Seine feisten Finger griffen gierig nach einer der gelblichen runden Pillen. Sie grinste in sich hinein. Wohl bekomm’s … Was ihr Linderung verschaffte, würde ihm spätestens in einer halben Stunde einen wohlverdient unangenehmen Abend bereiten. Etwas Herzrasen, noch mehr Schweiß, leichte Übelkeit. Nichts, was er nicht verdient hätte. ­Zufrieden steckte sie die Dose in ihre Handtasche zurück, als sie Schachinger neben sich bemerkte. Wann war er zu ihr gestoßen? Heiß durchfuhr es sie – hatte er gesehen, was sie ihrem Chef gerade so großzügig angeboten hatte?

 

***

 

Valentina zog das Tuch über den schlaffen, toten Körper ihres nun ehemaligen Chefs. Das Zittern ihrer Hände übertrug sich in abgehackten Wellen auf den grünen Stoff. Wie hatte das passieren können? Eine Tablette! Eine winzig kleine Tablette. Zu mehr als Herzrasen und leichter Übelkeit hätte sie nie und nimmer führen dürfen. Oder doch? Bei der Menge Wein, die er gestern getrunken hatte … ihre Finger ließen den Stoff los, glitten über den kalten Edelstahl des Tisches. Sie starrte auf das nach oben gewölbte grüne Tuch, bis es zu einer konturlosen Masse verschwamm. Was musste der Fettsack auch so viel saufen. Sie schluckte hart. Sie wusste nicht, welche Wechselwirkungen die Pastille mit unmäßigem Alkoholkonsum hatte. Noch wusste sie, inwieweit die Pastille sich auf seine bestehenden Organschäden auswirkte, ganz abgesehen von den Tabletten, die er in seinem Zustand unweigerlich genommen haben musste.

Sie blinzelte. Das Tuch bekam seine Konturen zurück, ließ schonungslos den fettleibigen Körper darunter erkennen. Welche Kombination auch immer den Herzstillstand ausgelöst hatte, sie war schuld.

Sie hatte ihn nicht gemocht. Sogar verabscheut. Aber das – das hatte sie nicht gewollt.

Die Tür fiel mit einem leisen Klick ins Schloss. Sie schrak hoch. Herein schlenderte Kommissar Bernd Schachinger, in jeder Hand einen dampfenden Kaffeebecher. Er näherte sich mit dem ihm eigenen gelassenen Schritt, den sie so mochte, der sogar jetzt ihr wild klopfendes Herz wieder entschleunigte. Sie setzte ein Lächeln auf. Cool bleiben. Sonst war sie am Arsch.

»Wie geht es dir?«, begrüßte er sie. »Tut mir leid mit …«

Valentina winkte ab. »Schon gut.«

Schachinger gab ihr einen der dampfenden Becher. Echter Cappuccino, kein Automatengesöff. Er war ein Engel.

»Hast du schon was für mich?«

»Du kannst Feierabend machen.« Ohne ihn anzusehen, schob sie den Leichentisch zum Kühlfach. »Herzinfarkt. Der vorläufige Befund ist schon an den Staatsanwalt raus.«

»Aha.« Schachinger tippte sich auf die Lippen, eine Angewohnheit, die bei ihm meist mit einem Denkprozess einherging. »War er denn vorbelastet?«

»Machst du Witze?« Valentina hob die Finger, um die Gründe abzuzählen, die ihren Chef zum 1-a-Herzinfarktkandidaten gekürt hatten, als die Tür abermals geöffnet wurde. Diesmal jedoch flog sie mit Karacho gegen die Wand. Gleichzeitig wandten Schachinger und sie sich dem Neuankömmling zu.

Der Staatsanwalt. Die Tür fiel ins Schloss, zügig durchschritt er den Raum und stellte sich an den Leichentisch. Ohne ihre Erlaubnis abzuwarten, zog er das Leichentuch zurück. »Herzinfarkt? Erzählen Sie mir doch nichts!«

»Guten Tag«, flötete Valentina und versuchte ihre aufsteigende Panik zu bändigen. »Sie haben ein Problem mit meinem Befund?«

»Allerdings!« Er warf einen Seitenblick auf Schachinger. »Schachinger, Sie waren auch bei dem Konzert. Gestern Abend war der Mann das blühende Leben.«

Valentina spürte, wie Hitze durch ihren Körper strömte. Cool bleiben. »Wenn man die Fettleber, die fortgeschrittene Arteriosklerose, den massiven Bluthochdruck und die latente Niereninsuffizienz ignoriert«, sagte sie spitz, »war er vollkommen gesund.«

»Warum habe ich gerade den Eindruck, dass Sie sich bei der Obduktion keine besondere Mühe gegeben haben?« Bauer musterte sie abschätzend. »Wir werden ja sehen, ob München Ihren Befund bestätigt.«

München? Ihr Herzschlag setzte aus. Sie war geliefert.

Nun trat Schachinger einen Schritt vor. Seine Stirn war gerunzelt, und obwohl er nach außen ruhig wirkte, merkte sie ihm seinen Ärger an. »Sie wollen eine zweite Obduktion? Seit wann ist Frau Kühls Arbeit nicht gut genug?«

Bauer zeigte auf die Leiche. »Seit ein VIP auf diesem Tisch liegt. Das hier«, er ließ seinen Blick verächtlich durch den Raum gleiten, »ist nicht einmal offizieller Teil der Rechtsmedizin, sondern deren Abladestation für Fälle, die niemanden interessieren. Ich bezweifle, dass Ihre Befunde vor Gericht überhaupt Bestand haben. Hätte ich das Sagen, würde ich Ihre Pseudoleichenschau noch heute dicht machen.«