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Matthias Zellmer


iuuq

Die gedachte Welt



Roman




TUBUK digital

Kurzbeschreibung

Wo waren Alexa und ihre nerdigen Freunde da bloß reingeraten? Noch vor kurzem bestand ihre größte Sorge darin, sich nicht von ihrer überfürsorglichen Mutter in den Wahnsinn treiben zu lassen und den Lehrstoff ihres Studiums rechtzeitig zu den Klausuren in den Kopf reinzubekommen. Doch dann fanden sie diesen USB-Stick und alles veränderte sich. Veränderte sich extrem…

Über dieses Buch

Der Löwenanteil dieses Romans ist in den Jahren 2008 bis 2011 entstanden und seine Handlung ist auch in dieser Zeit zu verorten. In der Zwischenzeit bis zur ersten Veröffentlichung habe ich die Geschichte mehrfach überarbeitet, von lieben und versierten Menschen lesen und kritisieren lassen. Trotz der Aufmunterung aller dieser Menschen, habe ich nie den Mut gefunden, es zu veröffentlichen. Das Leben hat mir dann im Jahr 2013 auch ziemlich nachdrücklich gezeigt warum: Ich wurde auf Grund einer akuten depressiven Episode in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dort stellte es sich dann schnell heraus, dass die Ursache meiner Depression eine seit Jahrzehnten unerkannte Angststörung ist; in meinem Fall eine Sozialphobie. Zentrales Merkmal dieser Phobie ist ein gestörtes Selbstwertsystem. Das nun jemand dieses Buch in seinen Händen hält, es gekauft hat, ist für mich ein ganz außerordentlicher persönlicher Erfolg, denn seine Veröffentlichung ist ein wichtiger Meilenstein meiner therapeutischen Bemühungen.

Ich widme es allen Menschen, die mir im Großen wie Kleinen in dieser schweren Zeit geholfen haben … und ganz besonders Natali.

Impressum

Matthias Zellmer: iuuq - Die gedachte Welt

Copyright © 2015 Matthias Zellmer

Erschienen bei TUBUK digital

TUBUK digital ist ein Imprint der Open Publishing Rights GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Matthias Zellmer

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH, www.openpublishing.com

ISBN: 978-3-95595-059-0

Besuchen Sie uns auch im Internet: www.tubuk-digital.de

Prolog

»0 0 … 0 100 … 86.6 50 … color … full … FF … 0 … 0«, sprach der Mann in sein Headset. Ein knallrotes Dreieck erschien. Laut dachte er: »Witzig! Dieser antiquierte Kram funktioniert also auch. Probieren wir es mal mit: Löschen.« Die geometrische Figur verschwand. Er veränderte seine Position im Raum. »Dreieck … gelb.« Kaum wahrnehmbar blitzte kurz etwas Gelbes vor ihm auf; war aber sofort wieder verschwunden. Er blinzelte ein paarmal, schloss seine schwer gewordenen Augenlieder erneut und versuchte sich noch einmal zu konzentrieren: »Dreieck … gelb … gleichschenklig … Seitenlänge 100.« Ein gelber Kreis erschien. Erst wunderte er sich. Doch dann lächelte er wissend. »Stopp.« Der Kreis wurde zu einem Dreieck. »Aha!« Der Mann bewegte sich um das Gebilde herum. Die von ihm entfernteste Spitze der gelben Figur, verlängerte sich im Raum. Bis sie scheinbar, unendlich verlängert, mit dem gesamten Dreieck verschwand. Augenblicklich stoppte er seine Bewegung; um kurz darauf ganz langsam weiterzugleiten. Die Figur wurde wieder sichtbar. Nur näherte sich diesmal ihre entfernte Spitze seiner eigenen Position seitenverkehrt. Er stoppte. »Löschen.« Das Dreieck verschwand. »Kugel … blau … Durchmesser 100.« Ein blauer Ball erschien. »Kopieren … 0 … 100 … 0.« Ein weiterer blauer Ball setzte sich direkt oben auf den ersten. Er nickte zufrieden; aber auch erschöpft. »Löschen. Browser-Fenster.« Die blaue Figur verschwand und ein weißes Rechteck erschien im Raum. »Suche … Umkreis 5 Kilometer … Pizza Rucola.« Aus dem weißen Rechteck wurde ein Stadtplan mit drei rot leuchtend blickenden Punkten. »Zeiger.« Eine pixelige Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger erschien. Er ließ sie auf einen der blickenden Punkte tippen. Ein zweites Fenster öffnete sich, in ihm stand: Pizza Rucola, 30 cm, 7 Euro. »Bestellen … Quit.« Er öffnete seine Augen. Sein Magen knurrte.

Kapitel 1

Das Anwesen

Diese Halle war außerordentlich beeindruckend. Ein Foyer, so riesig, dass ein kleines Einfamilienhaus darin Platz haben könnte. Zum Empfang der Besucher standen ein gutes Dutzend nackte, übermenschlich große Skulpturen an den Seiten Spalier. Sie wirkten wie antiken Götterstatuen nachempfunden. An den Wänden dahinter, hingen riesige Ölgemälde in verzierten, goldenen Rahmen. Sie zeigten allesamt Szenen von berühmten Schlachten; mit viel Ehre, Blut und Tod. Die von den Künstlern verwendeten Farben waren eher gedeckt und dunkel. Nur das Blut leuchtete wahrhaft blutrot. Alles roch alt. Ein goldbesetzter Kronleuchter beherrschte die Decke. Er hatte die Ausmaßen eines kopfüber hängenden Apfelbaums und seine Kristallbehänge glitzerte und glänzte im Sonnenlicht, welches durch die bis fast unter die Decke reichenden Fenster fiel. Diese Fenster rahmten die mindestens fünf bis sechs Meter hohe, doppelflügelige Eingangstür zu beiden Seiten ein. Sie war aus dunklem Eichenholz gefertigt und reichhaltig mit Ornamenten besetzt. Gewaltige Amphoren standen vor den Wänden zwischen den Fenstern. Gegenüber der Eingangstür führte links und rechts je eine geschwungene Treppe hinauf in die erste Etage. Die Treppenflügel endeten in einem balkonartigen Vorbau, unter dem zwei gläserne Flügeltüren Einblick in einen prunkvollen Saal gewährten. Der Marmorboden der Vorhalle spiegelte wie frisch gebohnert, lud zum In-Socken-Herumrutschen ein. Doch dem schweren, in der Luft liegenden Geruch nach zu urteilen, war dieser Glanz nicht das Werk von kürzlich am Werk gewesenen, fleißigen Reinigungskräften, sondern auf mindestens Jahrzehnte lange Benutzung zurückzuführen.

Dieses Anwesen war das genaue Gegenteil von Max' Zuhause. Die Wohnung in der seine Familie lebte, war eher klein, ihre Einrichtung alles andere als beeindruckend. Es waren zum Großteil schlichtweg die abgelegten Sachen von Freunden und Verwandten. Statt goldenen Verzierungen schmückten Klebe-bandstreifen die Möbel. Zur Begrüßung gab es einen überquellenden Schuhschrank, der mit einer vertrockneten Rose dekoriert war, welche schon seit mindestens drei Jahren in der kitschigen Vase stand. Die Vase hatten sie von einer entfernt verwandten, alten Dame bekommen; nachdem einer der Henkel abgebrochen war. Seine Mutter hatte den Henkel kurzerhand mit dem Bastelkleber repariert, den er aus der Schule hatte mitgehen lassen. Dass er sich diese Freiheiten nahm, schien in seiner Schule niemanden zu stören. Max hatte dort ziemliche Narrenfreiheit. Zumindest so lange, wie er regelmäßig irgendwelche nervigen Wettbewerbe gewann, die der Schule Ruhm und Anerkennung einbrachten … und Fördermittel. Doch wenigstens roch es zuhause besser als in diesem Anwesen. Seine Mutter war eine gute und leidenschaftliche Köchin. Es roch immer irgendwie nach frisch zubereitetem, reichhaltigem Essen. So wenig seine Mutter auf neue Möbel und moderne Kinkerlitzchen achtete, so sehr achtete sie auf eine gesunde Ernährung. Irgendwelche Fertigprodukte kamen ihr nicht ins Haus. Sie ging zwei Mal pro Woche auf den Markt, hatte seit kurzem sogar den Bio-Supermarkt ins Herz geschlossen.

Neben der Küche hatte ihre Wohnung noch ein kleines Bad, das Elternschlafzimmer und die beiden Zimmer in denen Max und seine Schwester Alexa wohnten. Auch hatten sie ein kleines Wohnzimmer, in dem sich jedoch meist nur sein Vater aufhielt.

»Du musst Maximilian Rose sein. Herzlich willkommen an der Gablin-Akademie.« Max fuhr ein leichter Schreck in die Glieder, und er herum. Vor ihm stand eine Frau, die ihn lächelnd ansah. »Oh. Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht erschrecken. Du warst … ähm … bist wohl noch beeindruckt von dem Ambiente hier. Ja, ich finde es auch nach gut … sechs … sieben Jahren immer noch … ach, ist ja auch egal. Darf ich dich Max nennen?« Max nickte und wirkte ein weiteres Mal beeindruckt. Er war nun in einem Alter, in dem Brüste eine Rolle zu spielen begannen. Und was diese gut 30 Jahre ältere, fast einen Kopf größere Frau direkt vor seiner Nase platziert hatte, war mehr als ein pubertierender Geist gelassen verkraften konnte. Zudem roch diese Frau sehr gut. Sie hatte ein leichtes, blumig-süßes Parfüm aufgelegt. Max hatte sicher schon häufiger den Geruch eines Parfüms an einer Frau wahrgenommen, doch dieses Duftwasser hatte das Potenzial, einem Knaben tief ins Bewusstsein einzudringen und ihm die ganze Bedeutung eines zweiten Geschlechts klar zu machen. Max wurde rot. »Auch wenn du nicht mit mir reden willst«, und sie fügte lachend hinzu: »oder kannst. Merkt dir mal meinen Namen: Ich bin Esther und für die kommende Woche deine Ansprechpartnerin. Falls du wirklich sprechen kannst. Aber davon geh ich mal aus. Sonst wärst du kaum hier.« Schon im Umdrehen begriffen, fügte sie noch hinzu: »Du kannst mich ruhig auch duzen. Hier duzen wir uns alle.« Sie ging auf eine unscheinbare Seitentür in der Ecke der Vorhalle zu und winkte ihn hinter sich her, ohne sich noch mal nach ihm umzudrehen.

»Du kannst dich hier vorne hinsetzen.« Esther ging um den Schreibtisch im ihrem Büro herum, zeigte dabei auf einen der beiden davor stehenden Stühle. Das Büro war im Bezug auf das, was Max bisher in diesem Anwesen zu sehen bekommen hatte, unglaublich schlicht. Kein Stuck, keine Goldverzierungen, ein 3-fach Strahler aus dem Baumarkt an der Decke und die Bilder an den Wänden befanden sich rahmenlos hinter einfachem Glas. Dies hätte auch die Einrichtung einer Amtsstube in irgendeiner Behörde sein können. Neben Esther war der einzige Hingucker in diesem Raum, ein rotes Sofa mit urgemütlicher Ausstrahlung. Jetzt so vor dieser Frau und ihrem Schreibtisch zu sitzen, musste Max sicher an jene ungeliebten Augenblicke in seiner Schule erinnern, wenn ihn sein Direktor zu sich beordert hatte. Ganz gleich, ob ihn mit stolzer Miene zu loben oder mit herunterhängenden Schultern zu tadeln. Genau das war der Begriff, welchen er dann immer verwendete: Max … ich muss dich tadeln.

»So, mein Lieber. Wollen wir mal schnell das Organisatorische klären. Dein Name ist Maximilian Rose…« Esther schaute über den oberen Rahmen ihrer zum Lesen seiner Akten aufgesetzten Brille, und ihm direkt in die Augen: »Kein zweiter Vorname?« Max schüttelte den Kopf, doch Esther fuhr schon fort: »Du bist in … ach, das wird schon alles seine Richtigkeit haben.« Sie klappte die Mappe mit Max' Unterlagen zu, warf sie auf einen Stapel aus Akten, Zeitschriften und sonstigem Papierkram. Dann lehnte sie sich nach vorne und schaute Max wieder sehr direkt an. Woraufhin dieser sogleich verlegen unter sich schaute. Esther schmunzelte, setzte die Befragung jedoch unmittelbar fort: »Ich habe gelesen, dass du natürlich in allen Schulfächern sehr gute Noten hast. Werdet ihr denn nicht im Mündlichen bewertet?«

Max war normalerweise alles andere als ein großer Schweiger. Aber dies hier hätte wahrscheinlich auch die meisten anderen Jungen in seinem Alter ziemlich eingeschüchtert. Alles war irgendwie mindestens eine Nummer zu groß. Mindestens eine. »Was soll ich sagen?« Max sprach zum ersten Mal seit er in der Akademie angekommen war. »Gute Frage!«, entgegnete Esther. »Was erwartest du dir von der Woche hier?« »Will'n Stipendium«, nuschelte Max. »Du weißt, dass das nicht einfach ist. Wir haben hier ein ziemlich ausgefeiltes Test-Programm. Da hat schon so mancher Hochbegabte die Segel streichen müssen.« Esther schaute Max abermals tief in die Augen, er versuchte diesmal stand zu halten. Ein kläglicher Versuch. Sie fuhr fort: »Unsere Tests sind mehr als die üblichen IQ-Tests, die du sicher zu genüge kennst. Wie lief eigentlich dein letzter?« »152.« »Nach deutschen Kriterien?« »Ja.« »Nicht schlecht. Aber wie gesagt, wir testen etwas anders. Sicher, du wirst auch hier wieder die üblichen Fragen und Aufgaben gestellt bekommen. Die zeitlichen und … nennen wir sie mal räumlichen Bedingungen werden aber etwas anders sein.« Max zog neugierig eine Augenbraue hoch. Zuerst hatte er nicht unbedingt hierher gewollt. Stipendien hatte er genug angeboten bekommen. Doch als er gehört hatte, dass es als wirklich ganz besonders schwierig galt, an der Gablin-Akademie ein Stipendium zu erhalten, war sein Ehrgeiz geweckt. Wann hatte er schon mal die Möglichkeit etwas zu tun, dass er nicht mit Leichtigkeit absolvieren konnte. Er war ja sogar ein sehr guter Sportler.

Esther kramte nun doch noch einmal in seinen Unterlagen. »Ich sehe, deine Eltern und du, ihr habt in den Test mit unserer Neuroenzephalographen eingewilligt. Das ist der ganz besondere Teil in unserer Testserie. Schließlich hat das gute Teil einen ordentlichen Batzen Geld gekostet; Spitzentechnologie aus der Region. Dieser Test ist aber nicht weiter problematisch. Du solltest nur keine Angst vor Saugknöpfen, Spritzen und Röhren haben.« Esther schmunzelte mal wieder, lehnte sich dabei zufrieden zurück. »Kein Problem«, antwortet Max. »Gut, dann sind wir fürs Erste auch schon durch. Vor der Tür wartet Raik. Er wird dir dein Zimmer zeigen. Es ist jetzt«, sie blickte zur Uhr an der Wand, »gleich zwei. Das Mittagessen hast du verpasst. Aber Raik weiß sicher einen Weg, dir jetzt noch was zu besorgen.« Wieder schmunzelte Esther. Sie stand auf und hielt Max einen Ausweis hin, sowie eine kleine Mappe. Max schnappte sich beides und ging in Richtung Tür. »Ähm, Max?« Er hatte den Türgriff schon in der Hand, drehte sich aber noch einmal zu ihr um. »Bist du religiös?« Max legte die Stirn in Falten, schüttelte den Kopf und fragte: »Warum?« Esther schaute für einen kurzen Augenblick etwas enttäuscht, schüttelte dann aber ihrerseits mit dem Kopf: »Nur so. Für meine persönliche Statistik.«

Kapitel 2

Hochschule

Alexa wurde flau im Magen. Wie sollte sie die Fülle an Informationen, die der Dozent da vorne gerade vortrug, jemals in ihren Kopf hineinbringen? Das alles müsste sie schließlich später auch in einer Prüfung wiedergeben können. Und wenn es nur die schlichte Stoffmenge wäre. Dieses Fach war einfach nicht ihres, doch durch diesen Wirtschaftskram mussten alle Studierenden an dieser Hochschule durch. Egal ob sie, wie sie selbst, Angewandte Netz-Wissenschaften oder etwa Geographie, Elektrotechnik oder Soziologie studierten. Bei diesem für sie nur all zu oft unergründlichen Stoff aus dem Bereich Rechnungswesen, würde sie mal wieder ihren kleinen Bruder fragen müssen. Sicher, Max würde wie immer die Augen verdrehen, und wenn er es nicht auf Anhieb wüsste, würde er so etwas sagen wie: »Ich google das mal schnell. Komm in einer halben Stunde wieder.« Sie würde dann eine halbe Stunde später wieder über den Flur in sein Zimmer schleichen, wo er sich natürlich schon lange wieder einer anderen Sache zugewendet hätte. Max würde dann leicht irritiert aufschauen und in etwa sagen: »Was? … ach ja … dein Problemchen. Also, hock dich hin. Das ist ganz einfach.« Dann würde er anfangen zu erklären, sie ein paar Mal nachfragen müssen, doch nach einer Weile, wüsste sie bestens Bescheid. So dumm war sie nun auch wieder nicht. Aber manchmal dachte sie bei sich, dass es vielleicht weniger aufwendig wäre, sich nur die Vorlesungs- und Seminarthemen von ihren Professoren geben zu lassen und dann gleich bei ihrem Bruder zu studieren. Natürlich würde dieser das niemals mitmachen. Außerdem war sie der Meinung, dass es grundsätzlich immer besser war, die Lehrveranstaltungen zu besuchen. Beobachtete sie die Dozenten genau, dann war es für sie oftmals möglich, die Schwerpunkte ihrer Prüfungen zu erahnen. Alexa war froh, dass wenn sie schon nicht so eine Intelligenzbestie wie ihr kleiner Bruder war, sie statt dessen eine etwas größere Portion Empathie abbekommen hatte.

»Geh'n wir gleich zusammen in die Mensa?«, flüsterte der neben Alexa sitzende Tüte unvermittelt zu ihr herüber. »Pssst! Ich muss hier aufpassen«, antwortete sie ihm mit gedämpfter Stimme; um dann kurz darauf noch hinzuzufügen: »Aber gut: Mensa!«.

Alexa mochte ihren Kommilitonen Tüte, dessen bürgerlicher Vorname Jens war; so nannte ihn aber niemand. Er war ein guter Kerl, manchmal ein wenig anstrengend, weil er so viel plapperte, aber oftmals auch eine gute Alternative zu ihrem kleinen Nachhilfelehrer zuhause. Der schlaksige Tüte, mit den immer verwuschelten blonden Haaren und seinen großen blau-grauen Augen, war wirklich begabt; und seine Diskussionen mit den Seminarleitern legendär. Alexa hatte noch nicht ergründet, warum ihr Kommilitone von allen Tüte genannt wurde. Vom Kiffen könnte es nicht kommen. Sie hatte schon so manche Nacht mit ihm durchzecht und nie hatte er geraucht; weder mit, noch ohne Cannabis. Stattdessen hatte er ihr auf einer Wohnheim-Fete einmal lang und breit erklärt, dass Gras auf arabisch Haschisch heiße und das gut zwei Drittel der Weltproduktion von dem Zeug aus Marokko stamme. Und da sie ihn damals nicht frühzeitig gebremst hatte, erläuterte er ihr auch noch wortreich, dass Marokko wiederum ursprünglich von Berbern gegründet und offiziell Al-Maghrib genannt wurde. Was sich wiederum vom arabischen Wort für Sonnenuntergang Maghreb ableitete. So etwas konnte stundenlang gehen, da Tüte immer wieder eine neue Assoziation in den Sinn kam und sein Allgemeinwissen gigantisch war. Was auf Partys und in der Mensa kurzweilig war, hatte bisher aber irgendwie auch verhindert, dass Alexa den rechten Augenblick für gekommen sah, um Tüte mal zu fragen, wo er diesen seltsamen Spitznamen eigentlich her hatte. Denn sie hatte zugegebenermaßen auch irgendwie das Gefühl, dass er über die Herkunft seines Spitznamens lieber nicht wirklich gern sprechen wollte.

»Nachher geht es mit der Klampfe wieder in die Stadt. Brauche ein paar Euro für'n Sprit. Mein Tank ist schon wieder leer«, verkündetet Tüte kauend.

Alexa wusste nicht, ob sie Tüte für seinen Lebensstil bewundern oder bedauern sollte. Er lebte in ständig wechselnden WGs, besaß neben seiner alten rostigen Ente gerade mal soviel, wie er in zwei Koffer und eine Notebook-Tasche bekam. Den Unterhalt für sein Leben verdiente er sich vornehmlich mit Straßenmusik. Manchmal, wenn es eng wurde, half er bei einem befreundeten Biobauern auf dem Gießener Wochenmarkt oder bei der Ernte aus. »Kommst du kurz mit? Du weißt, es ist immer gut, wenn am Anfang eine hübsche, junge Frau darumsteht und meine Musik gut findet.« »Ich finde deine Musik aber nicht gut«, erwiderte Alexa hämisch grinsend. »Ich werde nie verstehen, was du gegen die großen alten Männer der Rockmusik hast? Sei's drum. Haste Zeit?« Alexa schüttelte den Kopf, während sie zugleich die Gabel mit der Pasta in den Mund steckte. »Nö, üff…« Sie brach den Satz ab und kaute. »Haste noch Vorlesung?«, stürzte sich Tüte fragend in die Gesprächspause. Alexa schluckte einen viel zu großen Happen runter und spülte schnell mit einem Schluck Wasser nach. In den wenigen Augenblicken bis zu Alexas Antwort, durchlebte Tütes Gesicht zahlreiche auf tiefe Ungeduld hinweisende Gesichtsausdrücke; die mit ein paar Fragelauten untermalt wurden. Alexa lächelte spitzbübisch und antworte: »Eigentlich hab ich noch was beim Meierling, aber da gehe ich heute nicht hin. Ich bin mit dem Auto meiner Eltern hier, da ich nachher Mäxchen vom Bahnhof abholen darf.« »Stimmt ja! Der kommt von seiner großen Woche in der Schlaumeier-Schule wieder. Schon was gehört, wie es war?« »Nee, der hat sich die komplette Woche nur einmal gemeldet und das war gestern Abend per SMS.« Alexa holte ihr Handy aus ihrer Tasche, die neben den Tabletts auf dem Tisch lag, tippte behände darauf herum, las dann vor: »Bin 14:34 am Bahnhof. Jemand muss mich abholen. Max. Und da meine Mutter jeden Freitagnachmittag meiner Tante Ilse beim Putzen ihrer Wohnung hilft, hab ich diese ehrenvolle Aufgabe übertragen bekommen. Na, wenigstens durfte ich so das Auto mit an die Uni nehmen. Sonst hätte ich den Kleinen ja mit dem Bus abholen müssen. Und sowas geht ja wirklich nicht!« Ohne auf die kleine Spitze gegen Alexas Mutter einzugehen, war dieses Thema für Tüte plötzlich auch schon wieder beendet. Ein anderes allerdings nicht: »Was hast du zum Beispiel gegen Clapton? Der alte Mann ist mit seinen über 60 immer noch richtig klasse.« Alexa wusste was jetzt kam und schnappte sich ihren Pudding. Sie würde diesen nun in Seelenruhe, und Tütes Monolog lauschend, genießen können. Dabei war sie sich nicht mal sicher, ob Tüte es überhaupt wahrgenommen haben würde, wenn sie wie üblich, anschließend noch auf einen Kaffee in die Cafeteria hinübergegangen sein werden?

Kapitel 3

Langeland

»Ihr wollt ihn doch nicht wirklich…?« Alexa konnte es nicht fassen. Das amateurhafte Bühnenstück, welches anscheinend gerade nur für sie persönlich aufgeführt wurde, nahm immer absonderlichere Formen an. Dass sich ihr Bruder im Auto kaum zu einer als vollständigen Satz interpretierbaren Aussage hatte hinreissen lassen, hatte Alexa noch ihrer Verspätung zugeschrieben; sie war fast eine halbe Stunde zu spät am ihrem üblichen Treffpunkt vor dem Kurzzeit-Parkplatz angekommen. Zunächst hatte sie sich mit Tüte beim Kaffee verquatscht und dann war der Wagen ihrer Eltern auch noch von so einem Dussel auf dem Uni-Parkplatz zugeparkt worden. Dieser hatte zwar seine Handy-Nummer hinter die Windschutzscheibe seines Wagens gelegt, aber bis er in seinem albernen weißen Kittel aus seinem Labor heraus zum Parkplatz gekommen war, war sie schon hoffnungslos verspätet. Zumindest schien es ihm leid zu tun. Er entschuldigte sich mehrfach und betonte sehr glaubhaft, dass dies eigentlich nicht seine Art sei. Obendrein meinte er, ihr noch vorschlagen zu müssen, dass sie sich doch noch mal bei ihm melden solle, dann würde er ihr zur Entschädigung einen Kaffee ausgeben. Seine Nummer hätte sie ja jetzt und solle sie unter dem Namen Mirko … Mirko mit K abspeichern. Sie lehnte das alles ab, bat ihn indes mit etwas mehr Nachdruck, sie jetzt rausfahren zu lassen. Was er dann auch tat. Nicht aber ohne sich noch ein paarmal bei heruntergelassener Fensterscheibe bei ihr zu entschuldigen. Wenn die Gesellschaft von diesem Mirko auch nur annähernd so langweilig wäre, wie seine Frisur, wollte Alexa unbedingt auf diesen Entschuldigungskaffee verzichten. Zudem war dieser Typ unglaublich blass und hatte die zu dieser Hautfarbe passenden kupferroten Haare. Was Alexa überhaupt nicht ansprach. Er war so gar nicht Alexas Typ … so gar nicht.

Mit Max zu Hause angekommen, wurden sie beide sofort in die Küche zitiert. Alexa setzte sich an ihren angestammten Platz. Der Tisch war bereits opulent gedeckt, ihr Vater und sie wurden jedoch erst einmal zu Statisten degradiert. Der Bub wurde nun gründlich von Muttern inspiziert und geknuddelt. Sein missfallender Gesichtsausdruck sprach dabei Bände: Er handelte von der aufkeimenden Pubertät, von einer intensiven Abneigung familieninterner zur Schaustellung und von alledem, was ein 12-Jähriger eben nicht mag, an überschwänglicher und seit Jahren unveränderter mütterlicher Zuneigung.

Als Alexa zu ihrem Vater blickte, meinte sie Mitleid in seinen Augen zu sehen. Es hätte aber auch genauso gut Hunger sein können. Gefühlstechnisch war ihr Vater für sie immer ein Buch mit mindestens sieben Siegeln geblieben. Alexa war der Ansicht, dass er und seine Wesensart wahrscheinlich der Hauptgrund für ihre ausgesprochen ausgeprägte Einfühlsamkeit war. Seit frühesten Kindertagen hatte sie stets den tiefen Wunsch ihn verstehen zu können. War er jemals traurig? Freute er sich über den Sieg seines Lieblingsfußballvereins? Hatte er überhaupt einen Lieblingsfußballverein? Hatte er überhaupt irgendein Lieblingsirgendwas? Er schaute jeden Samstag die Sportschau. Ohne aber dabei eine Vorliebe für einen der Vereine zu offenbaren. Alexa hatte ihn beobachtet. Kein Schmunzeln oder Stirnrunzeln bei irgendeiner der Aktionen auf dem grünen Rasen. Nie. Manchmal fragte sich Alexa, ob seine jahrelange Tätigkeit als Fernfahrer, ihn zu diesem Gefühlsbunker gemacht oder gerade diese Eigenschaft, ihn für diesen Job prädestiniert hatte? Alexa war sich auch nicht darüber im Klaren, ob sie ihn in irgendeiner Form bewundern oder zu ihm aufsehen dürfte? Manchmal blieb sie kurz im Rahmen der Wohnzimmertür stehen und beobachtete ihn dabei, wie er wiederum am Fenster stand und den Verkehr auf der viel befahrenen Ausfallstraße beobachtete, die direkt an ihrem Mietshaus vorbeiführte. Ob er das nun als Frührentner … der Rücken … quasi als Entzugsmaßnahme vom Straßenverkehr brauchte? Oder hatte er einfach keine andere Idee, was er mit sich und der nun mal zwangsläufig vorhandenen Zeit anfangen sollte? Alexa erwischte sich ab und an bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, mal mit ihrem Vater zu kiffen?

Der Bub hatte nach einer kräftigen Hühnersuppe und einem großen Teller Lasagne, nun auch beim Nachtisch seine Extra-Portion verputzt. Die Mengen an Nahrung, die Max inzwischen in sich hinein stopfen konnte, waren ein weiteres Indiz für seine anbrechende Pubertät und ließen Alexa einen bevorstehenden Wachstumsschub erwarten. Noch war ihr Bruder, der wie sie selbst, brünette Haare und braune, leicht ins grünliche gehende Augen hatte, ein paar Zentimeter kleiner als sie. Sie zählte mit ihren gut 165 Zentimetern aber auch nicht gerade zu den Riesen in ihrem Freundeskreis. Sie selbst trug ihre Haare glatt und schulterlang. Max jedoch hatte eine Lausbuben-Frisur, da er modemäßig noch ganz unter dem Einfluss ihrer Mutter stand, und diese ihrem Jüngsten nur allzu gerne stolz durch die Haare wuschelte.

Nachdem der letzten Löffel Pistazien-Pudding verputzt war, hatte Max die Bombe platzen lassen: »Ich geh im nächst'n Schuljahr auf eines dieser Akademie-Internate. Sie haben mir eins in Dänemark zugeteilt, auf 'ner Insel … Langland oder so. Kost auch nix, die bezahl'n alles.« Alexas Kinnlade klappte herunter und während sie unterbewusst auf ein brummiges, vom schluchzenden Aufschrei ihrer Mutter untermaltes Nein ihres Vaters wartete, hörte sie erst einmal nichts. Sie schaute zu ihren Eltern, die beide nickend da saßen und lächelten. Alexas Vater lächelte! Schon alleine dieser Anblick hätte in ihr eine Welt zusammenbrechen lassen können, aber auch ihre Mutter lächelte. Und nickte. Kein Redeschwall. Keine Tränen aus tiefer menschlicher Enttäuschung, nur debiles Nicken und dümmliches Lächeln. Alexa hörte sich plötzlich sagen: »Ihr wollt ihn doch nicht wirklich…?« Auch hörte sie den fassungslosen Ton in ihrer eigenen Stimme. Alexas Mutter tätschelte ihr daraufhin die Hand und sagte mit einem filmreif beruhigendem Unterton in der Stimme: »Wir hatten mit Amerika gerechnet. Langeland«, sie drehte ihrem Sohn kurz den Kopf zu: »Die Insel heißt Langeland, Schatz, nicht Langland«, um dann die Ansprache an ihre Tochter tätschelnd fortzusetzen: »Langeland ist eine tolle Insel. Dein Vater und ich waren doch vor drei Jahren mit Onkel Josch und einigen Leuten von seiner Freiwilligen Feuerwehr dort. Die hatten doch überraschend einige Plätze frei; wegen dieser Magen-Darm-Geschichte damals. Die hatten sich beim Abschlusstreffen zwei Tage vor dem Abreisetermin gegenseitig angesteckt und konnten…« »Mama!«, brach es aus Alexa heraus. »Ihr wollt Max einfach so nach Dänemark gehen lassen? Mit Zwölf? Als ich vor drei Jahren … mit Neunzehn! … als ich da in eine andere Stadt zum Studieren gehen wollte, da habt ihr … da hast du solch einen Aufstand geprobt, dass ich um des lieben Friedens willen, hier in Gießen geblieben bin.« »Aber du wolltest doch nur wegen deinem Mark…« wandte Alexas Mutter postwendend und mit mütterlichem Timbre in der Stimme ein. Aber Alexa unterbrach sie sogleich wieder: »Nur? Nur wegen Mark? Mark studiert in Hamburg. Ich wollte nach Berlin!« »Das wussten wir ja damals noch nicht. Wir dachten … aber das ist doch jetzt auch egal. Bei unserm Mäxchen, da wissen wir ja wo er hingeht. Und er tut dies bestimmt nicht wegen einem Mädchen, sondern weil er etwas ganz Besonderes ist.« Alexas hatte den Eindruck, dass ihr Hals um gut und gerne zwei Kragenweiten angeschwollen sein musste. Eine Kragenweite, für diese ganze antiquierte Scheiße und eine, für den Blick ihrer Mutter. Der war nämlich eine Mischung aus engelsgleicher Unschuld und Du weißt doch das ich recht habe! Wieder einmal der Resignation nahe, schaute Alexa Hilfe suchend über den Tisch. Das Lächeln im Gesicht ihres Vaters war wieder diesem gewohnt undurchschaubaren Ausdruck gewichen und Max … der war weg. »Wo ist er hin?«, frage Alexa mit immer noch vor lauter aufgestauter Wut leicht zitternder Stimme und während sie mit ihrem Kinn auf den nun verwaisten Stuhl deutete. »Raus«, antwortete ihr Vater gelassen.