Thomas Gross

Die Werwolf-Division

Horror-Novelle

Im Labor

Es war ein schöner Frühlingstag, die Luft roch nach Blumen und die Kinder tollten um den Brunnen in der Hauptgasse der Altstadt herum. Die Hakenkreuzfahnen, die die Strassen säumten, wehten im Wind. Doch Dr. Schulze nahm sich keine Zeit um solche banalen Dinge wie das schöne Wetter zu geniessen oder den Kindern beim Spielen zuzusehen. Er war ganz und gar in seine Forschung vertieft. Auf seinem Schreibtisch lagen zwei Stapel Bücher, darunter ein Lexikon der Mythologie, eine wissenschaftliche Arbeit über Psychosen und allerlei Tier- und humanmedizinische Fachbücher. Sein Morseapparat fing an zu ticken, doch er bemerkte das Geräusch nur am Rande. Als er realisierte, was das Ticken bedeutet, fuhr er von seinem Schreibtisch hoch und eilte zum Apparat. „Ziel nicht erreicht, Einheimischer gab Hinweis dass Gestaltwandler in die Kasachensteppe auswanderten. Warte auf weitere Befehle, Heil Hitler!“ so die Nachricht des Expeditionsleiters, den Schulze nach Griechenland in die arkadischen Berge geschickt hatte. Schulze hoffte, in dieser Region Nachfahren des frühgriechischen Königs Lykaon zu finden. Dieser König, der vor mehr als 3000 Jahren lebte, soll der erste Werwolf gewesen sein. Er erzürnte Zeus, indem er ihm Menschenfleisch opferte. Als Strafe wurde er in einen Wolf verwandelt. Jedenfalls erzählt es die Legende so. Für den Doktor war diese Geschichte jedoch mehr als nur eine Legende. Es gab auf der ganzen Welt, in allen Zeiten und Kulturen, zu viele Überlieferungen, die von Gestaltwandlern oder Werwölfen berichteten. Auch die Bibel berichtet von einer Verwandlung, die für Schulze eine Transformation zum Werwolf darstellt. Es ist die Geschichte um den Babylonier-König Nebukadnezar, der Gott verärgerte und dessen Verstand daraufhin verwirrt wurde. Die Bibel berichtet, dass er sich in seinem Wahn wie ein wildes Tier gebärdete. Es musste sie geben, die Werwölfe. Der Gedanke, dass es doch keine Werwölfe gibt und dass er folglich auch kein Werwolf Serum herstellen kann kam Schulze nicht in den Sinn. Das Serum, mit dem er eine Division aus übermenschlich starken Kriegern züchten wollte, war für ihn zu wichtig als dass er sich mit der Möglichkeit des Scheiterns auseinandersetzte.

Schulze ging zu seinem Globus und betrachtete die kasachische Steppe. Sollte der Hinweis des Einheimischen die Reise wert sein? Zumindest schien ihm dessen Aussage ein Beweis zu sein, dass er auf der richtigen Spur war. Aber was, wenn die Werwölfe in der Zwischenzeit schon wieder weitergezogen sind? Jedenfalls musste sich Schulze keine Sorgen darüber machen, dass die Expedition nicht finanziert werden würde. Die Verzweiflung Hitlers machte ihn grosszügig und leichtgläubig. Er wollte unbedingt eine Armee von Supersoldaten mit übermenschlichen Kräften um mit ihnen den Krieg doch noch zu gewinnen. Auch andere wunderliche Projekte hatte er finanziert. Er liess Flugscheiben bauen und hatte einen portablen elektromagnetischen Sender zur Massenhypnose entwickeln lassen. Doch Erfolge gab es bislang noch keine. Deshalb liess der Führer Dr. Schulze an einem Serum forschen, das die Soldaten leistungsfähiger machte. Anfangs war Hitler von der Vorstellung, seine Soldaten zu Werwölfen zu machen, nicht begeistert. Die Vorstellung von Werwölfen war ihm viel zu unarisch und er hielt die Geschichten von Wolfsmenschen für Hirngespinste von Zigeunern, Osteuropäern und Juden. Seine Supersoldaten sollten gross, schlank, blond und blauäugig sein, keine haarigen Tiermenschen. Jedoch konnte Schulze ihn davon überzeugen, dass die Kräfte der auf diese Weise optimierten Soldaten die entscheidende Wende im Krieg bringen konnte.

Endlich entschied sich Schulze dafür die Reise auf sich zu nehmen. Er gab seiner Abenteuerlust und seinem Forschungsdrang den Vorzug gegenüber seinen wissenschaftlich kalkulierenden Gedanken.

Wenn es nach letzteren gegangen wäre, hätte er die Reise nicht auf sich genommen. Sie schien ihm zu wenig erfolgversprechend. „Sofort nach Sofia, Bulgarien aufbrechen. Erwarte euch dort beim Hauptbahnhof, Heil Hitler!“ tippte er in den Morseapparat. Er packte seine Reisetasche und sah sich ein letztes Mal in seinem Labor um. Sein Arbeitsort war ein ehemaliger Weinkeller, an den man einen unterirdischen Tunnel angebaut hatte, der zu einem abgelegenen Bauernhof führte. Zu jenem Hof, von dem er das „Rohmaterial“ für seine Experimente erhielt.

Sein Blick streifte über die leeren Tierzwinger, in denen noch Stroh lag. Er versuchte lange, sein Superserum aus Tieren zu gewinnen. Er entnahm aus dem Muskelgewebe von Ochsen ein Protein, das den Muskelaufbau beschleunigen sollte. Ein anderes Mal versuchte er, Muskelstränge von Pferden in die Oberschenkel von Menschen zu implantieren. Beide Versuche schlugen fehl, die Freiwilligen, an denen er die Versuche durchführte, stiessen die fremden Stoffe und Organe ab. Einmal wäre es ihm beinahe gelungen, Menschenblut mit dem Eisen aus Tierblut anzureichern, um so den Menschen leistungsfähiger und wacher zu machen. Aber der Stoffwechsel des Freiwilligen konnte sich auf die neue Energie nicht einstellen, die Eisenzufuhr musste unterbrochen werden. Als er vor Monaten begann, seine Arbeit auf die Erforschung von Werwölfen zu konzentrieren, liess er sich Psychotiker aus Irrenanstalten in sein Labor bringen, um sie zu untersuchen. Er suchte sich Patienten aus, die dem Wahn verfallen waren, Wölfe oder andere Tiere zu sein. Insgeheim erhoffte er sich, unter den Patienten einen richtigen Werwolf zu erwischen, der auffällig geworden war und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. Aber er kam auf diese Weise seinem Ziel nicht näher. Es gab keinen echten Wolfsmensch unter den Psychotikern.

Schulze dachte an seine Arbeit, an all die Rückschläge. Nur durch seine Überzeugung konnte er diese Strapazen auf sich nehmen. Dabei waren ihm der Nationalsozialismus, das Reich und Hitler im Grunde genommen egal. Er konnte sich gut vorstellen, für die Amerikaner zu arbeiten, falls die Nazis den Krieg verlieren würden. Für Ihn war nicht wichtig, für wen er forschte, sondern dass er seinem Forschungsdrang freien Lauf lassen konnte. Er war davon überzeugt, dass er mit seinen Forschungen und Experimenten die Evolution der Menschheit vorantreiben würde. Nun führte ihn das Objekt seines Forschungsdrangs in die asiatische Steppe. Was würde ihn dort erwarten? Er war froh, dass er sich diese Frage nicht beantworten konnte. Die Reise hätte sonst einiges an Abenteuerlichkeit verloren. Er griff seine gepackte Tasche, kehrte dem Labor den Rücken zu und verliess seinen Arbeitsort. Als er in die Altstadt trat wurde er vom Geruch blühender Blumen überwältigt. Ihm wurde bewusst, was für ein öder, muffiger Ort sein Kellerlabor war. Die grauen, schmutzigen Wände und der modrige Geruch des Kellerkomplexes waren nichts im Vergleich zu dem Blumenduft und den kräftigen Farben die er jetzt wahrnahm. Er schwelgte eine Weile in den reizvollen Eindrücken, dann machte er sich auf den Weg zum Bahnhof um den nächsten Zug nach Sofia zu erwischen. Unterwegs war er ganz in der Vorstellung vertieft endlich sein Ziel zu erreichen. Er würde mit seinem Erfolg die Menschheit ein Stück weiterbringen. Endlich könnten die menschlichen Schwächen überwunden werden. Er war sich sicher, dass er die Menschheit auf eine höhere Stufe der Entwicklung bringen würde.

Aufbruch in die Steppe

Dr. Schulze wartete schon seit einigen Minuten im Wartesaal des Hauptbahnhofs von Sofia. Endlich kam der Expeditionstrupp an. Man sah Krupp, dem militärischen Leiter der Gruppe, an, dass es ihm seltsam vorkam, keine Wehrmachtsuniform zu tragen und zur Begrüssung nicht „Heil Hitler!“ zu bellen. Schliesslich mussten sie sich so unauffällig wie möglich verhalten um die Operation nicht zu gefährden. Daher mussten sie alles vermeiden, was darauf hinwies, dass sie eigentlich Nazis sind. Der Rest des Trupps bestand aus 10 Soldaten unter der direkten Leitung Krupps, darunter waren ein Sprachkundler, ein Schreiber und ein Koch. Schulze kam nach der Begrüssung direkt zum Thema: “Wir werden morgen früh, 8:00 aufbrechen. Unser Flug geht um 9:30 nach Teheran. Von dort werden wir per Kraftfahrzeug in Richtung Norden zur Kasachensteppe fahren. Gibt es noch Fragen?“ „Die Steppe gehört doch den Sowjets, kann das nicht gefährlich werden?“ fragte einer aus der Truppe nach anfänglichem Schweigen. „Die Grenze zur Steppe wird höchstens schwach bewacht, die Sowjets haben dort nichts, was es zu bewachen gibt, keine Fabriken oder Ähnliches. Und glauben sie mir, ausser uns geht niemand freiwillig dorthin. So gesehen ist die Steppe selbst die Grenzwache der Sowjets. Sie vertreibt die Leute mit ihrer Unwirtlichkeit. Falls wir gegen alle Wahrscheinlichkeit doch von einer sowjetischen Grenzwache kontrolliert werden, habe ich von einem persischen Verbindungsmann englische Pässe herstellen lassen. Wir würden uns dann als englische Kommunisten ausgeben. Und falls uns Niemand Glauben schenken würde und sie uns festnehmen habe ich immer noch Zyankalikapseln für die ganze Mannschaft dabei. Aber so weit wird es nicht kommen. Weitere Fragen? Nein? Dann wünsche ich allen eine gute Nachtruhe.“ Schulze verliess die Truppe und zog sich in sein Hotelzimmer zurück.

Es war ein einfaches, kleines Hotel in der Nähe des Hauptbahnhofs. Müde von der langen Reise legte er sich ins Bett. Während er einschlief krochen seltsame Befürchtungen aus seinen Eingeweiden hoch. Was wäre, wenn meine Supersoldaten den Sieg doch nicht herbeiführen würden? Wenn meine Geheimwaffe versagen würde? Trotz diesen Gedanken, die in seinem Verstand schwirrten, wollte er sein Projekt unbedingt fortsetzen. Falls meine Kreaturen zu nichts taugen würden, verliert Deutschland eben den Krieg, dachte sich Schulze. Und ich könnte aus seinen Fehlern lernen. Mein Wissen würde so oder so weiterwachsen. Seine Befürchtungen kreisten noch eine Weile in seinem Verstand, ohne ihn ernsthaft zu beunruhigen. Dunkelheit umhüllte ihn und seine Gedanken verstummten, der Schlaf hatte ihn übermannt.

Wie geplant flog die illustre Expeditionstruppe nach Teheran. Für die meisten von ihnen war es eine gänzlich neue Erfahrung, orientalischen Boden zu betreten. Die drückende Hitze, die fremde Sprache, neue, würzige Gerüche und braungebrannte Männer mit wallenden Bärten, alles war anders als in der Heimat. Schulze kontaktierte gleich nach der Landung seinen persischen Verbindungsmann, der perfekt Englisch sprach. Sie trafen sich in einem Kaffee, in dem die meisten Gäste Wasserpfeife rauchten. Unauffällig reichte der Perser Schulze eine Mappe mit den Pässen, ebenso notierte er ihm auf einem Zettel die Adresse eines Autohändlers, der sie mit Fahrzeugen ausrüsten würde. Schulze reichte die Notiz an Krupp weiter und gab ihm zu verstehen, dass er die Autos organisieren soll.

Als die Fahrzeuge organisiert waren verabschiedete sich Schulze von seinem Verbindungsmann und machte sich mit seiner Truppe gleich auf den Weg in Richtung Norden. Die Fahrt zur Steppe erwies sich als unbeschwerlicher als gedacht. Es gab keine Grenzkontrollen, die Grenzen waren nicht einmal ausreichend markiert. Die staubigen Strassen, auf denen sie fuhren, wurden selten benutzt. Die Expedition führte sie in ein Niemandsland, für das sich keiner interessierte. Sie fuhren durch Dörfer die, je weiter sie nach Norden fuhren, immer unzivilisierter wurden. Eine Siedlung die sie passierten bestand nur aus einigen Holzhütten, die Bewohner hatten breite, schmutzig wirkende Gesichter, die von rabenschwarzem Haar umrahmt waren, ihre Kleidung war grob und schmucklos.

Schulze, der sein Leben hauptsächlich mit lesen, schreiben und studieren verbrachte und nie viel reiste, fühlte sich schon in Bulgarien wie in einer anderen Welt. In Persien wurde dieses Gefühl der Fremdheit noch übertrumpft. Doch nun, wo sie den europäischen Kontinet und die Zivilisation hinter sich gelassen hatten, kam sich Schulz vor wie wenn er in eine vollkommen andere Realität eintauchen würde.

Als sie die unbewachte Grenze zur Sowjetunion überquerten, verteilte Schulze die Zyankalikapseln. Er selbst wusste, dass sie nicht kontrolliert werden würden, aber er nahm eine leichte Unruhe in der Truppe wahr die er mit dem Austeilen der Kapseln besänftigte. Das Wissen, dass sie sich in einer ausweglosen Situation auf schmerzfreie Weise das Leben nehmen könnten, wirkte beruhigend auf die Soldaten.

Schliesslich kamen sie zum letzten Dorf vor der eigentlichen Steppe. Sie stellten ihre Kraftfahrzeuge bei einem Gasthaus ein und organisierten sich Pferde. Schulze fragte den Wirt des Gasthofs, der über mässige Englischkenntnisse verfügte, darüber aus, ob die Bewohner dieses Dorfes schon irgendwelchen seltsamen Wesen begegnet seien. Der Wirt, ein gelangweilt wirkender Klotz von einem Mann, schwieg zuerst eine Weile. „Es passieren viele merkwürdige Dinge in der Steppe…sie sollten nicht in die Steppe reiten, es könnte gefährlich werden…“. Schulze gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. “Wurden schon Leute von seltsamen, stark behaarten Kreaturen angefallen? Oder wurden Schafe gerissen? Ich bitte sie, jeder Hinweis kann uns hilfreich sein.“ Der Wirt blieb stumm. Erst als Schulze ihm etwas Bargeld über den dreckigen Tresen schob, wurde der Wirt gesprächiger. “Kommen sie mit…“ sagte er, kam hinter dem Tresen hervor und ging in ein Nebenzimmer. Schulze blickte zu Krupp, welcher kurz nickte und ihm zwei seiner Leute nachschickte, die an der Tür warten sollten. Im Nebenzimmer angekommen setzte sich der Wirt und hiess Schulze, es ihm gleich zu tun. „ Ich habe Geschichten von Reisenden gehört. Sie erzählten von fürchterlichem Geheul in der Nacht und seltsamen Fussspuren. Und von zerfetzten Kadavern. Tagsüber wurde auch schon ein Lager dieser seltsamen Leute entdeckt. Sie haben gelbe Augen, sagt man jedenfalls. Und essen rohes Fleisch. Die meisten von ihnen sehen ähnlich aus wie ihr Europäer, mit runden Augen und langen Nasen. Schon seit Jahrzehnten erzählt man sich dieselben Geschichten… Mein Grossvater erzählte mir als ich noch ein Junge war wie er diese Leute zum ersten Mal sah. Als er selbst noch ein junger Mann war tauchten sie bei ihm auf und wollten Zelte kaufen. Später kamen sie wieder um Wasser zu holen. Er hat sie dann noch einige Mal im Dorf gesehen bis sie sich dann nicht mehr blicken liessen…Seit diese Leute ankamen erzählt man sich auch diese Geschichten aus er Steppe.“

Schulze hörte voller Begeisterung zu. Der Wirt erzählte von dem europäischen Aussehen der Gestaltwandler, dies würde zu ihrer griechischen Herkunft passen. Und bevor sie aufgetaucht sind gab es noch keine Geschichte über nächtliches Geheul. Wahrscheinlich zogen die Werwölfe aus Griechenland nach Kasachstan, in die Steppe, deckten sich mit Zelten ein und lebten seither dort. Es gibt bis zur Gegenwart Erzählungen von diesen Kreaturen, also sind sie höchstwahrscheinlich immer noch in der Steppe…. Alles was Schulze noch zu tun hatte war, sie zu finden. Er bedankte sich beim Wirt mit Bargeld für die wertvollen Informationen, verliess das Nebenzimmer und besprach sich mit Krupp über das weitere Vorgehen. Sie waren sich einig, dass es besser ist, die Nacht im Gasthaus zu verbringen und zu Kräften zu kommen.