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Alexander Moritz Frey

Die Pflasterkästen

Ein Feldsanitätsroman

Elsinor Verlag

INHALT

Die Pflasterkästen

Nachwort von Stefan Ernsting

Quellennachweis

Zeittafel

Über den Autor

Über dieses Buch

Impressum

Die Pflasterkästen

 

1

Sie wurden zu dritt verschickt.

Sie wurden verladen an einem schwülen Septembernachmittag des Jahres 1915: ein Trambahnschaffner aus München, ein Bader aus Altötting – und einer, der in seinem Dasein bisher manches versucht und wenig erreicht hatte, übrigens ein Studierter.

Das war alles, und sie bildeten somit einen sehr kleinen Transport. Man ließ sie ohne Führer fahren; alle drei waren gewöhnliche Soldaten. Aber wohin denn sollten sie sich verlieren? Sie konnten nirgends Aufnahme als eben dort finden, wohin sie abgesandt waren, aufgegeben wie Pakete, wie Stückware mit Geheimadressen versehen, deren Chiffre sie nicht zu enträtseln wußten. Sie hatten kein greifbares Bild vor Augen von dem Platz, an dem sie nun ernsthaft aufgepflanzt werden sollten.

Sie hatten einfach so lange im Zuge zu bleiben, bis alles aussteigen mußte. Wohin der Zug fährt, wird ihnen nicht gesagt. Und sie fragen auch gar nicht; sie sind vom Garnisondienst her gewöhnt, hierhin und dorthin geschoben zu werden, ohne vorher zu erfahren, wohin, ohne nachher, weshalb.

Sie sind für den Sanitätsdienst bestimmt und in ihm in einer phantastisch-theoretischen Weise kümmerlich ausgebildet, sind nicht mehr jung, bewegen sich auf die Mitte der Dreißig zu, der Schaffner geht sogar schon an die Vierzig heran.

Der sie durch die Straßen der Garnison München geleitet hat – mitten auf dem Fahrweg, als seien sie eine raumverlangende, gewichtige Truppe – , dieser Transportführer, der nur bis auf den Bahnhof mithält, hat sie in ein sehr schmutziges Abteil dritter Klasse steigen lassen. Das Coupé sieht aus, als befördere es seit Kriegsbeginn ununterbrochen, ohne eine Stunde aufatmen zu können, Soldaten, und als sei es niemals mehr gereinigt worden. Vertrocknete Wursthäute, Kolonnen von Tabakstummeln, zerfetzte Schokoladepackungen häufen sich zu Hügeln. Ein kleines Chaos, geschaffen aus Abfällen.

Die Garnisondienst-Augen sind solches nicht gewöhnt. Sie sehen es befremdet, sie sehen es langsam erheitert, Vertrauen fassend und in wachsender Genugtuung. Hier ist ein winziges Abbild des Krieges – von der willkommeneren Seite – hier schon beginnt er – im Gegensatz zur gut aufgeräumten, mit Wasser und Besen immer noch streng gefegten Mannschaftsstube daheim.

Der führende Infanterieoffizier, der einen knallblau schreienden Rock trägt und einen noch wilder blitzenden Helm, wischt sich den Schweiß unter den Brillengläsern weg und starrt mißbilligend in den Wagendreck, dann aber wider Willen achtungsvoll in die Gesichter der drei von ihm hierher Geschleppten, denn nun fahren sie hinaus ins Feld, er jedoch bleibt weiter daheim – freilich schuldlos, freilich nur seiner fehlerhaften Augen wegen.

Um so mehr strafft er sich im engen betreßten Kragen und drückt den Helm härter aufs Haar, das unterm Leder dampft und trieft, denn der Herbst dieses Jahres ist ungewöhnlich heiß. Er sagt nichts, als die drei Leute im Abteil ihre grauüberzogenen Helme heftig ins Tragnetz legen, beinahe werfen, und mit schon ungebundeneren Griffen die schirmlosen Mützen aus den Tornistern zerren.

Der Trambahner spürt die verhaltene Hochachtung, die bekämpfte Verlegenheit des Vorgesetzten, der draußen und unter ihm steht, und er sagt in einem nie noch gewagten Ton von Vertraulichkeit: «Herr Unteroffizier, aber hier weht schon ein bissel ein freierer Wind!»

Der Angesprochene wird sofort unnahbar. Er ist froh, mit einem Schlag wieder große Distanz zu haben, man hat ihm dazu verholfen, er sagt: «Daß ihr euch da nur nichts einbildet! Ihr sollt was erleben, wenn ihr keine Disziplin haltet. Daß mir keine Klagen an den Ersatztruppenteil kommen, während ihr unterwegs seid ! Schlechtes Verhalten wird sofort hinaus gemeldet an euer Feldregiment, und ihr werdet draußen nicht weniger bestraft als hier. –Sie, wie heißen Sie – der Stöger, setzen Sie die Mütze gerade, die Kokarde hat genau über der Nasenwurzel – »

Unversehens, mit einem Ruck gerät der Zug ins Rollen, er fährt los ohne Abfahrtszeichen, er fährt einfach davon, als sei das nichts, was er da unternimmt. Die Türen sind offen geblieben, sie werden von den Mitfahrenden ohne Eile herangeholt.

Der Unteroffizier ist vom plötzlichen Ende seiner Mission überrascht. «Also dann alles Gute», ruft er obenhin im dienstlichen Ton. «Und daß mir nicht – !»

Es ist unnötig, den Satz zu Ende zu sprechen, die drei sind schon zu weit weg. Er kann nur noch ein respektloses Lächeln von Gesichtern auffangen, die sehr unordentlich aus den Fenstern gebeugt sind.

2

Sie rollen. Sie sehen noch eine Weile rückwärts und verspüren, wie die mächtigen Hallenbögen des Bahnhofs zusammenschrumpfen. Mit ihnen schrumpft zur Mausefalle die ganze Stadt, der sie entkommen sind, entronnen aus Draht und Gitter. Sie würden vielleicht noch ungehemmter an Freiheit glauben, wenn sie nicht jetzt in stärkerer Fahrt an den großen Brauereien vorbeiklapperten.

«Ja ja, mein Lieber», seufzt der eine. «Aber ein Bier haben die da draußen manchmal auch.»

«Jetzt geht’s dahin», sagt der andere.

Doch der Trambahnschaffner, der Holzer, weiß was Besseres. «Ihr seids ja wie die Jungfern beim Beten», schilt er. «Vermehren wir lieber die Wursthäut’.» Und er packt sofort Proviant aus. Er fängt zu essen an, obwohl sie erst vor einer Stunde in der Kaserne ausgiebig gefüttert worden sind.

Bald beschäftigen alle drei ihr Gebiß. Man ist doch an irgend etwas geklammert, wenn man einen Brotlaib umfaßt hält, man hält noch ein Stück Heimat fest. Und außerdem ist Zeit ausgefüllt, solange man kaut.

Es dunkelt, es wird Nacht, es dämmert von neuem, sie rollen an großen Städten vorbei, immer um sie herum, nie in die Personenbahnhöfe, stets ins Gebiet der Güterverladestellen. Sie werden getränkt und gespeist, zusammen mit Herden anderer, die auch unterwegs sind, und hier schon geht die rasselnde Wirtschaft mit den Feldkesseln los, die noch endlose Jahre dauern soll – mit den Kesseln, die nie mehr richtig sauber werden, die bald verbeult und muffig sind und bleiben.

Sie erleben, wie heftige Sonne nicht enden wollend herunterknallt auf ihr niederes Wagendach, und wie in nächtlichen Gewittern ein johlender Regen ihre kleine Behausung fast ersäuft. Die Ritzen der Türen sind Quellen für kleine Rinnsale, langsam fangen die leeren Zigarettenschachteln zu schwimmen an. Sie ziehen die Beine vom Boden auf die Bänke. Im Hieb der Blitze, die zu den schmalen Fensterchen hereinpoltern, sehen sie ihre Gesichter maskenhaft gegeneinander gerichtet, grünlich und starr. Es sieht nicht schön aus, und der Holzer will über dumme Verlegenheiten hinweghelfen, drum sagt er: «Mir scheint, wir ham a kleine Nachtübung, Vorübung für da draußen – mit Überschwemmung und Donnerkrach.»

Er weiß nicht, wie grauenhaft er die Wahrheit spricht, wenn er betont, daß diese «Übung» nur «klein» ist.

Dann wird es ruhiger, das Unwetter zieht ab, und der Zug läuft sanft wie auf Watteschienen – nach all dem Spektakel. Sie schlafen strumpfig ein, zusammengeknüllt, den tranigen Stiefel über sich im Gepäcknetz, den ungewaschenen Kopf auf dem Kalbfell des Tornisters. Sie schlafen, mehr ermüdet von den vielen Gedanken ins Leere als körperlich erschöpft.

So kriechen sie tagelang dahin. Manchmal stehen sie auch einen halben Tag. Dann wieder schleichen sie eine Stunde rückwärts; darüber zerbrechen sie sich den Kopf. Der Trambahner, der über Geleise und Rangieren am meisten Bescheid weiß von den dreien, vermutet, man müsse aus plötzlichem Grund die Strecke frei machen. «Wißt ihr, die brauchen vielleicht Platz für einen Hofzug, für einen Zug vom Großen Generalstab.»

Aber der Bader Stöger sagt zaghaft und lächelnd mit einer vom Glück verklebten Stimme: «Am Ende ist gar der Krieg schön stad zu End’ gegangen, und sie fahren uns wieder heim.»

Alle drei bekommen ein Leuchten in ihre verschmutzten Gesichter, sie glauben nicht an das, was der Bader spricht, aber es ist so verlockend, daß die lächerliche Hoffnung einfach mit ihnen durchgeht.

Der Zug geht nicht durch. Er trödelt immer verlorener. Da steht er abermals. Und steht so lange, in den Abend, in die Nacht hinein, daß man ihn und seine Insassen überhaupt vergessen zu haben scheint.

Vergessen zu sein, ganz heimlich von dieser gefahrvollen Oberfläche des Krieges weggesunken zu sein, wäre auch ganz schön. Nutzlose Überlegung – um Mitternacht kommen sie jählings in Schwung, heftiger denn je nach «vorn», kälter, härter, scheppernder, als gelte es eisern, sämtliche Verspätungen dieser Tage einzuholen.

Wenn sie einmal an einer Fütterungsbaracke, zwischen hundert rußigen Geleisen, einen Heeresbericht angeklebt entdecken, sehen sie nach, ob der Krieg nicht doch mittlerweile aus ist. An den ersten drei Worten erkennen sie, daß er eifrig weiter geht – und sie stellen das Lesen ein, denn das übrige interessiert sie nicht recht.

Später, wie sie wieder rollen, kommen sie auf den Heereszettel zurück. Eigentlich muß die Schweinerei ja bald zu Ende sein, denn – und nun beginnen die Debatten. Sie werden so geführt, unabänderlich logisch, mit den krampfhaften Argumenten für das nahe Friedensbedürfnis der Feinde, wie sie wachsend verzweifelt drei weitere Jahre hindurch von Millionen Mündern geführt worden sind.

Sie überschreiten die Grenze nach Belgien hinein. Der Schaffner fühlt sich halb als Held, halb freilich auch immer unerbittlicher von den Brauhäusern der Vaterstadt getrennt. Immerhin dünkt man sich jetzt wichtiger als je zuvor im Leben, hie und da bekommt man auch jemanden von der Zivilbevölkerung zu sehen, wenn der Eisenbahnwagen günstig irgendwo neuerdings ins Stocken gerät, vor einem Hause – häufig hier im Lande, wo sich Haus an Haus zu reihen scheint – eine fremdglotzende Arbeiterfrau, ein verschüchtertes Kind, und da wäre es angebracht, ein wenig stattlicher dreinzuschauen als man es tut, denn man ist seit Tagen nicht nur ungewaschen, das wäre nicht so schlimm, man ist auch unrasiert.

Doch wozu fährt ein Bader mit? Der Bader muß sein Messer aus dem Tornister holen. Ein Kaffeerest im Feldkessel ersetzt das Wasser für die Seife – und die Schaberei kann beginnen. Sie währt lange, denn sie wird durch das Fahren des Zuges unterbrochen; nur wenn er steht, kann man das Messer ansetzen. So erleidet der Schaffner das Schicksal, drei Stunden eingeseift dazusitzen. Er hat es unglücklich getroffen.

Ernstlich mit sich zu Rate gehen muß man aber erst, als man vom Belgischen ins Französische gerät. Schau an, die Franzosen haben Bahnhöfe und Stellwerke gebaut, die nicht viel anders aussehen als die unsern. Und Schienen und Weichen scheinen sie genau so zu legen wie wir. Warum vertragen sie sich eigentlich nicht mit uns? Warum meinen sie, auf uns schießen zu müssen, so daß wir auch auf sie schießen?

Der Schaffner sagt: «Daß die Menschen auf dera Welt sich net vertragen können. Wie schön könnt’s jetzt hier sein, wenn die, wo hier sonst leben, einen Verstand hätten. Aber einen Verstand hat halt der Franzmann durcHaus net. Streiten muß er mit uns, der Bazi. Da kannst nix machen.»

Auch die beiden anderen finden, daß es «hier schön sein könnt», obwohl gerade nichts weiter zu sehen ist als eine graue, berußte Mauer, ein verwahrlostes, unbenutztes Stellwerk mit zerbrochenen Scheiben und ein Berg von rostenden Konservenbüchsen in einer schwarzen Lache, die aus schadhaften Wasserröhren ungewollt gespeist wird.

3

Endlich landen sie in Lille. Sie landen in einer Halle, die Ähnlichkeit hat mit jener, aus der sie abgefahren sind. Ist am Ende gar nichts Besonderes geschehen? Will sich sozusagen nichts ins Kritische verändern? Wär’s möglich, daß der Krieg sich noch einigermaßen harmlos anließe? Man gilt als Frontsoldat, man ist einer – und spürt von der Front kaum mehr als die daheim, dank einem glücklichen Zufall, der einen in die taube Ecke geschmissen hat, bis endgültig Schluß ist? Denn Schluß muß ja bald –

Da ist – zum erstenmal wieder – irgend so ein Vorgesetzter und schreit: «Alles aussteigen!» Und man sieht in den Abteilen nach, ob keiner die Ankunft verpennt hat oder gar unter die Bank gekrochen ist oder verborgen im Abtritt hockt, denn was kann man wissen? hier hört man nämlich – Hier hören die Neulinge zum erstenmal Artilleriefeuer; und wenn es auch ganz gedämpft detoniert, als habe man um ihretwillen den Himmel mit Tüchern verstopft –: sie wissen, daß es echt ist, daß es keinen unschädlichen Übungen dient, daß es nur ein inbrünstiges Ziel hat: Menschen zu töten oder wenigstens so weit zu verstümmeln, daß sie ihrerseits nicht mehr töten können.

Der vertrauenerweckende Eindruck des Bahnhofs, der fast heute noch ein Heim der einst gesitteten Welt sein könnte, liefen nicht verdächtigerweise nur feldgraue Gestalten durch ihn hin, hält nicht lange vor, denn gleich draußen, unterm Portal, überfällt sie die drohende, wüste, langweilige Fratze des Krieges: zum Geripp zerfressene, verstümmelte Häuserreihen, eine theatralische Fassade des großen Zerstörerwillens, ein läppisch-düsterer Straßenzug aus Schutt, den man geschichtet und geordnet hat, und der in seiner Wohlanständigkeit doppelt schauerlich wirkt.

Sie sagen nichts, die drei. Sie denken nur daran, daß das auf Abbildungen viel weniger eindringlich war. Vorläufig sind sie noch so etwas wie Vergnügungsreisende wider Willen. Sie haben keine Arbeit zu verrichten, sie tun keinen Dienst, sie sind unterwegs; auf eigene Verantwortung dem Ziel zu, das immer noch unbekannt ist. Sie genießen einen Stadtteil in sortierten Trümmern, sie betrachten die Sehenswürdigkeit – und dann betrachten sie einander. Sie entdecken, wie sie sich heimlich mustern, einer will dem anderen die Folgen dieses Anblicks vom Gesicht ablesen: Erstaunen, Entsetzen, Befriedigung oder Gleichmut?

Der immerdar beredte Schaffner zieht den Mund ganz unter den Bart zurück. Der Friseur Stöger, mit ewig leidenden großen Kinderblicken, er, der selber zu Hause neun Kinder hat und das zehnte erwartet, läßt die allzu weichen braunen Augensterne hilflos umhergehen. Der dritte aber, der wortkarge Funk, sagt, nachdem sie lange genug geschwiegen haben: «Wenn hier einmal wieder aufgebaut wird, müßten eigentlich alle zusammen helfen.»

«Wer: alle zusammen helfen?» fragt der Schaffner mißtrauisch. «Meinst uns auch?»

«Alle, die beim Spiel des Über-den-Haufen-Schießens mitgemacht haben, also auch wir.»

«Du kommst mir recht. Ich für mein Teil geh heim, wenn der Schwindel aus ist. Wie käm’ denn ich dazu, den Franzosen die Häuser aufzubauen?»

«Nicht weil du sie zusammengeschossen hast, Holzer, oder weil unsere Landsleute das getan haben, für die wir hier stehen, sondern weil nach dem gemeinsamen Spaß des Zerstörens, zu dem die Kriegführenden einander verhelfen, doch die gemeinsame Freude des Aufbauens kommen müßte.»

«Wer red’ denn vom gemeinsamen Spaß des Zerstörens?»

«Ich. Den muß es doch geben. Den gibt es im letzten und innersten. Sonst wäre ja das alles nicht möglich. Man jagt doch nicht jahrelang hinter Unlustgefühlen her, ohne daß es Lustgefühle wären.»

«Du spinnst. Schaun wir lieber, daß wir unser Quartier finden.»

Sie hatten in einem Bureau des Liller Bahnhofs ihre Frachtbriefe, unter denen sie befördert worden waren, abgenommen bekommen. Auf neuen Zetteln stand die Adresse ihrer Unterkunft für die Nacht und der Hinweis, am nächsten Morgen auf der Stadtkommandantur weiteren Befehl entgegenzunehmen.

Sie fanden ein Haus in einem hübschen Stadtviertel – so eine Art Reisendenhotel für durchkommende Frontsoldaten.

Über eine kleine verwahrloste Treppe ging es hoch hinauf in ein Zimmerchen, darin standen drei bettartig zusammengenagelte Gestelle, auf denen Matratzen lagen. Über die Matratzen erstreckten sich Leintücher, sie waren recht mitgenommen, aber es waren doch einstmals weiße Tücher. Auch eine blecherne Waschschüssel fand sich vor, auf lehnelosem Stuhl. Man war also in der Tat in eine Art Hotel garni geraten, mit Blick über die Dächer einer anscheinend friedlichen Stadt – Blick in einen zahmer durchsonnten Herbstabend hinein, durch den die Schwalben flitzten –, wenn nur der ferne Donner, verstopftes Geschützgrollen nicht gewesen wäre. Das Grollen mit dem Anspruch auf schrecklich ernst gemeinte Tat war zum jubelnden Geschrill der Schwalben so widersinnig, daß man es fast mit Erfolg leugnen konnte.

Es dunkelte schon, als die drei das Treppchen wieder hinunterpolterten. Ihr Herbergsvater, ein Gefreiter, der nicht mehr voll frontdienstfähig war, verkündete, sie könnten sich von der Madame, die mit im Hause wohnte, etwas kochen lassen – selbstverständlich für ihr Geld. «Im übrigen müßt ihr mit eurer Ration auskommen – ihr seid ja für drei Tage von Haus aus verpflegt.»

«Die drei tage sind aber mit dem heutigen herum», sagte der Bader bekümmert.

«Euer Pech, wenn man euch so lange spazierengefahren hat. Ich kann euch nichts geben. Schaut, daß ihr morgen von der Kommandantur was bekommt, eh’ ihr abgeschoben werdet zur Truppe.»

«Zur Truppe, Kamerad», griff der Bader auf und zog seinen Zettel hervor. «Könnt jetzt ihr entziffern, wohin man uns einteilt?»

«Weiß nicht», sagte der Gefreite gleichmütig und sah gar nicht erst auf das Geschriebene. «Die Kommandantur gibt euch Bescheid. Ihr werdet halt angefordert worden sein, ihr werdet Lücken ausfüllen.»

«Lücken?»

«Rindvieh, für solche, die weggeschossen worden sind. Ihr seid Krankenträger, vielleicht kommt ihr zu einer Sanitätskompagnie.»

«Wie ist’s dort?»

«Faules Leben. Faule Köppe. Bessere Drückeberger. Ich hätt’ nicht mögen dabei sein. Ich hab’ meinen steifen Arm ehrlich erworben.»

Die drei schielten einander an, halb gedemütigt, weil sie die Genfer Binde trugen. Aber strahlte nicht der Bader versteckt? Er sagte vorfühlend: «Da sind die wohl ein bisserl besser daran – die von der Sanitätskompagnie – als die Infanterie im Graben? Aber wieso gibt’s dann dort auch Lücken?»

«Weil die Artillerie weit reicht und überall hintrifft, Schafskopf. Die Artillerie hat schon Feldlazarette zusammengeschossen. Manchmal müssen sie auch vor in die Linie, die von der Sanitätskompagnie. Ist ihnen gesund, den faulen Köppen. Da erwischt’s dann manchen, gerade manchen von ihnen, weil sie unerfahren sind, was Schuß und Deckung anbelangt.»

Jetzt wird er wieder ganz mutlos, der Bader, und seine schönen Augen flehen die Wand an um Rat. Soll er sich nun besser wünschen, gleich zur Infanterie selber zu kommen?

Inzwischen hat Madame, rundlich und schlampig, aber sachlich gelandet bei den Jahren einer Matrone, etwas Zweifelhaftes in einer Pfanne durcheinander gebraten. Immerhin riecht es nach heißem Fett, und es ist, im Gegensatz zum dauernden Feldkesselsuppengeschlamp, etwas Kompaktes.

Die drei essen von richtigen Tellern, mögen sie auch nur mit einer alten Zeitung abgewischt worden sein; sie trinken etwas dazu, das Apfelwein sein soll, einen Cidre, und der Schaffner kommt in Laune, während er so dasitzt, Rock offen, Hose entriegelt, als wäre er bei Weib und Kind. Er holt sein griffestes Messer aus der Tasche und stochert behaglich die Reste des Essens aus den Zähnen zusammen. Er sagt unter einem Rülpser, den er gut erzogen mit den Fingern zudeckt: «Hurenhäuser soll’s ja hier in Masse geben.»

«Warum? Willst du hin?» grinst der Gefreite. «Ich darf euch aber heute nicht mehr aus dem Haus lassen.»

Da wissen sie mit einem Schlag wieder, daß keine Minute ihres Lebens ihnen gehört. Reisende, abgestiegen in einer Art von kleinem Hotel? Keine Spur! Gefangene des Krieges – ehe sie noch der Gegner gefangen hätte. Ist es da – gemessen an der Freiheit, nach der man sich sehnt – nicht eigentlich gleichgültig, von welcher Seite man gefangen gehalten wird?

Der das denkt, ist Funk. Aber der Schaffner Holzer sagt: «Zu die Huren? Ich will weiß Gott nicht zu ihnen, mein Lieber. Ich frag nur, weil ich davon gehört hab und weil ich’s nicht hab glauben wollen, weil’s eine Schand’ ist. –Möchst am End’ du hin, Stöger?»

Der kleine Bader schüttelt erschrocken den Kopf. Seine Blicke klagen. «Ich hab ein treues Weib und neun herzige Kinder», sagt er in einem Ton, als lese er den Satz ab aus der Romanfortsetzung seiner Zeitung in Altötting.

Die anderen lachen. Der Schaffner schlägt ihm auf die Schulter: «Neun Kinder? Kamerad, da hast du das deine geleistet. Den schäbigen Rest brauchst du nicht bei den Weibern in Lille zu verplempern.»

Aber von Rest will der Bader nichts hören. «Ein zehntes ist unterwegs», erklärt er mit demütigem Stolz. «Und ich weiß nicht, ob es das letzte sein wird. Unserem Herrgott ist ein schönes Eheleben wohlgefällig.»

Sie lachen noch mehr über ihn. Der Gefreite sagt: «Stimmt schon – nicht das mit dem Herrgott mein ich –: das mit den Weibern. Es gibt Häuser für Offiziere und Häuser für Mannschaften. An guten Tagen stehen sie vor den Türen an, wie unsere Frauen daheim vor den Geschäften, wenn’s was Rares zu kaufen gibt. –Was willst du auch machen hier, damit du nicht verreckst vor Langerweile? Ein Späßchen muß der Mensch haben, und ausräumen muß er von Zeit zu Zeit auch einmal.»

«Ich glaub, die ganz vorn sind», sagt der Schaffner angriffslustig, «die brauchen nicht viel ausräumen, weil nicht viel in sie hineingeräumt wird. Aber ihr hier hinten, ihr freßt immer noch gut und reichlich, und ihr schlaft bequem. Das gibt böse Träume.»

«Du kannst dich ja vor die Haustür auf die Steinplatten legen», höhnt der Gefreite.

«Das tu ich nicht. Aber mein Gerstl verläppern, das tu ich auch nicht.» Er wird großartig, er übersieht den Gefreiten, er wendet sich an die zwei Schicksalsgenossen: «Jetzt, wo wir einmal da sind, wollen wir unsere ganze Kraft dem Vaterlande weihen, was Kameraden?»

Der Bader stimmt zaghaft zu, Funk sagt garnichts, aber der Gefreite dreht ärgerlich die fliegenverdreckte elektrische Birne aus der Leitung und befiehlt ins Dunkel hinein: «Jetzt müßt ihr schlafen gehen. Morgen früh um sieben muß ich euch abliefern.»

Madame hatte sich gleich zurückgezogen, nachdem sie mit Einkassieren fertig war. Sie tappen an einer Kammer vorbei, aus der fettige Schnarchtöne quellen.

Sie sind wieder oben in ihrem Zimmerchen und liegen bald auf den Gestellen, die Betten sein sollen. Sie wanken und ächzen schwachbeinig und ausgeleiert umher wie Schiffchen im Sturm.

«Das meine geht auf und ab wie eine Wiegen», meckert der Schaffner. «Du wirst alleweil mehr zum Deppen bei dem Betrieb, hab ich’s nicht immer gesagt. Jetzt legen s’ dich gar in eine Hutschen, wie einen Säugling. Mein Lieber, wenn s’ bei die Huren drüben auch solchene Betten haben, nacha derfst dich aber festklammern am Weib, sonst fliegst aus’m Sattel.»

Niemand antwortet.

Der Bader hat einen Rosenkranz zwischen den gefalteten Händen. Betet er oder schläft er schon?

Funk liegt lange wach. Er hört Geräusche aus Nebenhäusern, Gesang, Gepolter. Er hört den Tritt einer Wache auf dem Pflaster. Er hört einen Hund heulen, erst nah und kurz, dann immer ferner und zunehmend kläglich. Ein Zug pfeift, Bahnwagen rollen, erst verschlafen, dann hastiger, dann prallen Puffer in einem unbeschwingten Klang grell aufeinander. Es folgt ein Stöhnen, als hätten sich die Wagen die Räder verrenkt.

Vielleicht bereitet sich der Zug, der uns hergebracht hat, darauf vor, wieder heimzufahren. Die Wursthäute, die Zigarettenschachteln, um unsere vermehrt, fahren nach Hause. Wir nicht. Wir für lange nicht. Ach was, welch ein Optimismus, sagen wir doch gleich: vielleicht nie mehr.

Er horcht neuerdings. Nun ist die Stadt still. Er hört nichts mehr. Doch – er hört –: mit versteckter Gewalt den nächtlichen Himmel weich erschüttert vom Geschützdonner.

Er hört es in den Schlaf hinein, zu jeder Minute des unerquicklichen Schlummers, als die große, den ganzen Raum erfüllende Drohung, die nicht mehr weichen soll.

Er träumt, aber eigentlich ist es kein Traum, denn es ist ja kein Schlaf, daß der Himmel selber feuert, und daß Gott ein Artillerist geworden ist.

4

Sie sitzen wieder einmal in der Bahn, aber in einer Feldbahn. Es geht sehr provisorisch zu mit den Weichen und den Schwellen und dem kreischenden, wildgeschüttelten Wagenmaterial, das in einer lächerlichen Hast, ohne recht von der Stelle zu kommen, dahinzottelt. Es ist vom Gegner übernommenes ausgeleiertes Zeug ältester Sorte.

«Die Franzosen haben dir ein Gelump im Verkehr!» mißbilligt der Schaffner. «Das wenn wir daheim unsern letzten Bauern zum Umeinanderkutschieren anbieten wollten, die würden uns selber damit in die Hölle schicken.»

Kann sein, daß nun wir darin zur Hölle fahren, denkt Funk. –Also nicht zur Sanitätskompagnie, sondern zur Infanterie!

Denn mittlerweile ist offenbar geworden, wohin sie transportiert werden. Die Liller Kommandantur hat ihnen neue Ausweise gegeben, darauf steht, daß sie einer selbständigen bayerischen Reservedivision angehören und innerhalb dieses Verbandes einem Infanterieregiment.

Die letzte Strecke zu ihm ist nicht mehr lang. Sie sollen noch vor Mittag im Bereich ihrer Truppe sein. Am frühen Morgen, Kaffee und Kommißbrot im Bauch, aber ohne Wegzehrung, sind sie aufgebrochen. «Verpflegt werdet ihr von nun ab von eurem Feldtruppenteil. Und je eher ihr ihn erreicht, umso eher gibts was zu fressen.»

Das soll wohl anspornen, sich in die Arme der Front zu werfen? In der Tat, es macht Eindruck. Der Bader sagt unterwegs, aus einem großäugigen Vorsichhinträumen heraus: «Ich glaub gar, wenn man ausreißen oder seine Ankunft nur verzögern wollt’, man würde glatt verhungern dürfen.»

Der Schaffner gibt ihm recht. «Das ist schon so genial eingerichtet. Du kriegst nix, du kannst dir nix kaufen, ohne daß du nicht irgendwo eingereiht bist.» Er hebt den neuen Kommandanturzettel in die Höhe. «Ich glaub’, du kannst keinen Furz mehr lassen ohne Ausweis.»

«Die Sanitätskompagnie hätten wir verpaßt», seufzt der Bader. «Das Essen soll dort gut sein.»

«Das Essen wird immer besser, je weiter du hinten bist», belehrt ihn der Holzer. «Hinten im Operationsgebiet ist’s recht, aber noch weiter hinten, in der Etappe, da wird’s erst zünftig. Mein Bruder, der in Gent hockt, wird fett wie eine Sau.»

«Sie werden uns auch beim Regiment nicht hungern lassen», beruhigt ihn der Stöger.

Der andere ist empfänglich für Tröstungen. «Es wird überhaupt halb so schlimm werden, wie wir vielleicht meinen. Alte Leut’ wie wir sind – man kann von uns nicht gar so viel verlangen. Und verpflegen, das ist wahr, muß man unsereinen da heraußen richtig. Sonst geht’s überhaupt nicht.» Er ist offensichtlich bereit dazu, es andernfalls nicht recht gehen zu lassen. Er versagt schon in Gedanken ausgiebig, man sieht es seiner leidenden Miene an.

Es ist ihnen gesagt worden, bis zu welcher Haltestelle sie mittrödeln sollen: bis La Vallée. Das Züglein hält unzählige Male, und der Trambahner ist in einer großen verkappten Unruhe, heftig buchstabiert er drauf los bei jedem Wort, das er vom Fenster aus erhaschen kann, das Französische zerbricht ihm fast die Zunge, aber er will La Vallée nicht versäumen, er will nicht zu spät aussteigen, denn er glaubt, man fahre ihn schnurgerade in die Front hinein. Und da ist möglichst bald aussteigen das Ersprießlichste. Daß sie der Front entlang bummeln in etwa zehn Kilometer Abstand, das wissen sie nicht.

Wie friedlich es ausschaut ! Welch schöner Herbsttag, den eine leise verschleierte Sonne umgoldet. Da und dort schwimmen auf der Ebene Baumgruppen, üppige Inselchen, ihr Grün ist noch nicht im mindesten gelblich überhaucht. Es scheint keinen Tod zu geben – hier, wo er doch in jeder Ackerfurche zu Hause sein sollte.

Freilich, der Acker: er sieht merkwürdig aus. Man muß bei ihm an verstaubtes Gerümpel denken. Aber nehmen wir an, er feiert nur, er ruht sich aus. Auch die Kanonen scheinen zu feiern, man hört keinen Laut, wenn der Zug hält und sechs Ohren angestrengt in die Luft lauschen.

Sollte man sich fahrenderweise so weit entfernt haben von der Quelle des gestrigen Geschützdonners? Sollte man doch sozusagen ungeahnten Wonnen entgegeneilen – einem Regimente zu, das aus irgendwelchen, kaum glaublichen Glücksschlägen in Abrahams Schoße ruht?

Fast hätten sie ihre Station verpaßt. Sie halten wieder einmal, neben einer geschlossenen Bahnschranke und einem Wärterhäuschen. «Wir müssen hinaus! La Vallée – dort steht es!» schreit Funk und weist auf ein kleines, halbzersplittertes Schild.

Sie stürzen schwerfällig weg, mit den dicken Tornistern, den schwertlangen Seitengewehren, den großen Pistolen, den Verbandtaschen am Gurt.

«Wo geht es nach Château la Vallée?» fragt Funk einen Soldaten, der herumlungert und die Schranke bedienen soll, die er aber aus Bequemlichkeit geschlossen läßt. Weil links und rechts ein Graben ist, der noch unbequemer wäre, müssen die drei unterm Schlagbaum durchkriechen. Den dünnen Bader zieht dabei die Last des Rückens, die Last der Koppel so sehr nieder, daß er der Länge nach in das zermahlene Erdreich der Straße gerät. Den Soldaten freut es herzhaft; jetzt schafft er die Schranke in die Höhe und gibt Auskunft. «Nach La Vallée? Dorthin.»

«Ist es weit?»

«Nein.»

«Wie weit?»

«Nìcht weit», sagt er und kehrt ihnen den Rücken. Sie bieten ihm keine Unterhaltung mehr.

Die drei beginnen durch staubige Erde zu waten. Der Feldweg ist zerfahren und ausgetrocknet. Unter einer sommerlich starken Sonne, die alles Herbstliche der Luft besiegt hat, bricht ihnen nach hundert Schritten der Schweiß aus. Sie bleiben schnaufend stehen, Funk sieht sich um: der Zug, den sie so stürmisch verlassen haben, verharrt immer noch hinter der offenen Bahnschranke. Wie unnötig war ihre schuljungenhafte Eile!

Sie stapfen wieder vorwärts – aber da hat nun doch wohl mit einem dumpfen Prall der Zug sich in Bewegung gesetzt – ganz plötzlich, seltsam plötzlich und umfassend laut – oder was war das?

Im nächsten Augenblick wissen sie, was es war, denn es wiederholt sich: Geschützdonner, viel stärker, viel näher als je bisher. Alle kindischen Hoffnungen versinken. Das schmeißt einen um im ersten Moment, aber im zweiten erkennt man, daß es gut so ist. «Was für ärgerliche Narren wir gewesen sind, in was für alberne Träume haben wir versucht uns einzulullen ! »denkt Funk erbittert. «Weg damit ! Hinein in die Wirklichkeit.»

Aber die Wirklichkeit selber ist immer noch auf Täuschung erpicht, sie tut sich freundlich auf. Schloß La Vallée wird nach einer Stunde erreicht – einer Oase gleichend, in einem prangenden Park unter schimmernden Wogen von Grün, ein guterhaltenes Prunkgebäude, das nach Festen, nach Tanz, nach schönen Frauen aussieht.

Mittlerweile, bis jene vielleicht wiederkommen, Hausen hier Verpflegungsoffiziere und ähnlich beschauliche Leute von der großen Bagage.

Immerhin des Regiments, zu dem die drei Krankenträger gehören. Insofern sind sie endlich angelangt. Aber nur, um gleich weitergeschickt zu werden. Denn ein Leutnant, vor den sie geraten, sagt ihnen, hier hätten sie gar nichts zu suchen, sie hätten sich unverzüglich zu melden beim Regimentsarzt; der sei in Fournes.

Trotzdem versteckt ein gutmütiger Unteroffizier sie in einem grünen Busch, nahe bei einer Feldküche, die aber nicht arbeitet, sondern repariert werden soll, und füttert sie mit einem duftenden Himbeergelee, mit schmackhafter Büchsenwurst, gezuckertem Kaffee und einer halben Käsekugel.

«Ihr müßt nicht meinen, daß es eilt», flüstert er. «Laßt euch Zeit. Der Krieg läßt sich auch Zeit. Ihr kommt nicht zu spät.»

Die drei bedanken sich und wollen doch weiter, denn zu sehr steckt ihnen die Garnisondisziplin noch in den Knochen.

«Nichts zu danken», sagt der Unteroffizier. «Wir haben’s hier ja reichlich, wir versorgen die Stäbe. Aber glaubt nicht, daß ihr das alle Tage kriegt. Was ihr da gefressen habt, war Offiziersfutter. Nichts zu danken, wie gesagt, aber wenn’s mich einmal erwischt, hoff ich an einen von euch zu geraten, der mich ordentlich verbindet.»

«Wie soll Sie’s erwischen, Herr Unteroffizier?» fragt der Stöger harmlos. «Wo Sie doch hier schön heimlich im Schlösserl sitzen.»

«So? Schön heimlich? Heut und morgen noch. Glaubt ihr, daß wir hier alt werden? Es kommt noch ganz anders.»

«Es kommt noch ganz anders?» forscht Holzer unsicher. «Aber, wie’s auch kommt, auf alle Fälle sind wir vor diesem zweiten Winter daheim.»

«Sonst wär’s gefehlt», bekräftigt der Unteroffizier zum Abschied.

Sie waten wieder durch eine Landschaft, die unmerklich trostloser wird – sie hätten nicht sagen können, weshalb. Stieg Trostlosigkeit aus ihnen selber? Dort hinten ließen sie, wie eine Fata morgana, Château La Vallée in seiner Vollkommenheit zurück – vor ihnen aber tat sich nach einer Stunde die von Granaten vielfach angenagte, manchmal auch stärker zerbissene Häuserzeile eines Dorfes auf, das Fournes hieß.

Und somit waren sie angekommen.

Genug Soldaten ihres Regiments auf allen Wegen, von denen sie zurechtgewiesen wurden.

Sie grüßten brav jeden Gefreiten – und wurden belächelt. Sie zogen zaghaft ein in einen halbwegs gut erhaltenen Schulbezirk mit Garten, Hof und Gebäuden, darin Revier und Sanität Hausten.

Hier gibt es genug Menschen mit rotem Kreuz auf weißer Binde, gleich ihnen. Ein Sanitätsfeldwebel nimmt sich väterlich-streng ihrer an.

«Aha, die Angeforderten vom Ersatztruppenteil. Auf euch warten wir lange. Aber die daheim lassen sich ja Zeit mit dem Nachschub. Habt ihr Hunger? Laßt euch in der Revierküche was geben. Dem Herrn Regimentsarzt werdet ihr morgen vorgestellt, in der Revierstunde. Der teilt euch ein. Für heut könnt ihr ausruhen. Da – in dem Keller ist noch Platz. Dort könnt ihr ablegen. Es sind sogar augenblicklich ein paar Lager frei.»

Sie tappen Steintreppen hinunter in einen muffigen, stockfinsteren Abgrund. Beim Streichholzschein sehen sie ungeheure Franzosenbettstellen mit durchgebrochenen Matratzen, aus denen Seegras heraushängt; ein paar Pferdedecken liegen umher, der Boden sieht aus wie der in ihrem Eisenbahnwagen. Ein Tisch trägt einen klebrigen Überzug von gesüßten Kaffeeresten.

Nachher sitzen sie fremd im Hofe, sprechen leise miteinander und warten auf den Abend. Niemand kümmert sich um sie, und sie geben es auf, hochzuspringen, wenn ein Unteroffizier an ihnen vorbeikommt. Denn jeder läßt ihre Ehrenbezeigungen so gelangweilt und erstaunt beiseite liegen, daß sie sie nicht mehr zu machen wagen.

«Wo ist eigentlich die Front?» erkundigt sich einer gedämpft, als könne man etwas Bösartiges aufwecken, wenn man zu laut ist.

«Dort», sagt der andere.

«nein, dort», meint der dritte und weist in die entgegengesetzte Richtung.

Es ist schon ganz Nacht, da entschließen sie sich zu ihrem Keller. Aber siehe da, diesmal ist unten Licht, und jemand sitzt am klebrigen Tisch mit nacktem Oberkörper, lacht und beschäftigt sich angeregt mit seinem Hemd.

«Grüß Gott», wünscht der neugierige Stöger. «Was treibst denn du, Kamerad?»

«Ah, ihr seid neu», sagt aufmerksam der Fremde, «sonst könntst du net so saudumm daherfragen, Kamerad. –Meine Läus’ zupf ich zusammen.» Und er zeigt eine blecherne Zigarettenschachtel, in der es winzig und ekelhaft schwerfällig umherwimmelt.

«Einundvierzig auf einen Schlag, net wenig, was?» lacht er. «Da, Kamerad Neuling, ich schenk’ sie dir.» Und er schüttet sie dem überrumpelten Stöger hinten hinter die Halsbinde.

Der Bader ist sanft verzweifelt, aber er läßt sich von dem Spaßmacher bald trösten. «Kriegen tut sie heraußen unfehlbar jeder. So hast du sie gleich richtig.»

Sie legen sich nieder. Sie löschen die Kerze. Funk hat sich nicht im mindesten entkleidet. Nicht einmal die Haken seines Kragens öffnet er, auch die Mütze nimmt er nicht ab. Heimlich bindet er die Ärmel seines Waffenrocks mit Schnürchen zu, mit Bindfaden von Liebesgabenpaketen, denn er ist fest entschlossen, keine Läuse zu bekommen.

Aber mitten in der Nacht, aus schlechtem Schlaf, fährt er hoch, weil etwas über seinen Schenkel hinwellt, gegen die Brust herauf. Er fühlt unter den Fingern für den Bruchteil einer Sekunde ein weiches Fellchen, er denkt für einen Sekundenbruchteil an eine Katze, denn er liebt Katzen – aber dann wird er nadelscharf in den Handballen gestochen, gebissen wird er, und er begreift in eiskaltem Schreck und Ekel, daß eine Ratte sich die Störung durch seine Hand verbeten hat.

Für den Rest der Nacht, den er schlaflos verbringt, hört er ihrer viele rascheln, polternd rennen, plump springen, nagen, schlürfen, quieken, sich raufen und sich begatten.

5

Sie sind eingeteilt worden.

Morgens um acht haben sie zusammen mit Leichtkranken und obenhin Verwundeten, die bei der Truppe verbleiben, zur Revierstunde antreten müssen. Revierstunde wird abgehalten im ehemaligen Turnsaal dieses ehemaligen Pensionates.

Vorher haben sie Gelegenheit gehabt, sich zu waschen, nach vier Tagen zum erstenmal. Im Hof steht ein Pumpbrunnen. Während der eine den Schwengel geschwungen und das Grundwasser heraufgeholt hat, hat der andere den Kopf unter den Strahl gehalten, unter ein brakiges, leise faulig riechendes Wasser. Es trinkend zu «genießen», ist streng verboten.

Nun stehen sie bescheiden erfrischt und überhaupt sehr bescheiden in einem Winkel des Saales, dessen Steinfließen Kühle ausdünsten. Sie sollen ganz zum Schluß an die Reihe kommen.

In Raumesmitte sind etwa vierzig Mann versammelt, die ärztlicher Behandlung bedürfen: Fingerentzündungen, Furunkel, Rheumatismen, Katarrhe, Verstopfungen, Durchfälle, leichte Verletzungen am Drahtverhau, leichte Prellungen und Streifschüsse. Die Wunden sind bloßgelegt, die Mullbinden säuberlich aufgewickelt in den Händen der Kranken, denn gleiches Material wird wiederholt benützt, es gibt nicht täglich eine neue Binde; man muß sparen, schon im Herbst 1915.

Die Brustkatarrhalischen stehen ohne Wickel und frieren leicht, aber alles muß wie auf den Schlag bereit sein, denn im Augenblick, da der Arzt ins Zimmer tritt, läuft die Behandlung ab ohne eine Sekunde Unterbrechung, gleich dem dahinfegenden Schicksal.

Die drei ranghöchsten Sanitätsleute der drei Bataillone halten ihre Namenlisten, ihre Fiebertabellen in den Fäusten. Zwei: der vom ersten und der vom dritten Bataillon sind ehrgeizig wie scharfe Konkurrenten. Jeder will die besseren Heilerfolge aufzutischen haben. Beide sind tüchtig und zuverlässig. Der vom ersten ist obendrein persönlich mutig und kaltblütig, dabei gutartig, ja väterlich zu Untergebenen, jedoch dem Saufen und dem Jähzorn zugeneigt. Er heißt Josef Asam, ist Zimmermann und stammt aus der Moorgegend nahe dem Wendelstein. –Der vom dritten Bataillon war Krankenpfleger in der Chirurgischen Klinik zu München; er bildet sich’s nicht nur ein – er hat das größere Wissen, er beherrscht halbwegs ein Dutzend lateinische Bezeichnungen, er läßt sich hie und da in wissenschaftliche Gespräche mit den unteren Ärzten ein, denen er in praxi entschieden überlegen ist, er, Franz Fähnlein. Beim Dienst auf dem Verbandplatz hat er immer gleich heraus, ob eine Knochenfraktur vorliegt oder nicht, während der dreiviertel fertig studierte herummurkst, herumtastet und des Opfers Unbehagen vergrößert. Auch zu schienen verstehen die alten Feldwebel besser, schneller, schmerzloser als die jungen Doktors.

Der dritte, der Sanitätssergeant vom zweiten Bataillon, wird von den beiden anderen gebremst verachtet: er ist ein Schlamper, er hat seine Salbentöpfe, seine Bücher nicht in Ordnung, stets schmiert und schwindelt er da etwas zusammen, ob sich’s um Salben oder um Aufzeichnungen handelt, sein Krankenraum ist besonders dreckig, seine Requisiten sind mangelhaft, seine Thermometer meist zerbrochen – aber was das Ärgerlichste ist: seine sanitären Ergebnisse sind eigentlich nicht schlechter als die der beiden andern. Er ist «wissenschaftlich» total ungebildet – ja er glaubt erbärmlicherweise an Wunderkuren und wendet sie heimlich an. Die beiden anderen verpetzen ihn deshalb nicht bei den Ärzten, aber sie empfinden ihn als unwürdigen Kollegen. Was macht er für Sachen? Im Frühjahr, als rätselhafte Darminfektionen leichter Art grassiert haben, hat er seinen Patienten Froschlaich zu schlucken gegeben. Und sie sind rascher mobil geworden als alle anderen Kacker. Feldwebel Fähnlein, der Wissenschaftler, der sogar mit psychischen Einflüssen arbeitet, höhnt: «Eigentlich ist es begreiflich: vor lauter Grausen, wenn du nicht stirbst, mußt du da ja gesund werden.»

Ihm, der mit Froschlaich und Spatzendreck verkappt arbeitet, ist der Kameraden Ablehnung auf geistigem Gebiet gleichgültig. Er wurstelt weiter, im Gehirn wohl nicht ganz richtig, mit gelegentlichen epileptoiden Erscheinungen behaftet, nervösen Anfällen ausgesetzt, daher von den Ärzten nachsichtig behandelt, die zu erkennen glauben, daß er im ganzen doch willig, eifrig und brauchbar ist. Er heißt Anton Malz, er hat bis zum Krieg als Hühneraugenoperateur und Naturheilkundiger in Augsburg gelebt.

Der Regimentsarzt tritt schnellen Schrittes ein – besser sagt man: er tritt auf; seiner wenigen Vorzüge einer ist, daß er pünktlich zu sein pflegt. Man braucht nicht stundenlang zu warten wie bei einem anderen gewissen Herrn vom zweiten Bataillon. Die Feldwebel schreien ihrer Herde zu: «Achtung, stillgestanden ! »– und die kranken Knochen deuten wenigstens die Geste einer strafferen Haltung an. Der Regimentsarzt läßt den dicklichen Körper auf einen Sessel vor einem Pultchen nieder, das man aus einem der früheren Klassenzimmer hier hereingetragen hat – einem Schülerpult mit Papier und Tinte, vor dem er nun etwas albern hockt, indes er selber kommandiert: «Rührt euch!»

Und dann beginnt man sogleich und rapide. Es ist üblich, mit etwa vierzig Kranken in einer guten Stunde fertig zu werden. Das sind noch keine zwei Minuten für den Mann. Eigentlich interessieren den Regiments- und Stabsarzt Dr. Nohl nur die Furunkel. Bei den Erkrankungen der Atmungsorgane fragt er lediglich nach den Temperaturen; sind sie nicht besorgniserregend (und wann wären sie es? höchst selten), so erfolgt nichts als die knappe Anordnung, wie bisher weiter zu machen. Aber Furunkel haben seine sachlichliebevolle Aufmerksamkeit. Denn er liegt da in einem chevaleresken und spannenden Streit mit anderen Sanitätsoffizieren vom Regiment. Sie behandeln so – er so. Er ist für Ausbrennen, jene sind für Schmieren, für Diät, für Baden oder für Luft und Sonne. So brennt er denn eigenhändig mit irgendwelchen glühenden Drähten und Nadeln, hantiert, daß es zischt und stinkt, daß Wehlaute ertönen und den drei Neulingen in der Ecke ganz übel wird.

Aber nun naht der Augenblick ihrer eigenen Angelegenheit. Dr. Nohl hat Zettelchen und Ausweise geschrieben: für einen Zahnkranken zum Divisionszahnarzt, hinter zur Sanitätskompagnie; für einen Bindehautkranken zurück zur Augenstation; für einen Hochfiebernden ins Feldlazarett (mit dem Wort «Typhus» und einem Fragezeichen dahinter, denn hier vorne wird nicht auf Bakterien untersucht); für einen des Trippers Verdächtigen (weiß der Henker, woher er ihn bezogen haben soll). Jetzt erhebt er sich ächzend, steckt eine Zigarre in Brand und wendet sich an die Feldwebel, die eifrig in Salbentöpfen umherstochern und Binden an kranke Beine legen: «Asam, noch was?»

«Jawohl, Herr Stabsarzt, drei neue Mann wären da.»

Sie müssen aus ihrer dunklen Höhle hervormarschieren und in Linie antreten. Der älteste, Holzer mit dem großen Schnauz- und dem kleinen Knebelbart, übernimmt es, für sie zu sprechen.

«Ihr kommt vom Ersatztruppenteil aus München? Ihr seid als Krankenträger ausgebildet?»

«Jawohl, Herr Doktor.»

Das dickliche Gesicht des Arztes schwillt unter der zerknitterten Feldmütze rot auf. Ein Unwohlsein scheint ihn zu befallen, er öffnet am Hals einen Haken der Litewka. «Was bin ich? Wie reden Sie mich an, Sie –?»

Schweigen. Die drei haben noch nie einen Stabsarzt gesehen. Daheim sind sie in jener phantastisch primitiven Weise von einem Unterarzt ausgebildet worden; zu dem haben sie Herr Doktor gesagt.

Der Stabsarzt wendet sich angewidert ab. Er beherrscht sich elegant, er macht eine wegwerfende Handbewegung. «Asam, belehren Sie diese unglaublichen Burschen.»

Der Feldwebel Asam ist noch zorngeschwollener als der Offizier. Er macht ein Gesicht, als sei er verantwortlich für die Dummheit dieser Leute und sei mit abgekanzelt worden. Er poltert, aber durch alle Wut hindurch in gutmütigen Grunztönen: «Ja, habts denn ihr überhaupt keine Ausbildung net? –Stehts net da wie ein Sauhaufen, nehmts gefälligst eure Haxen zusammen! Wißts ihr net, daß ihr vor dem Herrn Stabsarzt steht? Wie redet man den Herrn Stabsarzt an? Und woran erkennt man ihn?»

Dr. Nohl winkt gelangweilt ab. «Lassen Sie es gut sein, Asam. Das weitere, wenn ich draußen bin. –Ist eure übrige Vorbereitung fürs Feld auch so mangelhaft? Besonders kräftig seht ihr nicht aus – bis auf den einen. Asam, daß man uns immer wieder so dürftiges Material herausschickt. Gerade wir brauchen stämmige Leute. Aber die Herren zu Hause haben immer noch keine Ahnung vom Krieg – woher sollten sie eigentlich auch? Sie meinen: Heftpflaster kleben und Aspirintabletten verteilen ist keine körperliche Arbeit. –Was seid ihr von Beruf?»

Sie nennen ihre Tätigkeit im zivilen Dasein. Funk gibt zögernd an, er sei Schriftsteller.

«Was schreiben Sie?»

«Novellen, Romane», sagt Funk mühsam.

«Wie heißen Sie? Ganzen namen, bitte.»

«Christian Friedrich Funk.»

Der Stabsarzt schüttelt den Kopf. «Kenne ich nicht. Wie heißen Ihre Bücher? Wo sind sie erschienen?»

Funk nennt Namen.

Wieder verneint der Arzt. «Also trödeln wir nicht länger. Wo sind die auszufüllenden Lücken, Asam?»

Der Feldwebel erstattet geläufig Bericht. Er ist ja vorbereitet wie ein ScHauspieler aufs Stichwort. Ein Mann fehlt bei der dritten Kompagnie, einer bei der achten, einer bei der dem Regiment angegliederten Pionierkompagnie.

«Also den ältesten da, wie heißen Sie? –ja, den Holzer, er ist bald vierzig, unglaublich – den zu den Pionieren. Ein gutes Pöstchen, mein Lieber, halten Sie sich, sonst fliegen Sie wieder! Wir versuchen es dort mit Ihnen, weil Sie nicht mehr der jüngste sind – obwohl Sie der kräftigste sind. Die beiden anderen nach Belieben, Asam, Sie machen das schon. Morgen!»

«Morgen, Herr Stabsarzt. – Achtung!» schreit der Feldwebel. Aber der dickliche Herr ist schon verschwunden.

6

Der Bader Stöger kommt nach dem Machtwort des Feldwebels Asam zum ersten Bataillon, der «Schriftsetzer» Funk zum zweiten.

«Schriftsetzer sind Sie», hat Asam entwölkt eine kleine Unterhaltung begonnen, nachdem er sich noch ausgeschimpft hat, als gälte es lästigen Schleim abzusondern. «In welcher Druckerei haben Sie zuletzt gearbeitet?»

«In keiner. Ich bin Schriftsteller.»

«No ja, Steller oder Setzer, das kommt doch wohl aufs gleiche hinaus», verteidigt Asam verhüllt unsicher seine Kenntnisse.

Eigentlich hat er recht, denkt Funk. Für hier draußen hat er recht. Hier verwischen sich bis zum Unkenntlichen alle zivilen Kategorien. Sie aufrechterhalten zu wollen, mutet grotesk an. –Und er widerspricht nicht, niemals wieder. Für die Mannschaften bleibt er auf Jahre hinaus der Schriftsetzer; darunter können sie sich wenigstens etwas vorstellen.

Aber für die drei, die miteinander hierher gepilgert sind, schlägt jetzt die Trennungsstunde. So wenigstens drückt sich in gemachter Lustigkeit der verzweifelte Bader aus. Er fürchtet, sich ganz in die Fremde zu verlieren. Dabei hat er Grund, zufrieden zu sein, denn sein Bataillon ist vorläufig in Ruhe. Um es zu erreichen, muß er freilich den langen Weg zurücktappen, den er gestern mit den beiden anderen zusammen hergelaufen ist – zurück und noch weiter nach hinten, denn sein Bataillon liegt in Santes, einem Fabrikvorort, unfern von Lille. Vielleicht, bis er eintrifft, steht seine Kompagnie bereit, um wieder nach vorn zu marschieren – und so kann es mit ihm hin- und hergehen. Doch was tut’s? Immer mehr verliert sich das Gefühl, ein Soldat sei da, um Sinnvolles zu leisten. So viehmäßig ist das Ziel alles Soldatischen, der Krieg, daß er gewissermaßen nur ausbalanciert werden kann durch vollkommen sinnwidriges Dahinleben in den Mordpausen.

Funks Bataillon ist in der vordersten Linie, demnach hat er Dienst zu tun auf dem Verbandplatz. Wo ist der? Vorn bei Fromelles, eine gute Wegstunde von hier. Es kommt im Lauf des Vormittags einer von dort herein, um die Post für alle Sanitätsleute, mit denen der Verbandplatz augenblicklich besetzt ist, aus den Kompagniekanzleien in Fournes abzuholen. Dem soll er sich anschließen.

Während also die beiden, Stöger und Holzer, sich in Bewegung setzen, muß Funk weiterhin warten. Holzer hat eigentlich nur querüber zu gehen, zu den Holzbaracken der Pioniere, die hinter der Dorfstraße – aus mehr als ihr, der langgestreckten, besteht ein nordfranzösisches Dorf kaum –, hinter der Straße also in einer Erdmulde liegen.