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Zum Buch

»DIE FRANZÖSISCHE ASIENFORSCHERIN IST EINE DER BEMERKENSWERTESTEN FRAUEN DES 20. JAHRHUNDERTS

DIE ZEIT

Auf Einladung des Maharadscha von Katmandu reiste Alexandra David-Néel im Winter 1912/13 nach Nepal, ein für Europäer damals noch verbotenes Land. Eine »nützliche Einführung« wollte sie anschließend schreiben, die politische Bestandsaufnahme eines Landes, das sich zwischen Tradition und Modernität neu definieren musste – einer »Modernität«, wie die unter dem britischen Protektorat stehenden Nachbarländer Indien und Tibet sie bereits zeigten. Und einer »Tradition«, wie sie sich im abgeschiedenen Nepal noch lange hielt. Witwenverbrennung, politische Klassen und Kasten, urtümliche Opferrituale – die aufgeklärte Journalistin wirft einen kritischen Blick auf diese Gesellschaft.
Aber ihr Bericht aus dem Herzen des Himalaya ist weit mehr als eine politische Bestandsaufnahme: es ist die faszinierende Geschichte einer Buddhistin, die, auf der Suche nach dem Geburtsort Siddharta Gautamas, in den duftenden Gärten von Lumbini wandelt, auf Buddhas Spuren heilige Stätten und verbotene Tempel aufsucht, die »Lüfte des göttlichen Himalaya« genießt, dem Geheimnis einer blauleuchtenden Lotosblüte nachspürt, und mit Hilfe ihrer buddhistischen Weisheit und Meditation todesmutig einem Tiger begegnet.

DIE KÜHNE REISENDE

Alexandra David-Néel, geboren 1868 in Paris, Forschungsreisende, Gelehrte, international erfolgreiche Autorin von über 30 Büchern, als Journalistin für die Rechte der Frauen kämpfend, verheiratet, aber immer solo unterwegs, interessierte sich als junge Frau zunächst für den Anarchismus, später für Theosophie und Buddhismus, studierte von 1888 bis 1890 als erste Frau an der Sorbonne und am Pariser Institut für orientalische Sprachen und debütierte 1895 erfolgreich als Opernsängerin in Hanoi. Ab 1888 verbrachte sie, unterbrochen von Lehraufträgen in Paris und Vortragsreisen in Europa, den größten Teil ihres Lebens in Asien. In Tibet wurde sie als erste Europäerin in den Stand eines Lama erhoben. Hundertjährig ließ die reiselustige Dame noch einmal ihren Reisepass verlängern. Sie starb im Alter von 101 Jahren in Dignes les Bains.

Eva Moldenhauer lebt in Frankfurt am Main. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte, vier Jahre Frankreich-Aufenthalt. Seit 1964 arbeitet sie als Übersetzerin. Sie übersetzte u. a. Werke von Claude Simon, Jorge Semprún, Claude Lévi-Strauss, Gilles Deleuze, André Gorz, Rachid Boudjedra, Ágota Kristof, Frantz Fanon. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen: u. a. den Celan-Preis 1991, nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2005, Wilhelm Merton-Preis 2007, Chevalier dans l’ordre des Arts et des Lettres 2012, Preis der Akademie der Künste Berlin 2012.

Susanne Gretter studierte Anglistik, Romanistik und Politische Wissenschaft in Tübingen und Berlin. Sie lebt und arbeitet als Verlagslektorin in Berlin. Sie ist die Herausgeberin der Reihe DIE KÜHNE REISENDE.

Alexandra David-Néel

Im Herzen des
Himalaya

Unterwegs in Nepal

Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Mit einem Vorwort von Susanne Gretter

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Alexandra David-Néel
© Maison Alexandra David-Néel/
Ville de Digne les Bains

INHALT

»WAS DER WILLE EINER FRAU VERMAG«

Vorwort von Susanne Gretter

VORWORT DER AUTORIN

KAPITEL I

KAPITEL II

KAPITEL III

KAPITEL IV

KAPITEL V

»WAS DER WILLE EINER FRAU VERMAG«

»Alle meine Reisen, besonders die in unerforschte und ›verbotene‹ Regionen waren – beinahe zwanghaft betriebene – Traumverwirklichungen. Schon von meinem fünften Lebensjahr an, als frühreifes kleines Ding in Paris, sehnte ich mich über die engen Grenzen, in denen ich wie alle Kinder meines Alters gehalten wurde, hinaus. Damals gingen meine Wünsche, über die Gartenpforte hinweg, auf die daran vorbeiführende Straße und hinaus in die unbekannte Ferne.«

Das »frühreife kleine Ding«, das zum ersten Mal als fünfjährige bei einem Spaziergang in den Wald von Vincennes ausbüxte und erst von einem Gendarmen wieder eingesammelt werden konnte, hat später weitere Entdeckungsreisen unternommen, um der familiären Enge zu entkommen. 1883 nutzt die Fünfzehnjährige einen Urlaub mit den Eltern in Ostende, um entlang der belgischen Küste nach Holland zu wandern, von wo sie sich nach England einschifft. »Ich kehrte erst zurück, als mein Geldbeutel leer und mein Taschengeld aufgebraucht war.« Zwei Jahre später reist sie mit dem Zug in die Schweiz, um von dort zu Fuß den St. Gotthard nach Italien zu überqueren. Zu ihrer Erbauung hat sie eine Ausgabe mit den Lebensweisheiten des griechischen Philosophen Epiktet dabei. Endstation ist der Lago Maggiore, wo sie von ihrer Mutter abgeholt wird, wieder war das Geld aufgebraucht.

Sie war ein unbezähmbares und gleichzeitig einsames Kind, die am 24. Oktober 1868 in Saint-Mandé in der Nähe von Paris geborene Louise Eugénie Alexandrine Marie David. Ihr Vater Louis war dreiundfünfzig, ihre Mutter Alexandrine sechsunddreißig Jahre alt, als sie nach vierzehn Ehejahren zum ersten Mal Eltern wurden. Die katholische, aus dem belgischen Mittelstand stammende Alexandrine hatte sich einen Sohn gewünscht, der, daran zweifelte sie nicht, Bischof werden würde. (1870 wird sie den ersehnten Sohn bekommen, aber er stirbt, nur sechs Monate alt.) Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter war von Anfang an schwierig, Alexandra sah in ihrer Mutter »eine verantwortungslose, oberflächliche, unausgeglichene Person, die andere unglücklich macht«, und hielt sich an den Vater: »Mein armer Papa, der einzige Mensch, den ich auf der Welt über alles geliebt habe … Ich bin so sehr seine Tochter, nur seine Tochter, und ich hasse alles an mir, was ich von meiner Mutter geerbt haben könnte.« Die kleine Alexandra, ein Tomboy? Im 19. Jahrhundert? Bekannt ist, dass sie sich ein Leben lang gegen die traditionelle Frauenrolle wehrte. Und ganz sicher war ihr der protestantische Louis David ein großes Vorbild. Der Lehrer und Journalist, Sozialist und Freimaurer, der 1848 zu den Aufständischen der Pariser Kommune gehörte, vereinte schließlich alles in sich, was die sehr konservative Mutter ablehnte.

Sie ist so sehr seine Tochter, dass sie sich schon bald die politische Haltung des Vaters zu eigen machte. »Habe ich Dir je erzählt«, schrieb sie als Erwachsene an ihren Mann, »dass ich an der ›Mauer der Föderierten‹ war, nach der Schießerei, als man in aller Eile die Leichen in den zu diesem Zeitpunkt ausgehobenen Gräbern verscharrte … Du wirst Dich wohl fragen, wer mich da hingeführt hatte. Es war mein Vater, der wollte, dass sich mir die menschliche Grausamkeit möglichst eindrücklich einprägen sollte.«

Die Rede ist vom 28. Mai 1871, jenem Tag, an dem vor der berühmten Mauer des Friedhofs Père Lachaise die letzten Aufständischen der Pariser Kommune erschossen wurden. Die zweieinhalbjährige Alexandra war mit ihrem Vater in Paris unterwegs und musste das mit ansehen.

Alexandra ist sechs Jahre alt, als die Familie nach Brüssel umzieht. Sie versinkt in den phantastischen Welten ihres Lieblingsschriftstellers Jules Verne, spielt Klavier, blättert in einem Atlas, den ihr der Vater geschenkt hat und landet immer wieder bei der Seite mit der Landkarte Chinas. – »Meine Tochter hat eine weiße Haut, doch ihre Seele ist gelb.« Und inzwischen vielleicht auch protestantisch, denn der Vater hatte das katholische Mädchen noch einmal taufen lassen. Sie besucht zunächst ein calvinistisches Internat, später aber eine Klosterschule der Karmeliterinnen. Während sich die katholischen Mitschülerinnen zum täglichen Gottesdienst einfanden, macht sie sich, zusammen mit ein paar weiteren, von den Andachten ausgeschlossenen andersgläubigen Mädchen ihre eigenen Gedanken zu religiösen Fragen. Einer vierzehnjährigen amerikanischen Mitschülerin erklärt die zwölfjährige die Dreifaltigkeit: »wenn Gott spricht, ist er das Wort, und wenn Gott denkt, ist er der Heilige Geist.«

»Ich war von Kind an auf die verschiedenen Religionen neugierig«, erinnert sie sich später und schreibt, wieder an ihren Mann: »Ich hatte Dir oft gesagt, dass ich mit dreizehn beschlossen hatte, Missionarin zu werden und mein ganzes Leben einem frommen Werk zu opfern. Derart verwurzelte Neigungen sind stark.«

Sie konnte damals noch nicht wissen, dass sie einmal ihr ganzes Leben als »Missionarin« dem Buddhismus widmen wird. Als Alexandra 1886 die Klosterschule verlässt, würde sie nämlich am liebsten Medizin studieren, aber die Mutter kontert den Berufswunsch sehr entschieden: »Sie sind wohl von Sinnen, liebe Tochter, Sie wissen nicht was Sie sagen, Arzt? Die Männer verstehen schon nichts davon, geschweige denn eine Frau.«

Die Mutter hat anderes vor mit ihrer Tochter. Sie soll jetzt am belgischen Hof in die Gesellschaft eingeführt und damit vom Makel der Herumtreiberin befreit werden. Ein Foto zeigt sie im weißen Ballkleid und mit einem weißen Band im dunklen Haar, wunderschön sieht sie aus, aber die Tänzer weist sie ab, flüchtet und versteckt sich im Schlosspark.

Ein Mädchen von solcher Widerspenstigkeit, bar jeden Sinns für Konvention und Anstand, hat alle Hoffnung auf einen Ehemann verspielt, muss die Mutter gedacht haben und bringt sie bei einem Tuchhändler unter, bei dem sie ihr Geld angelegt hat. Dort soll sie Stoffe verkaufen. Aber Alexandra war »nicht im geringsten eitel. Kleider und Putz sagten mir nichts, ich verachtete den Komfort … Lange vor meinem fünfzehnten Lebensjahr hatte ich mich heimlich ungewöhnlichen Bußübungen unterzogen: Fasten und körperlichen Kasteiungen. Die Anleitung dazu hatte ich aus den Lebensgeschichten gewisser Heiliger, die ich in der Bibliothek einer Verwandten aufgestöbert hatte … Verschiedene Angewohnheiten sind mir geblieben, unter anderem eine von den Stoikern übernommene – den verehrten Meistern meiner Jugend –, nämlich auf einem Brett zu schlafen.«

Sie ist so sehr die Tochter ihres Vaters, dass sie in Brüssel immer öfter zu den Zusammenkünften im Haus von Elisée Reclus geht, einem Freund ihres Vaters, Schriftsteller und Geograph, Freimaurer, Freidenker, Sozialist und Pariser Kommunarde. Zuhause erzählt sie, dass sie dort Geographieunterricht bekommt, in Wahrheit wird sie in diesem Refugium für Sozialisten, Dichter und Denker zur Anarchistin und Feministin.

Sie schreibt, beeinflusst von Reclus, 1888 ihr Manifest »Pour la vie«, das allerdings erst zehn Jahre später publiziert wird. Im Mai 1968 wird die Hundertjährige ihrem Verleger vorschlagen, diesen Text noch einmal zu veröffentlichen. Denn die Thesen der jungen Alexandra David, ein Rundumschlag gegen die Kirche, die Gesellschaft, die Armee, die Rolle der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft, unterscheiden sich wenig von denen der Anarchisten des französischen Mai 1968.

1888 verlässt Alexandra David Belgien und reist nach London, vordergründig, um die englische Sprache zu lernen, in Wahrheit, weil sie in den Bannkreis der Gnostiker geraten ist und sich der Theosophischen Gesellschaft anschließt, in deren Bibliothek sie zum ersten Mal mit philosophischen Schriften aus Indien und China konfrontiert wird.

Sie befasst sich mit Okkultismus, Reinkarnation und Meditation, liest die Schriften von Raja-Yoga und anderen Esoterikern. Und weil diese Schriften zum Teil in Sanskrit verfasst sind, beschließt sie, diese Sprache zu lernen. Dazu besucht sie in Paris Vorlesungen an der Sorbonne und dem Collège de France. Mit den nächtlichen Séancen, dem Tische-Rücken der Theosophen will sie nichts mehr zu tun haben: »Dieses Boheme-Leben amüsierte mich eine gewisse Zeit, schließlich langweilte es mich … Schlaflose Nächte lassen sich schwer mit dem Studium in Einklang bringen.«

Sie studiert ab 1889 bei den Professoren Philippe Édouard Foucaux und Silvain Lévi – beide Koryphäen auf ihrem jeweiligen Fachgebiet – vergleichende Religionswissenschaft, Sanskrit und Chinesisch. Foucaux »war der erste, der mir von Tibet erzählte, und ich ahnte damals kaum, was für eine Rolle dieses Land später in meinem Leben spielen sollte.«

1889 ist auch das Jahr, in dem Alexandra David heftig um den rechten Glauben ringt. Sie besucht den Gottesdienst, verkehrt in protestantischen Kreisen und kommt zu der Einsicht, dass »religiöse Dinge, Versammlungen, Lektüren, Predigten … wie starker Alkohol sind, der uns berauscht macht, wenn wir das erste Mal davon kosten, doch nach und nach gewöhnt man sich daran, und sie zeigen nicht mehr Wirkung als ein Glas Wasser … Ich kenne nichts Traurigeres als jene Gläubigen, die die heiligen Dinge verschleißen, bis das blanke Gewebe zum Vorschein kommt … die niedergeschlagen sind, wenn sie die Sonntagspredigt verpassen, welche sie doch nur verhöhnt, während sie andächtig zuhören.«

Im Paris des Fin de Siècle kommt Asien immer mehr in Mode. Japanische Drucke an den Wänden bürgerlicher Wohnungen, ein Buddha aus Jade auf der Anrichte, man trägt zu Hause mit Kirschblüten bestickte Kimonos und fächelt sich mit japanischen Seidenfächern Luft zu.

Und so gibt es neben den Kirchen noch einen anderen »Tempel« in Paris. Es ist das Musée Guimet, das Alexandra David jetzt regelmäßig besucht, weil dort »mehr Mysterien, mehr Esoterik und mehr große Geheimnisse zu entdecken sind als in allen verstreuten Sekten«. In diesem Museum hat sie ihre erste Begegnung mit dem großen Gautama – dem Ur-Buddha, der als Statue über allem thront. Sie besucht die Bibliothek, wo »stumme Lockrufe von den Seiten der Bücher aufflattern, Indien, China, Japan, alle Winkel der Erde jenseits von Suez die Aufmerksamkeit des Lesers fesseln«, wo »Neigungen sich regen« – wo die Zwanzigjährige ihre »Berufung« findet.

Kein Zweifeln mehr, ihre »Berufung« ist der Buddhismus. Aber der Buddhismus ist für sie keine Religion, sondern eine Philosophie. Ihr gefällt der dem Buddhismus innewohnende Gedanke, dass sich jeder selbst befreien muss.

Bei der Lektüre von Eugène Burnoufs 1844 erschienener »Einführung in den Buddhismus« und buddhistischer Schriften wie des »Dhammapada« oder des »Mahabarata«, entdeckt sie »das Licht«. Es verstärkt ihr Fernweh, das sie zeitlebens nicht mehr verlassen wird.

Da kommt die Erbschaft einer Tante zur rechten Zeit. 1891 besteigt sie in Marseille ein Schiff und reist über Ceylon nach Indien. Eigentlich möchte sie noch weiter reisen, nach Nepal, ins Geburtsland des großen Gautama, eine Reise, die sie später nachholen wird, und die sie im vorliegenden Buch beschreibt. Aber wieder einmal geht ihr das Geld aus.

Ihr Geld wird sie, zurück in Paris, mit politischen Artikeln und Berichten über ihre Reise verdienen – und als Sängerin. Sie nimmt den während der Schulzeit begonnenen Gesangsunterricht wieder auf, besucht das Konservatorium in Brüssel, später in Paris. Und mit der gleichen Leidenschaft, mit der sie sich in die politische Auseinandersetzung eingemischt, sich ihren buddhistischen Studien und dem Reisen hingegeben hat, verfolgt sie jetzt eine neue Karriere: »Die zauberhafte Kunst, die göttliche Kunst … Ich sah die Welt nur noch durch sie … Leidenschaftlich verschlang ich die Partituren, begeisterte mich dafür wie für erlebte Romane, von denen die Helden in wohlgesetzten Sätzen erzählten …« Als Alexandra Myrial tingelt die neu ausgebildete Sopranistin zunächst durch die französische Provinz, bis sie 1895 ein Engagement an der Oper von Hanoi und andern Opernhäusern in Indochina erhält. Sie ist Violetta (La Traviata) und Carmen; weitere Rollen folgen. Als »Star von Hanoi« kehrt die vom Erfolg verwöhnte 1897 nach Frankreich zurück, hofft auf ein großes Angebot der Pariser Oper, das aber nicht kommt. Deshalb nimmt sie ihre Tour durch die französische Provinz wieder auf.

Im Juli 1900 singt sie an der Oper von Tunis. Im Publikum Philippe Néel, neununddreißig Jahre alt und ledig. Er sieht blendend aus, ist elegant und charmant und als Chefingenieur der tunesischen Eisenbahn eine gute Partie. Alexandra David hat gerade eine dreijährige Beziehung hinter sich. Von 1897 bis 1900 teilt sie – ein Skandal, aber vom Vater akzeptiert – mit dem Musiker und Komponisten Jean Haustont in Paris eine Wohnung. Nun lebt sie in Tunis in »wilder Ehe« mit Philippe Néel, den sie 1904 heiratet.

Warum? 1900 hat sie noch über ein neues Buch über das »Schlachtfeld der Geschlechter« nachgedacht. 1904 fragt der Vater sie in einem Brief: »Propagierst Du in der Presse noch immer den Feminismus?«

Groß ist also auch sein Erstaunen, als Philippe Néel bei ihm um die Hand seiner Tochter anhält: »Monsieur, Ihr Brief hat höchstes Erstaunen in mir geweckt. Bis zum heutigen Tag hat meine Tochter immer wieder ihren festen Willen bekundet, ihre Freiheit niemals aufgeben zu wollen, und sie hat bei keiner Gelegenheit unterlassen, gegen die untergeordnete Stellung zu protestieren, die das Gesetz der verheirateten Frau aufzwingt und die sie in ihren Handlungen einschränkt.«

Aber Alexandra David-Néel wird sich in ihren Handlungen nicht einschränken lassen.

Die Journalistin und Feministin hält Vorträge in Barcelona, Paris und London und nimmt 1906 an einem Kongress der italienischen Frauenbewegung in Rom teil. 1907 erscheint in der Zeitschrift »La Société nouvelle«, die international vertrieben wird, ihr Plädoyer für die materielle Unabhängigkeit der Frau: »Ist es etwa gerecht, dass eine Frau, die kocht, Geschirr spült … mit leeren Händen dasteht?« Ein frühes Plädoyer für »Lohn für Hausarbeit«.

Über ihre Ehe macht sie sich ihre Gedanken: »Eine sonderbare Vermählung, die unsere; wir haben wohl eher aus Bosheit denn aus Zuneigung geheiratet. Ein Wahnwitz, denn nun ist es geschehen«, heißt es in ihren Reisetagebüchern.

Aber aus den über 3000 Briefen, die sich das Paar in achtunddreißig Ehejahren schreibt, spricht Zuneigung. Vermutlich möglich geworden durch eine Ehe auf Distanz, mit der sie 1911 beginnen, als Alexandra David-Néel nach Indien aufbricht. Für die dreiundvierzigjährige bedeutet dies den Eintritt in ein neues Leben. Die Reise sollte nur einige Monate dauern, doch dann ist sie vierzehn Jahre lang unterwegs.

(Immer wieder wird behauptet, dass Alexandra David-Néel ihre Reisen ausschließlich mit dem Geld ihres Mannes finanzierte. Tatsächlich besaß sie im Jahr ihrer Eheschließung (goldgedeckte) Aktien und Wertpapiere in Höhe von 77.696 Francs. Dieses Vermögen wuchs bis 1911 an und wurde während ihrer Abwesenheit von Philippe Néel verwaltet. Das wissen wir von Marie Madelaine-Peyronnet, der Haushälterin von Alexandra David-Néel.)

Über Ceylon reist sie nach Indien, wo sie in Kalkutta bereits wie eine Celebrity gefeiert wird. Der wachsende Ruhm der ersten europäischen Orientalistin und Buddhistin eilt ihr von den Ufern des Ganges bis zu den Gipfeln des Himalaya voraus: »Es scheint, als ob ein guter Geist vor mir hergeht, um mir alle Türen zu öffnen und alle Dinge zu vereinfachen«, schreibt sie aus Indien.

In Indien trifft sie auf den 13. Dalai Lama, der von den Engländern aus Lhasa, Tibet vertrieben wurde und im Exil lebt. »Lernen sie Tibetisch«, empfiehlt er ihr. Sie lernt es zwischen 1912 und 1914 zwei Jahre lang in einer Einsiedelei in knapp 4000 Meter Höhe an der Grenze zwischen Sikkim und Tibet. Als erste und einzige Europäerin wird sie zum Schluss von ihrem Meister, dem obersten Lama und Gömptschen (Abt) des Klosters von Lachen, in den Stand einer Lamina erhoben.

In Kalkutta hatte sie 1912 bei einem Empfang der englischen Kolonialherren noch einmal ihr »ewiges Seidenkrepp-Kleid in ein dekolletiertes Abendkleid verwandelt«, obwohl es ihr ein »Gräuel« war, »mein Fleisch auf diese Weise zur Schau zu stellen«. Nun trägt die ehemalige Operndiva »die heilige Rüstung«, das ockerfarbene Gewand der Sanjassi. In ihm wird sie in Zukunft halb Asien durchqueren.

1914 begegnet sie dem 14jährigen tibetischen Mönch Aphur Yongden, der vierzig Jahre lang ihr Begleiter sein wird; in späteren Jahren wird sie ihn adoptieren.

Spektakulär sind ihre beiden Reisen durch Tibet, nach Lhasa, der verbotenen Stadt und dem Sitz des 13. Dalai Lama. Ausländern war es untersagt, Tibet zu betreten, geschweige denn die heilige Stadt Lhasa. Wurde man erwischt, drohten Verhaftung, Gefängnis, gar die Todesstrafe. Aber Alexandra David-Néel lässt sich davon nicht abhalten, sie will zeigen »was der Wille einer Frau vermag«. Den ersten Versuch muss sie 1916 abbrechen, sie wird von Engländern aufgegriffen und des Landes verwiesen.

1918 unternimmt sie einen zweiten Versuch. Dieses Mal nähert sie sich von China, durchquert die Wüste Gobi und erreicht Lhasa schließlich, als bettelnde Pilgerin verkleidet, im Februar 1924 mit ihrem Begleiter Yongden. Es ist ein »Weg durch Himmel und Höllen«. Ein Weg, der neun Jahre in Anspruch nimmt. Entbehrungen, Hunger, Krankheiten, Wahnvorstellungen und kräftezehrende, Tausende Kilometer lange Märsche durch Wüste, Eis, Schnee, über hohe Berge und tiefe Schluchten liegen hinter ihnen, als sie, abgemagert bis auf Haut und Knochen, im Februar 1924 die magische Stadt erreichen.

Als Alexandra David-Néel auf der Rückreise am 10. Mai 1924 mit Yongden das Schiff in Le Havre verlässt, wird die »Bezwingerin der verbotenen Stadt« wie eine Nationalheldin gefeiert. Zehn Jahre bleibt sie in Europa, nach dem Himalaya bezwingt sie hier nun andere Berge: Berge von Arbeit. Ins Haus ihres Mannes wird sie nicht zurückkehren. 1926 kauft sie sich ein eigenes Anwesen in Digne in der Provence, sie nennt es »Samten Dzong« – Festung der Meditation. Hier schreibt sie – mit Unterstützung von Yongden – fast 30 Bücher. Schaut sie aus dem Fenster, blickt sie auf die Voralpen von Digne, den »Himalaya für Liliputaner«. Um mobil zu bleiben, macht sie den Führerschein und kauft sich ein Auto.

1936, es ist das Jahr einer großen Vortragsreise, die sie nach Prag, Budapest, Wien, Stuttgart, Zürich, Basel, Lausanne, Genf, Paris und in weitere Städte führt, trifft sie ihren Mann zum letzten Mal.

Ein Jahr später bricht sie mit Yongden erneut zu einer Reise auf, über Russland nach China. Von dort will sie wieder nach Tibet einreisen. Der Zweite Weltkrieg ist noch fern, dafür herrscht Krieg zwischen Japan und China, das zudem kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs steht. Sie flüchtet in ein chinesisches Kloster, wo sie sechs Jahre verbringen wird. Im Juli 1946 trifft sie wieder in Paris ein.

1941 hat sie vom Tod Philippe Néels erfahren. 1946 kehrt sie über Kalkutta nach Frankreich zurück. 1955 stirbt ihr Adoptivsohn Yongden. Sie verbringt vier ruhelose Jahre in Hotels – dann tritt Marie-Madelaine Peyronnet in ihr Leben. Die junge Frau wird als Sekretärin, Gesellschafterin und Haushälterin die letzten zehn Jahre mit Alexandra David-Néel in deren Haus in Digne verbringen.

Dieses Haus ist inzwischen zu einer Pilgerstätte für Buddhisten, Hippies, Aussteiger, Yogi, Anarchisten, Träumer geworden. Vielen ist Alexandra David-Néel ein Vorbild. So fand der Beat-Poet Allen Ginsberg nach eigener Aussage durch ihre Schriften zum Buddhismus. Die Arbeiter- und Studentenrevolte im Mai 1968 nimmt sie interessiert zur Kenntnis. Eine Gruppe junger Anarchisten, die sie in Digne besucht, fragt sie: »Besucht ihr mich, um mir eine Lektion in Anarchismus zu geben oder um von mir etwas darüber zu lernen?«

Unermüdlich arbeitet sie weiter an ihren Texten, mit Hilfe einer riesigen Lupe korrigiert sie die Fahnen ihrer Bücher. Auf einem Brett schläft sie nicht mehr, dafür schon seit Jahren, von Rheuma und Schmerzen geplagt, in ihrem Sessel. Diese Schmerzen halten sie aber nicht davon ab, eine weitere Reise zu planen. Zusammen mit Marie-Madelaine Peyronnet möchte sie über Berlin, Warschau und Moskau nach Wladiwostok und von dort weiter mit dem Schiff nach Amerika. Deshalb lässt sich die resolute alte Dame, der kein Abenteuer zu viel ist, kurz vor ihrem hundertsten Geburtstag noch den Reisepass verlängern. Am 8. September 1969 stirbt sie in ihrem Haus in Digne Im Februar 1973 reist Marie-Madelaine Peyronnet nach Indien und übergibt ihre Asche und die ihres langjährigen Gefährten Yongden bei Benares dem Ganges. Es war die letzte Reise der leidenschaftlich Suchenden und furchtlosen Pionierin, die so konsequent ihren Weg ging, sich nie um Konventionen gekümmert hat – eine der bemerkenswertesten Frauen des 20. Jahrhunderts.

Die kurze Reise, die Alexandra David-Néel im Winter 1912/13 nach Nepal führt, war eine lang geplante. Schon als junge Studentin hegte sie den Wunsch, Buddhas Heimat zu besuchen. Und Buddhas Heimat war Nepal. »Vor langer Zeit war eine Dame, die wie ich am Collège de France eine Sanskrit-Vorlesung hörte, auf die Idee gekommen, die Orte zu besuchen, die in der Biographie Buddhas erwähnt werden. Bei ihrer Abreise sagte sie zu mir: ›Ich glaube fest an den Einfluss der physischen Umgebung auf die Herausbildung der Gedanken bei den Menschen. Ich will die Landschaften sehen, in denen der Buddha seine Jugend verbrachte.‹ Ich begrüßte den Plan und bedauerte, sie nicht begleiten zu können.«

Alexandra David-Néel reiste auf Einladung des Maharadscha von Katmandu, Nepal war damals noch ein für Europäer verbotenes Land. Eine »nützliche Einführung« wollte sie anschließend schreiben, die politische Bestandsaufnahme eines Landes, das sich zwischen Tradition und Modernität neu definieren musste – einer »Modernität«, wie die unter dem britischen Protektorat stehenden Nachbarländer Indien und Tibet sie bereits zeigten. Und einer »Tradition«, wie sie sich im abgeschiedenen Nepal noch lange hielt. Witwenverbrennung, politische Klassen und Kasten, urtümliche Opferrituale – die aufgeklärte Journalistin wirft einen kritischen Blick auf diese Gesellschaft.

Aber ihr Bericht aus dem Herzen des Himalaya ist weit mehr als eine politische Bestandsaufnahme: es ist die faszinierende Geschichte einer Buddhistin, die, auf der Suche nach dem Geburtsort Siddharta Gautamas, in den duftenden Gärten von Lumbini wandelt, auf Buddhas Spuren heilige Stätten und verbotene Tempel aufsucht, die »Lüfte des göttlichen Himalaya« genießt, dem Geheimnis einer blauleuchtenden Lotosblüte nachspürt, und mit Hilfe ihrer buddhistischen Weisheit und Meditation todesmutig einem Tiger begegnet.

Alexandra David-Néel hat dieses Buch erst im Alter von achtzig Jahren geschrieben, und nach Aussagen von Marie-Madelaine Peyronnet ganz aus dem Gedächtnis, ohne ihre Reiseaufzeichnungen zur Hand zu nehmen. Im Vergleich zu ihren Reisen in Tibet, China, Japan und Indien, war diese sehr komfortabel verlaufen– sie reiste in einer Sänfte, begleitet von einem Tross Elefanten, die das Gepäck trugen, und mehreren Männern in ihrem Dienst – und zu ihrem »Schutz«. Wir wissen nicht, was sie bewogen hat, nach so vielen Jahren über diese Pilgerreise zu berichten – wir sehen darin ein Vermächtnis, ihr buddhistisches – und literarisches – Vermächtnis.

Susanne Gretter

Literatur

Alexandra David-Néel. Mein Weg durch Himmel und Höllen. Das Abenteuer meines Lebens. Aus dem Französischen von Ada Ditzen. Mit einer Einführung von Thomas Wartmann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1986

– Mein Indien. Der legendäre Bericht über die erste große Reise der berühmten Asienforscherin. Aus dem Französischen von Liselotte Julius. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009

– Wanderer mit dem Wind. Reisetagebücher in Briefen 1904–1917. Aus dem Französischen von Christoph Rodiek. F. A. Brockhaus, Wiesbaden 1979

– Mein Leben auf dem Dach der Welt. Reisetagebuch 1918–1940. Aus dem Französischen von Dagmar Türck-Wagner. Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München 1999

Jean Chalon. Alexandra David-Néel. Das Wagnis eines ungewöhnlichen Lebens. Aus dem Französischen von Giovanna Waeckerlin-Indunti. Mit einem Nachwort von Herbert Achternbusch. Albert Langen Georg Müller Verlag in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, München Wien 1991

Barbara Foster/Michael Foster. Alexandra David-Néel. Die Frau, die das verbotene Tibet entdeckte. Die Biographie. Aus dem Amerikanischen von Hans Link. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1999

Julia Keay. Alexandra David-Néel – Der Wille einer Frau. In: Julia Keay. Mehr Mut als Kleider im Gepäck. Frauen reisen im 19. Jahrhundert durch die Welt. Aus dem Englischen von Ulrike Budde. Scherz Verlag, Frankfurt am Main 1991

Marie-Madelaine Peyronnet. Alexandra David-Néel. Mein Leben mit der Königin des Himalaya. Mit einem Vorwort von Frank Tréguier. Aus dem Französischen von Karin Balzer. F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, München 2003

VORWORT

Heute fahren ein paar Automobile holpernd durch Gegenden, die man noch gestern nur mit der Sänfte oder majestätisch auf dem Rücken eines Elefanten erkunden konnte, falls man nicht ein belangloser Fußgänger war, und man könnte versucht sein, zu glauben, dass mit dieser Veränderung der Fortbewegungsmittel, mit diesem »Fortschritt«, der sich durch den dreisten Lärm von Motoren und Hupen kundtut, eine entsprechende Veränderung in der Geisteshaltung der betroffenen Bevölkerung einhergeht. Wer sich solchen Illusionen hingäbe, würde sich gewaltig irren. Im Orient berühren neue Formen der Fortbewegung, des Wohnens und Sichkleidens oder die Annahme neuer Lebensweisen kaum den harten, nahezu unwandelbaren Kern der aus tausendjährigen Einflüssen sich speisenden Mentalität der Einheimischen.

Das ist in ganz Asien so, besonders aber in den entlegenen Ländern, die wegen ihrer geographischen Lage isoliert geblieben sind. Zu ihnen gehört Nepal, eingeklemmt in den Falten der Bergketten des Himalayas zwischen Tibet und Indien.

Ihre gemeinsame Grenze hat zwischen Indien und Nepal zahlreiche, sehr alte Bindungen geschaffen, die durch die Ähnlichkeit ihrer politischen Lage (seit 1816 unter britischer Oberhoheit) in der neueren Zeit noch verstärkt wurden.

Die Einsetzung einer autonomen Hindu-Regierung – die der britischen Oberhoheit über Nepal ein Ende bereitete – sowie die vielfachen gesellschaftlichen Veränderungen, die sich daraus ergeben, werden unvermeidlich Auswirkungen auf Nepal haben. Bleibt abzuwarten, welcher Art sie sein werden. Wird sich Nepal, »Bollwerk der hinduistischen Orthodoxie«, wie es sich gern nennt, von Indien auf dem Weg der »Modernisierung« mitreißen lassen oder wird es sich, ganz im Gegenteil, den »fortschrittlichen« Tendenzen an seiner Grenze widersetzen? Das wird uns die Zukunft lehren, aber wie sie auch aussehen mag, man wird die kommenden Ereignisse nicht verstehen können, wenn man den religiösen und sozialen Nährboden nicht kennt, aus dem sie hervorgehen werden.

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Karte von Nepal

Eine Reise nach Nepal, eine Begegnung mit seiner Geschichte und seiner Bevölkerung werden als eine nützliche Einführung dienen. Dazu möchte vorliegendes Buch den Leser einladen.

KAPITEL I

Der Zug, der im Schneckentempo durch die Ebenen Nordindiens gekrochen ist, hält gemächlich, wie ein müdes Tier, vor einem kleinen Bahnhof. Durch einen von der untergehenden Sonne vergoldeten Staubschleier erkennt man hinter einer Schranke eine Gruppe von Kulis und eine verwitterte Rikscha.

Ich werde erwartet. Zwar wäre ich viel lieber völlig inkognito hier angekommen, aber das im Westen wenig bekannte Nepal ist noch strenger verboten als Tibet. Mir ist die Reise genehmigt worden. Den Göttern sei Dank! Und den Freunden, die sich dafür eingesetzt haben, meinen Aufenthalt zu erleichtern, bin ich zu Dank verpflichtet, auch wenn trotz ihrer Bemühungen einige Hindernisse meine Bewegungsfreiheit in einem solchen Land zwangsläufig einschränken werden.

Die für den Transport meines Gepäcks engagierten Kulis laden es auf ihre Schultern, und ihr Chef geleitet mich zu der Rikscha. Zwar lohnt es sich kaum, darin Platz zu nehmen, denn der Bungalow, zu dem man mich bringt, liegt ganz in der Nähe des Bahnhofs, aber die Sorge um meine Würde lässt es wohl nicht zu, dass ich diese kurze Strecke zu Fuß zurücklege. Mir ist bereits mitgeteilt worden, dass ich meine Gastgeber nicht antreffen werde; sie sind auf Reisen, aber auf ihre Anordnung hin ist für mich ein Abendessen vorbereitet worden. Das Anwesen ist in Abwesenheit der Hausherren nicht verwaist, denn der größte Teil der Dienstboten, mit denen sich im Orient all jene belasten, deren gesellschaftlicher Rang auch nur ein wenig über dem allgemein Üblichen liegt, ist dageblieben.

Ich habe nur einen einzigen Diener mitgebracht: einen bearer, wie die Engländer sagen, womit sie eine Art Kammerdiener bezeichnen, aber meine Freunde haben vorsorglich noch einen Koch und einen sweeper für mich eingestellt. Die Rolle des Kochs ist klar; was den Sweeper (im Englischen wörtlich »Straßenkehrer«) angeht, so gehört er einer niederen Kaste an, den »Unberührbaren«. Er wird die Zimmer fegen und auch den Zugang zu meinem Haus – wenn ich in einem Haus wohnen werde – außerhalb der Zeiten, in denen ich kampiere. Er wird noch andere Dienste leisten, wie Holz hacken, aber seine Hauptaufgabe, für die er eigens angestellt wurde, besteht darin – es ist etwas heikel, davon zu sprechen –, die Nachttöpfe, Nachtstühle und andere Gefäße zu leeren, deren ich mich bedienen werde. Da dies eine Arbeit ist, die einen Hindu verunreinigt, können nur die »Unberührbaren« sie verrichten.

Außer in sehr großen Städten gibt es in Indien keine Latrinen mit Wasserspülung und Kanalisation, und es ist seltsam, dass an Orten, wo dieses System eingerichtet werden könnte, die Engländer es häufig vorziehen, an dem alten Brauch der Nachtstühle festzuhalten, die sie »commodes« nennen. Meine geneigten Leser mögen sich nicht zu lustig über sie machen. Noch vor etwa fünfzig Jahren hieß das gleiche Möbelstück in Frankreich »garde-robe«.

Ich bitte, diese uninteressante und ein wenig unreinliche Abschweifung zu entschuldigen, aber da der Sweeper in meinem Bericht immer wieder auftauchen wird, ist es sinnvoll, den Leser von vornherein über die Stellung dieses sehr schlichten Wesens zu unterrichten.

Mein Bearer ist ein junger Mann aus guter Familie, den seine nächsten Verwandten nach dem Tod seiner Eltern um sein Erbe gebracht haben. Er stammt aus Tibet, spricht recht gut englisch, nepalesisch und Hindi und dient mir schon seit mehreren Jahren. Sein Name ist Passang.

Während ich zu Abend esse, macht Passang mein Feldbett zurecht. Zwar fehlt es in dem Haus, in dem ich mich befinde, nicht an Betten, aber es widerstrebt mir, ein Bett zu benutzen, in dem andere geschlafen haben. Nebenbei weise ich darauf hin, dass dieser Widerwille dazu beigetragen hat, mir die Achtung der Hindus reiner Kasten zu erwerben, doch gleichzeitig muss ich erwähnen, dass sie selbst mit der Zeit ihre alten Regeln immer weniger streng befolgen.

Am nächsten Tag breche ich nach einem leichten Frühstück – zwei Eier und zwei Bananen – im Morgengrauen auf.

Ein Aufbruch ist stets die Verheißung eines Abenteuers, und als solches begrüße ich ihn, der mich in ein Land führen soll, in das zu reisen ich nie geplant hatte. Ein weiteres Mal hatte das maliziöse Schicksal es unverhofft übernommen, mich zu lenken, wohin es wollte.