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Raimund A. Mader

Der König von Weiden

Kriminalroman

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © joanatornow – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4910-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Zitat

Es gibt Stunden, in denen es den Menschen ängstigt, wenn er vor seinem Freunde ein Geheimnis haben soll, was er bis dahin oft mit vieler Sorgfalt verborgen hat, die Seele fühlt dann einen unwiderstehlichen Trieb, sich ganz mitzuteilen, dem Freunde auch das Innerste aufzuschließen, damit er umso mehr unser Freund werde. In diesen Augenblicken geben sich die zarten Seelen einander zu erkennen und zuweilen geschieht es wohl auch, dass einer vor der Bekanntschaft des anderen zurückschreckt.

Ludwig Tieck, Der blonde Eckbert

Was aber, wenn DU SELBST dieser Freund bist?

Es war einmal ein Nachtclub-König in Weiden …

Als am 22. August 1982 der ungekrönte Weidener ›Sex-König‹ Walter Klankermeier (42) in einem Waldgrundstück erschossen aufgefunden wird, fehlt von seinen Mördern jede Spur – und das bis heute.

Das mutmaßliche Millionenvermögen des quirligen und kumpelhaften Nachtclubbesitzers, der am 14. Juni 1982 nachmittags spurlos (es war die Zeit der Fußballweltmeisterschaft!) aus seiner Wohnung über der Diskothek ›Tiffany‹ in der Weidener Judengasse 4 verschwand, erbt eine 18jährige protestantische Weidener Pfarrerstochter!

Der Weidener Kripo-Chef Ludwig Detter ermittelt. Für den engagierten Kriminalisten ist klar: »Klankermeier ist am Tattag zu einem Geschäft oder einem Deal aufgebrochen und dabei in eine Falle gelaufen.«

Legenden, Geschichten, Anekdoten entstehen, Autoren wie der Berliner Dramaturg Werner Fritsch (Abitur 1980 in Weiden) bringen den ermordeten und überregional bestens bekannten Nachtclub-Besitzer in die Literatur ein oder animieren den weiteren Autoren-Weg als Kriminalschriftsteller, wie bei dem Düsseldorfer Horst Eckert (geboren 1959 in Weiden).

Ja, es ist schon eine Sensation, als Walter Klankermeier, gebürtiger Augsburger, über den Umweg Chicago, in das (damals) kleine Max-Reger-Städtchen Weiden in der Oberpfalz kommt und Sex mit Großstadtflair mitbringt. Als Pächter der ›Fortuna-Bar‹ – (vormals Hotel Bayerischer Hof) gegenüber dem Weidener Bahnhof – lässt er ab Januar 71 heißen Strip produzieren und die Puppen tanzen.

Während honorige Bürger, betuchte Bauern und Stadträte bald zu den Stammgästen zählen, schlafen die ›braven‹ Bürger nicht. Walter Klankermeier wird über Nacht die Konzession entzogen, aber er übersteht den Zwischenfall sogar vor dem Regensburger Verwaltungsgericht. Kurz darauf inseriert Walter Klankermeier überregional in Zeitungen und Zeitschriften: ›Sollten Sie aus moralischen Gründen oder wegen Ihres Image nach außen hin es nicht verantworten können, so bleiben Sie der Fortuna-Bar fern. Alle modern eingestellten Menschen heiße ich auf das allerherzlichste willkommen.‹

Danach kommen sie in Scharen. Aber auch eine konservativ-klerikale Unterschriftenaktion wird aktiviert, damit ›Weiden nicht zum erotischen Mittelpunkt dieses Gebiets wird‹. 3.400 fromme Weidener folgen den geistlichen Aufrufen und tragen sich ein, damit aus Weiden ›kein Sündenbabel‹ wird. Eine groß angelegte Protestschreiben-Aktion an die Stadt Weiden, in der beklagt wird, dass alle Möglichkeiten der sexuellen Befriedigung nicht nur angedeutet, sondern sogar vollzogen werden, wird allerdings zum Bumerang für die Initiatoren …

Im Volksmund wird von der ›Fortuna-Bar‹ nur noch als dem ›Klanki‹ gesprochen. Die Straßen in Weiden sind abends zugeparkt, auswärtige Gäste besuchen verstärkt ihre Weidener Verwandten. Viele Bundeswehr-Kameraden melden sich in jenen Tagen bei mir, um mehr über ›Klanki‹ zu erfahren, und gelangen so auch einmal in ihrem Leben nach Weiden. Vertreter aus dem gesamten Bundesgebiet tagen in der Stadt, gehen zum ›Klanki‹ als begleitendem Kulturprogramm …

Gleichzeitig rollt eine gigantische Pressewelle auf Weiden zu, angeregt durch die berühmten, 1968 gegründeten, St. Pauli Nachrichten, die in jenen Tagen in jeder Bundeswehr-Stube zu finden sind (Stefan Aust und Henryk M. Broder waren die damaligen Redakteure).

Berühmt-berüchtigt waren die Live-Sex-Auftritte bei ›Klanki‹, wenn Walter in den Tanzpausen zu den ›Schau-Nummern‹ aufrief und das (meist) männliche Publikum – aber auch vereinzelte couragierte Paare – nach ihrer Körpergröße platzierte, damit auch alle etwas sahen und die erotischen Vorgänge genau verfolgen konnten. Manche knieten, um besser sehen zu können. Walter Klankermeier rief dann spontan: »Bitte vorher noch die Brille putzen, jetzt wird’s scharf!«

Angegraute Opas brüllten »Wahnsinn!«, wenn die auftretenden Damen kamen, ihnen ihre Krawatten abmachten und sie für ihre Körpernummer benutzten. Was hier allein und paarweise in gläsernen Badewannen abging, war wohl dem Hamburger Erotik-Theater ›Salambo‹ (ab 1968) auf der Reeperbahn ebenbürtig. Pudel und sonstiges Sex-Spielzeug sahen manche Weidener erstmals hier in Aktion …

Walter Klankermeier war ein geselliger, leutseliger Typ, stets freundlich und mit allen per du. Er war Nichtraucher, Pferdenarr und Anti-Alkoholiker, galt aber als knallharter Geschäftsmann mit Verbindungen ins Rotlichtmilieu sämtlicher deutscher Großstädte sowie im Ausland.

Wenn er mit seinem weißen Jeep durch Weiden fuhr, winkte er in royaler Manier und nahezu täglich trafen ihn die Weidener in der Stadt an, begleitet von einer Dogge, aber auch beschützt von einem (tschechischen?) Bodyguard, immer aber in Begleitung einer scharfen (meist schwarzen) Dame, die alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Auf der Treppe des Alten Rathauses in Weiden provozierte Walter Klankermeier einmal sogar am helllichten Tage einen pressewirksamen Oben-ohne-Auftritt seiner Truppe.

Wohl jeder wusste in den 70er-Jahren, wer der spätere mehrfache Millionär Walter Klankermeier war. Umso überraschender ist sein rätselhaftes Lebensende.

Trotz umfangreicher Ermittlungen, einer weiteren TV-Fahndung von 2003 und einer vom Bayerischen Landeskriminalamt ausgesetzten Belohnung von 5.000 Euro erhielt die erkennungsdienstliche Polizeiarbeit (SOKO Klankermeier) bislang keine weiteren Tipps.

Und so gibt es neben den großen europäischen Kriminalrätseln um Kaspar Hauser oder Jack the Ripper auch in unserer Heimat Oberpfalz den großen ungeklärten Kriminalfall, der ehemalige Kriminalbeamte und versierte Krimileser noch immer in Atem hält.

Als begleitende, einfühlsame Lektüre sei dazu der neue Roman von Raimund A. Mader empfohlen!

Bernhard M. Baron






Erstes Buch

1. Kapitel

Der Anruf kam nachts um halb drei. Eine sanfte Stimme. Niemand, den ich kannte.

»Sie schreiben Kriminalromane?«

Ich verstand sofort, dass es im Grunde keine Frage war und der Mann – es war zweifelsohne eine Männerstimme – keine Antwort erwartete. Es war eher eine Feststellung. Dazu kein Wort der Entschuldigung für den ungewöhnlichen Zeitpunkt des Anrufs. Ob der Störenfried wusste, dass ich Nachtarbeiter war? Dass es kein Zufall war, dass er mich zu solch später Stunde am Schreibtisch antraf.

»Wissen Sie, wie spät es ist?«

Schweigen.

»Hallo?«

»Ich habe Ihre Kriminalromane gelesen … sehr spannend.«

Ich wartete. Hörte, wie er atmete. »Ja?«

Was wollte der Mann? Einer meiner Leser, wie es den Anschein hatte. In dem Fall war es besser, höflich zu bleiben. Ich verdiente gut, aber jeder Leser zählte schließlich. Ich wartete. Blickte aus dem Fenster, den Hörer am Ohr. Von meinem Fenster aus sehe ich auf St. Michael und die Fußgängerzone. Selbst nachts ist es dort immer noch recht hell.

»Sagt Ihnen der Name K. etwas?«

»K.?« Ein Name? Ein Begriff für mich. Durchaus. Ebenso, wie für die meisten der älteren Einwohner der Stadt, die ihn vor 30 Jahren erlebt hatten. K., der Nachtclubkönig, der die Provinzler mit seinen für damalige Verhältnisse ungemein freizügigen Sex-Shows geschockt und das kleine Städtchen und seine biederen Einwohner in Unruhe versetzt hatte. Bis man ihn irgendwann ermordet hatte.

»Natürlich.«

»Sie sollten über ihn schreiben. Ein interessanter Fall, der nie aufgeklärt wurde …«

»Ich schreibe nicht über reale Verbrechen«, sagte ich. »Verstehen Sie? Reale Verbrechen zerstören die Fantasie. Ich bin Autor, kein Journalist.«

»Schade. Sie schreiben wirklich gut.«

Wieder blickte ich aus dem Fenster. In einiger Entfernung, vor einem der Schaufenster, bewegte sich etwas. Ein Schatten, vielleicht jemand, der in sein Handy sprach. Ich war mir nicht sicher. »Hören Sie. Es ist spät …«

Der Anrufer ging nicht darauf ein, redete weiter, als habe er meinen zögerlichen Einwand nicht wahrgenommen.

»Ich habe Informationen. Die könnten Sie interessieren.«

»Ich weiß nicht …«

»Kommen Sie am Sonntag zum Bahnhof. Steigen Sie in den Zug nach Regensburg. Abfahrt 12.43 Uhr.«

Er wiederholte den letzten Teil noch einmal. Als käme es ihm darauf besonders an. »Abfahrt 12.43 Uhr.«

Ich wollte etwas sagen, ihm deutlich machen, dass ich nichts dergleichen tun würde. Doch ehe ich antworten konnte, hatte er aufgelegt. Einen Augenblick lang war ich verwirrt. Als ich noch einmal auf den Oberen Markt zu meinen Füßen blickte, war nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Niemand, der sich in einen der Hauseingänge drückte. Kein Schatten. Niemand. Der Platz war leer und verlassen. Ich beschloss, zu Bett zu gehen.

In dieser Nacht schlief ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder tief und fest. Keiner der üblichen Träume quälte mich. Als ich am nächsten Morgen, einem Samstag, erwachte, war es bereits 9 Uhr und meine Frau und die Kinder saßen in der Küche und frühstückten. Ein Bild perfekter Harmonie, dachte ich, während ich hineintrat. Ich fühlte mich hervorragend. Dennoch konnte ich ein Gefühl der Fremdheit ihnen gegenüber nicht leugnen. Als ich sie so sitzen sah, im warmen Kreis des Deckenlichts, ihre freudig unschuldigen Blicke wahrnahm, die sich plötzlich auf mich richteten, empfand ich mit einem Mal die Ausgeschlossenheit, die mit meinem Beruf einherging. Ich bin kein sozialer Mensch und dazu kommt, dass das Leben zwischen Traumwelt und Realität, das ich zu führen gezwungen bin, mich ihrer Gesellschaft weitgehend beraubt hat.

Ich setzte mich zu ihnen, langte zu, trank Kaffee. Wir sprachen über die Schule der Kinder, die täglichen Pflichten meiner Frau, Dinge, die ich wie aus weiter Ferne registrierte.

»Du siehst müde aus«, sagte Lena, was mich ärgerte, da ich mich nach der guten Nacht ausgesprochen erholt fühlte. Ich strich Butter auf eine Semmel.

»Du bist spät ins Bett …« Sie lächelte. Die Kinder blickten mich fragend an, als würden sie eine bestimmte Reaktion von mir erwarten.

»Ich habe gearbeitet«, sagte ich vage. »Mir sind einige Ideen gekommen. Bald werde ich mit einem neuen Buch beginnen können.«

Die jüngere meiner beiden Töchter kicherte. »Das sagst du immer, Papa.«

»Aber Pia«, wies meine Frau sie sogleich zurecht, doch ich sah, dass auch ihre Augen lachten.

Wir saßen noch eine ganze Weile, bis ich allmählich eine gewisse Unruhe in mir zu verspüren begann.

»Soll ich dir beim Abräumen helfen?«, fragte ich Lena, obwohl wir noch nicht fertig waren. Sie schüttelte den Kopf.

»Geh nur«, meinte sie. Das sagte sie meistens.

Der Computer in meinem Zimmer starrte mich an. Ich hatte den Eindruck, er wartete nur darauf, zum Leben erweckt zu werden. Ich war jedoch unschlüssig, was ich tun sollte. Manchmal beschlich mich das unangenehme Gefühl, als sei dieser Kasten drauf und dran, mein Leben mehr und mehr zu bestimmen, mir die Luft zum Atmen zu nehmen. Immer öfter versuchte ich dann, mich seinem Bann zu entziehen. An diesem Morgen hielt ich es jedoch nicht lange aus. Es schien, als würde mich etwas dazu treiben, dem nachzugehen, wovon mein unbekannter Anrufer gesprochen hatte.

Über K. gab es eine Reihe von Einträgen, die mir, nachdem ich den Computer hochgefahren hatte, in weniger als einer halben Sekunde zur Verfügung standen. Kaum mehr als ein Wimpernschlag.

Ich scrollte durch die Seiten, war aber schnell enttäuscht. Nur einige wenige Bilder, die einen Mann zeigten, hinter dem ich weder einen schwäbischen Metzgerlehrling aus Augsburg noch einen Nachtclubbetreiber und Zuhälter oder gar ein Mitglied der Chicagoer Unterwelt vermutet hätte. In seinen Zügen nichts von Brutalität oder menschenverachtender Großmannssucht. Was hatte ich auch erwartet?

Ich überflog die Zeitungsausschnitte von damals, las, was es an spärlichen Fakten gab. Seine Leiche wurde an einem heißen Augusttag vor mehr als 30 Jahren in einem Waldgebiet aufgefunden. Davor hatte er, nachdem er spurlos verschwunden war, zweieinhalb Monate lang als vermisst gegolten. Dann der zufällige Fund durch zwei Spaziergänger, die nach Preiselbeeren gesucht und stattdessen eine halb verweste Leiche gefunden hatten. Tot, hieß es, Tod durch einen gezielten Schuss ins Herz. Dazu Spuren von Folter …

Mehr als 30 Jahre war das her, dachte ich. Wie sollte man nach einer so langen Zeit noch einen Mörder finden? Ich versuchte, mich an die Stimme des Mannes zu erinnern, der vor wenigen Stunden angerufen hatte. Wie alt er wohl gewesen war? Ich wusste es nicht. Die Stimme eines Mannes ohne Alter. Ein schrecklicher Gedanke kam mir plötzlich … Ob er etwas mit dem Mord zu tun hatte oder gar K.s Mörder war? Warum hatte er dann mich kontaktiert? Warum gerade mich? Es ergab keinen Sinn.

Am Sonntag wachte ich früh auf. Wieder hatte ich tief und traumlos geschlafen. Ich öffnete die Augen und lauschte den gleichmäßigen Atemzügen meiner Frau, die von mir abgewandt lag. Ein Gefühl unbändiger Energie erfasste mich und es war mir, als sei ich in der Lage, mich so wie früher in ein Leben zu stürzen, das grenzenlos war. Die Sonne schien ins Schlafzimmer und mit einem Mal roch es nach feuchtem Gras und unendlicher Weite. Ich setzte mich im Bett auf und eine Ahnung von Glück umfing mich wie eine blasse Erinnerung aus den Tagen meiner Kindheit.

Eine ganze Weile saß ich so, als plötzlich das Telefon in meinem Arbeitszimmer läutete. Ein gedämpfter Ton von weit weg, aber deutlich hörbar. Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch und eilte hinüber. Als ich den Hörer abnahm, hatte der Anrufer bereits aufgelegt. ›Externer Anruf‹, stand auf dem Display. Ohne genau den Grund zu kennen, war ich auf einmal beunruhigt. Meine euphorische Stimmung war verflogen.

»Was ist los?«, fragte Lena, die, ohne dass ich sie wahrgenommen hatte, hinter mich getreten war. Sie drängte sich an mich und ich konnte ihre warmen, weichen Brüste mit den harten Warzen unter dem dünnen Stoff ihres Pyjamas spüren. Ich war wohl in Gedanken verloren dagestanden, hatte nicht bemerkt, dass sie mir gefolgt war. Ich fühlte mich seltsam ertappt.

»Nichts. Jemand, der die falsche Nummer gewählt hat. Vielleicht war ich auch nur zu langsam. Du weißt schon …«

Sie lächelte. »Wie geht’s dir heute? Keine Kopfschmerzen?«

»Gut. Warum fragst du?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Nur so.«

Ich wusste, dass sie sich Sorgen machte, und wollte ihr sagen, dass dies unnötig war. Ehe ich jedoch etwas äußern konnte, hatte sie sich abgewandt. Was wäre, wenn sie mich verlassen würde, schoss es mir in diesem Augenblick durch den Kopf. Sie und die Kinder. Nicht auszudenken.

Und doch zog es mich in diesem Moment weg von ihr, weg von ihnen. Noch immer hatte ich die Stimme des Mannes im Ohr. »Steigen Sie in den Zug nach Regensburg. Abfahrt 12.43 Uhr.«

Ich musste fahren.

Es war kurz vor elf. Genügend Zeit. Ich beschloss, zu Fuß zu gehen. Zum Bahnhof war es nicht allzu weit und die herrliche Witterung würde mir guttun. Das ständige Sitzen in den eigenen vier Wänden, das Tippen am Computer, dazu das permanente Kreisen der Gedanken führten ohnehin des Öfteren dazu, dass ich mich wie in einem Käfig eingesperrt fühlte. Manchmal war es nicht zum Aushalten.

»Ich komme gegen Abend wieder«, sagte ich zu meiner Frau, die mich ganz enttäuscht anblickte. »Da will mich jemand treffen, der Informationen über einen alten Kriminalfall hat. Nichts, das besonders wichtig wäre, aber vielleicht Stoff für einen neuen Roman …«

»Aber heute ist doch Sonntag. Wolltest du denn nicht etwas mit den Kindern unternehmen?«

Ich erinnerte mich, dass ich versprochen hatte, mit ihr und den beiden Mädchen ins Eiscafé zu gehen.

»Ich weiß, Lena«, sagte ich etwas schärfer, als ich eigentlich beabsichtigte. »Das muss warten … Wir könnten doch auch unter der Woche etwas unternehmen. Ich kann jetzt wirklich nicht.«

Sie nickte, aber ich merkte, dass ich ihr wehgetan hatte. Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen. »Es tut mir leid, Leni.«

Sie schaute weg und schluckte. Schließlich bekam sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle. »Schon gut«, sagte sie. »Wenn es so wichtig ist …«

Wenig später trat ich hinaus auf die Straße. Das gleißende Licht der hoch stehenden Sonne blendete mich und die Hitze traf mich wie ein Schlag. In der Fußgängerzone trieben sich um diese Tageszeit, wohl wegen der ungewöhnlich hohen Temperaturen, nur wenige Menschen herum, meist Passanten in kurzer, sommerlich bunter Kleidung. Touristen, die ohne festes Ziel dahinschlenderten.

Obwohl mir nach wenigen Schritten der Schweiß ausbrach, marschierte ich zügig in Richtung des Oberen Tores. Ich war viel zu warm gekleidet und froh, als sich vor dem alten Stadttor die Straße verengte, die Gebäude näher aneinanderrückten, und ich plötzlich in den Schatten eintrat, den die Dächer der alten Bürgerhäuser warfen. Ganz kurz war es mir, als würde ich in tiefste Dunkelheit fallen. Ein leichter Schwindel erfasste mich und ich blieb kurz stehen, hielt mich an einem Mauervorsprung fest. Es dauerte nur einen Moment, dann war der kurze Schwächeanfall vorüber. Ich beschloss, weiterzugehen, doch blickte ich in diesem Augenblick in das Schaufenster des Geschäfts, vor dem ich stehen geblieben war. Der vage Schatten eines Mannes spiegelte sich darin und ich glaubte zu bemerken, wie mich der andere im Vorbeieilen musterte. Es war ein eigenartiges Gefühl, das mich beschlich, und ich drehte mich, so schnell ich konnte, um. Bis ich mich jedoch umgewandt hatte, war die Person bereits zehn, fünfzehn Meter entfernt und, von einer Gruppe lärmender Jugendlicher verborgen, nicht mehr klar zu erkennen. Wie es den Anschein hatte, war der Mann in höchster Eile.

Wahrscheinlich hatte es nichts zu bedeuten. Nur jemand, der ein Ziel vor Augen hatte. Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Dann ging ich weiter. Nach etwa 20 Minuten sah ich den Bahnhof vor mir auftauchen.

Das Gebäude flimmerte im unbarmherzigen Licht der Sonne, schien sich mir wie eine Luftspiegelung entziehen zu wollen. Als ich schließlich ankam, war ich völlig erschöpft und in Schweiß gebadet. Ich sehnte mich nach einem kalten Getränk und genehmigte mir, nachdem ich mein Ticket gelöst hatte, im fast menschenleeren Kiosk in der Eingangshalle ein Bier.

Es dauerte eine Weile, bis ich mich einigermaßen erholt und mein Glas geleert hatte. Schließlich blickte ich auf die Bahnhofsuhr. Zu meinem Erstaunen musste ich erkennen, dass mich der Weg zum Bahnhof wider Erwarten mehr Zeit gekostet hatte, als ich zu Hause kalkuliert hatte. Der Zug würde in weniger als einer Viertelstunde einlaufen. Dabei hatte ich ursprünglich vorgehabt, um elf Uhr am Bahnhof zu sein, um in Ruhe die Reisenden beobachten zu können. Vielleicht würde mir ja – so mein Gedanke – einer von ihnen bekannt vorkommen oder etwas an seinem Verhalten einen Hinweis geben, der auf die Person des Anrufers würde schließen lassen.

Wie um mich zu vergewissern, dass mein Zeitgefühl trotz allem intakt war, blickte ich noch einmal zur Uhr hoch. Dabei fiel mir auf, dass der Sekundenzeiger sich zwar der Zwölf näherte, dann aber, ehe er diese erreichte, urplötzlich stehen blieb, sodass der Minutenzeiger in seinem Vorwärtsschreiten gehindert war. Einen Moment lang war ich von diesem Vorgang fasziniert, schien mir dadurch ein nicht fassbarer Stillstand der Zeit angezeigt zu werden. Wie gebannt wartete ich, dass dieser Zustand künstlicher Zeitlosigkeit durch das Weitergleiten des Sekundenzeigers aufgehoben würde. Doch nichts geschah. Gleichzeitig bemerkte ich, dass die Geräusche, die gerade noch an mein Ohr geschwappt waren, mit einem Mal zu einem kaum wahrnehmbaren Murmeln gedämpft wurden. Erst als eine metallene Stimme die Stille zerriss, wurde der Zauber durchbrochen. Der Sekundenzeiger rückte vor und ließ dabei den Minutenzeiger wieder voranschreiten.

Es war 12.40 Uhr.

Erschrocken hastete ich zum Bahnsteig, lauschte dabei der Stimme, die aus den Lautsprechern dröhnte. »Auf Gleis 2 fährt ein der Zug nach Regensburg. Abfahrt 12.43 Uhr. Planmäßige Ankunft in Regensburg 13.38 Uhr …«

Als ich den Bahnsteig schließlich erreichte, war der Zug bereits zum Stehen gekommen, und ich hatte gerade noch genügend Zeit, einzusteigen, um glücklicherweise ein nahezu leeres Abteil zu finden, wo ich mich mit einem leichten Seufzer auf einem der schmuddeligen Sitze niederließ. Die Luft im Abteil war stickig und ein Geruch nach Eau de Cologne, wie ihn alte Frauen an sich tragen, hing im Raum. Ich blickte zum Fenster, musste jedoch erkennen, dass es eines dieser modernen Modelle war, die nicht mehr geöffnet werden konnten. Bei den neueren, klimatisierten Waggons war das wohl so.

Sekunden später glitten wir aus dem Bahnhof hinaus, nahmen Fahrt auf. Immer schneller ratterten wir an Vororten, dann vereinzelt stehenden Häusern, die kein Dorf bildeten und auch zu keiner Stadt zu gehören schienen, vorbei. Ansonsten Bäume, die sich zu kleinen und größeren Wäldern gruppierten, um sich später wieder aufzulösen. Die Landschaft links und rechts der Gleise hatte etwas Verlorenes, Nichtssagendes, als gäbe es keinen Grund, dass sie existierte. Hier konnte man verschwinden, ohne jemals wieder gefunden zu werden. Ich dachte an K. Dort, wo vor 30 Jahren seine Leiche aufgetaucht war, sah es wahrscheinlich ähnlich aus wie hier entlang des Bahndamms.

Ich blickte aus den Fenstern, wartete, ohne dass ich so recht wusste, worauf. Dann, nachdem wir eine ganze Strecke gefahren waren, wurde die vordere Tür des Abteils geöffnet und eine unförmig dicke Frau schob sich schwerfällig durch die für sie viel zu enge Öffnung. Sie war für die Jahreszeit recht unpassend gekleidet und als sie näherkam, bemerkte ich, den Geruch nach altem Schweiß, der ihr vorauseilte. Ich versuchte, sie nicht anzustarren, betrachtete sie lediglich aus den Augenwinkeln und registrierte, wie sie direkt auf mich zusteuerte. Sie setzte sich auf einen der freien Plätze mir schräg gegenüber, ohne auch nur im Mindesten Notiz von mir zu nehmen. Musste sie gerade diesen Sitz wählen? Ihre Nähe war mir höchst zuwider. Ein Gedanke kam mir. Ob sie es war, die ich treffen sollte? Eine absurde Vorstellung. Als sie saß, sah ich, dass ihre Beine schrecklich angeschwollen waren und die Ränder ihrer Schuhe in ihr pralles Fleisch schnitten. Ich empfand erneut Ekel und überlegte, ob ich mich an einen anderen Platz setzen sollte, doch näherte sich in diesem Augenblick ein Schaffner, der die Fahrkarten der Reisenden kontrollierte.

Nachdem wir unsere Fahrausweise vorgezeigt hatten und sich der Kontrolleur entfernt hatte, zog die dicke Frau ein Buch aus ihrer Tasche und begann darin zu blättern. Mörder aus gutem Hause, von einem Kollegen, den ich gut kenne, verfasst. Sollte dies ein Zeichen sein?

»Interessieren Sie sich für ungelöste Mordfälle?«, fragte ich sie mit einem Blick auf ihre Lektüre. Sie blickte mich nur ganz kurz an, als fühlte sie sich durch mich und meine Frage belästigt.

Ich ließ jedoch nicht locker.

»Haben Sie vielleicht Informationen für mich? Der Fall K. …?« Ich lächelte sie etwas gezwungen an, wartete, dass sie sich zu erkennen gab, aber sie reagierte weiterhin abweisend, tat, als würde sie in ihrem Buch lesen. Ohne hochzusehen, schüttelte sie den Kopf.

Ich zuckte mit den Schultern und begann, wieder aus dem Fenster zu starren. Ihre Abfuhr ärgerte mich. Wahrscheinlich war mein erster Eindruck richtig gewesen und sie hatte schlicht und ergreifend nichts mit dem nächtlichen Anruf zu tun und hielt mich jetzt für aufdringlich oder gar für bescheuert. Ich überlegte, ob ich mich entschuldigen sollte, ließ es allerdings bleiben. Als ich den Blick wieder wandte, sah ich, dass ihr das Buch auf den Schoß gerutscht und sie eingeschlafen war. Irgendwann schlief auch ich ein.

Ich erwachte, als der Zug mit einem heftigen Ruck und kreischenden Bremsen zu einem abrupten Halt kam. Ich benötigte eine Weile, um mich zu orientieren. Wir konnten unmöglich schon in Regensburg sein. Als Erstes bemerkte ich, dass die dicke Frau verschwunden war. Ob sie sich einen anderen Platz gesucht hatte? Ich blickte mich suchend um, konnte sie aber nirgends sehen. Vielleicht war sie ja in einen der anderen Waggons gegangen. Wie es schien, war ich mittlerweile ohnehin der einzige Passagier im Abteil.

Mein Blick ging zu den Fenstern, links und rechts. Wir hielten auf offener Strecke. Auf keiner der beiden Seiten waren Häuser oder Lagerhallen oder Ähnliches zu sehen. Eigenartig, doch kein Grund zur Beunruhigung. Ein Signal vielleicht, ein anderer Zug, der Vorrang hatte. Schließlich fiel mir auf, dass die Triebwerke der Lokomotive keinen Laut mehr von sich gaben, sodass eine nahezu unnatürliche Stille zu vernehmen war. Selbst das leise Surren der Klimaanlage und der Lüftung, das man als Reisender normalerweise nicht wahrnahm, war mit einem Mal verstummt. Offensichtlich hatte der Zugführer den Strom abgeschaltet – warum auch immer. Ich wartete. Bereits nach wenigen Minuten begann es unerträglich warm zu werden und ich spürte, wie mir der Schweiß ausbrach. Die Luft im Abteil schien still zu stehen und das Gefühl, eingeschlossen zu sein, wurde schnell übermächtig. Ich erhob mich, um zum Ausgang zu gelangen. Zu meinem Entsetzen musste ich jedoch feststellen, dass sich die Türen des Abteils nicht öffnen ließen. Womöglich war die Hydraulik ebenfalls am Stromkreis angeschlossen, sodass der Mechanismus aus diesem Grund blockierte.

Ich kramte in meinen Taschen und holte mein Handy hervor. Eigentlich bin ich ja kein Freund dieser albernen, modernen Kommunikationsmittel, doch hatte Lena darauf bestanden, dass ich mir eines zulegte. Jetzt war ich froh darüber. Sie meldete sich sofort. Ich berichtete ihr von der Lage, in der ich mich befand. »Hier ist es unerträglich heiß«, sagte ich. »Nicht auszuhalten.«

»Das hast du nun davon«, lachte sie. Wie es schien, hatte sie keine Vorstellung davon, wie unangenehm meine Situation war. Ich konnte das Kichern der Mädchen im Hintergrund vernehmen.

»Hast du denn deinen Informanten schon getroffen?«, fragte sie.

Ich wollte ihr gerade antworten, als ich plötzlich den Schaffner sah, der vor Kurzem meine Fahrkarte kontrolliert hatte. Er schritt ohne jegliche Hast draußen an meinem Wagen vorbei, wobei er sich mit einem altmodischen Taschentuch den Schweiß unter seiner Uniformmütze wegwischte. Ich klopfte ans Fenster, um seine Aufmerksamkeit zu erringen. Als er mich sah, lächelte er und trat etwas näher heran. Zuerst verstand ich nicht, was er sagte. Auf mein Zeichen hin, wiederholte er jedoch das Gesagte mit größerer Kraft. »Keine Sorge«, brüllte er. »In wenigen Minuten geht’s weiter.«

Ich setzte mich daraufhin, nur teilweise beruhigt, auf meinen Platz und wollte das Gespräch mit meiner Frau weiterführen, doch hatte diese bereits die Verbindung unterbrochen, was ich als höchst befremdlich empfand. Wahrscheinlich war sie noch immer verärgert, dass ich mit ihr und den Mädchen nicht zum Eis essen gegangen war. Sei’s drum.

Die Minuten zogen sich dahin. Was mir neben der Hitze am meisten zusetzte, war die absolute Stille, die herrschte. Als hätte mich jemand in Watte gepackt. Nichts passierte.

Erst nach einer Ewigkeit vernahm ich, dass die Triebwerke wieder in Gang gesetzt wurden. Ein Ruck ging durch den Wagen. Gleichzeitig begann auch die Klimaanlage wieder zu arbeiten und kalte Luft kroch an meinem Rücken hinunter, was ich zuerst als erlösend, zunehmend jedoch als unangenehm empfand.

Als der Zug schließlich in Regensburg einlief, war es kurz nach halb drei. Wir hatten, bedingt durch den eigenartigen Vorfall, mehr als eine Dreiviertelstunde Verspätung. Als ich auf den Bahnsteig hinaustrat, suchte ich mit einer gewissen Verärgerung nach dem Schaffner, um eine Erklärung für den ungeplanten Stopp einzufordern. Der stand nur zwei Wagen weiter vorn und lächelte, als ich auf ihn zutrat. Doch schienen meine Worte keinen Eindruck auf ihn zu machen.

»Eine Softwarestörung«, sagte er. Er zuckte mit den Schultern und wandte sich mit einem Lachen von mir ab.

»Ich werde mich beschweren«, drohte ich, doch ich zweifelte, ob er meine Worte überhaupt wahrnahm.

Etwas an seinem Lachen ließ mich argwöhnen, dass vielleicht etwas anderes als ein technischer Defekt der tatsächliche Grund für den unfreiwilligen Aufenthalt gewesen war. Ich beschloss, einen Blick auf die Vorderseite der Lokomotive zu werfen. Da war jedoch nichts festzustellen, was mir diesbezüglich hätte Aufschlüsse geben können. Nichts, das auffällig gewesen wäre. Dabei wusste ich nicht einmal so recht, wonach ich überhaupt suchte.

Als ich mich schließlich umdrehte, erkannte ich, dass ich mittlerweile der einzige Passagier auf dem Bahnsteig war. Niemand, der sich mir näherte, Kontakt mit mir suchte. Ganz in der Ferne bemerkte ich aber die dicke Frau, die gerade die Tür zur Bahnhofshalle passierte. Wieder hatte sie Schwierigkeiten, sich hindurchzuzwängen. Der Mann, der hinter ihr herging, erinnerte mich einen Augenblick lang an den Schatten, den ich auf dem Weg zum Bahnhof im Spiegel eines Ladenfensters wahrgenommen hatte. Vielleicht war es die Hast, die in seinen Bewegungen lag, die ich wiedererkannte. Aber ich war mir nicht sicher.

Wie es jedenfalls den Anschein hatte, war meine Fahrt eine ganz und gar sinnlose gewesen, und ich nahm mir vor, den nächsten Zug zu nehmen und mich umgehend wieder nach Hause zu begeben.

2. Kapitel

Die folgenden Tage vergingen, ohne dass ich mich mit K. und seinem gewaltsamen Tod näher beschäftigte. Lediglich die Tatsache, dass ich den Neuen Tag mit besonderer Aufmerksamkeit nach einer Notiz, nach einer knappen Meldung über ein Ereignis durchforstete, das mit meiner Zugfahrt nach Regensburg hätte in Verbindung gebracht werden können, ließ erahnen, dass mich der Fall noch nicht losgelassen hatte. Auch die Tatsache, dass ich jedes Mal, wenn das Telefon läutete, mit größter Hast nach dem Hörer griff, sodass weder Lena noch die Kinder vor mir an den Apparat gelangen konnten, zeigte meine Unruhe, die durch den anonymen Anrufer ausgelöst worden war.

In dieser kurzen Zeit vermied ich es fast krampfhaft, mich an den Laptop in meinem Zimmer zu setzen. Ich suchte die Nähe meiner Frau und der Kinder, was so weit ging, dass wir uns einige Male gemeinsam in die Stadt begaben und ich mich beim Einkaufen nützlich machte. Je mehr ich mich jedoch dem Alltagsleben meiner Familie widmete, umso stärker wuchs eine Unruhe in mir, was vor allem meiner Frau auffiel.

»Was ist denn nur los mit dir?«, fragte sie mich, als ich wieder einmal bei ihr in der Küche saß, mit meinen Gedanken aber meilenweit entfernt war. »Seit du in Regensburg gewesen bist, bist du ja völlig durch den Wind. Ist denn etwas passiert …?« Sie schob mir die Brille auf die Nase und küsste mich auf die Stirn. »Warum schreibst du denn nicht mehr? Steckst du etwa in einer Krise?«, lachte sie.

Da erzählte ich ihr von dem nächtlichen Anruf und von dem Ansinnen des Mannes und von meinen Bedenken.

»Man kann keine Geschichten über Personen der Zeitgeschichte schreiben. Selbst wenn sie schon tot sind«, versuchte ich zu erklären. »In einem solchen Fall ist man nicht mehr frei und die Realität bestimmt das Gesagte … Das ist dann eher etwas für Journalisten und Biografen.«

»Warum willst du denn überhaupt ein Buch über K. schreiben? Es gibt doch keinen zwingenden Grund dafür – oder?«

»Ich muss einfach«, sagte ich. »Warum, weiß ich nicht.«

Sie blickte mich ganz verwundert an, als ich so energisch darauf beharrte, ging aber zum Glück nicht näher darauf ein.

»Aber du hast doch schon so viele Geschichten geschrieben, die von Menschen handeln, die du gekannt hast oder kennst«, sagte sie schließlich.

Ich stimmte ihr zu. »Da hatte ich aber vor allem ihr Bild vor Augen, das Bild, das ich mir von ihnen gemacht hatte. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Du weißt doch, manchmal waren die Menschen hinterher böse auf mich, weil sie sich in einer der Geschichten wiedererkannt haben und ihnen das Bild, das ich von ihnen gezeichnet hatte, nicht gefallen hat.«

Lena nickte und grübelte eine Weile. »Mach dir doch ein Bild von deinem K. und schreib eine Geschichte über ihn …«

O ja, ging es mir sogleich durch den Kopf. Ein verlockender Gedanke. War es denn nicht in der Tat so, dass die Grenze zwischen dem, was tatsächlich passierte, und dem, was sich in der Vorstellung eines Autors entwickelte, erschreckend dünn war? Gab es diesen Unterschied überhaupt in einer Welt, in der alles durch den Filter subjektiver Erfahrung gesehen, gehört und erfühlt wurde? Und doch …?

»Dann weiß ich aber nicht, was dabei herauskommt. Es muss schon stimmen. Vielleicht ist die Geschichte in manchen Details falsch und die Leser sind enttäuscht …«

Ich dachte dabei vor allem an meinen Anrufer. Vielleicht würde er mich ja ein weiteres Mal kontaktieren, mich mit Informationen versorgen. Was allerdings, wenn diese nicht mit meinem Bild der damaligen Vorgänge im Einklang standen?

»Für wen schreibst du denn?«, fragte Lena. »Für dich oder für deine Leser?«

Ich lachte über ihren Eifer, doch faszinierte mich die Vorstellung, eine Geschichte über K. und seinen gewaltsamen Tod zu verfassen, die weitgehend meiner Fantasie entspringen durfte und die bekannten Fakten an den Rand rückte. Es würde eine Frage der Balance werden.

Ein Experiment, aber ich war bereit, das Risiko einzugehen …

Die Hitze, so schrieb ich wenig später, die Hitze machte die Menschen aggressiv und raubte ihnen gleichzeitig die Kraft, ihre inneren Spannungen auszuleben. Attila Szelem saß in seinem engen Büro und beobachtete die Fliege, die nur wenige Zentimeter von ihm entfernt auf dem Schreibtisch verharrte und ihn neugierig zu betrachten schien. Die ganze Zeit war sie um ihn herumgeschwirrt und hatte ihm seine Muße geraubt. Noch dazu an einem Sonntag. Und jetzt? Wollte ihn das Vieh provozieren? Er hob seine Rechte in einer kraftlosen Bewegung, ließ sie sogleich jedoch wieder fallen. Es lohnte nicht den Aufwand. Wahrscheinlich war er ohnehin zu langsam. Er seufzte. Die Fliege bewegte sich nicht. Machte sie sich über ihn lustig?

»Warum nennst du ihn Szelem?«

Ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste es selbst nicht.

»Namen sind wichtig«, sagte ich. »Ob einer Müller oder Meier heißt, ist in unserem realen Leben ein Zufall. In einem Roman dagegen ist der Name Teil des Menschen, sagt etwas über seinen Charakter, sein Leben, seine Geschichte …«

»Und Szelem?«

»Ein fremdländischer Name. Vielleicht aus Ungarn. Da steckt etwas drin von Zigeunern, von Sonne und Tokajer, von Puszta und österreichischer Vetternwirtschaft, von grenzenloser Freiheit und tiefer Schwermut.«

Lena lachte hell auf. »Und warum Attila?« Sie strich mir mit beiden Händen durchs Haar. Ich gab ihr keine Antwort. Dann ließ sie mich allein und ich wusste, dass die Geschichte von nun an mir gehören würde. Eines Tages vielleicht würde Lena, würden andere darin lesen. Nicht aber, ehe ich damit fertig war.

An diesem Abend begann ich dann so richtig mit der Arbeit. Das Schreiben ging mir überraschend flott von der Hand. An den Anrufer verschwendete ich in diesen Momenten keinen Gedanken. Ich habe einen Kommissar, dachte ich, der tut, was ich ihm sage. Ich halte die Fäden in der Hand.

Attila Szelem gefiel mir von Anfang an.

Attila Szelem wandte den Blick zum Fenster, schaute auf den ›Media Markt‹ schräg gegenüber, der leer und verlassen dalag, ein Betonklotz, in dem den Menschen Träume feilgeboten wurden. Kindliche, banale Träume von sinnentleerter, funkelnder Technik. Auf dem riesigen Parkplatz davor standen einige wenige Autos. Menschen waren an diesem frühen Nachmittag fast keine zu sehen. Lediglich ein paar dürre Jugendliche in tief hängenden Jeans und weiten T-Shirts, die, mit Skateboards bewaffnet, ab und an sehnsüchtig in die Auslagen blickten. Es war Sonntag und ihre Träume mussten warten. Der monotone Klang harter Gummirollen auf blankem Asphalt tropfte zu ihm herüber, durchdrang alles. Er spürte, dass er gereizt war.

Die Fliege kam ihm wieder in den Sinn. Ob sie sich in der Zwischenzeit bewegt hatte? Er würde bis zehn zählen. Wenn sie dann noch auf ihrem Platz saß, ihn weiterhin anstarrte, würde er sie erschlagen. Ohne Gnade. Er zählte äußerst langsam, um so die Chancen des Quälgeistes etwas zu erhöhen. Vielleicht aber auch, um sich nicht unnötig bewegen zu müssen. Als er bei zehn angelangt war, drehte er den Kopf. In diesem Augenblick schellte das Telefon auf seinem Schreibtisch und er sah gerade noch, wie die Fliege auf und davon flog.

»Ein Selbstmord?«, fragte er gleich darauf ohne große Begeisterung in den Hörer hinein. »Hmm … Zwischen Weiden und Regensburg?«

Er hasste es, wenn sich Leute vor Züge warfen oder von Brücken stürzten oder sich mit großkalibrigen Waffen das Gehirn aus der Birne pusteten. Selbstmorde sollten verboten werden, dachte er. Zumindest solche. Dabei ahnte er, dass es nur allzu viele Gründe gab, um am Leben zu verzweifeln. Er war ja nicht blöd. Vermutlich würde er aber eine elegantere Methode wählen. Keine dieser unappetitlichen Varianten, die irgendeinen armen Polizisten dazu zwangen, sich mit zerfetztem Fleisch und gestocktem Blut abgeben zu müssen. Es würgte ihn im Hals, als er daran dachte, was ihn da erwartete.

Was sollte er überhaupt vor Ort? Bei einem Fall von Selbsttötung?

Er fragte danach, lauschte dann der fernen Stimme, die an sein Ohr drang.

»Nicht ganz sicher? … Ungereimtheiten?«, wiederholte er schließlich die wesentlichen Aussagen. Wie ein Papagei kam er sich dabei vor. Er fluchte innerlich. Es gab kein Entrinnen. Er musste sich wohl oder übel fügen. Auch sein Chef klang über die Maßen gereizt. Wollte nicht diskutieren. Nicht mit ihm.

»Was ist mit dem Zug?«, fragte Attila.

»Der Lokführer steht unter Schock und ist noch nicht vernehmungsfähig. War übrigens nicht sein erster Selbstmörder laut Auskunft der Vor-Ort-Streife …«

»Und der Zug und die Passagiere?«

»Wird in Bälde weiterfahren. Sobald ihn die Staatsanwaltschaft freigibt. Die Bahn hat einen neuen Lokführer geschickt. Der wird den Zug übernehmen. Geht alles recht flott.«

»Konnte der Tote identifiziert werden?«

»Bis jetzt wurden noch keine Papiere gefunden. Die Leiche sieht offensichtlich schlimm aus.

»Hmm.« Attila spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Aber er sagte nichts mehr und legte auf. Alles war gesagt.

Während des Telefonats hatte sich die Fliege, nachdem sie einige Male surrend durchs Zimmer geflogen war, wieder an ihrem alten Platz neben dem Apparat niedergelassen und rieb sich nun in höchst arroganter Weise die krummen Vorderbeine. Attila zeigte ihr den Stinkefinger. Dann verließ er das Büro.